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Molosovskys Beute: Klassiker der Phantastik als eText

Eintrag No. 187 – Also gut. Es kann ja nicht sein, daß ich hier nur schlechte Stimmung kundtue. Ist ja nicht so, daß ich am Boden kreuche und bleierne Depri-Eisenkugeln an meinen Fesseln hinter mir herschleife.

Die bisherigen Bücher des Lesezirkels bei SF-Netzwerk treffen ganz meinen Geschmack. Nach »Set This House In Order« (»Ich und die anderen«) von Matt Ruff gings im Februar weiter mit einem Klassiker: H. G. Wells mit seinem »Men Like Gods« (»Menschen, Göttern gleich«) aus dem Jahre 1923.

Nach einen Blick in die Wells-dtv-Ausgabe wurde ich soweit neugierig, mal im Netz nach dem Roman zu suchen. Ich wurde nicht nur fündig, ich verlohr mich geradezu in einer Flut verfügbarer Titel. Vor allem auf Englisch kann man reichlich Klassiker als eText kostenlos bekommen.

Da dacht ich mir: Was soll ich in diesem Jahr groß Geld für Bücher ausgeben? Will ich mich mal um einige Wurzeln der modernen phantastischen Literatur kümmern und sie als PDF zum Copyshop tragen, um sie nicht am Bildschirm lesen zu müssen. Entsprechend habe ich die letzten Tage mit PDF-Aufbereitung von reinen Textdatein verbracht.

Hier eine (verlinkte) Autorenübersicht, und die (unverlinkten) Titel dieser Autoren, nebst einer kurzen Begründung, warum mich das Zeug interessiert. Ich Link mir sonst die Finger krumm.

Klassiker der phantastischen Literatur (sowie einige andere Titel, die Molosovsky interessieren)

Bellamy, Edward (1850 - 1898): Looking Backward ••• Frühe SF, in der ein Mann aus dem Jahre 2000-ebbes eine Reise in die ausgehende Viktorianische Epoche macht.

Blackwood, Algernon (1869 - 1951): Prisoner in Fairyland ••• Der Titel machte mich neugierig und ich kennte bisher nur die unheimlichen Kurzgeschichten in der Übersetzung bei Suhrkamp. Blackwood war ein Vorbild vom Kult-Pessimisten H. P. Lovecraft.

Cabell, James Branch (1879 - 1958): Figures of Earth / Jurgen ••• Neil Gaiman empfiehlt immer wieder mal Cabells »Jurgen« als lesenswertern Klassiker des Genres empfohlen.

Chesterton, Gilbert Keith (1874 - 1936): Ball and Cross / Club of Queer Trades / Tales of the Long Bow / The Man Who Was Thursday / The Trees of Pride / Orhodoxy ••• Ich bin ein großer Fan von »Der Mann der Donnerstag war« und gespannt, was der Mann sonst noch herrlich Wirres schrieb. Wie J. R. R. Tolkien ebenfalls einer der durchgeknallen Katholen der Insel. Bei uns kennt man Chesterton eigentlich nur für seine Pater Brown-Geschichten (bekannt durch Ottfried Fischer und Heinz Rühmann).

Doyle, Arthur Conan, Sir (1859 - 1930): The Lost World / The Poisen Belt / The Land of Mist / The White Company ••• Durch meine Teenagerjahre habe ich alle Sherlock-Holmes-Geschichten abgegrast, und auch die ein oder andere Kurzgeschichte von Doyle. Bei Gelegenheit will ich nun die drei Jules Verne-artigen Prof. Challenger-Romane mal im Original lesen, sowie den historischen Roman »The White Company«, den Doyle selbst für sein bedeutenstes Erzählwerk hielt (und der meines Wissens nie auf Deutsch erschien).

Dunsany, Lord {Edward J. M. D. Plunkett} (1878 - 1957): Don Rodriguez / Gods of Pegana / Time and the Gods / A Dreamer's Tales / Sword of Welleran & Other Tales / Tales of Three Hemispheres / Tales of Wonder / The Book of Wonder / The Food of Death ••• Von ihm haben alle abgeschrieben, die Nachkriegsfantasy-Autoren, die neueren Comic-Schreiber a la Gaiman und Co. Alle! Lovecrafts Kosmogonie oder seine Traumwelt wäre nicht denkbar ohne Dunsany als H.P.s großes Vorbild. In den Siebzigern gabs bei Diogenes eine ganze Reihe mit Krimi-Stories von Dunsany. Heutzutage sieht es ganz finster aus um eingedeutschte Werke von Dunsany.

Hearn, Lafcadio (1850 - 1904): Glimpses of Unfamiliar Japan 1 & 2 / In Ghostly Japan / Kwaidan: Stories and Studies of Strange Things ••• Über ihn bin ich gestolpert, weil ich für Andrea über frühe Bonsai-Berichte in der westlichen Hemisphäre recherchiert habe. Die Wichtigkeit von (wahren oder erfundenen) Berichten aus fremden Weltgegenden für die entstehende moderne Phantastik wird von den heutigen Lesern zumeist grob übersehen. Hearn ist ein gutes und vor allem exellent zu lesendes Beispiel für einen Wanderer zwischen den Kulturen.

Kipling, Rudyard (1865 - 1936): Plain Tales from the Hills / Traffics and Discoveries / Puck of Pook's Hill / Actions and Reaktions / Rewards and Fairies ••• Sehr dankbar bin ich Gisbert Haefs, daß er damals im Haffmans-Verlag begonnen hat, die Werke von Kipling endlich mal unverstümmelt herauszubringen. Leider erscheinen schon seit Jahren keine weiteren Bände dieser Werksausgabe mehr (Hallo Zweitausendeins, Herr Haffmans und Herr Haefs! Was geht?). Und bitte keine unnötige Scheu vor dem Geheimagenten und Kolonial-Praktiker Kipling, der vor hundert Jahren dabei war, als die Region Afghanistan zum Desaster für die Britten wurde (siehe Veteran Dr. Watson in den Holmes-Geschichten von Kollege Doyle), und das heute noch andauernde ›Great Game‹ um diese Weltgegend anhob. Und: Kipling gilt als der erste Autor, der Filmschnitt-Techniken in Prosa nachahmte.

Lytton, Edward Bulwer Lytton, Baron (1803 - 1873): The Coming Race ••• Neben Charles Dickens und Wilkie Collins einer der einflußreichsten viktorianischen Genre- und Erfolgsautoren. »Coming Race« ist ein Klassiker der abseitigen Hohlwelt-Literatur. Am bekanntesten ist wohl sein »Die letzten Tage von Pompeii«, und Arno Schmidt-Leser kennen seinen Namen vielleicht (»Was wird er damit machen?«). Und Bulwer Lytton saß als Politiker im englischen House of Lords!

