Richtig gute SF — Neal Stephenson: »The Diamond Age«
Eintrag No. 96 — Zu der Frage, was gute SF sei, habe ich im SF-Netzwerk einige Beiträge geschrieben (hier ein Link zu meiner ersten Meldung dort).
Neal Stephenson bietet für meinen Geschmack mit »The Diamond Age« ein feines Beispiel für gute Science-Fiction an. Auf Englisch habe ich den Roman vor einigen Jahren mal angefangen, bin aber durch einen Umzug unterbrochen worden. Vor Kurzem habe ich die hiesige Taschenbuchausgabe aus dem Ramsch gezogen und nutzte die Gelegenheit, das Buch bilingual fertig zu lesen.
Zur Handlung:
Die Welt nach der nanotechnologischen Wende irgendwann gegen Ende des 21. Jahrhunderts. Die Handlung spielt größtenteils in Shanghai, Nebenschauplätze sind Vancouver, Californien, London. Erste Stärke für mich dabei: keine genaue Festlegung des Datums der Handlung, oder der vorausgegangenen fiktiven zukünftigen historischen Weltereignisse.
Da ist die Handlung um Hackworth, genialer Artifex der Nanotechnik, Angehöriger der Viktorianer (einer der mächtigsten Stämme, Clans, Gruppen, oder wie immer man die nicht-territorialen Patchwort-Staaten nennen mag; andere sind die Küstenrepubliken, das Himmlische Königreich und viele mehr). Für den Dividenden-Lord Finkle-McGraw entwirft und fertigt er das Original der »Fibel für junge Damen«, ein Wunderwerk der Kombination von Buch, Nanotechnik, Pädagoge, Künstlicher Intelligenz. Hackworth fertigt mit Hilfe des mysteriösen Dr. X. eine illegle Kopie der Fibel an, wird auf dem Heimweg überfallen und die Kopie landet bei der kleinen Nell.
Nell ist die Heldin des Buches im Doppelsinn: einmal als Primärprotagonistin, deren Leben »The Diamond Age« über circa 20 Jahre begleitet, und innerhalb der Geschichte als Schülerin der sie erziehenden und beschützenden Fibel. Stephenson schwingt sich zu iconographischen Höhenflügen auf, die man nur noch mit der christlichen oder superheldencomicartigen Bildsphäre vergleichen kann (Nell als Heilige, als erste weibliche große erfolgreiche Revolutionsgestalt der Geschichte als Ende von Kapitel 72). Die vierjährige Nell stammt aus den den unteren Sozialstrata der Zukunftsgesellschaft, lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter, und wird von der Fibel regelrecht errettet.
Das Buch geizt nicht mit Nebenfiguren, die für meinen Geschmack sehr gut und anschaulich (lebendig) geschildert sind. So die Cyber-Schauspielerin Miranda die der Fibel die echte menschliche Stimme verleiht und zu einer niegesehenen Mutter für Nell wird, und ihr Boss Carl Hollywood; oder Richter Fang von den Küstenrepubliken, seine Beziehung zu dem Bösewicht Dr. X., aus dem Himmlischen Königreich und seine Ermittlungen … um nur einige der wichtigen interessanten Figuren zu nennen, deren Handlungen alle irgendwie mit dem Schicksal von Nell und ihrer Fibel zusammenhängen.
Der Schluß, also die letzten 50 Seiten sind ein Wahnsinn. Der große Schlußakkord an Aktion und Ineinander der Motive erfolgt wirklich auf den letzten Zeilen … mir fällt als vergleichbar lediglich das Ende von Helmut Kraussers »Melodien« oder John Irvings »Owen Meany« ein.
