molochronik

Molos Wochenrückblick No. 55

Eintrag No. 717 — Brutale Woche. Erstens, weil ich kein Sonnenmensch bin und die Invasion des Sommers entsprechend nicht zu schätzen weiß. Die zwanzig Minuten Regenschauer, mit denen ich am Sonntag beglückt wurde, waren mir zu wenig. — Zweitens, weil zwei meiner Kollegen von Krankheit darniedergerafft wurden und ich sechs Tage Dienst hinter mir habe. Dadurch blieb weniger Zeit zum Lesen, Daddeln, Stöbern und entsprechend wenig Links gibt es diese Woche.

Aber: Andrea hat mir von ihrem letzten Kurzaufenthalt in Italien ein hübsches Anti-Atomkraft-Shirt der ›Legambiente‹ mitgebracht. Zu sehen ist der Venezianische Löwe im Simpsons-Stil, mit drei Blinky-Augen und der Pfote auf einem Atommüll-Fass (statt dem Buch der Stadt).

Lektüre: Immer wenn ich besonders wenig Zeit und Nervenstärke fürs Lesen erübrigen kann, greife ich auf die exzellente Hörbuchfassung von Neal Stephensons »Barock-Zyklus« zurück. Im Lauf der letzten Woche habe ich das zweite Drittel dieses gigantischen Werkes, Band 2 »The Confusion«, zu Ende gehört und bin weiterhin äußerst entzückt davon, wie gekonnt Simon Prebble den Roman vorträgt. — Kurze Hörprobe gibt es bei ›Audible‹.

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In zwei Tagen unterwegs weggeschlürft habe ich das neueste auf Deutsch bei Tropen erschienene Buch von Douglas Coupland: »Marshal McLuhan. Eine Biographie«. Dazu muss ich sagen, dass ich (bisher) kaum eine Ahnung von McLuhan hatte, außer, dass er in den Sechzigerjahren prophetische Bücher über unsere moderne Medienwelt geschrieben hat. Natürlich kenne ich die zwei Aussagen von ihm, die zum fixen Fundus eines jeden Bullshit-Bingos zum Thema moderne Medienwelt gehören: — 1) »Das Medium ist die Botschaft« (gemeint ist laut Coupland: »der augenscheinliche Inhalt sämtlicher elektronischer Medien ist unerheblich und das Medium selbst hat eine viel größere Auswirkung auf die Umwelt und Konsumenten«); — 2) »Die modernen Medien machen die Welt zu einem globalen Dorf« (gemeint ist: »elektronische Technologien sind eine Ausweitung des menschlichen Zentralnervensystems und die kollektiven Nervenleitungen unseres Planeten bilden eine einzige blubbernde, diffuse, quasi-fühlende, rund um die Uhr akrive Meta-Community«). — Coupland bereitet das Thema kurzweilig und doch eigenwillig auf. Seine Art, sich eher wie ein Objektkünstler dem Schreiben zu widmen ist offenkundig, wenn er wie bei einer Collage Anagramme, Internet-Auszüge und Zitate zu einem großem Gedankenbild anordnet. Zudem traut er sich, seine sehr persönliche Sicht auf McLuhan anzubieten, was das Buch zu einer weniger verkopften Angelegenheit macht, als man bei dem Gegenstand befürchten mag. — Wichtig ist Coupland unter anderem, dass die körperliche Verfassung, vor allem die dies Gehirns, zum Verständnis der Besonderheit eines Denkers wie McLuhan ist. Ein Beispiel dafür (wie auch für Coupland persönliche Färbung) liefert eine Fussnote auf Seite 61, bei der ich Tränen gelacht habe:

Halloween 1988 habe ich mit dem Rauchen aufgehört. Im Dezember lief ich durch einen Schneesturm, nieste wie noch nie zuvor in meinem Leben und hatte danach einen Gewebeklumpen in der Hand, der aussah wie eine kernlose grüne Weintraube. Durchzogen von blutigen Äderchen. Ich war natürlich mit den Nerven am Ende und lief sofort zum Arzt, der mir erklärte, ich solle dankbar sein, »Immerhin ist es jetzt draussen«.

Hier geht es zu den ersten 26 Seiten des Buches als PDF-Leseprobe.

Hier ein Schmankel zum Kennelernen von McLuhan ein vierteiliges Youtube-Video (genauer: Tonmitschnitt) eines Vortrages. Leider ist nicht angegeben, wo und wann McLuhan diesen Vortrag gehalten hat, wahrscheinlich irgendwann in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre. Man bekommt einen guten Eindruck, warum McLuhan als provokaten Thesen verbreitender Prohet und fesselnder Redner galt: Marshall McLuhan - Address to Author's Luncheon (1 von 4).

»L. A. Noire« für die Playstation 3.Spiel: Freund David hat bereits gemeldet, dass ihn »L. A. Noire« enttäuscht hat, er aber gespannt ist, wie ich dieses Spiel finde. Ich hatte bis Sonntag noch Dienst, und damit nicht wie David die Möglichkeit »L. A. Noire« in kurzer Zeit durchzudaddeln. Vielleicht ein Vorteil, denn die knappen Sessions, die ich bisher als Kommissar Phelps im Los Angeles des Jahres 1947 verbachte, haben mir sehr gut gefallen. — Okey, es dauerte einige Zeit, bis ich mich an den Stil des Spieles gewöhnt habe. Bei den bisher von mir gespielten Rockstar-Titeln (der moderne Gangster-Kracher »GTA IV« inkl. seiner beiden Erweiterungen und das Spätwestern-Epos »Red Dead Redemption« inkl. der Zombie-Erweiterung) konnte ich weitestgehend frei Schnauze durch die Welt eiern und viele unterschiedliche Dinge abseits der Haupt- und Neben-Geschichte(n) anstellen. Deshalb gelten diese Spiele auch als ruhmvolle Beispiele für das ›Open World‹- oder ›Sandbox‹-Spiel-Genre. Im Gegensatz dazu verschleiert »L. A. Noire« kaum, dass der Spieler auf einem ziemlich gradlinigen Pfad durch die Geschichte gelotst wird. Zudem kann man sich nicht wie in bisherigen Rockstar-Welten nach Herzenslust benehmen. Als Gesetzteshüter ist man angehalten, keinen Sach- oder Personenschaden anzurichten. Kein chaotisches Remmidemmi also, was durchaus schade ist. Allerdings wird dieser ›Makel‹ (für mich) wieder mit der Athmosphäre und Geschichte ausbalanciert. Das Spiel macht auf mich, trotz der ein oder anderen humorigen Nuance, einen erstaunlich reifen und erwachsenen Eindruck. Der Ton und die Figurenzeichnung von »L. A. Noire« sind sozusagen die Umkehrung von »GTA IV« und »Red Dead Redemption«: bei den beiden Vorgänger dominierte deftige, mitunter zynische Satire den Gesamteindruck, und hie und da eingestreute ernste Facetten erinnerten an die grimmigen Tatsachen der realen Welt, die dem Weltenbau der Spiele zugrundeliegen. Bei »L. A. Noire« wird man als Ermittler Phelps Stück für Stück in die unangenehme Position bugsiert, hilflos zu durchschauen, dass man als Handlanger der politisch gut vernetzten Übeltäter einen Unschuldigen nach dem anderen als Sündenbock einbuchtet. — Ich bin schon gespannt, wie die ganze Geschichte ausgeht.

Nachtrag: Freund Volker B. hat in seinem Blog ›Random:Notes‹ mehrere Einträge zu »L. A. Noire« geschrieben: einmal seine allgemeinen Eindrücke nach der ersten Spielsitzung: L.A. Noire (I); für die Website von T-Online dann diese (auch oben beim Cover des Spiels verlinkte) Rezension Der Tod in der Stadt der Engel; und wieder in seinem Blog diesen quirligen Bericht einer längeren Session in etwa aus der Mitte des Spieles: L.A. Noire (III) – jetzt mit +++ Liveticker +++.

Netzfunde

  • Ich sammle ja Anthologien. 1) Weil die sich vorzüglich eignen, Kenntnisse zu erweitern, unnützes Wissen anzuhäufen & sich neuen und unbekannten Themenfeldern zu nähern; 2) Weil mein Anthologie-Vorrat mich davor bewahrt, nicht zu wissen was ich lesen soll, da Anthologien prima Lesekitt zwischen zwei Büchern sind. — Zu meinen Lieblingsanthos gehört »Eyewitness to History«, herausgegeben von John Carey, Avon Books 1990 (US-Augabe von »The Faber Books of Reportage«, 1987). — Zwar hatte ich noch nicht viel Zeit zum Stöbern, finde es aber doll, dass man diese Anthologie-Idee auch ins Internet übertragen hat: EyeWitness to History (Augenzeugen der Historie).
  • Peter Bürger hat für ›Telepolis‹ einen fünfteiligen Artikel über den römisch-katholischen Männerbund verfasst: Die große »Mutter Kirche« und ihre Söhne.