MacDonald, George (1824 - 1905): Lilith / Phantastes / The Princess and the Goblin / There and Back ••• Ein schottischer Landpfarrer der Märchen für Gläubige schrieb. Neben William Morris ein wichtiges stilistisches und ideologisches Vorbild für Tolkien. Mal schaun, vielleicht heißt der Nebentitel von »The Hobbit« nicht von ohngefähr »There and Back Again«.

Morris, William (1834 - 1896): News from Nowhere / The Well at the World's End / The Wood Beyond the World ••• Morris war ebenfalls ein wichtiges Vorbild für Tolkien. Lustig find ich die sprachliche Nähe der Prosa von Morris, MacDonald und Tolkien. Ansonsten war Morris ein Phänomen in der englischen Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Künstler, Idealist, Sozialist, Handwerker, Dichter. Ein Mann mit einer Mission. Seine Tapetenmuster sind heute noch top.

Orwell, George (1903 - 1950): Fifty Essays ••• Ich weiß ja nicht, warum es so schwer ist, mal alle Essays von Orwell ins Deutsche zu übersetzten. Les ich die halt auf Englisch.

Stevenson, Robert Louis (1850 - 1894): The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde / Essays in the Art of Writing / Fables ••• Hab bisher viel zu wenig Stevenson gelesen.

Irving, Washington (1783 - 1859): The History of New York / Scetch Book of Geoffrey Crayon ••• Irving ist so ein gewichtiger Klassiker der burlesken Phantastik, der auf Deutsch so gut wie unübersetzt und deshalb unbekannt ist. Das »Scetch Book« enthält neben anderen die einflußreichen Geschichten »Rip von Winkle« und »The Legend of Sleepy Hollow«. Und die »History of New York« ist ein frühes Beispiel für eine komplett aus der Nase gezogene Enzy.

Wells, Herbert George (1866 - 1946): The Time Machine / The Island of Dr. Moreau / The Invisible Man / The War of the Worlds / When the Sleeper Awakes ••• Vielleicht immer noch der einflußreichste SF-Autor bisher. Hab ich wie Doyle als Teen schon einiges auf Deutsch gelesen.

Woolf, Virginia (1882- 1941): Common Reader / Essays / Short Stories / The Waves ••• »Orlando« auf Deutsch fand ich vor ca. zehn Jahren ziemlich öde, den Film aber schlicht brilliant. Letztes Jahr hab ich das Buch englisch aufm Klo gelesen und war begeistert. Derzeit hab ich »Mrs. Dalloway« immer in der Manteltasche dabei und freu mich schon auf weitere Lektüre ihrer Texte.

Abschluß-Zuckerl: Runciman, John F. (1866 - 1916): Purcell ••• Wenigstens ein kleiner Text über einen meiner absoluten Lieblingskomponisten.

Klassiker über Römische Geschichte für umme? Bitte schön. Gibbon, Edward (1737 - 1794): History Of The Decline And Fall Of The Roman Empire Mommsen, Theodor (1817 - 1903): Römische Geschichte ••• Gibts alle Bände als eText, den Mommsen sogar auf Deutsch. Gut, es ist etwas mühselig, das Zeug so unaufbereitet zu lesen, so wie die Fußnoten versteckt sind, aber immerhin: so kommt man als arme Sau, für die auch die Taschenbuchausgaben dieser Werke zu teuer sind, wenigstens zu seinem Stoff. Und: der Gibbons war immer wieder mal Steinbruch für die Macher von großen galaktischen Imperien. Prominentester Verwurschter: Isaac Asimov mit seinem Psychohistoriker-Zyklus.

Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist ›Der Herr der Ringe‹ ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«

ERGÄNZ — 24. Juli 2014: Einige Links führten mittlerweile ins Nichts und ich habe sie geändert oder rausgeschmissen.

Unbedingte Leseempfehlung spreche ich für die in der Zeit seit Erstbloggens dieses Eintrags erschienenen Aufsätze von Peter ›raskolnik‹ Schmidt aus, der in seinem grandiosem Blog ›Skalpell & Katzenklaue‹ einige sehr klar argumentierte, klug belegte Texte über Tolkien und sein Werk veröffentlicht hat. Näheres ganz am Ende bei den ›Woanders‹-Links.

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Eintrag No. 127 – Wie sehr wurde »Der Herr der Ringe« {desweiteren LOTR genannt} und die gesamte Mittelerde-Schöpfung beeinflusst durch den Umstand, daß Tolkien ein tiefgläubiger katholischer Christ war? Für die Anregung zu dieser Frage bin ich den Teilnehmern eines Thread bei SF-Fan zu Dank verpflichtet. Ein Beiträger meinte, daß Tolkiens Gesamtwerk nichts mit Religion zu tun habe, und J.R.R. lediglich einen Mythos bzw. eine Sagenwelt für England erschaffen wollte, weil es dort so etwas wie zum Beispiel die deutschen Heldensagen, die nordischen Sagas usw. nicht gäbe.

Also was nun?

Der Mehrheit des Lese- (& Kino-, DVD-) Publikums ist es sicherlich ziemlich schnurz, ob Tolkien mit LOTR nun eine zutiefst heidnisch/sagenhafte oder eine innig christlich-katholisches Zweitschöpfung gestalten wollte.

Mit dem folgenden, lockeren Durcheinander an Belegen für Einflüsse des katholischen Glaubens auf die Gestaltung von Mittelerde, will ich niemandem seinen/ihren heidnischen, atheistischen, oder einfach-so-Spaß an LOTR vergällen, sondern lediglich darauf aufmerksam machen, welche tieferen Schichten sich offenlegen lassen, wenn man sich auf so was wie eine ›Intention Auctoris‹ (= Absicht des Autoren) einzulassen gewillt ist.

Hobby-Exerzitien eines Hobbit-Erfinders

Mir ist schon klar, daß man LOTR und Mitterlerde von zumindest diesen drei Seiten abklopfen muß, wenn man gerecht sein will:

  • Als persönlichen Ausdruck einer ausgeprägten katholischen Frömmigkeit;
  • Als Neu-Aneignung alt-europäischer (vor allem nordischer) Mythen;
  • Als linguistische, geographische und genealogische Laubsägefrickelei (siehe Schlüsseltext »Leaf by Niggle«).

