Neil Gaimans »The Sandman« Band 2: »Das Puppenhaus« mit »Hilfreichen Handreichungen« als PDF
Zweiter Teil von Molos Empfehlungen von
Neil Gaimans
inkl.
»Hilfreicher Handreiche« über mythologische, historische und literarische Anspielungen.
Eintrag 419 — Weiter geht es mit meiner Serie über die zehn Bände der »Sandman-Bibliothek« (mit exklusiver »Hilfreicher Handreiche«), die seit Frühjahr 2007 endlich in angemessener Aufmachung im Quartalsrhythmus von Panini/Vertigo herausgebracht wird.
Wer den ersten Band »Präludien & Notturni« noch nicht gelesen hat, bekommt mit Band 2 »Das Puppenhaus« eine weitere feine Einstiegshilfe. Obwohl, äh, da verzapf ich grad Quatsch, denn die meisten der zehn Einzelbände der »Sandman-Bibliothek« lassen sich ganz gut allein stehend genießen (ich werd bei den Bänden, die als Einstieg etwas zu sperrig sind bescheid geben). Aber zugleich bilden die zehn Bände zusammen eine große Saga über den Herrscher der Träume, Morpheus, und seine dysfunktionale Familie der Ewigen, die neben Dream aus sechs weiteren menschenförmigen Personifizierungen ewiger Prinzipien besteht.
Die Einstiegshilfe von »Das Puppenhaus« kommt in Form einer ›Was bisher geschah‹-Einleitung daher. Ganz schnell: Anfang des 20. Jhd. hat ein englischer Okkultguru (mehr unfreiwillig) Morpheus eingesperrt. Nach vielen Jahrzehnten kann Morpheus entkommen, er rächt sich an seinen Peinigern und macht sich auf zu einer Queste, um seine geklauten und verstreuten Macht-Artefakte wiederzuerlangen. Im letzten Kapitel (»Das Rauschen ihrer Flügel«) von »Präludien & Notturni« dümpelt Dream mit Post-Abenteuer-Depri in New York und füttert Tauben, als seine Schwester Death vorbeischneit, den Tunichtgut einen Tag lang mitnimmt auf ihre Pflichtgängen, und ihn dabei an den Wert des Lebens und seine Verantwortung als Traumherrscher und -beschützer erinnert.
Die versammelten acht Kapitel (urpsprünglich als Einzelhefte veröffentlicht) von »Das Puppenhaus« erzählen nun davon, wie Morpheus das in seiner langen Abwesenheit verlotterte Traumreich aufräumt.
Das Hauptaugenmerk des Bandes konzentriert sich in sechs Kapiteln auf die jugendliche Protagonistin Rose Walker, die zusammen mit ihrer Mutter ihre Großmutter in einem englischen Pflegeheim besucht. Großmutter Walker wurde im ersten Band kurz erwähnt. Dort war sie ein Opfer einer geheimnisvollen Schlafkrankheit die durch Morpheus Gefangenschaft verursacht wurde. Jetzt da der Herrscher des Traumreichs wieder frei ist, ist auch Großmutter Walker wieder wach und hat (vermögend wie sie ist) über Detektive ihre Verwandtschaft finden lassen. Wer aber noch fehlt, ist Roses jüngerer Bruder Jed. — Im Handlungsstrang um Rose kommt Gaimans Stärke zum Zuge, wenn er von ›ganz normalen‹ Menschen erzählt, die wundersame Abenteuer erleben. Rose zieht in Florida in eine WG und als Leser gucken wir Rose über die Schulter, wenn sie in ihren Tagebucheinträgen über die anderen WG-Bewohner lästert. Hier wimmelt es Exzentriker wie das Pärchen Ken und Barbie (die so aussehen und sich so geistlos verhalten wie die bekannten Matell-Figuren), und die Grufti-Lesben Chantal und Zelda die eine unheimliche Leidenschaft für Spinnen pflegen. — Zudem weiß Rose nicht, dass sie ein Traumwirbel ist. Und ein Traumwirbel zu