    Apropos: Hat zwar nichts mit Bürges Artikel, aber mit Kirche und Christen zu tun. Was mich wundert ist deren großes Schweigen dieser Tage. Im »Spiegel« und anderswo wurde vergangene Woche berichtet, wie ein altbekanntes Hamburger Versicherungshaus Mitarbeiter mit einer Runde Ringelpiez mit Anfassen in Prag ›belohnte‹, kurz: ‘ne Sexorigie auf Kosten des Hauses. Ist einerseits eine feine Art der Belohnung, gleichzeitig schweißen solche gemeinsame ›verruchte‹ Erlebnisse zusammen und machen erpressbar. Angeblich sollen Belohnungs-Veranstaltungen dieser Art verhältnismäßig verbreitet sein (was ich mir durchaus vorstellen kann und für wahrscheinlich halte, auch wenn ich nicht glaube, dass viele Firmen solche Veranstaltungen übers offizielle Konto abrechnen). — Was mich nun völlig verdutzt, ist, dass kein Christenprediger, die sich ja sonst gerne mal in alles mögliche populistisch einmischen, hierüber ein Wort äußert. Oder ich hab’s nicht mitbekommen?

  • Zu den Autorinnen, die ich außerordentlich schätze, über deren Bücher (z.B. »Schiffsmeldungen«, »Mitten in Amerika« und die Sammlungen mit Kurzgeschichten aus Wyoming, deren bekannteste wohl »Brokeback Mountain« ist, verfilmt von Ang Lee) ich aber bisher noch nichts in der Molochronik geschrieben habe, gehört die Amerikanerin Annie E. Proulx. Hier bei ›Slow TV‹ habe ich ein Video gefunden, in dem sie mit dem australischen Autor Tim Flannery über die Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Kunst plaudert: Science is the new art. Ist anfangs etwas zäh, aber wenn Proulx und Flannery anfangen, von ihren Naturerlebnissen zu erzählen, wird es hochspannend.

Zuckerl

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Otto Kallscheuer: »Die Wissenschaft vom Lieben Gott«

Eintrag No. 353 — Was die für mich bisher und ansonsten vorzügliche Reihe »Die Andere Bibliothek« angeht, so dachte ich bis jüngst, dass es da weder Mittelmäßiges noch gar Schlechtes gäbe. Nun aber bin ich eines besseren belehrt worden, denn zur Jahreswende habe ich mir »Die Wissenschaft vom Lieben Gott« von Otto Kallscheuer (wenn auch nur als Taschenbuch) gegönnt.

Vergnügt hat mich das Buch schon, auch und gerade indem es mich uffgeregt und genervt hat. Kallscheuer babbelt die meiste Zeit derart flappsig und kalauernd daher, dass ich mich frug, ob ich es hier mit einem (Möchtegern-)Komiker zu tun hab. Den glaubensverteidigenden Humorleistungen eines G. K. Chesterton kann Kallschauer jedoch nicht das Wasser reichen und so wirkt die Witzischkeit von »Die Wissenschaft von Lieben Gott« desöfteren mehr wie aufgesetztes Ornament, nicht wie tragende Struktur. Die besteht leider aus jenem (für mich Ungläubigen mal zutiefst unheimlich, mal putzig anmutendem) kirrem, sturem und treuherzigem Postulieren von Absolutismen, also ›Überdrübergehtnixmehr‹-ismen, welche unter dem exotisch und ehrwürdig klingenden Namen Theologie angeredet werden dürfen.

Theologie geht ja so: verleibe Dir möglichst viel von der Konkurrenz ein (antiker Philosophie, Heidentum, Volksaberglaube), steigere all das dann zum Besten, Größen, Herrlichsten, Mächtigsten usw. und wenn jemand dann auf die Fehler, Widersprüchlichkeiten und Unklarheiten aufmerksam macht, redet man sich raus mit dem Hinweis, dass über GOtt zu reden oder ihm gar mit Vernunftargumenten beikommen zu wollen eh eine Knieschußaktion ist, weil unsere menschliche Sprache zu unvollkommen, unser menschlicher Verstand zu begrenzt, unsere menschliche Existenz zu beschränkt seien, um sprechend, denkend oder seiend IHM, DER DA IST wirklichend gerecht werden zu können. Nur wer wahrhaft glaubt, kann der Gande zuteil werden, irgendwie und ungefähr GOtt zu erfahren und SEINE HERRLICHKEIT ein izzi-bizzi-wenig aber mystisch zu schauen.

Wer sich ordentlich über die Geschichte theologischen Denkens informieren will, kann sich das Buch sparen, denn es bietet weder eine historische noch eine thematisch sinnvolle Aufbereitung des monotheistisch-theologischen Denkens und Glaubens. Vor allem aus den ersten zwei Dritteln kann man aber durchaus erfahren, aus welchen Legosteinchen der Glaube an einen absoluten persönlichen Eingott zusammengesteckt wurde.

Die Verstiegenheit des Buches fasst sich im letzten Absatz selbst ganz prächtig zusammen, wenn es heißt, dass die Globalisierung, also die ethisch-politische Vereinigung zu einem Königreich, ein Projekt Gottes sei, inklusive der wissenschaftlich-technischen Erforschung und Durchdringung der Welt. — Das ist richtig gruselig, denn durch das Buch zieht sich als ein roter Faden (oder als Achse des Westlich Guten™???) die Lobpreisung eines gewissen Bildes vom geistig-philosophischen Westen (für Kallscheuer eben die Essenz der drei Monotheismen Judentum, Christentum und Islam). Hiermit ist eine Denkart gemeint, bei der es noch EINE höhere Zielgerichtetheit, EINE teleologische Schöpferabsicht in der Welt und für uns Individuen, eben EINE Wahrheit gibt. Entsprechend hat das Buch nur Spott und Schimpf für antike und moderne Phantasmen-Vielfältigkeiten übrig (ganz nach dem Gebot: »Du sollst kein Trugbild haben neben mir«), grämt sich über die Popularität von fernöstlichem, weichgewaschen-christlichen und pokulturll-beliebigen Glauben. Diskurse die wahrhaft kritisch zu werden drohen sind Kallscheuer abhold.

Zudem: Ulkige Fehler lassen sich finden. Kallscheuer zitiert zwar alle möglichen obskuren Katholen mit Inbrunst, aber aus dem ägyptischen, einen Falkenkopf tragenden Gott Horus macht er einen ›Stiergott‹ (S. 161), und aus Hergé, dem Schöpfer von Tim & Struppi, wird ›Hervé‹ (S. 386).

Das Buch bietet auch Lobenswertes: da ist als erstes der dialogische Aufbau des Textes zu nennen, welcher im Großen und Ganzen für eine lockere Lesbarkeit sorgt (ein paar Kapitel gehen trotzdem wegen ihrer eintönigen »GOtt ist groß«-Formelhaftigkeit schwer runter); dann ist der Spott und die Schimpfe, die Kallscheuer den ganz engsternigen (Un-)Glaubensgenossen angedeien läßt, erfrischend zu lesen, und so genoß ich die verbalen Kopfnüsse und Brennesseln gegenüber Kreationisten, Wohlfühl-Esotrikern und Bequemlichkeits-Atheisten; und drittens amüsiert das Buch streckenweise mit seinen begeisterten Science Fiction- und Fantasy-Einlagen, wenn zum Beispiel quantentheoretische Multiversum-Spekulationen, oder freakige Jesutien-SF über den Omegapunkt der Evolution referiert werden.

Am meisten auf den Wecker gegangen ist mir allerdings die Art, wie Kallscheuer sich selbst in seinem Dialog immer wieder das Wort verbietet, ja geradezu anherrscht, nur bis hier und nicht weiter zu spekulieren, zu fragen, und also das Maul zu halten:

»Lassen wir das! Das wäre schon wieder eine andere Debatte {…} Ihre Frage ist ja sinnvoll, aber hier muß ich die Notbremse ziehen {…} Darum lassen wir hier die Finger davon, mon cher {…} Halt! Zu diesem Punkt entziehe ich Ihnen (und mir) das Wort {…}«

Nene, von einem guten Sachbuch erwarte ich anderes.

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Otto Kallscheuer: »Die Wissenschaft vom Lieben Gott. Eine Theologie für Recht- und Andersgläubige, Agnostiker und Atheisten« 486 Seiten, XVIII Kapitel; Die Andere Bibliothek, 2005 (gebunden), ISBN: 978-3-821-84561-6; — Piper, 2008 (Taschenbuch) ISBN: 978-3-492-25221-8

»Blumengarten vor der Seele« — Zitate von Jean Paul … und Uffreschung über ›Christen‹-Schmarrn

Eintrag No. 267 — Vor einiger Zeit hab ich mir die Hanser-Box mit den Werken Jean Pauls billig aus dem Ramsch gezogen. Jean Paul ist sicherlich ein geistvoller Autor, aber er ist auch ein großer gewundener Schwätzer vor dem Herren. Dennoch, lohnt sich bei ihm reinzulesen. Schöner alter Stil, mit Strichpunkt und Bandwumsätzen, die ganz fein und lebendig das echte ›Vor sich hin Denken‹ abbilden.

Was mich nervt an Jean Pauls Schreibe, ist, daß der Mann nicht zu Potte kommt. Da gibts Einleitungen und Vorwörter bis zum Abwinken, so richtig auf Handlung bin ich noch nicht gestoßen. Ist aber vielleicht auch egal, denn ich genieße die muntere Sprache und Gedankenspielerei, wenn ich beim Querblättern darüber stolpere, auch ohne daß sich 'ne Story bietet.