Es ist kein Geheimnis, daß Tolkien ein überaus hingebungsvoller Katholik war, der sich die heilige Kommunion versagte, wenn er nicht zuvor gebeichtet hatte; — der als Apostel seinen Freund und Kollegen C.S. Lewis zu missionieren trachtete (und sehr enttäuscht war, als dieser sich dann für den anglikanischen Glauben entschied); — dessen Frau vom Protestantismus zum Katholizismus konvertieren musste, um den strenggläubigen Tolkien heiraten zu können (ein Thema, daß sich womöglich z.B. in der Beziehung Arwen und Aragorn, und anderen Beziehungen von Sterblich-Unsterblichen wiederspiegelt).

In der Tolkien-Biographie (Klett-Cotta/Ullstein; 1983) von Humphrey Carpenter begann ich meine Spurensuche:

Seite 111: »Mittelerde ist unsere Welt«, schrieb er {Tolkien}, mit dem Zusatz: »Ich habe (natürlich) die Handlung in eine rein imaginäre (wenn auch nicht ganz unmögliche) Periode des Altertums gerückt, in der die Kontinente eine andere Form hatten.«

Kurz darauf resümiert Carpenter {Hervorhebung von mir}:

Seite 111: Es {Tolkiens Mittelerde-Werk} widerspricht nicht dem Christentum, sondern ergänzt es. In den Legenden wird Gott nicht angebetet, und doch ist er da, und im Silmarillion wird er ausdrücklicher genannt als in dem Werk, das daraus erwuchs, dem Herrn der Ringe. Tolkiens Universum wird von Gott »dem Einen«, regiert. Unter Ihm in der Hierarchie stehen die »Valar«, die Hüter der Welt, die keine Götter, sondern engelhafte Mächte sind, ihrerseits heilig und Gott untertan; {…} Tolkien gab seiner Mythologie diese Form, weil er wünschte, daß sie fern und fremd, zugleich aber keine Lüge sei. Er wollte, daß die mythologischen und legendären Erzählungen seine eigene moralische Sicht der Welt aussprechen sollten, und als Christ konnte er sie dann nicht in einem Kosmos ohne Gott stellen, den er verehrte. {…}

Seite 112: Als er das Silmarillion schrieb, glaubte Tolkien in gewissem Sinne, die Wahrheit zu schreiben. Er nahm nicht an, daß genau die Völker, die er beschrieb {…} auf Erden gelebt und getan hätten, was er berichtete. Doch fühlte oder hoffte er, daß seine Geschichten in gewisser Hinsicht eine starke Wahrheit verkörpern.

Und gemeint ist religiöse, genauer: Tolkiens individuelle christlich-katholische Wahrheit, nicht die Art von belegbarer Fakten-Evidenz, die unseren modernen Wahrheitsbegriff prägt.

Weiter bei Carpenter:

Seite 113: Tolkien glaubte fest daran, daß es einmal ein Eden auf Erden gegeben habe und daß die Ursünde des Menschen und seine Verstoßung aus dem Paradies an den Übeln der Welt schuld sei.

••• Nebenbei: Eden weiß ich jetzt nicht genau, aber Paradies kommt aus dem Persischen und bedeutet ungefähr »(künstlicher) Garten mit Zaun drum herrum«. •••

Die entscheidenden Wendepunkte der Mittelerde-Historie werden bestimmt von selbstsüchtiger Eigenwilligkeit oder direktem Widerspruch gegen den Schöpfergott-Willen, beginnend mit Melkors aufsässigem Gesang als (luziferisches) Gegenthema zur Musik der Ainur; — über den Mord von Smeagol an Deagol, der sich wie die verschiedenen Geschwisterkämpfe der Elben als Vor-Echo von Kain und Abel lesen läßt; — bis zu den verschiedenen Gelegenheiten, bei denen menschliche Könige oder kleine Hobbits sich weigern, den Einen Ring zu zerstören.

Bei all diesen Gelegenheiten finden sich starke Anklänge auf die katholischen Melodien von der Vorhersehung Gottes, der gnadenreichen Erlösungsgeschichte, jedoch eingedenk der Notwendigkeit des freien Willens, durch den zwar das Böse in die Welt kam, welches sich aber als notwenige Stimme im (für die Geschöpfe undurchschaubaren) großen Heilsplan Gottes entpuppt.

»Wie das?«, mag der unbedarfte Mittelerde-Tourist berechtigt fragen.

»Zum Beispiel beim LOTR-Showdown«, ist ein Gedanke den ich anbieten mag.

ACHTUNG SPOILER! Frodo und Gollum sind bei ihrem finalem Ringen um den Ring beide dem Bösen verfallen, doch aus dem Kampf von zweien in diesem Moment bösen Figuren, fügt sich eine völlig unvorhersehbare (stolpernde) Zufallsbefreiung von einem großem Übel. Gollums Purzler in die Lava lässt sich mit den selben Worten begründen, mit denen Gandalf erklärt, warum Bilbo damals unter den Nebelbergen im Dunkeln kriechend den Einen Ring fand, welcher seinerseits Sauron-willig den deformierten Fischmampfer verlassen hatte:

Seite 74: »Dahinter war noch etwas anderes am Werk, unabhängig von allen Plänen des Ringschmieds. Ich kann es nur so ausdrücken, daß es Bilbo beschieden war, den Ring zu finden – und zwar nicht von dem Schmied.« ••• Einbändige Klett-Cotta Ausgabe; Übers.: Wolfgang Krege.

Seite 69: »Behind that there was something else at work, beyond any design of the Ring-maker. I can put it no plainer than by saying that Bilbo was meant to find the Ring, and not by its maker.« ••• Unwin/Unicorn one volume edition

SPOILER ENDE!

Desweiteren lassen sich die Frauenfiguren bei Tolkien — allen voran Lichtlady und Wasserkraft-Ringhüterin Galadriel — als frühes Erklingen eines Marienmotivs deuten. Maria selbst wird, vor allem im Mittelmeerraum und bei zur See fahrenden Völkern, in einen starken Bezug zum Abendstern gesetzt. Das ließt sich dann in einem altem englischen Lied so:

Hail, Queen of Heaven, the ocean star, Guide of the wand’rer here below: Thrown on life’s surge, we claim thy care — Save us from peril and from woe. Mother of Christ, star of the sea, Pray for the wanderer, pray for me.

Bei Tolkien kann daraus folgendes werden:

Snow-white! Snow-white! O Lady clear! O Queen beyond the Western seas! O light to us that wander here Amid the world of woven trees!… O Elbereth! Gilthoniel! We still remember, we who dwell In this far land beneath the trees, Thy starlight on the Western seas.