sein, ist kein Zuckerschlecken, oh nein. In jedem Zeitalter taucht so ein Traumwirbel auf, oftmals in Form eines Gegenstandes, seltener auch, wie bei Rose, in Gestalt einer Person. Ein Traumwirbel strebt unwissentlich danach, für kurze Zeit alle Einzelträume der Menschen in einem großem Traum zu vermischen, und im Umfeld des Traumwirbels treten ungewöhnlich viele Zufälle auf. Somit beobachtet Rose in ihren Träumen die Träume anderer und begegnet magischen Wesen, wie den drei Hexengöttinen die eine sind, oder Traumdämonen und Alpträumen die sich während Morpheus Gefangenschaft aus dem Traumreich davongemacht haben, wie den hinterhältigen Gaunern Brute & Glob und dem schrecklichen Visonär ›der Korinther‹ (ein heimlicher Star der Sandman-Saga). — Zusammen mit Gilbert (dem entfleuchten Traumort Fiddlers Green, der sich in Gestalt des englischen Erzphantasten G. K. Chesterton als Beschützer von Rose ins Zeug schmeißt) macht sich Rose auf die Suche nach ihrem Bruder Jed und stolpert unwissentlich in einen Kongress von Serienmördern (eine köstliche Parodie auf Comic- und SF-Conventions und Serienmörder-Fanship).
Zwei Kapitel von »Das Puppenhaus« fallen aus dem Rahmen. Eröffnet wird der Band mit einer für sich stehenden Erzählung über »Geschichten im Sand«, über eine weit, weit zurückliegende tragische Liebesgeschichte von Morpheus und der (wahrscheinlich afrikanischen) Königin Nada. Hier kommt Morpheus nicht so doll weg, denn er benimmt sich so unreif und kaltherzig, dass er seine Geliebte in den Selbstmord und damit in die Hölle treibt. — In »Männer mit Glück und Geschick« sorgt zuerst eine Wette zwischen Morpheus und Schwesterchen Death dafür, dass ein einfacher Mann des Mittelalters, Hob Gadling, nicht stirbt; dann werden die alle hundert Jahre stattfindenden Treffen von Hob und Morpheus geschildert, in deren Verlauf sich eine Kumpel-Freundschaft zwischen dem unsterblichen Glücksritter Gadling und dem unnahbaren Ewigen entwickelt.
Die ganz große Klammer von »Das Puppenhaus« und Puzzlestück im weitausholenden Bogen der Sandman-Bibliothek bildet die Konkurrenz zwischen Morpheus und seinem Geschwister Desire, also das Heck-Meck zwischen Traum und Begehren. Der erste Auftritt von Desire (die im Herzen eines riesigen schwebenden Körpers wohnt) und die abschließende Konfrontation von Morpheus und Desire gehören für mich zu den Glanzpunkten der Saga. — Sind wir nur Marionetten unserer Leidenschaften? Speist unser Begehren unsere Träume, oder formen unsere Träume unser Begehren? Können wir unser Schicksal selbst bestimmen, oder sind wir nur Spielzeugpuppen in den Händen des tüdelnden Schicksals? — In derartige philosophische Gefilde führt einen Gaiman mit dem vorliegenden Band, und zeigt damit, wie man Comic- und Popkulturtrash mit Mythen und Klassikern vorzüglich vegnüglich zu gedankenanregenden Fabulationen verflechten kann. — Nicht von ohngefähr gilt Gaimans »Sandman« neben solchen Werken wie »Watchmen« & »V for Vandetta« (beide geschrieben von Alan Moore) oder »Die Rückkehr des Dunklen Ritters« & »Ronin« (beide von Frank Miller) als wichtige Wegmarke eines Wandels zum Besseren in der anglo-amerikanischen Comickultur, als die Kästchenerzählungen dort in den 80ern begannen ernsthafter und erwachsener zu werden.