Gestern abend bin ich über das ›Jus de Tablette für Mannspersonen‹ Nummero Eins gestolpert, daß mich als Phantast freilich brennend interessiert, da es darin »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft« geht. In der dritten Abteilung des »Quintus Fixlein«, Hanser 1975, Band 7, S. 195ff.

Da der Spielraum der Sinne enger ist als der Phantasie: so entsteht die Täuschung, daß wir uns jene nur in den Ketten des Körpers und diese nur in den Zügeln des Willens denken, da wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen.
{…} So zieht das Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, um das gelobte Land der Zukunft.
{…} Noch größer ist die phantasierende Kraft, wenn sie auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht.
{…} Im Rausche dringen die Wolken der innen brennenden Räucherkerzen hinaus und legen sich außen an den Gegenständen an und geben ihnen eine vergrößerte, abgeründete, zitternde Gestalt.
{…} In der Liebe ist das Amalgama der Gegenwart mit der Phantasie noch inniger. … eine geliebte Person hat den Nimbus einer abwesenden — einer gestorbenen — einer dramatischen. —
{…} Leute, deren Kopf voll poetischer Kreaturen ist, finden auch außerhalb desselben keine geringern. Dem echten Dichter ist das ganze Leben dramatisch, alle Nachbarn sind ihm Charaktere, alle fremde Schmerzen sind ihm süße der Illusion, alles erscheint ihm beweglich, erhoben, arkadisch, fliehend und froh, und er kommt nie darhinter, wie bürgerlich-eng einem armen Archivsekretär mit sechs Kindern — gesetzt er wäre das selber — zumute ist.
{…} Wir denken das ganze Jahr weniger mit Bildern als mit Zeichen, d. h. zwar mit Bildern, aber nur mit dunklern kleinern, mit Klängen und Lettern: der Dichter aber rücket nicht nur in unserem Kopfe alle Bilder und Farben zu einem einzigen Altarblatte zusammen, sondern er frischet uns auch jedes einzelne Bild und Farbenkorn durch folgenden Kunstgriff auf. Indem er durch die Metapher einen Körper zur Hülle von etwas Geistigen macht (z. B. Blüte einer Wissenschaft): so zwingt er uns, dieses Körperliche, also hier »Blüte«, heller zu sehen, als in einer Botanik geschähe.
{…} der dramatische Dichter überwältigt uns durch die Verwandlung der Wochen in Minuten und erweckt, indem er die tragische, vielleicht über Jahre hingesponnene Geschichte in wenige Stunden zusammenzieht, unsere Leidenschaften bloß darum, weil er ihnen gleicht, da sie auch wie Taschenspieler und Heerführer uns durch Geschwindigkeit berücken.

Weiter bin ich gestern abend beim Zu-Bett-gehen-Lesen nicht gekommen. Komisch. Warum hat dieser Jean Paul vor 200 Jahren (genauer: 1796 ist Quintus Fixlein erschienen) klüger, unverkrampfter und anregender über Phantastik schreiben können, als die ärgsten Fantasy-, SF- und Horror-Liebhaber heute (von den ›Literatur‹-Experten und bezahlten Meinungsschiebern mal ganz abgesehen)? Oder bin ich nur mal wieder schlecht drauf ohne es zu merken?

— Kann sein, die gegenreformatorische De-Sekularisierung durch unsere Grinse-Familien-Ministerin und der Posse vom geheuchelten C, und die »Popetown«-Hysterie von Menschen die nie MTV schaun, und die Überlegungen zur Verschärfung des Blasphemieparagraphen, mich nicht gerade ›happy‹ machen dieser Tage. Zu letzterem, der Blasphemie, hätt ich aber 'nen Büschel Gedanken anzubieten.

So eine Verschärfung der Blasphemieahndung könnt' ich akzeptieren, wenn dabei neutral ALLEN Glaubensrichtungen eine entsprechende Kartätsche gegen ALLE ANDEREN Glaubensrichtungen zugestanden wird, also: • Rückwirkende Verhandlung der Zerstörung religiöser Symbole, Orte und Einrichtungen der Heiden durch die Christen (Entschädigung für gefällte Eichen, zerstörte Heiligtümer, Rückgabe heiliger Orte an ihre ursprünglichen Religionsgemeinschaften); • Rückwirkende Verhandlung des Bauernlegens durch die Zisterzienser usw; • Zudem: Wenn Christen gegen andere klagen können sollen, wenn sie ihren Glauben ungebührlich arg in den Dreck gezogen wähnen, warum sollten dann nicht auch Nicht-Religiöse dieses Recht erhalten. Dann könnte ich als an die Evolution ›Glaubender‹ wegen Blasphemie gegen jeden Christenphantasten klagen, der mit seinen Wahnwitzmärchen vom Intelligent Design oder Kreationismus über ›meine geheiligte Naturwissenschaft‹ abketzert.

Und wie sieht es aus mit einem Blubberblasenstatement der Frau Ursula von der Leyen (›C‹DU)

»Auf christlichen Werten basiert unsere gesamte Kultur.«

Das kann, ja das muß man als Blasphemie deuten. Christen haben das Feuer und das Rad erfunden, ja ja. Wie naiv muß man eigentlich sein, um so ein Leyen-Geschwätz zu glauben? Arrg, mein Pessimismus raunt mir, daß allzuviele Leut gern bereit sind an so eine Vereinfachung zu glauben. Mein innerer Schelm tröstet mich, und erinnert mich daran, daß diese christlich-politischen Propagandaschlümpfe auf ihre Art lustig sind. —Forward christian soldiers…

»Kniet nieder vor Maria Magdalenas Gebeinen«, oder:Dan Brown: »The Da Vinci Code«

EDIT: Neu formatiert und 1x überarbeitet.

Eintrag No. 222Prolog: Im Louvre mordet nächtlings ein bleicher Schreckensmönch den Kurator. Der Mörder flüchtet, das Opfer stirbt mit zwanzigminütiger Verzögerung und hat noch die Fassung, sich selbst zum Anfangsrätsel einer Schnitzeljagd zu drapieren. Das Abenteuer eines amerikanischen Historikers Landon und einer (jüngeren) fränzösischen Polizeikryptologin Sophie — deren Großvater das Mordopfer war — kann beginnen. Die Hatz wird ca. 24 Stunden dauern, und nach 105 knappen Kapiteln (oder 487 Seiten) im Epilog mit einem Kniefall enden.

Nach all dem Gewese über »The Da Vinci Code« bin ich als den gehypten Narrationen gegenüber skeptisch Veranlagter baff, wie vergnüglich sich der Roman in knapp zwei Tagen wegschlürfen ließ. Keine tiefsinnige Lektüre, aber eine kurzweilige.

Der ganze Spannungs-Aufbau folgt der Tradition der Schatzssuche mit Rätselspielen. Stark erinnert hat mich das Gegrübel über Verse die einen mit ›thee‹ anreden an Justus, Peter & Bob (»Die drei ???«, »The Three Investigators« im britischen Original) — in z.B. »Geheimnisvolle Erbschaft« oder »Schreiender Wecker«. Einige der Rätselantworten habe ich vor den Schatzsuchern erraten (z.B. das Isaac Newton-Rätsel); genervt hat mich lediglich, wieviel Gedöhns um das Erkennen von simpler Spiegelschrift gemacht wird. Wobei ich nichts dagegen habe, wenn Leser rätseln sollen und auf die Folter gespannt werden. Aber ich finde es lächerlich, wenn ein Autor dem Leser ermöglicht, besserwisserisch über den Figuren zu stehen.

Die Polizei folgt der falschen Spur, denn der ermittelnde Kommissar hält Langdon für den Kurator-Mörder und ist eine Bedrohung für die Helden, die wiederum wissen, daß ihre Schatzssuche ein Rennen gegen den wahren Mörder des Kurators ist. Konventionell aber gut gemacht, wie das Zusammenspiel von Schatzsuche und Flucht Spannung erzeugt. Allein bis der Historiker und die Kryptologin der Hochsicherheits-Mausefalle des Louvre entkommen, verstreichen 146 Seiten. Dann gehts aber auch schon zu den Gnomen von Gringots, ähh, Zürich, die einen Schatz freigeben: freilich nur ein weiterer codierter Puzzlestein.

Das Fruchtfleisch des Romanes und der Intrigen bilden nun christliche Wahrheits-Streitigkeiten und Geheimverschwörungen (es gibt auch ›öffentliche Verschwörungen‹, wie H. G. Wells-Kenner wissen): Das Christentum wurde von machtfixierten Männern — noch dazu römischen Heiden wie Kaiser Konstantin — verhunzt. Alles Allzu-Menschelnde wurde aus der Bio von Jesus getilgt. Nix da, von wegen, daß Jesus der Rabbi mit Maria Magdalena verheiratet war, und schon gar nicht hatte er Kinder (Sarah) mit ihr, also eine menschliche Familie, die nach der Kreuzigung in Südfrankreich untertauchten konnte. Die Messias-Familie als ›Heiliges Blut‹, vulgo: DER GRAL, gehütet von seinen Untergrund-Gralsritten. Soviel geschichtlicher Hintergrund ist für den armen Langdon aus den USA freilich zuviel, da ist es trefflich, daß nahe Paris Sir Teabing lebt, ein reicher, exzentrischer britischer Historiker und Experte in Sachen Gralslegende, bei dem Langdon und Sophie Unterstützung finden. Nun können die beiden akademischen Geheimnis-Nerds die verwirrte Sophie zutexten mit Infos. Das Mädel wird auch sowas von geplagt von visionsartigen Erinnerungen an ihre letzte Begegnung mit ihrem Großvater {SPOILER markieren: •••Kultsex auf subterranen Altar•••}.