Eucharistische Obertöne lässt das wundersame und Lebensmut spendende Lembas-Brot vermuten. Gut, es ist nicht eins zu eins vergleichbar mit dem Fleisch und Blut des Erlösers, welches sich zu Brot und Wein verwandelte. Wie sehen aber solche Übertragbarkeiten aus?

Da sind die Namen für die heilige Speise. In Quenya ›coimas‹ (= life-bread, Lebensbrot) und in Sindarin ›Lemmas‹ oder ›lenn-mbass‹ (= journey-bread, Pilgerzehrung).

Dann auch: Lembas wird behütet von Yavanna, die Königin, die höchste und herrlichste aller Elbenfrauen oder überhaupt Personen, ob groß oder klein. Entsprechend übersetzten sich ihre Beinamen ›massànie‹ oder ›besann‹ als die ›Herrin‹ oder ›Brotgeberin‹. Frucht Deines Leibes … ick hör dir trapsen.

Diese Brotzeit-Informationen sind der »History of Middle-Erath XII: The Peoples of Middle-Earth« entnommen, Seite 403ff. Auch klingt in der Beschreibung des Anbaus des Lembas-Korns das Samen-Motiv aus der Bergpredigt des Neuen Testaments an. ••• Schade, daß die Bände III bis XIII nicht mehr ins Deutsche übersetzt werden. Zumindest die wohl auch für eine größere Mittelerdeleserschaft interessantesten Texte sollten in ein oder zwei Auswahlbänden übersetzt zugänglich gemacht werden, wie zum Beipiel ein früh aufgegebener Ansatz eines Verschwörungsthrillers im jungen Vierten Zeitalter (kurz nach Aragorns Tod, ca. 115 Jahre nach den Ereignissen im LOTR.) •••

Deutlich Anspielung auf die Bibel (Genesis) liefert auch die Wortkunde zu ›Sauron‹. Das mag im fiktiven Quenya ›der Grausame‹ heißen, doch Tolkien plünderte alle möglichen realen Sprachen und so überrascht es wenig, daß der Name dem griechischen ›sauros‹ (= Echse, Schlange) abgeguckt wurde. Dino›saurier‹ leitet sich auch aus dieser Wurzel ab. ••• Munition für die fragwürdigeren, zumindest heikel-unangenehmen Theorien zu ›Tolkien als Nordherrenmensch-Idealisierer und Russenverachter‹, lässt sich aus mannigfachen Entlehnungen osteuropäischen Wortguts für Begriffe der bösen Mordor- und Orksprache schmieden. •••

Frodo, Gandalf und Aragorn erleben alle drei ihren Tod und darauffolgende Auferstehung. Gandalf in Moria (als ganzes ein Friedhof und Totenreich); — Aragorn auf dem Pfad der Toten (Fegefeuer-Thema; die Sünde des Verrats der Dagorlandschlacht-Kneifer erweißt sich als heilbar); — und Frodo am getreusten nach den Evangelien. Am dritten Tage nach Kankras Lauer findet Sam ihn wieder. Zwischendurch lag Frodo wegen der Spinne Stich in totengleicher Starre.

Der 25. März ist nach christlicher Tradition nicht nur der Tag der Kreuzigung von Jesus, sondern auch der Tag der Verkündigung (also Maria-Befruchtung). An genau diesem Tag des Auenlandkalenders wird der Ring zerstört. Wenn man bedenkt, daß Tolkien seine Welt ja frei erfunden hat (und die Monate und Zeitläufte-Unterteilung auch ganz anders hätte gestalten können), kann man dies wirklich nicht als Leichtfertigkeits-Zufall deuten. Das ist glaubensschwere Absicht.

Spuren verwischen

Tolkiens Glaube ging einher mit einer großen Bescheidenheit. Deshalb lag es ihm fern, deutliche, ins Auge springende Hinweise auf seinen katholischen Glauben zu liefern. Deswegen verachtete er auch ›Allegorie‹ so sehr, denn diese ist eine Zeichen- und Bedeutungsgrammatik, die kein Deuteln zulässt. Eine Frau mit Augenbinde, Schwert und Waagschalen ist immer »Die Gerechtigkeit« und abweichende Sinnbelegungen nur bei Regelverstoß möglich. Theologisch gesehen vollzieht Tolkien also einen Umgang mit Symbolen und Bedeutungen, der konträr zu dem von Bilderstürmen der Reformation oder den byzantinischen Iconoklasten ist. Statt Bilddarstellungen von Gott und Jesus usw. abzulehnen, hat er, beflügelt durch seine Begeisterung für (heidinisch-nordeuropäische) Mytholgien, den Bilderschatz seines Glaubens zu erweitern verstanden.

Als Prosa- und Romanautor finde ich ihn größtenteils lächerlich (Ausnahme: »Silmarillion« Kinderbücher & Kurzgeschichten), als Lyriker schrecklich altbacken lieblich, aber ich verneige mich vor ihm als großen Brückenbauer zwischen katholisch-christlicher und heidnisch-vorchristlicher Religion. Er mag bekehrend auf seine Umwelt eingewirkt und dabei zuweilen ein schwieriger Mensch gewesen sein, aber im Mythenverschmelzen zeigt er sich bewundernswert tolerant … auch wenn er sonst gegenüber Dingen wie der Moderne und der Demokratie ziemlich engstirnig ablehnend sein konnte.

Zu der zweifelnden Gegenfrage, warum einem denn die katholischen Bezüge bei einer LOTR-Lektüre nicht mit den Füßen voran ins Gesicht springen, bin ich im Netz bei »Lord of the Imagination« (in etwa: »Herr/Meister der Vorstellungskraft/Phantasie«) fündig geworden. Dort zitiert ›The Irish Family‹ nach Humphrey Carpenter: »Letters of J.R.R. Tolkien«:

Tolkien selbst schreibt in Brief No. 142 an Robert Murray, S.J.: »The Lord of the Rings is of course a fundamentally religious and Catholic work, unconsciously so at first, but consciously in the revision. That is why I have not put in, or have cut out, practically all references to anything like "religion", to cults or practices, in the Imaginary world. For the religious element is absorbed into the story and the symbolism.«

»Selbstverständlich ist »Der Herr der Ringe« ein durch und durch {grundsätzlich} religiöses und katholisches Werk, unbewußt zu Beginn, doch bewußt bei der Überarbeitung. Alle Verweise {Bezüge} zu Dingen wie »Religion«, auf Kulte und {religiöse} Praktiken in der vorgestellten {ausgedachten} Welt habe ich deshalb weggelassen oder entfernt. Denn das religiöse Element {man beachte den Singular} ist in die Geschichte {Handlung} und die Symbolbedeutungen eingegangen.«

Insofern ist LOTR in Bezug auf katholischen Glauben grob vergleichbar mit L. Ron Hubbards »Battlefield Earth« und Scientology. Und mich jetzt bitte nicht den haun, ich weiß, daß dieser Vergleich hinkt und unfair ist. Aber Molosovsky findet’s lustig.