Die »Sandman«-Geschichten sind reich gespickt mit Anspielungen und Zitaten und für jene, die Lust darauf haben, diese ›anspruchsvolleren‹ Schichten freizulegen, haben sich »Sandman«-Leser schon früh unter der Leitung von Greg Morrow und David Goldfarb (und Websiten-betreut durch Ralf Hildebrandt) aufgemacht, all diese Hinweise in einem großen »Annotations«-Unternehmen zu sammeln. Diese englischsprachigen »Annotations« habe ich bearbeitet, ergänzt und übersetzt und biete sie hier den deutschsprachigen Lesern als »Hilfreiche Handreichung« zu »Das Puppenhaus« als PDF zum Download (ca. 250 KB). Wiederum danke ich meinem Phantastik-Haberer Lucardus für seine Hilfe als Korrekturleser.
Besonders freut mich, dass die deutsche Ausgabe dabei auf die neue, digitale Kolorierung zurückgreift. Die ursprüngliche Färbung war zwar nicht grottenschlecht, aber doch deutlich geprägt von der schrilleren Ästhetik, die nun mal vor der Revolution der Digialkolorierung vorherrschte. Die neue Digikoloierung dürfte den ›Normallesern‹, die keine ausgeprägten Horror- und Superheldencomic-Fans sind, entgegenkommen, ist sie doch kein so heftiger geschmacklicher Extremisten-Hieb aufs Auge.
Hier ein Beispiel; Seite 10 des Kapitels: »Men Of Good Fortune« (»Männer mit Glück und Geschick«):
Links die alte Kolorierung von Robbie Bush aus meinem »Doll’s House«-Trade des DC-Verlages von 1990. Rechts die Digitalkolorierung von Zylonol aus dem neuen »Das Puppenhaus«-Sammelband des Panini-Verlages von 2007.
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LINK-SERVICE:
Olf Funke schreibt für den »Fandomobserver« (No. 219):
Wenn sich die Geschichten nur um diese vordergründigen Themen drehen würden, wäre dies nur eine nette Geschichte, aber Gaiman taucht auch hier wieder in die Abgründe der menschlichen Psyche ein und macht daraus wieder etwas ganz besonderes.
»Goon – Magazin für Gegenwartskultur« meint:
Eine Figur und eine ganze Serie stellten Heft für Heft unter Beweis, dass der amerikanische Superheldencomic eine zutiefst intellektuelle Sache sein kann und trotzdem seine Coolness nicht verliert.
Der »Comic-Neurotiker« orientiert:
Erst im »Puppenhaus« kann man wirklich entscheiden, ob man »Sandman« mag oder nicht. Der Band ist typisch für die Serie und zeigt, wohin die Reise geht. {…} Gaimans Serie verdankt ihren Ruhm vor allem der Tatsache, dass der Autor das Erzählen von Geschichten und die Lust am Träumen selbst zum Thema macht.
Gilbert Keith Chesterton: »Apollos Auge«
Erstellt von molosovsky um 11:42
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Phantastik,
C. K. Chesterton,
Krimi,
Verschwörung,
Bibliothek von Babel,
Buch-Rezension
DRITTE FOLGE VON MOLOS WANDERUNGEN DURCH
DER BÜCHERGILDE GUTENBERG
Eintrag No. 412 — Es freut mich, in dieser dritten Folge meiner Empfehlungen der von Jorge Luis Borges zusammengestellten »Bibliothek von Babel« nun einen Autoren vorstellen zu können, der sich wie wenige andere ästhetische Denktäter dazu eignet Brücken zu bauen und Denkschranken einzureißen. Aus der Leseecke aus der ich komme, dem Schmuddelkinderwinkel der Comic- und Phantastik-Narren, ist Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zuvörderst bekannt als einer der großen englischen Witzereisser und Kapriolenkapazunder, der sich mit jungenhafter Unbekümmertheit über so ziemlich alles hinwegsetzt, wenn dabei nur eine geistreiche Pointe rumkommt.