Das alles bleibt für mich größtenteils unspannend, denn populäre ›Sachbücher‹ zum Thema (z.B. »Der Tempel und die Loge«, wuhaa) kenne ich seit Teenagerzeiten, wie auch die von Dan Brown erwähnte Gral-Tarot-Connection. Um mir zu denken, daß mit der katholischen Kirche (oder dem Christentum) was nicht stimmt, brauche ich weder einen Krimi, noch den ganzen Eso-Schmonzes aus dem Verschwörungstheorienbegiet. (So kann die hiesige Literatur sich rühmen, einen seriöseren Historien-Bespiegler und Fabulatur wie Karlheinz Deschner zu haben, der mit seiner »Kriminalgeschichte des Christentums« weitaus profunder den kirchlichen Nimbus entzaubert.) Die Früh-Katholen wollten, daß Jesus mehr Gott als Mensch ist und entsprechend Superhelden-mäßig empfangen (durchs Ohr) wurde sowie von uns ging (Himmelfahrt). Die Gralsjünger aber wissen, daß es eine Jesus-Familie gab, mit Jesus-Familien-Stammbaum und Nachkommen, die bis heute als gut gehütete Exilanten im Verborgenen leben. Soll von mir aus beides stimmen — meine Privatspinnerei zu Jesus geht gaaaanz anders: mir bereitet es Vergnügen, einiges von »Ben Hur« mit der Bibel (inklusive den Apokryphen) zu vermengen.

FIKTION:

Jesus war womöglich der Sohn eines mächtigen Römers und einer adeligen Jüdin (oder umgekehrt: Vater mächtiger Jude und Mutter adelige Römerin), der es als Revoluzzer-Prediger schafft, die Menschengesetzte der New World-Order-Imperialen und der starr-konservativen Lokal-Theokraten zu einem tragischen Knoten um den eigenen Hals zu schlingen. Christus hatte eindeutig einen zu heftigen Todeswunsch als Brennkern seiner holistischen Weltliebe.

FIKTIONENDE

Aber ich komme vom Thema ab. Moment — hmm, wundert mich, daß die Katharer nicht erwähnt werden. Sei's drumm — immerhin: Templer (Freitag der 13.), Troubadure und die Merowinger finden sich alle ein in »The Da Vinci Code«.

Die stärkste Figur ist für mich Sir Teabing, und ich freue mich schon auf Ian McKellen in der Rolle, wenn er (hoffentlich) meint: (»My friends, I am far more influencial in the civilized world than here in France«S. 309).

Die Abschnitte mit dem mordenden Albino-Mönch (komplett mit dornengespickten Kasteiungsgürtel; also ein Intimbereichs-St. Sebastian) mag im Roman manchen unheimlich und packend am Ende sogar »Das Parfüm«-artig tragisch anmuten — ich fands zu routiniert. Wer charakterlich gut entwickelte Fanatiker lesen mag, dem empfehle ich z.B. die ›H.E.I.N.Z.‹-Islam-Jungs in »Zähne zeigen« von Zadie Smith. — An sowas arbeiten wir noch, gell Mr. Brown.

Nett zu lesen ist der Roman auch noch als Touristik nach Paris und London, inklusive Bildbetrachtung von Leonardo-Gemälden, sowie Kirchen-und Louvre-Besichtigung. Die korrekte Genre-Bezeichnung lautet ungefähr: Krimi-Fantasy. (Nicht zu verwechseln mit einem Fantasy-Krimi wie den Lord Darcy-Geschichten von Randell Garrett.)

Dan Browns »The Da Vinci Code« ist ¿neben/vor? »Das Fouccaultsche Pendel« von Umberto Eco der wohl erfolgreichste Verschwörungs-Roman der letzten 20 Jahre. Darüberhinaus kann man beide Bücher kaum fair vergleichen, denn das Pendel ist für geduldigere Gemüther geschrieben, als der schnellgeschnittene Code. Das Pendel ist was für ›literarischere‹ Leser, wer zum Code neigt, bevorzugt schlicht ›'ne flotte Story‹. Wenn es Charakterklassen für Leser gäbe, würd ich sagen, daß Browns modernes Indiana Jones-Szenario für Erstlevel-PCs taugt, wohingegen Eco was fürs Experten-Set ist.

Die Seitenangaben beziehen sich auf die amerikanische Taschenbuchausgabe.

Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist ›Der Herr der Ringe‹ ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«

ERGÄNZ — 24. Juli 2014: Einige Links führten mittlerweile ins Nichts und ich habe sie geändert oder rausgeschmissen.

Unbedingte Leseempfehlung spreche ich für die in der Zeit seit Erstbloggens dieses Eintrags erschienenen Aufsätze von Peter ›raskolnik‹ Schmidt aus, der in seinem grandiosem Blog ›Skalpell & Katzenklaue‹ einige sehr klar argumentierte, klug belegte Texte über Tolkien und sein Werk veröffentlicht hat. Näheres ganz am Ende bei den ›Woanders‹-Links.

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Eintrag No. 127 – Wie sehr wurde »Der Herr der Ringe« {desweiteren LOTR genannt} und die gesamte Mittelerde-Schöpfung beeinflusst durch den Umstand, daß Tolkien ein tiefgläubiger katholischer Christ war? Für die Anregung zu dieser Frage bin ich den Teilnehmern eines Thread bei SF-Fan zu Dank verpflichtet. Ein Beiträger meinte, daß Tolkiens Gesamtwerk nichts mit Religion zu tun habe, und J.R.R. lediglich einen Mythos bzw. eine Sagenwelt für England erschaffen wollte, weil es dort so etwas wie zum Beispiel die deutschen Heldensagen, die nordischen Sagas usw. nicht gäbe.

Also was nun?

Der Mehrheit des Lese- (& Kino-, DVD-) Publikums ist es sicherlich ziemlich schnurz, ob Tolkien mit LOTR nun eine zutiefst heidnisch/sagenhafte oder eine innig christlich-katholisches Zweitschöpfung gestalten wollte.

Mit dem folgenden, lockeren Durcheinander an Belegen für Einflüsse des katholischen Glaubens auf die Gestaltung von Mittelerde, will ich niemandem seinen/ihren heidnischen, atheistischen, oder einfach-so-Spaß an LOTR vergällen, sondern lediglich darauf aufmerksam machen, welche tieferen Schichten sich offenlegen lassen, wenn man sich auf so was wie eine ›Intention Auctoris‹ (= Absicht des Autoren) einzulassen gewillt ist.

Hobby-Exerzitien eines Hobbit-Erfinders

Mir ist schon klar, daß man LOTR und Mitterlerde von zumindest diesen drei Seiten abklopfen muß, wenn man gerecht sein will:

  • Als persönlichen Ausdruck einer ausgeprägten katholischen Frömmigkeit;
  • Als Neu-Aneignung alt-europäischer (vor allem nordischer) Mythen;
  • Als linguistische, geographische und genealogische Laubsägefrickelei (siehe Schlüsseltext »Leaf by Niggle«).

Es ist kein Geheimnis, daß Tolkien ein überaus hingebungsvoller Katholik war, der sich die heilige Kommunion versagte, wenn er nicht zuvor gebeichtet hatte; — der als Apostel seinen Freund und Kollegen C.S. Lewis zu missionieren trachtete (und sehr enttäuscht war, als dieser sich dann für den anglikanischen Glauben entschied); — dessen Frau vom Protestantismus zum Katholizismus konvertieren musste, um den strenggläubigen Tolkien heiraten zu können (ein Thema, daß sich womöglich z.B. in der Beziehung Arwen und Aragorn, und anderen Beziehungen von Sterblich-Unsterblichen wiederspiegelt).

In der Tolkien-Biographie (Klett-Cotta/Ullstein; 1983) von Humphrey Carpenter begann ich meine Spurensuche:

Seite 111: »Mittelerde ist unsere Welt«, schrieb er {Tolkien}, mit dem Zusatz: »Ich habe (natürlich) die Handlung in eine rein imaginäre (wenn auch nicht ganz unmögliche) Periode des Altertums gerückt, in der die Kontinente eine andere Form hatten.«

Kurz darauf resümiert Carpenter {Hervorhebung von mir}:

Seite 111: Es {Tolkiens Mittelerde-Werk} widerspricht nicht dem Christentum, sondern ergänzt es. In den Legenden wird Gott nicht angebetet, und doch ist er da, und im Silmarillion wird er ausdrücklicher genannt als in dem Werk, das daraus erwuchs, dem Herrn der Ringe. Tolkiens Universum wird von Gott »dem Einen«, regiert. Unter Ihm in der Hierarchie stehen die »Valar«, die Hüter der Welt, die keine Götter, sondern engelhafte Mächte sind, ihrerseits heilig und Gott untertan; {…} Tolkien gab seiner Mythologie diese Form, weil er wünschte, daß sie fern und fremd, zugleich aber keine Lüge sei. Er wollte, daß die mythologischen und legendären Erzählungen seine eigene moralische Sicht der Welt aussprechen sollten, und als Christ konnte er sie dann nicht in einem Kosmos ohne Gott stellen, den er verehrte. {…}

Seite 112: Als er das Silmarillion schrieb, glaubte Tolkien in gewissem Sinne, die Wahrheit zu schreiben. Er nahm nicht an, daß genau die Völker, die er beschrieb {…} auf Erden gelebt und getan hätten, was er berichtete. Doch fühlte oder hoffte er, daß seine Geschichten in gewisser Hinsicht eine starke Wahrheit verkörpern.

