»Der Eiserne Rat«: Das Blog-Seminar von Crooked Timber über und mit China Miéville. Deutsche Fassung
Eintrag No. 319 — Nach meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Strange un Mr. Norrell«, kann ich heute meine deutschsprachige Fassung der sechs Essays über China Miévilles »Der Eiserne Rat«, sowie Chinas Reaktion darauf anbieten. Das PDF hat 72 Seiten und ist 1,4 MB groß, und gedacht für alle, die lieber in Ruhe soviel Text aufm Papier lesen. — (Tausend Dank von Herzem dem phantastischen TeichDrachen für seine Servergastfreundschaft.)
Falls der PDF-Link Probleme bereitet, schicke ich es auf Anfrage gern per eMail zu. Zwecks Kontakt: siehe Ende dieses Eintrages (oder auch mein Impressum).
Damals, im Januar 2005 bin durch das Seminar zu »Der Eiserne Rat« auf Crooked Timber aufmerksam geworden und seitdem von diesem wunderbaren Akademiker-Gruppenblog hellauf begeistert. Ich will nicht am Niveau der deutschsprachigen Beschäftigung mit Genre-Werken herumnörgeln (denn soooo seicht ist das gar nicht; man klicke sich entsprechend durch meine Linkliste), hoffe aber doch, daß allen, die sich gerne ausführlicher und ›tiefer‹ mit Phantastik, Literatur und der Beziehungen zwischen Ästheteik und Engagement beschäftigen, hiermit ein weiteres sattes Bonbon geboten wird. — Auch wenn es vermessen klingen mag: Ich fände es superb, wenn dieses Format eines Blog-Seminars mit Beteiligung des Autoren vielleicht auch bei uns Schule macht. Ich würde mir dafür gern einen Haxen ausreißen (mit dem Zaunpfahl wink).
Hier Henry Farrells einleitende Worte vom Januar 2005.
Die Namen-Links der einzelnen Autoren und Autorinnen führen zu den englischen Originalfassungen bei Crooked Timber, die Essay-Titel-Links zu den hier in den Kommentaren gelieferten deutschen Fassungen.
China Miéville ist einer der interessantesten Autoren auf den Gebieten der Science Fiction und Fantasy. Sein erster Roman König Ratte[1] greift Drum'n'Bass, Max Ernst[2], Robert Irwin[3] auf und ist im zeitgenössischen London angesiedelt. Sein zweites Buch Perdido Street Station[4], ein von Kraft, Witz und grimmiger Wildheit erfüllter urbaner Phantastikroman, hat das Genre im Sturm erobert, und wurde mit dem Arthur C. Clarke Award[5] ausgezeichnet. Wie Michael Swanwick[6] 2002 in der Washington Post schrieb, ist es »ein bischen frech von mir, ein Buch das erst vor zwei Jahren erschienen ist, als Klassiker zu bezeichnen. Doch ich denke, ich befinde mich mit dieser Behauptung auf sicherem Boden.« Sein dritter Roman Die Narbe[7] erhielt vergleichbares Lob. China Miéville gehört zur offiziellen Auswahl Beste Junge Britische Autoren 2003 von Grantas salon de refusés. Zudem engagiert sich China für sozialistische Politik — er kandidierte für das Parlament bei den letzten Wahlen. Das auf seiner Ph.D.-These basierende Buch Between Equal Right: A Marxist Theory Of International Law[8] wird diesen Monat bei Brill Publishers verlegt.