Hier geht es zu den Folgen eins (über den Borges-Band »25. August 1983«) und zwei (über den Dunsany-Band »Das Land des Yann«). Hier nun meine geschwätzige Abschweifung dazu…
AUF IN'S REICH VON ›PRINZ PARADOX‹
Zum ersten Mal bin ich Chesterton vor etwa 17 Jahren dank Neil Gaimans beeindruckenden, zehnteiligen Comicromans »The Sandman« begegnet. 1990 habe ich mir den zweiten Sammelband »Das Puppenhaus« (The Doll's House) dieser facettenreichen Saga über Morpheus, den Herrscher der Träume zugelegt. Darin wird erzählt, wie Morpheus vier mächtige Einwohner seines Reiches bändigt, die aus den Traumlanden ausgebüchst sind. Einer dieser vier Davongelaufenen ist allerdings kein Wesen, sondern ein Ort, genauer: das aus irischem Seemannsgarn bekannte ›Fiddlers Green‹ (wo fortwährend Fröhlichkeit herrscht, die Fidel nie verstummt und die Tänzer nicht müde werden). Dieses idyllische Traumgefilde hat sich in die irdische Sphäre begeben, um eine eng mit dem Schicksal des Traumreiches verbandelte Familie zu beschützen, und dazu hat Fiddlers Green, sich Gilbert nennend, eben das körperliche Aussehen und Gebahren von Chesterton entliehen. Eine wundervolle Hommage von Comicmeister Gaiman und als jemand, der gern mal solch einem Fingerzeig folgt, hab ich damals so Chesterton für mich entdeckt.
Als Spontispruch-Opa ist Chesterton zwar nicht so ehrwürdig antik wie Heraklid, aber dafür gibts von ihm auch mehr, als nur ein paar raunende Fragmente. Als kalauernder Phantast kann er dem munteren Ideenanachismus der Marx Brothers das Wasser reichen, wenn auch um den Preis der ein oder anderen treugläubigen Naivität. Und als Gattungsspringinsfeld versteht er es, seine Leser mit einen bunten Strauß verschiedenster Textsorten zu erfreuen, mal mit Kriminalgeschichten, mal mit Essays und Sachbüchern, mal mit Gedichten und Dramen und schließlich, last but not least, eben auch mit hirneschleuderner Phantastik.
Die vielleicht schwindelerregenste Akkrobatenleistung der letztgenannten Spielart von Chestertons freiem Geist, »Der Mann der Donnerstag war«, habe ich 2003 glühend empfohlen, und vor kurzem konnte ich zu meiner großen Freude jene Rezi zu diesem allerzeit hochaktuellen Metaphysik-Spionage-Alptraum um Verehrermeldungen u.a. des von mir hochverehrten Daniel Kehlmann ergänzen. Es ist schon erstaunlich, daß mit Chesterton (wiedermal) ein lohnender und einflußreicher Klassiker englischer Fabulierinbrunst bei uns kaum mehr als eine Fußnote für Außenseiter ist. Dabei gehört zu diesen Chesterton-begeisterten Außenseiten auch der mittlerweile durch den Büchnerpreis nobilitierte Martin Moosebach, der Keith Gilbert trefflich charakterisiert als ›Seehund, der es im Spiel seiner unerschöpflichen Begabung mit niemals ausgehender Lust genoß, sich von einem Felsen ins schäumende Wasser zu werfen.‹[01]
Grad faselte ich schon von Spontis. Da kann ich nachreichen, wie einer der streitbarsten und originellsten anarcho-katholischen Querulanten der deutschen bayerischen Nachkriegszeit, Carl Amery, Meister Chesterton als Ahnherren aller Unangepassten lobt:[02]
Vor einigen Jahren bereiste ich im Auftrag einer Rundfunkstation die britische Alternativszene, die damals der deutschen noch weit voraus war. {…} Wir unterhielten uns über den historischen Platz der grün-alternativen Bewegung, über mögliche Traditionen, über den romantischen Protest als legitime Ausdrucksform der gesellschaftlichen Kritik. Und wir suchten einen möglichen Ahnen. »Chesterton!«, sagten wir fast gleichzeitig. {…} Im Deutschland der Zwanzigerjahre wurde Chesterton hauptsächlich von einem katholischen Publikum gelesen, das in der neuromatischen Tradition des Renoveau Catholique und der deutschen Jugendbewegung stand. Chesterton wurde folgerichtig als eine Art katholisch-römischer Märchenonkel gelesen. Wie schon aus der eingangs erwähnten Renaissance unserer Autors in den Kreisen der Alternativbewegung hervorgeht, ist eine solche Einschätzung nicht mehr zu halten.