Und gemeint ist religiöse, genauer: Tolkiens individuelle christlich-katholische Wahrheit, nicht die Art von belegbarer Fakten-Evidenz, die unseren modernen Wahrheitsbegriff prägt.

Weiter bei Carpenter:

Seite 113: Tolkien glaubte fest daran, daß es einmal ein Eden auf Erden gegeben habe und daß die Ursünde des Menschen und seine Verstoßung aus dem Paradies an den Übeln der Welt schuld sei.

••• Nebenbei: Eden weiß ich jetzt nicht genau, aber Paradies kommt aus dem Persischen und bedeutet ungefähr »(künstlicher) Garten mit Zaun drum herrum«. •••

Die entscheidenden Wendepunkte der Mittelerde-Historie werden bestimmt von selbstsüchtiger Eigenwilligkeit oder direktem Widerspruch gegen den Schöpfergott-Willen, beginnend mit Melkors aufsässigem Gesang als (luziferisches) Gegenthema zur Musik der Ainur; — über den Mord von Smeagol an Deagol, der sich wie die verschiedenen Geschwisterkämpfe der Elben als Vor-Echo von Kain und Abel lesen läßt; — bis zu den verschiedenen Gelegenheiten, bei denen menschliche Könige oder kleine Hobbits sich weigern, den Einen Ring zu zerstören.

Bei all diesen Gelegenheiten finden sich starke Anklänge auf die katholischen Melodien von der Vorhersehung Gottes, der gnadenreichen Erlösungsgeschichte, jedoch eingedenk der Notwendigkeit des freien Willens, durch den zwar das Böse in die Welt kam, welches sich aber als notwenige Stimme im (für die Geschöpfe undurchschaubaren) großen Heilsplan Gottes entpuppt.

»Wie das?«, mag der unbedarfte Mittelerde-Tourist berechtigt fragen.

»Zum Beispiel beim LOTR-Showdown«, ist ein Gedanke den ich anbieten mag.

ACHTUNG SPOILER! Frodo und Gollum sind bei ihrem finalem Ringen um den Ring beide dem Bösen verfallen, doch aus dem Kampf von zweien in diesem Moment bösen Figuren, fügt sich eine völlig unvorhersehbare (stolpernde) Zufallsbefreiung von einem großem Übel. Gollums Purzler in die Lava lässt sich mit den selben Worten begründen, mit denen Gandalf erklärt, warum Bilbo damals unter den Nebelbergen im Dunkeln kriechend den Einen Ring fand, welcher seinerseits Sauron-willig den deformierten Fischmampfer verlassen hatte:

Seite 74: »Dahinter war noch etwas anderes am Werk, unabhängig von allen Plänen des Ringschmieds. Ich kann es nur so ausdrücken, daß es Bilbo beschieden war, den Ring zu finden – und zwar nicht von dem Schmied.« ••• Einbändige Klett-Cotta Ausgabe; Übers.: Wolfgang Krege.

Seite 69: »Behind that there was something else at work, beyond any design of the Ring-maker. I can put it no plainer than by saying that Bilbo was meant to find the Ring, and not by its maker.« ••• Unwin/Unicorn one volume edition

SPOILER ENDE!

Desweiteren lassen sich die Frauenfiguren bei Tolkien — allen voran Lichtlady und Wasserkraft-Ringhüterin Galadriel — als frühes Erklingen eines Marienmotivs deuten. Maria selbst wird, vor allem im Mittelmeerraum und bei zur See fahrenden Völkern, in einen starken Bezug zum Abendstern gesetzt. Das ließt sich dann in einem altem englischen Lied so:

Hail, Queen of Heaven, the ocean star, Guide of the wand’rer here below: Thrown on life’s surge, we claim thy care — Save us from peril and from woe. Mother of Christ, star of the sea, Pray for the wanderer, pray for me.

Bei Tolkien kann daraus folgendes werden:

Snow-white! Snow-white! O Lady clear! O Queen beyond the Western seas! O light to us that wander here Amid the world of woven trees!… O Elbereth! Gilthoniel! We still remember, we who dwell In this far land beneath the trees, Thy starlight on the Western seas.

Eucharistische Obertöne lässt das wundersame und Lebensmut spendende Lembas-Brot vermuten. Gut, es ist nicht eins zu eins vergleichbar mit dem Fleisch und Blut des Erlösers, welches sich zu Brot und Wein verwandelte. Wie sehen aber solche Übertragbarkeiten aus?

Da sind die Namen für die heilige Speise. In Quenya ›coimas‹ (= life-bread, Lebensbrot) und in Sindarin ›Lemmas‹ oder ›lenn-mbass‹ (= journey-bread, Pilgerzehrung).

Dann auch: Lembas wird behütet von Yavanna, die Königin, die höchste und herrlichste aller Elbenfrauen oder überhaupt Personen, ob groß oder klein. Entsprechend übersetzten sich ihre Beinamen ›massànie‹ oder ›besann‹ als die ›Herrin‹ oder ›Brotgeberin‹. Frucht Deines Leibes … ick hör dir trapsen.

Diese Brotzeit-Informationen sind der »History of Middle-Erath XII: The Peoples of Middle-Earth« entnommen, Seite 403ff. Auch klingt in der Beschreibung des Anbaus des Lembas-Korns das Samen-Motiv aus der Bergpredigt des Neuen Testaments an. ••• Schade, daß die Bände III bis XIII nicht mehr ins Deutsche übersetzt werden. Zumindest die wohl auch für eine größere Mittelerdeleserschaft interessantesten Texte sollten in ein oder zwei Auswahlbänden übersetzt zugänglich gemacht werden, wie zum Beipiel ein früh aufgegebener Ansatz eines Verschwörungsthrillers im jungen Vierten Zeitalter (kurz nach Aragorns Tod, ca. 115 Jahre nach den Ereignissen im LOTR.) •••

Deutlich Anspielung auf die Bibel (Genesis) liefert auch die Wortkunde zu ›Sauron‹. Das mag im fiktiven Quenya ›der Grausame‹ heißen, doch Tolkien plünderte alle möglichen realen Sprachen und so überrascht es wenig, daß der Name dem griechischen ›sauros‹ (= Echse, Schlange) abgeguckt wurde. Dino›saurier‹ leitet sich auch aus dieser Wurzel ab. ••• Munition für die fragwürdigeren, zumindest heikel-unangenehmen Theorien zu ›Tolkien als Nordherrenmensch-Idealisierer und Russenverachter‹, lässt sich aus mannigfachen Entlehnungen osteuropäischen Wortguts für Begriffe der bösen Mordor- und Orksprache schmieden. •••

Frodo, Gandalf und Aragorn erleben alle drei ihren Tod und darauffolgende Auferstehung. Gandalf in Moria (als ganzes ein Friedhof und Totenreich); — Aragorn auf dem Pfad der Toten (Fegefeuer-Thema; die Sünde des Verrats der Dagorlandschlacht-Kneifer erweißt sich als heilbar); — und Frodo am getreusten nach den Evangelien. Am dritten Tage nach Kankras Lauer findet Sam ihn wieder. Zwischendurch lag Frodo wegen der Spinne Stich in totengleicher Starre.

Der 25. März ist nach christlicher Tradition nicht nur der Tag der Kreuzigung von Jesus, sondern auch der Tag der Verkündigung (also Maria-Befruchtung). An genau diesem Tag des Auenlandkalenders wird der Ring zerstört. Wenn man bedenkt, daß Tolkien seine Welt ja frei erfunden hat (und die Monate und Zeitläufte-Unterteilung auch ganz anders hätte gestalten können), kann man dies wirklich nicht als Leichtfertigkeits-Zufall deuten. Das ist glaubensschwere Absicht.

Spuren verwischen

Tolkiens Glaube ging einher mit einer großen Bescheidenheit. Deshalb lag es ihm fern, deutliche, ins Auge springende Hinweise auf seinen katholischen Glauben zu liefern. Deswegen verachtete er auch ›Allegorie‹ so sehr, denn diese ist eine Zeichen- und Bedeutungsgrammatik, die kein Deuteln zulässt. Eine Frau mit Augenbinde, Schwert und Waagschalen ist immer »Die Gerechtigkeit« und abweichende Sinnbelegungen nur bei Regelverstoß möglich. Theologisch gesehen vollzieht Tolkien also einen Umgang mit Symbolen und Bedeutungen, der konträr zu dem von Bilderstürmen der Reformation oder den byzantinischen Iconoklasten ist. Statt Bilddarstellungen von Gott und Jesus usw. abzulehnen, hat er, beflügelt durch seine Begeisterung für (heidinisch-nordeuropäische) Mytholgien, den Bilderschatz seines Glaubens zu erweitern verstanden.