Im August 2004 erschien Der Eiserne Rat[9], Chinas jüngster Roman. Michael Dirda[10] von der Washington Post beschreibt ihn »als ein Werk, daß sich sowohl durch leidenschaftliche Überzeugung als auch höchste Künstlerschaft auszeichnet.« Vor ein par Monaten hat die Miéville-Fraktion von Crooked Timber beschlossen, daß es Spaß machen könnte ein kleines Mini-Seminar über Der Eiserne Rat zusammenzustellen und China zu fragen, ob er darauf reagieren möchte. Äußerst entgegenkommend sagte er zu und das Ergebnis liegt Ihnen hiermit vor. Wir haben zwei regelmäßige Gastautoren eingeladen an diesem Mini-Seminar teilzunehmen. Matt Cheney blogt über Literatur und Science Fiction bei The Mumpsimus und schreibt darüber hinaus für das Locus Magazin[11] und die SFSite[12]. Miriam Elizabeth Burstein blogt unter The Little Professor, unterrichtet über Viktorianische Literatur an der Suny Brockport Universität von New York. Miriam hat im fortgeschrittenen Verlauf dieser Unternehmung freundlicherweise zugestimmt, sich anzuschließen und eine bereits geschriebene lange Besprechung (auf die China sich unabhängig bereits bezogen hat) zu überarbeiten.
Die Essays hier sind in der Reihenfolge angeordnet, in der China auf sie in seiner Antwort eingeht (wer Der Eiserne Rat noch nicht gelesen hat, sollte wissen, daß vom Inhalt einiges verraten wird).
John Holbo beginnt in seinem Aufsatz Für ein einziges Wort… mit Anmerkungen zur Beziehung zwischen Miéville und Tolkien; dann greift er die Auseinandersetzung von Bruno Schulz über Eskapismus und die Fruchbarkeit unbelebter Materie auf, um dargzulegen, daß China sich bei seinem Mitteilungsmodus nicht zwischen politischer Ökonomie und expressionistischen Puppentheater entscheiden kann.
Belle Waring beschwert sich in New Crobuzon: Wenn du es hier um-modeln kannst…, daß die unerbittliche Grimmigkeit von Miévilles urbanen Schauplätzen und das Schicksal seiner Figuren etwas formelhaft sind; er sollte seine Charaktere vorankommen und vielleicht sogar Erfolg haben lassen.
Matt Cheney hat mit Ausgleichende Traditionen… teilweise eine alte Besprechung überarbeitet, in der er meinte, daß Miéville seine Bösewichter etwas realistischer darstellen sollte; er legt seine Gründe dar, warum Miéville das hätte tun sollen, und beschreibt, wie Miéville Pulp- und Avantgarde-Literatur in seinen Werken miteinander versöhnt.
Mein Essay Ein Argument in der Zeit vergleicht Miévilles Neubearbeitung von Historie, Mythos un Revolution mit Walter Benjamins Thesen zur Philosophie des Geschichsbegriffes.
Miriam Elizabeth Burstein untersucht in Aufhebung von Messiasfiguren, wie Miéville Ideen des Märtyrertums und des Messianismus mit der Figur des Judah Low umarbeitet.
Schließlich schreibt John Quiggin mit Vergangenheit (und Zukunft) um-modeln über Der Eiserne Rat im historischen Zusammenhang, und legt dar, wie der titelgebene Zug des Romans sich zu einem Mythos entwickelt der wiederkehrt um uns zu ›retten‹, so wie auch die revolutionären Traditionen des neunzehnten Jahrhunderts die in Der Eiserne Rat gefeiert werden, weiterhin als Quellen der Inspiration dienen.
Auf all das Vorgebrachte und mehr antwortet China mit seiner Erwiderung Mit einem Sprung sind wir frei….
Dieses Seminar wird unter den Bedingungen einer Creative Common Lizenz 2.0 zugänglich gemacht, wobei gemäß der Gepflogenheiten der angemessenen Verwendung von zitierten Material, die jeweiligen Urheberrechte von Der Eiserne Rat und anderer Werke, nicht verletzt werden.
Dieses Seminar ist auf englisch als PDF verfügbar, für alle, die Texte lieber ausdrucken und auf Papier lesen.
— Henry Farrell, Januar 2005.