»APOLLOS AUGE«
Wie jeder Band der »Bibliothek von Babel«-Anthologie, eröffnet ein Vorwort von Jorge Luis Borges mit der für ihn typischen Mischung aus Konzentriertheit und Spielerei die Auswahl. Borges klärt uns darüber auf, daß Chesterton ursprünglich die Malerei zu seiner Profession machen wollte, und liefert folgenden Beispielreigen um Chestertons überaus visuelles Metapherntalent vorzuführen:[03]
So vergleicht er die Gewächse eines Gartens mit angeketten Tieren, den Marmor mit erstarrtem Mondlicht, das Gold mit zu Eis gewordener Flamme und die Nacht mit einer Wolke, die größer ist als die Welt, ein Ungeheuer, das aus Augen besteht.
Gemäß dem Gefühl von Borges ist »Die drei Reiter der Apokalypse«[04] die beste Kurzgeschichte Chestertons. Hier belauschen wir die gemütliche Herrenklubrunde von Mr. Pond, der seinen Kumpels zur Kurzweil von einem haarsträubend vetrackten Befehlsgeknäul der preussischen Arme während des ersten Weltkrieges berichtet. Es geht um den polnischen Dichter-Patriot Paul Petrowski, der in preussischer Haft darbt und das Hin- und Her dazu, ob er begnadigt oder erschossen werden soll. Die Rätsel-Nuß geht so (S. 17):
»Die ganze Sache ging schief, weil die Disziplin zu gut war. Grocks {Oberbefehlshaber der Preussen bei der Belagerung von Posen} Soldaten gehrochten ihm zu gut, so daß er einfach nicht machen konnte, was er wollte.«
Als vergnügliches und enorm stimmungsreiches Lehrstück über Befehlsketten-Knieschüsse kommt dieses Soldatendurcheinander daher, komplett mit Schlachtfeld-Schwärmerei für ritterliche Hussaren und Schelte für atheistische Nihilisten. Für hiesige Leser ist hierbei insbesondere reizvoll, wie der Engländer Chesterton mittells der verschiedenen vorgeführten Preussen hier darüber reflektiert, wie kalte Effizienz sich durch Stress & Hektik selbst zu Fall bringen kann.