Als Prosa- und Romanautor finde ich ihn größtenteils lächerlich (Ausnahme: »Silmarillion« Kinderbücher & Kurzgeschichten), als Lyriker schrecklich altbacken lieblich, aber ich verneige mich vor ihm als großen Brückenbauer zwischen katholisch-christlicher und heidnisch-vorchristlicher Religion. Er mag bekehrend auf seine Umwelt eingewirkt und dabei zuweilen ein schwieriger Mensch gewesen sein, aber im Mythenverschmelzen zeigt er sich bewundernswert tolerant … auch wenn er sonst gegenüber Dingen wie der Moderne und der Demokratie ziemlich engstirnig ablehnend sein konnte.

Zu der zweifelnden Gegenfrage, warum einem denn die katholischen Bezüge bei einer LOTR-Lektüre nicht mit den Füßen voran ins Gesicht springen, bin ich im Netz bei »Lord of the Imagination« (in etwa: »Herr/Meister der Vorstellungskraft/Phantasie«) fündig geworden. Dort zitiert ›The Irish Family‹ nach Humphrey Carpenter: »Letters of J.R.R. Tolkien«:

Tolkien selbst schreibt in Brief No. 142 an Robert Murray, S.J.: »The Lord of the Rings is of course a fundamentally religious and Catholic work, unconsciously so at first, but consciously in the revision. That is why I have not put in, or have cut out, practically all references to anything like "religion", to cults or practices, in the Imaginary world. For the religious element is absorbed into the story and the symbolism.«

»Selbstverständlich ist »Der Herr der Ringe« ein durch und durch {grundsätzlich} religiöses und katholisches Werk, unbewußt zu Beginn, doch bewußt bei der Überarbeitung. Alle Verweise {Bezüge} zu Dingen wie »Religion«, auf Kulte und {religiöse} Praktiken in der vorgestellten {ausgedachten} Welt habe ich deshalb weggelassen oder entfernt. Denn das religiöse Element {man beachte den Singular} ist in die Geschichte {Handlung} und die Symbolbedeutungen eingegangen.«

Insofern ist LOTR in Bezug auf katholischen Glauben grob vergleichbar mit L. Ron Hubbards »Battlefield Earth« und Scientology. Und mich jetzt bitte nicht den haun, ich weiß, daß dieser Vergleich hinkt und unfair ist. Aber Molosovsky findet’s lustig.

Der musizierende Gott

Religion braucht erst in zweiter Linie Gläubige. Zuerst sind Propheten, Priester und Apostel, die eine Religion ersinnen, leiten und verbreiten nötig. Tolkien ist kein Neu-Schöpfer einer Religion, sondern im innigsten Sinne des Wortes ein Mystiker und um-zwei-Ecken-Verkünder einer, sprich: seiner katholischen Frömmigkeit. Man muß sich halt ein wenig mit frühchristlichen Theologien auskennen, um das so erkennen zu können.

Tolkiens Selbstaussagen mögen wohl denen unangenehm dünken, die sich LOTR zu einem Klangraum z.B. für ihre neu-heidnischen Sehnsuchtsseufzer zurechtdeuten wollen. Dabei darf man nicht übersehen, daß Tolkien sehr schockiert und angewidert von seinen Fans in den Sechzigerjahren als »langhaarige Irre« gesprochen hat. Du liebe Güte, ich wollte hiermit niemanden als irre oder langhaarig zeihen, nur darauf hinweisen, daß man vielleicht hie und da den Wirrnissen der Flower-Power-Leserschaft aufsitzt. Ich sag nur: Pfeiffenkraut entspricht nicht Marihuana.

Interessant ist, daß Tolkien — so eigen seine Schreibe ist — immer wieder Überraschendes bietet. So nimmt er heutige christliche Strömungen, wie die von formulierte Matthew Fox vorweg, die den Gedanken der Bewahrung der Vielfalt Schöpfung wieder in den Mittelpunkt des christlichen Glaubens rücken. Innovativ erscheint mir Tolkiens Motiv, die Schöpfung als Klangzauber zu verstehen, und überreich sind demgemäß auch in LOTR Stellen zu finden, an denen akustische Signale tiefere Wahrheiten und höhere Bedeutungen markieren.

Von Arwens Gesang der Aragron bezaubert; — über Boromiers Aufbruchs-Tuten in Bruchtal, als Ausdruck der aufrichtigen Absichten des Ringentsorgungs-Squats; — bis zum — durch das Plappern von Merry und Pippin — milde gestimmten Baumbart, der, hätte er die beiden Hobbits zuerst gesehen statt gehört, sie für kleine Orks gehalten und zertrampelt hätte … um nur drei subtilere Beispiele anzuführen, von Sarumans Stimmenzauber ganz zu schweigen. Tolkien bezieht damit eine nicht zu unterschätzende Gegenposition zur Substanz-, Optik-, Imago-, und Objekt-Fixierung heutiger Psychologie-Mythen. Tolkien nimmt damit neuere Seelentheorien vorweg, die sich Gedanken machen, wo man sich sphärologisch eigentlich befindet, wenn man Musik hört; und daß, bevor man von visuellen Spiegel-Erfahrungen und visuellen Aneignung der Welt sprechen kann, erstmal akustische Sirenen-Erfahrung und -Verführungen stattfinden. ••• Siehe Peter Sloterdijk »Weltfremdheit« und »Sphären I - Blasen (Mikrosphärologie)«. •••

Freilich hat das Christentum schon lange vor Tolkien wie ein Schwamm Vorchristliches aufgesogen. Weniger aber aus theologischer Redlichkeit, denn aus macht-imperialer Notwendigkeit. ••• So leitet sich das Weihnachts-Datum von der Einweihung des Sol-invictus-Tempels unter Kaiser Aurelian (270 - 275 n.Ch.) am 25. Dez. 274 ab. ••• Tolkien war wählerisch mit seinen Anregungsquellen, nicht nur Heidnischem gegenüber. Hat er doch die nicht gerade unchristliche Arthur-Sage deshalb kaum aufgegriffen, weil sie sich für seine Zwecke als Fundus für einen heimischen Neo-Mythos nicht eignete, da ihm sein geliebtes England zur Arthus-Zeit zu sehr von romanisch-französischen Einflüssen versaut war. Und der Gute war ausgesprochen frankophob.

Eine neue Religion wollte Tolkien nicht schaffen, sondern der seinen neuen Ausdruck verleihen. LOTR kann man getrost zwischen die Bibel und den Katholischen Katechismus ins Regal stellen, und gemäß der Autoren-Intention fühlt sich das große rote Buch der Westmark dort sauwohl … wohler als zwischen (ich sag mal) den Fantasy-Romanen von Michael Moorcock und Dave & Leigh Eddings.

Warum beschäftige ich mich als ausgesprochener Tolkien-Skeptiker trotzdem seit über 15 Jahren mit dem Mittelerde-Schmalz? Weil Tolkien trotz all meiner Abneigung und Bedenken der große Papa der sogenannten »Fantasy« ist, eine Genrebezeichnung, mit der ich nicht recht glücklich werde, die mir aber trotzdem als Orientierung im Belletristikangebot dient.

Ich kann nicht anders, als im Sinne einer Relativierung der Leser-Umdeutungen der Werke Tolkiens immer wieder den Versuch zu starten, den (am Autor vorbeigehenden) Interpretationen durch heutige Leser entgegenwirken zu wollen. Wenn ich mir solche tröstlichen Verstandeinlullungen wie die Papierverschwendungen eines Tad Williams (»Der Drachenbeinthron«) und Robert Jordan (»Das Rad der Zeit«) anschaue, erscheint mir das notwendig.

Zuckerl: Grond

Als Linderung und Wiedergutmachungsangebot nach all dem dekonstruierenden Kopffüßlerblabla, will ich zeigen, welche Stellen auch mich fürwahr abheben lassen, wenn ich den guten Prof. Tolkien lese. Auf zur Belagerung von Minas Tirith in LOTR, Buch III:

Seite 873: Die Trommeln wirbelten lauter. Große Maschinen krochen übers Feld heran; und in ihrer Mitte kam ein riesiger Rammbock, dick wie ein Baum und hundert Fuß lang, aufgehängt an mächtigen Ketten. Lange war er in Mordors dunklen Waffenschmieden zurechtgeschliffen worden, und sein hässlicher Kopf, aus schwarzem Stahl gegossen, hatte die Form einer Wolfsschnauze und war mit mauerbrechenden Worten beschriftet. Grond nannten sie ihn, in Erinnerung an den Unterwelthammer der alten Zeiten. Große Tiere zogen ihn, Orks deckten ihn an den Seiten, und hinterdrein kamen Bergtrolle, um ihn ans Ziel zu wuchten.

Und den englischen Text von LOTR habe ich größtenteils laut und theatralisch deklamiert … oft während längerer WC-Sitzungen.

Original, Seite 860: The drums rolled louder. Fires leaped up. Great engines crawled across the field; and in the midst was a huge ram, great as a forest-tree an hundered feet in lenght, swinging on mighty chains. Long had it been forging in the dark smithies of Mordor, and its hideous head, founded of black steel, was shaped in the likeness of a ravening wolf; on it spells of ruin lay. Grond they named it, in memory of the Hammer of the Underworld of old. Great beasts drew it, orcs surrounded it, and behind walked mountain-trolls to wield it.