Der musizierende Gott

Religion braucht erst in zweiter Linie Gläubige. Zuerst sind Propheten, Priester und Apostel, die eine Religion ersinnen, leiten und verbreiten nötig. Tolkien ist kein Neu-Schöpfer einer Religion, sondern im innigsten Sinne des Wortes ein Mystiker und um-zwei-Ecken-Verkünder einer, sprich: seiner katholischen Frömmigkeit. Man muß sich halt ein wenig mit frühchristlichen Theologien auskennen, um das so erkennen zu können.

Tolkiens Selbstaussagen mögen wohl denen unangenehm dünken, die sich LOTR zu einem Klangraum z.B. für ihre neu-heidnischen Sehnsuchtsseufzer zurechtdeuten wollen. Dabei darf man nicht übersehen, daß Tolkien sehr schockiert und angewidert von seinen Fans in den Sechzigerjahren als »langhaarige Irre« gesprochen hat. Du liebe Güte, ich wollte hiermit niemanden als irre oder langhaarig zeihen, nur darauf hinweisen, daß man vielleicht hie und da den Wirrnissen der Flower-Power-Leserschaft aufsitzt. Ich sag nur: Pfeiffenkraut entspricht nicht Marihuana.

Interessant ist, daß Tolkien — so eigen seine Schreibe ist — immer wieder Überraschendes bietet. So nimmt er heutige christliche Strömungen, wie die von formulierte Matthew Fox vorweg, die den Gedanken der Bewahrung der Vielfalt Schöpfung wieder in den Mittelpunkt des christlichen Glaubens rücken. Innovativ erscheint mir Tolkiens Motiv, die Schöpfung als Klangzauber zu verstehen, und überreich sind demgemäß auch in LOTR Stellen zu finden, an denen akustische Signale tiefere Wahrheiten und höhere Bedeutungen markieren.

Von Arwens Gesang der Aragron bezaubert; — über Boromiers Aufbruchs-Tuten in Bruchtal, als Ausdruck der aufrichtigen Absichten des Ringentsorgungs-Squats; — bis zum — durch das Plappern von Merry und Pippin — milde gestimmten Baumbart, der, hätte er die beiden Hobbits zuerst gesehen statt gehört, sie für kleine Orks gehalten und zertrampelt hätte … um nur drei subtilere Beispiele anzuführen, von Sarumans Stimmenzauber ganz zu schweigen. Tolkien bezieht damit eine nicht zu unterschätzende Gegenposition zur Substanz-, Optik-, Imago-, und Objekt-Fixierung heutiger Psychologie-Mythen. Tolkien nimmt damit neuere Seelentheorien vorweg, die sich Gedanken machen, wo man sich sphärologisch eigentlich befindet, wenn man Musik hört; und daß, bevor man von visuellen Spiegel-Erfahrungen und visuellen Aneignung der Welt sprechen kann, erstmal akustische Sirenen-Erfahrung und -Verführungen stattfinden. ••• Siehe Peter Sloterdijk »Weltfremdheit« und »Sphären I - Blasen (Mikrosphärologie)«. •••

Freilich hat das Christentum schon lange vor Tolkien wie ein Schwamm Vorchristliches aufgesogen. Weniger aber aus theologischer Redlichkeit, denn aus macht-imperialer Notwendigkeit. ••• So leitet sich das Weihnachts-Datum von der Einweihung des Sol-invictus-Tempels unter Kaiser Aurelian (270 - 275 n.Ch.) am 25. Dez. 274 ab. ••• Tolkien war wählerisch mit seinen Anregungsquellen, nicht nur Heidnischem gegenüber. Hat er doch die nicht gerade unchristliche Arthur-Sage deshalb kaum aufgegriffen, weil sie sich für seine Zwecke als Fundus für einen heimischen Neo-Mythos nicht eignete, da ihm sein geliebtes England zur Arthus-Zeit zu sehr von romanisch-französischen Einflüssen versaut war. Und der Gute war ausgesprochen frankophob.

Eine neue Religion wollte Tolkien nicht schaffen, sondern der seinen neuen Ausdruck verleihen. LOTR kann man getrost zwischen die Bibel und den Katholischen Katechismus ins Regal stellen, und gemäß der Autoren-Intention fühlt sich das große rote Buch der Westmark dort sauwohl … wohler als zwischen (ich sag mal) den Fantasy-Romanen von Michael Moorcock und Dave & Leigh Eddings.

Warum beschäftige ich mich als ausgesprochener Tolkien-Skeptiker trotzdem seit über 15 Jahren mit dem Mittelerde-Schmalz? Weil Tolkien trotz all meiner Abneigung und Bedenken der große Papa der sogenannten »Fantasy« ist, eine Genrebezeichnung, mit der ich nicht recht glücklich werde, die mir aber trotzdem als Orientierung im Belletristikangebot dient.

Ich kann nicht anders, als im Sinne einer Relativierung der Leser-Umdeutungen der Werke Tolkiens immer wieder den Versuch zu starten, den (am Autor vorbeigehenden) Interpretationen durch heutige Leser entgegenwirken zu wollen. Wenn ich mir solche tröstlichen Verstandeinlullungen wie die Papierverschwendungen eines Tad Williams (»Der Drachenbeinthron«) und Robert Jordan (»Das Rad der Zeit«) anschaue, erscheint mir das notwendig.

Zuckerl: Grond

Als Linderung und Wiedergutmachungsangebot nach all dem dekonstruierenden Kopffüßlerblabla, will ich zeigen, welche Stellen auch mich fürwahr abheben lassen, wenn ich den guten Prof. Tolkien lese. Auf zur Belagerung von Minas Tirith in LOTR, Buch III:

Seite 873: Die Trommeln wirbelten lauter. Große Maschinen krochen übers Feld heran; und in ihrer Mitte kam ein riesiger Rammbock, dick wie ein Baum und hundert Fuß lang, aufgehängt an mächtigen Ketten. Lange war er in Mordors dunklen Waffenschmieden zurechtgeschliffen worden, und sein hässlicher Kopf, aus schwarzem Stahl gegossen, hatte die Form einer Wolfsschnauze und war mit mauerbrechenden Worten beschriftet. Grond nannten sie ihn, in Erinnerung an den Unterwelthammer der alten Zeiten. Große Tiere zogen ihn, Orks deckten ihn an den Seiten, und hinterdrein kamen Bergtrolle, um ihn ans Ziel zu wuchten.