Die vier restlichen Geschichten hat Borges aus dem Fundus der etwa 52 Pater Brown-Geschichten ausgewählt.[05] Hier wird freilich die Toleranz der Phantastikgenre-Grenzwächter strapaziert, handelt sich sich doch strengstgenommen nicht um Phantastik-Fiktionen, in denen Fabelwesen sich die Klinge in die Hand drücken, oder tatsächlich übernatürliche Magie am Werke ist. Die Kriminalstücke mit dem spitzbübischen katholischen Pfarrer aber feiern die Verwirrung stocksteifer Nüchternheit durch (scheinbar) übernatürliche Rästel. — Hier kann ich nun nicht anders und muß ein klein wenig raunzen: Die Art und Weise wie Chesterton Pater Brown als neunmalklugen Menschendurchschauer inszeniert ist für mich als religionskritischer Bright stellenweise schon enervierend. Religiöse geraten darob sicher weniger ins bittere denn heitere Kirchern[06], aber Nichtgläubigen sei dennoch empfohlen, bei solchen Propaganda-Huppeln ruhig Blut zu bewahren und trotz dieser Eigentümlichkeit den Hütchenspieler-Witz Chestertons mit nachsichtiger Neugier zu verköstigen.[07] Schließlich kann auch ein Bright durch G.K.Cs exemplarisches »Crea quia absurdum«-Gentänzel etwas lernen.
Ein ›Erzengel der Unverschämtheit‹ sorgt für »Die seltsamen Schritte«[08] beim jählichen Festmahl des oligarisch-snobistischen Klubs der ›Zwölf wahren Fischer‹ im exklusiven Edelrestaurant des Hotels Vernon. Zum einen begeistert mich hier Chestertons anklagende Analyse der Dünkel reicher Gesellen, wenn er deren eigentümliche Scham beschreibt (S. 62 und 63):
»{…} jene Mischung aus moderner Gefühlsduselei und dem schrecklichen, modernen Abgrund zwischen den Seelen der Reichen und denen der Armen. {…} Sie {die Reichen} wollten nicht brutal sein, aber sie schreckten davor zurück, gütig sein zu müssen.«
Zum zweiten liefert diese Geschichte ihrem Titel folgend (sozusagen) akkustische Phantastik, wenn der mit analytischer Vorstellungskraft gesegnete Pater Brown Klangereignisse erfolgreich zu deuten versteht.
Mit ihrer berauschenden Sinnlichkeit entzückt »Die Ehre des Israel Gow«[09], wenn Pater Brown und seine Freunde in einem düsteren schottischen Tal weilen, um die Rästel von Tod und Testament des letzten Lord Glengyle zu ergründen. Da raunt einem geballt die Athmo düsterer Wälder, heruntergeommener Burgen, irrsinniger Lords und ihrer Gärtner und heidnischer Traurigkeit an, wenn Brown und seine Helfer bei schlechtem Wetter Gräber ausheben und Burg-Inventar begutachten.
In »Apollos Auge«[10] läßt Chesterton seinen kecken Spott weiblicher Technikbegeisterung und esoterischer Sonnenpriester-Scharlatanerie angedeihen. Spätestens mit dieser dritten Geschichte dürfte den Lesern dämmern, daß G.K.C zwar über die tatsächlichen Wirrnisse menschlicher Herzen, Reden und Taten schreibt, sich dazu aber überzeichneter Karikaturen in Kasperltheatermanier statt plausibler Personen bedient. Ein funkelndes Gemmen-Beispiel für Chestertons verbale Comiczeichnerei bietet diese knappe Beschreibung des übermenschenaffinien Apollokirchen-Priesters Kalon und seines raumfüllenden Charismas (S. 121):
»Seine {Kalons} von der Robe umwallte Figur schien den ganzen Raum mit klassischem Faltenwurf zu tapezieren; seine epischen Gesten schienen ihm größere Ausdehnung zu verleiehen, bis die kleine, schwarze Gestalt des modernen Priesters völlig Fehl am Platze schien, ein runder, schwarzer Fleck auf hellenischer Pracht.«
Auch in der letzte Geschichte des Bandes, »Das Duell des Dr. Hirsch«[11] dribbelt der allerweil verschmitzte Pater Brown mit seinem vernünftigen Irrationalismus die phantasielose Rationalität seiner atheistischen Begleiter aus, als es gilt, das Geheimnis staatsgefährdener Spionagemacheleukes zu entzaubern. Aber auch hier, diesmal durch einen Verweis auf den empörenden Dreyfus-Skandal des Jahres 1894, versteht es Chesterton trotz allen Firlefanzes dem Leser Erhellendes über realweltliche Probleme angewandter Infowar-Taktik zu vermitteln.