Zurück durch die Jahrtausende ins Erste Zeitalter und zur (vierten) Schlacht »des Jähen Feuers« und dem Kampf Morgoth vs. Fingolfin:

Seite 172: Dann schwang {der turmhohe} Morgoth Grond hoch in die Luft, den Unterwelthammer, und schmetterte ihn nieder wie einen Donnerschlag. Doch Fingolfin sprang beiseite, und Grond schlug eine mächtige Grube in die Erde, aus der Rauch und Feuer hervorsprühten. Viele Male versuchte Morgoth, ihn zu zerschmettern, und jedesmal wich Fingolfin aus, wie der Blitz unter einer dunklen Wolke hervorspringt; {…} Doch die Erde um ihn war nun voller Löcher und Gruben, und er strauchelte und fiel rücklings Morgoth vor die Füße; und Morgoth setzte den linken Fuß auf seinen Hals, schwer wie ein stürzender Berg. Doch mit einem letzten und verzweifelten Streich hieb Fingolfin ihn Ringil in den Fuß, und das Blut sprudelte schwarz und dampfend hervor und füllte die Gruben, die Grond gehauen hatte. ••• »Silmarillion«, Klett-Cotta, 1986; Übers. Wolfgang Krege.

Original, Seite 185: Then Morgoth hurled aloft Grond, the Hammer of the Underworld, and swung it down like a bolt of thunder. But Fingolfin sprang aside, and Grond rent a mighty pit in the earth, whence smoke and fire darted. Many times Morgoth essayed to smite him, and each time Fingolfin leaped away, as a lighting shoots from under a dark cloud; {…} But the earth was all rent and pitted about him and he stumbeld nd fell backward before the feet of Morgoth; and Morgoth set his foot upon his neck, and the weight ot it was like a fallen hill. Yet with his last and desperate stroke Fingolfin hewed the foot with Ringil, and the blood gushed forth black and smoking and filled the pits of Grond. ••• Unwin/Unicorn, 1987

Da bleibt mir meckerlos die Spucke weg, und nein, ich bin nicht so tollkühn, Grond als Phallus zu interpretieren und die blutigen Gruben zu deuten als, … na ihr wißt schon. Noch halte ich mich nicht für eine Reinkarnation von Arno Schmidt … vom schniefenden Siggi Freud gar nicht zu reden.

Ein ähnlich überwältigendes Bild fürs Vorstellungsauge bietet die (zweite) Schlacht »unter Sternen«, in der eine ganze Balrog-Armee auftritt. Man stelle sich vor, ein angreifendes Gewimmel von den Biestern, von denen eines in den Tiefen Morias den guten Gandalf alt aussehen läßt. Übrigens: durch die im Film beim Duell Gandalf vs. Balrog zu sehenden unteririschen Kavernen, wurde im Scheibenwelt-Zeitalter Mittelerdes die Sonne nachts zur Aufgangsposition zurückgerollt. Kann ich nur als eigenwilligen Ausdruck des Humors von Tolkien deuten und mich daran vergnügen.

Ausklang

Abschließend kann ich jedem begeisterten Leser empfehlen, sich einmal unerschrocken zu fragen, was genau für ihn die Faszination von LOTR und Mittelerde ausmacht. Ist es der Trost, die Epik, die Exotik, das Heldenhafte, die Naturromantik, die Sprache oder oder oder?

Eine großartige (katholisch-jesuitische) Vergleichslektüre zu LOTR, ist ein Ur-Fantasy-Buch aus dem spanischen Barock (1651):

Balthasar Gracian: »Das Kritikon« (und hier geht es zu meiner Besprechung) , als Fischer-TB für 20 Euro zu haben. Hier findet sich das sehr christliche Motiv des Lebens als Pilgerreise zum Seelenheil, der Mensch als Fremdling in einer trügerischen Welt (versaut durch demiurgische Pfuscherei, sprich abtrünnige Engel).

Know Thy Enemy.

Dig deep.

•••

WOANDERS: Wer weiter stöbern mag, dem sei neben den bereits genannten Quellen die umfangreiche Linksammlung The Catholic Imagination of J.R.R. Tolkien empfohlen. (man beachte die URL und verzweifle). Interessante Essays von katholisch-christlichen Autoren sind meines Erachtens:

Alles was dort zu lesen ist, stellt weitaus diskretere Deutungen zu Mittelerde dar, als zum Beispiel voreilige Interpretationen die feststellen, daß LOTR rassistisch sei; oder Frodo und Sam, bzw. Gandalf und Frodo homosexuelle Sublimationen wären und ähnlicher galoppierender Quatsch.

NEU: 24. Juli 2014 — Hier die (mir bekannten) brillanten Texte von Peter ›raskolnik‹ Schmidt zu Tolkien und seinem Werk (in chronologischer Reihenfolge). Raskolnik schafft es viel besser als ich, gut belegt kritisch zu hinterleuchten. Er arbeitet und bereitet einfach bedachter und ordentlicher als ich. (Wer auf mehr Radau aus ist, darf natürlich meine ›Phantastikforschungs‹-Entäußerungen weiterhin gut finden.)

Ich glaube behaupten zu dürfen, dass Raskolnik — ebenso wie ich — nicht einfach nur darauf aus ist, Tolkien unangespitzt in den Boden zu rammen, sondern dass er ihn vielmehr ernst nehmen und Probleme & Einsichten freilegen will, die im Spiel der Zeiten & Moden verdeckt wurden. Ich denke zudem, dass man bei Raskolnik merken kann, dass er durchaus — wiederum wie ich — auch seine Freude & den gebotenen Respekt für den Phantastik-Pionier Tolkien aufbringt.

Gilbert Keith Chesterton: »Der Mann der Donnerstag war«, oder: Bombe und Kursbuch

Eintrag No. 20

Version 1.0 erschienen in »MAGIRA 2003 – Jahrbuch zur Fantasy« , herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. Version 2.0 vom 20. September 2007: Portrait und viele Links eingepflegt, um Verehrerrundschau erweitert Fehler gemerzt.

Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zählt neben Herbert George Wells, Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling zu den klassischen Alleskönnerautoren Englands am Ende der Viktorianischen Epoche bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Wie diese hat er Texte verschiedenster Art hinterlassen, darunter äußerst originelle Beiträge zur Phantastik. Und wie Tolkien gehört er zu den ›schrulligen Katholiken‹ der anglikanischen Insel (siehe die beiden Essay-Bände »Ketzer« und »Orthodoxie«). In Deutschland ist er wohl, wenn überhaupt, vor allem als Erfinder des von Heinz Rühmann (bzw. Ottfried Fischer) dargestellten Pater Brown bekannt. Comiclesern ist vielleicht sein Aussehen bekannt, immerhin leiht sich das die Figur (bzw. der Ort) Fiddlers Green in Neil Gaimans »The Sandman«.

Der Wagenbach-Verlag hat dankenswerterweise »Der Mann der Donnerstag war« wieder mal dem deutschem Leser zugänglich gemacht, wenn auch in einer gewöhnungsbedürftigen Übersetzung aus dem Jahre 1910.

Das 1908 erstmals erschienene Buch handelt vom apltraumdurchwirkten Ringen um eine gesicherte Sicht auf die Auseinandersetzung zwischen Anarchie und Ordnung. Es beginnt mit der Begegnung zweier gegensätzlicher Poeten in einem Künstlerviertel Londons. Der Platzhirsch des Saffron Park, Lucien Gregor, verherrlicht den Archetypen des bombenwerfenden Anarchisten als DEN Künstler schlechthin. Seinem Herausforderer Gabriel Syme dünkt das Chaos aber öde und er preist lieber den Zugfahrplan als Triumph des menschlichen Willens. Gregor möchte nicht nur Konventionen und Regierungen, sondern sogar Gott abschaffen, Syme aber wirft ihm vor, es mit dem Anarchismus nicht wirklich ernst zu meinen. Gregor will Syme von seiner Ernsthaftigkeit überzeugen und Syme folgt Greogor zu einem geheimen Treffen. Beide offenbaren zuvor einander ihre Geheimnisse und geloben Verschwiegenheit darüber. Gregor entpuppt sich als Anarchist, Syme als Geheimpolizist, beide nur als Poeten getarnt. Beklommen stellen die sie fest, daß ihre Angst aufzufliegen und ihre Ehrenworte sie voneinander abhängig machen.

Bei einem Treffen des geheimen Anarchistenzirkels schafft es Syme, Gregor den Posten des Donnerstag wegzuschnappen. Die sieben Oberanarchisten sind nämlich nach den Wochentagen benannt, womit sich der seltsame Titel des Romans erklärt. Montag ist ein Sekretär, Dienstag ein polnischer Fanatiker, Mittwoch ein dubioser Marquis, Donnerstag in Person Symes ein Poet, Freitag ein alter Professor und Samstag ein praktischer Arzt. Anführer ist der monströse Präsident Sonntag, der sich selbst ›den Frieden Gottes‹ nennt. Der Rat beschließt ein Bombenattentat auf den russischen Zaren und den französischen König in Paris, das Syme und Greogor verhindern wollen. Von da an geht es zunehmend drunter und drüber.