Und den englischen Text von LOTR habe ich größtenteils laut und theatralisch deklamiert … oft während längerer WC-Sitzungen.

Original, Seite 860: The drums rolled louder. Fires leaped up. Great engines crawled across the field; and in the midst was a huge ram, great as a forest-tree an hundered feet in lenght, swinging on mighty chains. Long had it been forging in the dark smithies of Mordor, and its hideous head, founded of black steel, was shaped in the likeness of a ravening wolf; on it spells of ruin lay. Grond they named it, in memory of the Hammer of the Underworld of old. Great beasts drew it, orcs surrounded it, and behind walked mountain-trolls to wield it.

Zurück durch die Jahrtausende ins Erste Zeitalter und zur (vierten) Schlacht »des Jähen Feuers« und dem Kampf Morgoth vs. Fingolfin:

Seite 172: Dann schwang {der turmhohe} Morgoth Grond hoch in die Luft, den Unterwelthammer, und schmetterte ihn nieder wie einen Donnerschlag. Doch Fingolfin sprang beiseite, und Grond schlug eine mächtige Grube in die Erde, aus der Rauch und Feuer hervorsprühten. Viele Male versuchte Morgoth, ihn zu zerschmettern, und jedesmal wich Fingolfin aus, wie der Blitz unter einer dunklen Wolke hervorspringt; {…} Doch die Erde um ihn war nun voller Löcher und Gruben, und er strauchelte und fiel rücklings Morgoth vor die Füße; und Morgoth setzte den linken Fuß auf seinen Hals, schwer wie ein stürzender Berg. Doch mit einem letzten und verzweifelten Streich hieb Fingolfin ihn Ringil in den Fuß, und das Blut sprudelte schwarz und dampfend hervor und füllte die Gruben, die Grond gehauen hatte. ••• »Silmarillion«, Klett-Cotta, 1986; Übers. Wolfgang Krege.

Original, Seite 185: Then Morgoth hurled aloft Grond, the Hammer of the Underworld, and swung it down like a bolt of thunder. But Fingolfin sprang aside, and Grond rent a mighty pit in the earth, whence smoke and fire darted. Many times Morgoth essayed to smite him, and each time Fingolfin leaped away, as a lighting shoots from under a dark cloud; {…} But the earth was all rent and pitted about him and he stumbeld nd fell backward before the feet of Morgoth; and Morgoth set his foot upon his neck, and the weight ot it was like a fallen hill. Yet with his last and desperate stroke Fingolfin hewed the foot with Ringil, and the blood gushed forth black and smoking and filled the pits of Grond. ••• Unwin/Unicorn, 1987

Da bleibt mir meckerlos die Spucke weg, und nein, ich bin nicht so tollkühn, Grond als Phallus zu interpretieren und die blutigen Gruben zu deuten als, … na ihr wißt schon. Noch halte ich mich nicht für eine Reinkarnation von Arno Schmidt … vom schniefenden Siggi Freud gar nicht zu reden.

Ein ähnlich überwältigendes Bild fürs Vorstellungsauge bietet die (zweite) Schlacht »unter Sternen«, in der eine ganze Balrog-Armee auftritt. Man stelle sich vor, ein angreifendes Gewimmel von den Biestern, von denen eines in den Tiefen Morias den guten Gandalf alt aussehen läßt. Übrigens: durch die im Film beim Duell Gandalf vs. Balrog zu sehenden unteririschen Kavernen, wurde im Scheibenwelt-Zeitalter Mittelerdes die Sonne nachts zur Aufgangsposition zurückgerollt. Kann ich nur als eigenwilligen Ausdruck des Humors von Tolkien deuten und mich daran vergnügen.

Ausklang

Abschließend kann ich jedem begeisterten Leser empfehlen, sich einmal unerschrocken zu fragen, was genau für ihn die Faszination von LOTR und Mittelerde ausmacht. Ist es der Trost, die Epik, die Exotik, das Heldenhafte, die Naturromantik, die Sprache oder oder oder?

Eine großartige (katholisch-jesuitische) Vergleichslektüre zu LOTR, ist ein Ur-Fantasy-Buch aus dem spanischen Barock (1651):

Balthasar Gracian: »Das Kritikon« (und hier geht es zu meiner Besprechung) , als Fischer-TB für 20 Euro zu haben. Hier findet sich das sehr christliche Motiv des Lebens als Pilgerreise zum Seelenheil, der Mensch als Fremdling in einer trügerischen Welt (versaut durch demiurgische Pfuscherei, sprich abtrünnige Engel).

Know Thy Enemy.

Dig deep.

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WOANDERS: Wer weiter stöbern mag, dem sei neben den bereits genannten Quellen die umfangreiche Linksammlung The Catholic Imagination of J.R.R. Tolkien empfohlen. (man beachte die URL und verzweifle). Interessante Essays von katholisch-christlichen Autoren sind meines Erachtens:

Alles was dort zu lesen ist, stellt weitaus diskretere Deutungen zu Mittelerde dar, als zum Beispiel voreilige Interpretationen die feststellen, daß LOTR rassistisch sei; oder Frodo und Sam, bzw. Gandalf und Frodo homosexuelle Sublimationen wären und ähnlicher galoppierender Quatsch.

NEU: 24. Juli 2014 — Hier die (mir bekannten) brillanten Texte von Peter ›raskolnik‹ Schmidt zu Tolkien und seinem Werk (in chronologischer Reihenfolge). Raskolnik schafft es viel besser als ich, gut belegt kritisch zu hinterleuchten. Er arbeitet und bereitet einfach bedachter und ordentlicher als ich. (Wer auf mehr Radau aus ist, darf natürlich meine ›Phantastikforschungs‹-Entäußerungen weiterhin gut finden.)

Ich glaube behaupten zu dürfen, dass Raskolnik — ebenso wie ich — nicht einfach nur darauf aus ist, Tolkien unangespitzt in den Boden zu rammen, sondern dass er ihn vielmehr ernst nehmen und Probleme & Einsichten freilegen will, die im Spiel der Zeiten & Moden verdeckt wurden. Ich denke zudem, dass man bei Raskolnik merken kann, dass er durchaus — wiederum wie ich — auch seine Freude & den gebotenen Respekt für den Phantastik-Pionier Tolkien aufbringt.