Statt eines Resummees bitte ich für das Schlußwort ehrfürchtig einen der deutschen Urblogger aufs MoloPodium: Kurt Tuchsolsky[12], der einige Male mit Fanboy-Begeisterung von seinen Chesterton-Lektüreerlebnissen berichtet hat.
Er hat soviel Fett wie Humor. {…} Es wäre hübsch, wenn sich recht viele Deutsche an dieser blitzenden Weisheit eines Krämergeistes jenseits des Kanals erfreuten. Wir habens nötig.
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LINK-SERVICE
- ›Cronn‹ für »Roter Dorn«:
Chestertons Stil ist leichtfüßig und dabei dennoch nicht niveaulos. {…}
- Oliver Kotowski für »Fantasyguide«:
Die Kurzgeschichten dieser Sammlung sind zwar weniger phantastisch, denn ungewöhnlich, aber dennoch immer überraschend und humorvoll. Wer Club Stories und Tall Tales mag, wird hier voll auf seine Kosten kommen.
- Thomas Harbach für »SF-Radio«:
Was die Kurzgeschichte (Drei Reiter der Apokalypse) allerdings zu einem Lesevergnügen erster Güte macht, sind die vielen auch in der deutschen Übersetzung gelungenen Wortspiele, die auch die Phantasie des Lesers zu beschäftigen wissen. {…} Die Geschichten überraschen durch eine überraschende Themenvielfalt {…} Sie sind intelligent konstruiert, auch wenn sie manchmal das Verbrechen nur als unbedeutenden Aufhänger für theologische Diskussionen nutzen.
- Als immer schon überzeugter Freund der Phantastik gerade ich fast in Versuchung (obwohl ich jünger bin), Burkhard Müllers Frohlocken für die »Süddeutsche Zeitung« mit sowas wie onkelhaftem Amusement zur Kenntnis zu nehmen, wenn er jauchzt:
Das ist nicht nur von Anfang an fesselnd, das ist auch noch Literatur!
und kann seinem Resummee ganzen Herzens zustimmen, wenn er schreibt:
{»Apollos Auge«} ist ein Buch zum Mitgruseln, Mitträumen, besonders aber zum Mitdenken.
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ANMERKUNGEN:
[01] Paraphrase von mir auf Moosebachs Vorwort zu
»Orthodoxie« (1908), Eichborn/Die Andere Bibliothek Band 187 (2000), Seitze 13. •••
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[02] Nachwort zu
»Der Held von Notting Hill«, Kerle Verlag 1981, Seite 245. •••
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[05] Im Nachlass von G.K.C. fand man noch eine Handvoll Pater Brown-Stories. •••
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[06] Entsprechend lobtpreist der evangelistische US-Autor
Philip Yancy in seinem Nachwort für
»Orthodoxie« G.K.C. folgendermaßen:
»Sooft ich spüre, daß mein Glaube wieder einmal zu verdorren droht, wandere ich zum Buchregal und nehme ein Buch von G.K. Chesterton heraus, und das Abenteuer beginnt von vorne.«
(Eichborn/Die Andere Bibliothek 2000), Seite 304. ••• Zurück
[07] Alberto Manuel plaudert in seinem Essay
»Chesterton beim Wort genommen« anregend über das Leben, sowie die Schatten- und Lichtschimmer im Werk von G.K.C in
»Im Spiegelreich« (Into to Looking Glass Wood, 1998), Verlag Volk & Welt 1999, Seite 271ff. •••
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[12] Aus dem Text
»Feuerwerk« über den Chesterton-Essayband
»Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge«, in
»Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke, Bd 2, 1919-1920«, Rowohlt 1975, S 167f. •••
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