Struktur und Summa:
Das Buch teil sich in zwei Hälften. Die Kapitel sind in der Regel kurz gehalten, so daß es auf den 575 Seiten 74 davon gibt, jedes mit einer notizhaften Inhaltsangabe überschrieben (schöne Referenz an Tradition, siehe alte Bücher). Stephenson schreibt weitestgehend elegant, nur manchmal war mir das clevere Erklärungsgeklimper zu den zugestanden originellen Technikvisionen zu lang … aber ich habs halt nicht so mit Haarkleinbeschreibungen von Technik in Romanen. Aufgefallen ist mir, daß mich in der zweiten Hälfte des Buches kaum noch etwas was den Figuren widerfährt so gefesselt hat, wie in der ersten Hälfte. Spätestens im letzten Drittel übernimmt mehr und mehr die Spannung, wie die vielen einzelnen Fäden des Buches zusammenfinden. Das ähnelt im Guten (Suspense) wie im Schlechten (Sterilität) dem Eindruck, wenn man ein Uhrwerk oder eine Automate beobachtet … anders gesagt: die Programm-Natur, die aller Kunst innewohnt, tritt markant hervor. Das hat mich nur einmal (in der zweiten Hälfte) bei Passagen über die finsternsten Aspekte von Nells Leben gestört. Nell wird von Aufständischen als Spaßsklavin gehalten, sexuell mißbraucht (wie schon in ihrer Kindheit) und mehrfach vergewaltigt - für meinen Geschmack bedient sich Stephenson hier ca. 2 Seiten lang einen zu aseptischen Ton (Kapitel 72, Seite 542). Ist aber heikle Kiste, ich will darüber nicht richten müssen.
Der große Aufhäger von »Diamond Age«, der radikale weltweite Strukturwandel durch die fruchtbare Anwendung von Nanotechnologie in allen erdenklichen Lebens- und Gesellschaftsbelangen, von Energiegewinnung, über Güter-Produktion und Konsumtion, Kommunikation und Informationsverarbeitung ist gut druchdacht. Mir symphatisch dabei, daß Stephenson trotz der vielen extrapolierten Details uns nix vorjubeln will, wie toll das alles doch ist. In seiner facettenreichen Technik-Utopie versteht er es zum Beispiel, das glitzende Zukunftsglück und die faszinierenden Gadgets seiner Welt mit menschlichen Alltagsmiseren und sozialem Elend zu konstrastieren, und sozusagen nebenbei einige der ewigen Menschenprobleme zu behandeln.
Nach »The Diamond Age« vertraue ich Stephenson soweit, daß ich mir »Quicksilver« besorgt habe und mich dort inzwischen hochvergnügt auf Seite 200 tummle. Stephenson hat für ein weinig Irritation sowohl bei SF-Fans als auch im Feuilliton (damit meine ich die nicht nur auf Deutschland beschränkte etablierte allgemeine Literaturkritik) gesorgt, als er ankündigte einen dreiteiligen dickbuchigen Zyklus über die Epoche des Barock zu schreiben, mit Newton, Peyps, Leibnitz und anderen historischen Persönlchkeiten als Romanfiguren, sowie einem Vorfahren des Helden Waterhouse aus »Cryptonomicon« (auch schon keine richtige SF mehr). Das alles begrüße ich als Weg eines Schriftstellers, der sich von Genre-Grenzen oder anderen Betrachtungsschubladen in seinem erzählerischen Fortgang nicht irritieren läßt und seinem Thema in der jeweils besten Umgebung nachgeht … ein Vermittler zwischen verschiedenen Traditionen der Literatur, hochgebildeter Kenner vieler Wissensgebiete und besorgter Beobachter der Zeitläufte. All diese allgemeinen Qualitäten von Stephenson bietet auch »The Diamond Age«. Kann man mehr von einem Buch verlangen?
SPOILER WARNUNG: Wer den Roman noch nicht gelesen hat, möchte diesen Beitrag bitte vorsichtig lesen, ich verrate viel vom Inhalt, was einem die Freud am Buch verderben könnte.
Auszüge und Anmerkungen:
Meine persönlichen Anmerkungen stehen in {geschwungenen} Klammern.