Gilbert Keith Chesterton: »Der Mann der Donnerstag war«, oder: Bombe und Kursbuch

Eintrag No. 20

Version 1.0 erschienen in »MAGIRA 2003 – Jahrbuch zur Fantasy« , herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. Version 2.0 vom 20. September 2007: Portrait und viele Links eingepflegt, um Verehrerrundschau erweitert Fehler gemerzt.

Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zählt neben Herbert George Wells, Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling zu den klassischen Alleskönnerautoren Englands am Ende der Viktorianischen Epoche bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Wie diese hat er Texte verschiedenster Art hinterlassen, darunter äußerst originelle Beiträge zur Phantastik. Und wie Tolkien gehört er zu den ›schrulligen Katholiken‹ der anglikanischen Insel (siehe die beiden Essay-Bände »Ketzer« und »Orthodoxie«). In Deutschland ist er wohl, wenn überhaupt, vor allem als Erfinder des von Heinz Rühmann (bzw. Ottfried Fischer) dargestellten Pater Brown bekannt. Comiclesern ist vielleicht sein Aussehen bekannt, immerhin leiht sich das die Figur (bzw. der Ort) Fiddlers Green in Neil Gaimans »The Sandman«.

Der Wagenbach-Verlag hat dankenswerterweise »Der Mann der Donnerstag war« wieder mal dem deutschem Leser zugänglich gemacht, wenn auch in einer gewöhnungsbedürftigen Übersetzung aus dem Jahre 1910.

Das 1908 erstmals erschienene Buch handelt vom apltraumdurchwirkten Ringen um eine gesicherte Sicht auf die Auseinandersetzung zwischen Anarchie und Ordnung. Es beginnt mit der Begegnung zweier gegensätzlicher Poeten in einem Künstlerviertel Londons. Der Platzhirsch des Saffron Park, Lucien Gregor, verherrlicht den Archetypen des bombenwerfenden Anarchisten als DEN Künstler schlechthin. Seinem Herausforderer Gabriel Syme dünkt das Chaos aber öde und er preist lieber den Zugfahrplan als Triumph des menschlichen Willens. Gregor möchte nicht nur Konventionen und Regierungen, sondern sogar Gott abschaffen, Syme aber wirft ihm vor, es mit dem Anarchismus nicht wirklich ernst zu meinen. Gregor will Syme von seiner Ernsthaftigkeit überzeugen und Syme folgt Greogor zu einem geheimen Treffen. Beide offenbaren zuvor einander ihre Geheimnisse und geloben Verschwiegenheit darüber. Gregor entpuppt sich als Anarchist, Syme als Geheimpolizist, beide nur als Poeten getarnt. Beklommen stellen die sie fest, daß ihre Angst aufzufliegen und ihre Ehrenworte sie voneinander abhängig machen.

Bei einem Treffen des geheimen Anarchistenzirkels schafft es Syme, Gregor den Posten des Donnerstag wegzuschnappen. Die sieben Oberanarchisten sind nämlich nach den Wochentagen benannt, womit sich der seltsame Titel des Romans erklärt. Montag ist ein Sekretär, Dienstag ein polnischer Fanatiker, Mittwoch ein dubioser Marquis, Donnerstag in Person Symes ein Poet, Freitag ein alter Professor und Samstag ein praktischer Arzt. Anführer ist der monströse Präsident Sonntag, der sich selbst ›den Frieden Gottes‹ nennt. Der Rat beschließt ein Bombenattentat auf den russischen Zaren und den französischen König in Paris, das Syme und Greogor verhindern wollen. Von da an geht es zunehmend drunter und drüber.

Chesterton hatte merklich großen Spaß daran, Atmosphären zu übertreiben und moderne Allegorien zu erschaffen. Nichts ist, was es scheint, und die Verschwörer stolpern von einer Bredouille in die nächste.

Besonders bemerkenswert ist der Oberbösewicht Sonntag, eine grandiose Übersteigerung der Figur des Verbrecherkönigs. Er ist eine prophetische Mischung aus Goldfinger und Groucho Marx, wenn er z.B. bei der finalen dadaistischen Verfolgungsjagd nicht nur immer aberwitzigere Fluchtuntersätze nutzt, sondern dabei auch noch ständig Zettel mit rätselhaften Unsinnsmitteilungen hinterläßt. Durch solche Kapriolen wirkt der Roman über weite Strecken, wie eine Vorwegnahme von höherem Zeichntrickblödsinn. Dabei wird immer wieder auf das Grundproblem angespielt: die unvereinbare Gegensätzlichkeit der menschlichen Wünsche nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit einerseits, nach Freiheit, Individualität und Vertrauen andererseits.

Chestertons satirische Gesellschaftsphantastik ist allemal ein Wiederentdecktwerden wert, besonders anempfohlen in unseren Zeiten, da man als Echtweltbürger feststellt, daß die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos sich immer mehr verwischen, und der Übersichtlichkeit halber amal neu definiert werden müßten. Egal ob man sich (aus welchen Grund auch immer) für Bombe oder Kursbuch entscheidet, die Gegenseite lauert immer und überall.

Meine liebste Fundstelle des Romans illustriert das dialektisch-paradoxe Ideenjoungliervergnügen, das ich mich Chesterton hab. Im ersten Kapitel werden zwei gegensätzliche Dichter — der dandyhafte Anarchist Lucien Gregor und der bürgerliche Ordnungs-Anakreont Gabriel Syme — im Streitgespräch gegenübergestellt.

Gregor: »Ein Künstler ist dasselbe wie ein Anarchist. Man kann auch umgekehrt sagen: ein Anarchist ist ein Künstler. Der Mann, der eine Bombe wirft, ist ein Künstler, weil er einen großen Augenblick allem anderen vorzieht. Er erkennt, wie viel wertvoller das einmalige Aufflammen, der einmalige Donnerschlag einer wirkungsvollen Explosion ist, als die alltäglichen Körper von ein paar Polizisten. Ein Künstler kümmert sich um keine Regierung, er bricht mit jeglichem Herkommen. Den Dichter erfreut nur die Verwirrung. Wäre dem nicht so, dann müßte das poetischte Ding der Welt die Untergrundbahn sein.«

Syme: »[...] Chaos ist öde, weil im Chaos der Zug tatsächlich irgendwohin gehen würde, nach Baker Street oder nach Bagdad. Der Mensch aber ist ein Magier, und seine ganze Magie besteht darin, daß er sagt: Victoria {Station}, und siehe da, es ist Victoria. Nein, behalten Sie Ihre Bücher mitsamt Ihrer Poesie und Prosa und lassen Sie mich einen Fahrplan lesen mit Tränen des Stolzes. Behalten Sie nur Ihren Byron, der die Niederlagen der Menschheit feiert und geben Sie mir das Kursbuch, das ihre Siege verherrlicht.