Chesterton hatte merklich großen Spaß daran, Atmosphären zu übertreiben und moderne Allegorien zu erschaffen. Nichts ist, was es scheint, und die Verschwörer stolpern von einer Bredouille in die nächste.

Besonders bemerkenswert ist der Oberbösewicht Sonntag, eine grandiose Übersteigerung der Figur des Verbrecherkönigs. Er ist eine prophetische Mischung aus Goldfinger und Groucho Marx, wenn er z.B. bei der finalen dadaistischen Verfolgungsjagd nicht nur immer aberwitzigere Fluchtuntersätze nutzt, sondern dabei auch noch ständig Zettel mit rätselhaften Unsinnsmitteilungen hinterläßt. Durch solche Kapriolen wirkt der Roman über weite Strecken, wie eine Vorwegnahme von höherem Zeichntrickblödsinn. Dabei wird immer wieder auf das Grundproblem angespielt: die unvereinbare Gegensätzlichkeit der menschlichen Wünsche nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit einerseits, nach Freiheit, Individualität und Vertrauen andererseits.

Chestertons satirische Gesellschaftsphantastik ist allemal ein Wiederentdecktwerden wert, besonders anempfohlen in unseren Zeiten, da man als Echtweltbürger feststellt, daß die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos sich immer mehr verwischen, und der Übersichtlichkeit halber amal neu definiert werden müßten. Egal ob man sich (aus welchen Grund auch immer) für Bombe oder Kursbuch entscheidet, die Gegenseite lauert immer und überall.

Meine liebste Fundstelle des Romans illustriert das dialektisch-paradoxe Ideenjoungliervergnügen, das ich mich Chesterton hab. Im ersten Kapitel werden zwei gegensätzliche Dichter — der dandyhafte Anarchist Lucien Gregor und der bürgerliche Ordnungs-Anakreont Gabriel Syme — im Streitgespräch gegenübergestellt.

Gregor: »Ein Künstler ist dasselbe wie ein Anarchist. Man kann auch umgekehrt sagen: ein Anarchist ist ein Künstler. Der Mann, der eine Bombe wirft, ist ein Künstler, weil er einen großen Augenblick allem anderen vorzieht. Er erkennt, wie viel wertvoller das einmalige Aufflammen, der einmalige Donnerschlag einer wirkungsvollen Explosion ist, als die alltäglichen Körper von ein paar Polizisten. Ein Künstler kümmert sich um keine Regierung, er bricht mit jeglichem Herkommen. Den Dichter erfreut nur die Verwirrung. Wäre dem nicht so, dann müßte das poetischte Ding der Welt die Untergrundbahn sein.«

Syme: »[...] Chaos ist öde, weil im Chaos der Zug tatsächlich irgendwohin gehen würde, nach Baker Street oder nach Bagdad. Der Mensch aber ist ein Magier, und seine ganze Magie besteht darin, daß er sagt: Victoria {Station}, und siehe da, es ist Victoria. Nein, behalten Sie Ihre Bücher mitsamt Ihrer Poesie und Prosa und lassen Sie mich einen Fahrplan lesen mit Tränen des Stolzes. Behalten Sie nur Ihren Byron, der die Niederlagen der Menschheit feiert und geben Sie mir das Kursbuch, das ihre Siege verherrlicht.

[...] Sie behaupten verächtlich, es sei selbstverständlich, daß einer nach Victoria kommen muß, wenn er Sloane Square verlassen hat. Ich aber behaupte, daß in der Zwischenzeit tausenderlei Dinge geschehen könnten und ich jedesmal, wenn ich wirklich mein Ziel erreicht habe, den Eindruck habe, mit knapper Not davongekommen zu sein.«

Zitiert nach der Ausgabe bei Heyne »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«.

Und wer mehr von diesem außergewöhnlich unbekannten Werk kennenlernen möchte: hier der ganze Roman auf englisch und noch ein Link zu einer netten Chesterton-Page.

BLICK IN DIE RUNDE DER VEREHRER:

  • Wie klassisch dieser Roman im anglo-amerikanischen Raum ist, und wie lebendig er dort auch von jüngeren Genreationen goutiert wird, führt das Computerspiel »Deus Ex« vor, das u.a. von »Der Mann der Donnerstag« deutlich inspiriert wurde und in dessen Levels der Spieler immer wieder auf Zitate aus dem Buch stößt.
  • Neil Gaiman schreibt in seinem Blog:
    »The Man Who Was Thursday« is one of the most ambiguous books I've ever encountered, and its morals are deeply uncertain.

    (Molos Übersetzung) »Der Mann der Donnerstag war« ist eines der undurchschaubarsten Bücher das mir je untergekommen sind, moralisch zutiefst unbestimmbar.
  • Susanna Clarke zählt »Der Mann der Donnerstag war« zu ihren Lieblingsbüchern:
    Es ist so etwas wie ein sehr aufregender Detektivroman und fast wie ein Gedicht und wie ein theologisches Rätsel — und die meisten Dialoge lesen sich, als hätte Oscar Wilde sie geschrieben. Es ist etwas ganz Besonderes. Die Szenen laufen als eine Serie von Bildern ab — präzise, überraschende, einfache, farbenfrohe Bilder. Es ist wie eine wunderschöne Halluzination oder ein angenehmer Alptraum. Wie in allen Detektivromanen (oder Gedichten oder theologischen Rätseln) können die einfachsten Gegenstände oder Handlungen eine immense Bedeutung haben. Gleichzeitig zeichnet das Buch ein interessantes Bild der Zeit und vermittelt einen guten Eindruck davon, was es hieß, im Jahr 1908 ein dandyhafter englischer Gentleman zu sein.
  • Hierzulande hat z.B. Carl Amery G.K.C. enthusiasmiert bejubelt, wie im Vorwort zu »Der G. C. Chesterton Omnibus 1« (Heyne 1993)
    Chestertons Romane sind, da ist kaum ein Zweifel möglich, durchaus der modernen Form der Science Fiction, das heißt des spekulativen Genres zugehörig. »Was wäre wenn…?« oder auch: »Was wäre gewesen, wenn…?« — das ist die Frage, welche die wundersamen Maschinen dieses Genres in Bewegung setzt. {…} Wer von all den wissenschaftlich orientierten Prognostikern hat die Geburt des Tory-Faschismus (in »Don Quijotes Wiederkehr«), die Islamisierung Englands (in »Fliegendes Wirtshaus«), die totale Abstrusität des Terrorismus und der Terrorismus-Bekampfer (in »Der Mann der Donnerstag war«) so scharfsinnig antizipiert? Wer hat die Schnappfallen des bürokratischen Wohlfahrtsstaates, die Diktatur der psychiatrischen Normalitäts-Festsetzer, die Reduktion der Kunst zu Ware und die Reduktion der menschlichen Geschicklichkeiten durch die gloabe Normierung so gut gewittert und so amüsant ins Erzählerische übersetzt?
  • Michael ›Harry Potter ist superduper‹ Maar zitiert in seinem feinen Rundfunkessay für den SWR den Chesterton-Kenner Joachim Kalka, der folgendermaßen »Der Mann der Donnerstag war« lobpreist:
    Der {Roman} hat viel von genialer Kolportage. Das eigenartige Lächeln des Montags, des Sekretärs, der nur auf einer Seite des Gesichts den Mund verzieht, erscheint später großartig als coup de théatre. Ganz in der Ferne scheint es, als ob man eine Menge von Verfolgern drohend herandringen sähe; die Helden mustern den Auflauf unruhig durchs Fernglas. Die Anführer tragen schwarze Halbmasken. Und »schließlich lächelten sie während ihres Gespräches alle, und einer von ihnen lächelte nur auf einer Seite.« An solchen Momenten, in denen es den Leser leise überläuft (…), ist das Buch überreich: Maske und Duell, Attentat und Flucht, Hetzjagd und Verschwörung. Es ist kennzeichnend für Chestertons Werk, daß die stärksten Wirkungen im Ineinander von romance und Reflexion liegen.
  • Und in »Cicero« (Sept. 2007) begeistert sich Daniel Kehlmann (nebenbei auch erfrischend über die hiesige Verlagslandschaft spottent) für Chestertons Alptraum, indem er z.B. schreibt:
    Ein aktuelles Buch? Aber natürlich — denn es geht um Terror und terroristische Geheimorganistaionen, es geht um den Übereifer bei der Verfolgung des Bösen, es geht darum, dass Zivilisation und Glauben plötzlich selbst jene Gefahren sein können, vor denen sie uns schützen wollen.

•••

Der Mann der Donnerstag war (The Man who was Thuesday, 1908) aus dem Englischen von Heinrich Lautensack; 192 Seiten; Taschenbuch; Wagenbach-Verlag; Berlin, 2002. oder antiquarisch z.B.: übersetzt von Bernhard Sengfelder in der Bearbeitung, einem Vorwort und herausgegeben von Carl Amery; zusammen mit »Der Held von Notting-Hill« in »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«; 428 Seiten; Taschebuch; Heyne, ›Bibliothek der Science Fiction Literatur‹; München 1993. — Aufgrund der deutlich flexibleren, klareren Sprache zu bevorzugen.
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