Wohl eine der deutlichsten Reflektion über Form und Stil im Buch findet sich auf
Über Öffentlichkeit, Politik und Moral:
Seite 224: »Nun, das führte zu einer Menge allgemeiner Frusttration, denn die Menschen sond von Natur aus tadelsüchtig und lieben nichts mehr, als die Unzulänglichkeiten anderer zu kritisieren. Aus diesem Grund stürzten sie sich auf die Scheinheiligkeit und erhoben sie von einer läßlichen Sunde in den Rang der Königin aller Laster. Denn, sehen Sie, selbst es kein Richtig oder Falsch gibt, kann man Gründe finden, einen anderen Menschen zu kritisieren, indem man vergleicht, was er sagt und wie er tatsächlich handelt. In diesem Falle maßt man sich kein Urteil darüber an, ob seine Ansichten oder die Moral seines Verhaltens richtig oder falsch sind — man weißt lediglich darauf hin, daß er etwas predigt, aber etwas anderes tut. In meiner Jugendzeit lief pralktisch der gesamte politische Diskurs darauf hinaus, die Scheinheiligkeit auszurotten.« {…}
Seite 225: »Weil sie scheinheilig waren … wurden die Viktorianer Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts verachtet. Selbstverständlich hatten sich viele Leute, die diesen Standpunkt teilten, selbst des schändlichsten Verhaltens schuldig gemacht, und doch sahen sie kein Paradoxon in ihren Ansichten, da sie selbst nicht scheinheilig waren — sie erhoben keine moralischen Maßstäbe und lebten nach keinen.« / »Demnach waren sie den Viktorianern moralisch überlegen … obwohl — besser gesagt, weil — sie gar keine Moral hatten.«
Tja, welche Lehre läßt sich ziehen aus der Erkenntnis (oder Ansicht), daß Kritik nicht möglich ist, wenn allgemeine Abmachung darüber fehlen, was richtig oder falsch ist, gut oder schlecht? Für meinen Teil will ich mich nicht auf meinen Geschmack als Refugium meiner persönlichen Freiheit zurückziehen, um ansonsten anzunehmen, daß sowas wie die natürliche Fress- und Hackordnung die feine oder bescheidene Position einer ästhetischen Haltung bestimmt.
Schöne Spekulation über den Grund der Sehnsucht nach einer Rückkehr der guten Sitten:
Richter Fang zitiert in Gedanken Konfuzius und läßt damit das große Thema von »The Diamond Age« erklingen. Gar nicht so weit weg von dem, was ich unter Aufklärung verstehe:
Über die Auflösung der Nationalstaaten. Wir leben meiner Ansicht nach ja derzeit in der Phase, wo sie sich noch heftig in Todeskrämpfen winden.
Das Mediennetz in dem Buch ist eine Weiterentwicklung des Internets von heute. So unterscheidet man zwischen klassischen (oder altmodischen) Passiven, womit Filme wie wir sie kennen gemeint sind, und Raktiven, vergleichbar den Star Trek-Holodecks, also Live-Rollenspiel in einem komponierten Narrationsgitter. Siehe auch: die Macher von »Deus Ex« sprechen bei den Levels ihres PC-Spiels von Möglichkeitsräumen.
Beste »Dracula«-Empfindsamkeit und Zurückhaltung. »Dracula« von Bram Stoker kann man getrost als einen Schlüsselroman der Viktorianischen Epoche bezeichnen, und es überrascht mich also nicht, hier Spuren seines emotionellen Taktes wiederzufinden.
Über Sinnvermittlung.
Weitere Passage zu der Spannung zwischen Ethik und Technik.
Die beschriebene Ansicht empfinde ich als sehr richtig. Ich kann die vorauseilende Bereitschaft von Zeitgenossen zum Einbau von Hirnbuchsen (oder sonstiger Schnittstellen zwischen Hirn und Technik) nicht nachvollziehen.
Weiteres zu Moral, inzwischen von Hauptfigur Nell selbst.
Ein Buch des von mir wertgeschätzten Umberto Eco aus den Jahren 1964/1978 heißt »Apokalyptiker und Intergierte - Zur kritischen Kritik der Massenkultur«, in dem es bisweilen um die gleichen Dinge geht, wie bei Stephenson … nur nicht mit soviel Spezial FX natürlich.
Die Neo-Viktorianer wollen mehr Künstler in ihrer Gesellschaft.
Denn:
Angesichts der Politiker-, Manager- und Beraterskandale hierzulande (aber auch anderswo) spricht mich zumindest diese Passage sehr an. Leben wir wirklich noch in einer primitiven Zeit, in der jeder (und vor allem die Mächtigen, alle mit ›Gelegenheit‹) nur den eigenen Beutel füllt, oder verstehe ich kleiner Fuzzi die Handlungen der Mächtigen und Reichen nicht, die sich durchaus im Sinne der Weltgemeinschaft Sorgen und entsprechend agieren?