[...] Sie behaupten verächtlich, es sei selbstverständlich, daß einer nach Victoria kommen muß, wenn er Sloane Square verlassen hat. Ich aber behaupte, daß in der Zwischenzeit tausenderlei Dinge geschehen könnten und ich jedesmal, wenn ich wirklich mein Ziel erreicht habe, den Eindruck habe, mit knapper Not davongekommen zu sein.«

Zitiert nach der Ausgabe bei Heyne »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«.

Und wer mehr von diesem außergewöhnlich unbekannten Werk kennenlernen möchte: hier der ganze Roman auf englisch und noch ein Link zu einer netten Chesterton-Page.

BLICK IN DIE RUNDE DER VEREHRER:

  • Wie klassisch dieser Roman im anglo-amerikanischen Raum ist, und wie lebendig er dort auch von jüngeren Genreationen goutiert wird, führt das Computerspiel »Deus Ex« vor, das u.a. von »Der Mann der Donnerstag« deutlich inspiriert wurde und in dessen Levels der Spieler immer wieder auf Zitate aus dem Buch stößt.
  • Neil Gaiman schreibt in seinem Blog:
    »The Man Who Was Thursday« is one of the most ambiguous books I've ever encountered, and its morals are deeply uncertain.

    (Molos Übersetzung) »Der Mann der Donnerstag war« ist eines der undurchschaubarsten Bücher das mir je untergekommen sind, moralisch zutiefst unbestimmbar.
  • Susanna Clarke zählt »Der Mann der Donnerstag war« zu ihren Lieblingsbüchern:
    Es ist so etwas wie ein sehr aufregender Detektivroman und fast wie ein Gedicht und wie ein theologisches Rätsel — und die meisten Dialoge lesen sich, als hätte Oscar Wilde sie geschrieben. Es ist etwas ganz Besonderes. Die Szenen laufen als eine Serie von Bildern ab — präzise, überraschende, einfache, farbenfrohe Bilder. Es ist wie eine wunderschöne Halluzination oder ein angenehmer Alptraum. Wie in allen Detektivromanen (oder Gedichten oder theologischen Rätseln) können die einfachsten Gegenstände oder Handlungen eine immense Bedeutung haben. Gleichzeitig zeichnet das Buch ein interessantes Bild der Zeit und vermittelt einen guten Eindruck davon, was es hieß, im Jahr 1908 ein dandyhafter englischer Gentleman zu sein.
  • Hierzulande hat z.B. Carl Amery G.K.C. enthusiasmiert bejubelt, wie im Vorwort zu »Der G. C. Chesterton Omnibus 1« (Heyne 1993)
    Chestertons Romane sind, da ist kaum ein Zweifel möglich, durchaus der modernen Form der Science Fiction, das heißt des spekulativen Genres zugehörig. »Was wäre wenn…?« oder auch: »Was wäre gewesen, wenn…?« — das ist die Frage, welche die wundersamen Maschinen dieses Genres in Bewegung setzt. {…} Wer von all den wissenschaftlich orientierten Prognostikern hat die Geburt des Tory-Faschismus (in »Don Quijotes Wiederkehr«), die Islamisierung Englands (in »Fliegendes Wirtshaus«), die totale Abstrusität des Terrorismus und der Terrorismus-Bekampfer (in »Der Mann der Donnerstag war«) so scharfsinnig antizipiert? Wer hat die Schnappfallen des bürokratischen Wohlfahrtsstaates, die Diktatur der psychiatrischen Normalitäts-Festsetzer, die Reduktion der Kunst zu Ware und die Reduktion der menschlichen Geschicklichkeiten durch die gloabe Normierung so gut gewittert und so amüsant ins Erzählerische übersetzt?
  • Michael ›Harry Potter ist superduper‹ Maar zitiert in seinem feinen Rundfunkessay für den SWR den Chesterton-Kenner Joachim Kalka, der folgendermaßen »Der Mann der Donnerstag war« lobpreist:
    Der {Roman} hat viel von genialer Kolportage. Das eigenartige Lächeln des Montags, des Sekretärs, der nur auf einer Seite des Gesichts den Mund verzieht, erscheint später großartig als coup de théatre. Ganz in der Ferne scheint es, als ob man eine Menge von Verfolgern drohend herandringen sähe; die Helden mustern den Auflauf unruhig durchs Fernglas. Die Anführer tragen schwarze Halbmasken. Und »schließlich lächelten sie während ihres Gespräches alle, und einer von ihnen lächelte nur auf einer Seite.« An solchen Momenten, in denen es den Leser leise überläuft (…), ist das Buch überreich: Maske und Duell, Attentat und Flucht, Hetzjagd und Verschwörung. Es ist kennzeichnend für Chestertons Werk, daß die stärksten Wirkungen im Ineinander von romance und Reflexion liegen.
  • Und in »Cicero« (Sept. 2007) begeistert sich Daniel Kehlmann (nebenbei auch erfrischend über die hiesige Verlagslandschaft spottent) für Chestertons Alptraum, indem er z.B. schreibt:
    Ein aktuelles Buch? Aber natürlich — denn es geht um Terror und terroristische Geheimorganistaionen, es geht um den Übereifer bei der Verfolgung des Bösen, es geht darum, dass Zivilisation und Glauben plötzlich selbst jene Gefahren sein können, vor denen sie uns schützen wollen.

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Der Mann der Donnerstag war (The Man who was Thuesday, 1908) aus dem Englischen von Heinrich Lautensack; 192 Seiten; Taschenbuch; Wagenbach-Verlag; Berlin, 2002. oder antiquarisch z.B.: übersetzt von Bernhard Sengfelder in der Bearbeitung, einem Vorwort und herausgegeben von Carl Amery; zusammen mit »Der Held von Notting-Hill« in »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«; 428 Seiten; Taschebuch; Heyne, ›Bibliothek der Science Fiction Literatur‹; München 1993. — Aufgrund der deutlich flexibleren, klareren Sprache zu bevorzugen.
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