Teil einer »So ist der Lauf der Welt«-Rede von Madame Ping zu Nell.
Interessant wie sich diese Passage mit der Aussage von Mr. Beck im Auszug von Seite 351 reibt, denn Mr. Beck geht es primär um die Vermittlung von Sinn. Sinn taucht bei Madame Ping aber nicht auf, außer weitläufig im Bereich der Sachen, so wie Lebensmittel sinnvoll sind, wenn man hungerig ist.
Nell denkt über ihre Arbeit (Design von Raktiven) nach.
Wohl jeder angehende oder etablierte Autor (oder allgemein Künstler/Unterhalter) hat sich darüber schon mal den Kopf zerbrochen … oder sollte es zumindest. Will ich nur unterhalten, will ich Sinn vermitteln, Trost spenden (siehe Tolkien), Sozialkritik üben? usw.
ZUGABE: Schmankerl:
Ha, ein deutsches Wort im Original (ROK-Taschebuchausgabe).
Übersetzt (wieder ausm Goldmann-Tachenbuch).
Habe laut gelacht bei folgendem Satz.
Wirklich lustiger Schnitzer — naja — mangelndes Fingerspitzengefühl von Joachim Körber. Mannbarkeit wird von ihm ernsthaft auf eine Vertreterin des weiblichen Geschlechtes angewendet.
Zum Vergleich die gleiche Stelle im Original:
Geiler historischer Fachbegriff des 21. Jahrhunderts bezüglich der Massenvernichtungswaffen des 20. Jahrhunderts:
Bumm und Ende.
autofab
kann ich auch nur empfehlen. tue es aber nie, weil meine freunde alle eine - mir vollkommen unerklärliche - abneigung gegen scifi haben.
t_osh
Wie schaffst Du es einen dermaßen langen Artikel über ein zugegeben geiles Buch zu schreiben? Ich hätt nach einem Viertel der Zeilen den Griffel ermüdet weggeschmissen.
Mach mal mehr Propagananda für dein Blog...
molosovsky Besitzerin
Danke t-osh für das Kompliment, das aber sozusagen durch mich durchgleitet und zu Herrn Stephenson weitergehen sollte, denn ich setzt mich nur bei den wirklich großen Bratz-Könnern hin und klapper mir die Fingerkuppen wund. Stephenson ist der Hit, wie man sagt. »Cryptonomicon« ist auch noch sehr gut, wenn ich auch irgendwo im ersten Drittel des Buches herumsande.
Der fette »Baroque Cycle« mit seinen drei je 900 Seitenwälzern »Quicksilver«, «Confusion« und »The System of the World« liegt mir derzeit näher … mit »Q« von Luther Blissett bin ich ja neugierig geworden auf technisch-sozial orientierter Geschichtsfiktion. Allein die Augenball-Verformungs-Experimente vom jungen wilden Isaac Newton in »Quicksilver« sind atemberaubend.
Tja autofab, da kann ich Dir nur wünschen, daß Du jeneits des Internets mal gescheite und aufgeschlossene Leser kennenlernst, mit denen Du zammsitzen kannst. Mich nervt eine Schauklappenborniertheit in literarischen Dingen auch sehr … und weil ich mich selbst nicht zu einem totalen Fachidioten meines Geschmacks machen will, nehme ich mir ab und an Werke vor, die mir nicht genehm sind. Letztes Beispiel: Judith Herrmann (okey, nach drei Kurzgeschichten brauchte ich dringend eine Pause und eine Urschreitherapie und 300 mg Adrenalin um aus dem Koma zu erwachen) und Peter Handtlke (und dessen »Bildverlust«, ein Paradeexempel an nebulöser Unfreiwillen-Komik - Heuchelei des Feuillotons, das »Bildverlust« wegen seiner Sprache lobt, aber von wirklichen Avantgarde-Könnern wie Helmut Krausser oder Thor Kunkel meinen, deren Stil sei maniristisch-schloddrig, pubertär und krumm. Hrmpf!).
molosovsky Besitzerin
Will ich mal hoffen, daß das hier was wird (und wenns gut wird, daß es dann auch mal als DVD erhältich sein wird):