Zur Übersetzung des Seminars
Wie schon bei meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Srange & Mr. Norrell«, finden sich die Quellenangaben der angeführten Zitate in den Fußnoten dieser Übersetzung. Zudem habe mir erlaubt, in den Fußnoten diese Übersetzung um hilfreiche Handreiche für deutsche Leser zu ergänzen. Ich hoffe, daß die wenigen Fußnoten der Autoren sich leicht von den Quellenangaben und meinen Handreichungen unterscheiden lassen.
Alle ursprünglichen Fußnoten der Autoren sind wie der Haupttext in normaler Größe wiedergegeben, meine Anmerkungen dagegen wie diese Anmerkung zur Übersetzung in kleinerer Schrift formatiert.
Da ich kein ausgebildeter, professioneller, sondern nur ein (hoffentlich im positiven Sinne des Wortes) ›dilettantischer‹ Hobbyübersetzer und ›Edel-Phantastik-Fachdepp‹ bin, bitte ich etwaige Fehler und Ungereimtheiten, die Ihnen auffallen mögen nicht allzu Übel zu nehmen.
Über entsprechende Korrekturmeldungen würde ich mich freuen und bin im Voraus dankbar dafür.
— Alex Müller / molosovsky, Dezember 2006. Korrekturmeldungen bitte per eMail an *molosovsky*@*yahoo*.de richten (Sternchen weglassen)
Beginn der Arbeit an dieser Übersetzung: 17. November 2006.
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molosovsky Besitzerin
—Ein Essay über China Miéville—
1. DREI DINGE ÜBER MIÈVILLE
Mein Beitrag ist größtenteils eine Collage aus vorhandenen Texten, die ich über China Miéville geschrieben habe: überarbeitete Segmente, die ich zu einer kritischen Betrachtung über seinen neuen Roman Der Eiserne Rat verwoben habe. Über wichtige Handlungsentwicklungen werde ich hier nichts verraten.
Ich werde einige Fragen an den Autor richten. Normalerweise ist es nicht meine Art, hinter den Kulissen nach Absichten zu schnüffeln. (Obwohl ich nicht der Ansicht bin, daß diese Herangehensweise verwerflich ist.) Doch im vorliegenden Fall bin ich ausnahmsweise neugierig, was der Autor sich gedacht haben könnte. Vielleicht antwortet er darauf, wie bewunderswert — wenn auch seltsam — diese Welt arrangiert wurde.
Zuerst nun eine kurze Darlegung, nicht meiner These, sondern von Offensichtlichem, auf dem meine Argumente hoffentlich fundiert aufbauen:
Eine kritische Frage zu Miéville könnte nun also lauten, ob Behauptung 1) bis auf einige Ausnahmen Behauptung 2) hinreichend stützt; denn Behauptung 3) neigt dazu die Glaubwürdigkeit von 2) zu zersetzten.
Man sollte zudem die Möglichkeit beachten, ob sich Miéville mit 2) lediglich schnarkischen Spaß gönnte, und als Punk einigen Dampf auf einer Website[1] abgelassen hat. Dann können die Behauptungen 1) und 3) nämlich nebeneinander bestehen, ohne daß sie sich stellvertretend wegen Behauptung 2) in die Wolle kriegen und gegenseitig müssen.
2. DIE DICHTGEDRÄNGTE MÜLLKIPPE DER MENSCHHEIT WIRD NIEMALS ORDENTLICH BEREINIGT WERDEN
Ridley Scott meinte über Blade Runner, daß »dieser Film eine Torte mit 700 Schichen ist«. Das ist eine Weltanschauung über Produktion und Komposition, wird aber zu einer entscheidenen Angelegenheit, wenn man sie auf den Inhalt einer fiktionalen Welt bezieht. Für SF-Fans war Blade Runner eine Offenbahrung, weniger wegen seiner Charaktere oder der Handlung, sondern aufgrund seiner überwältigenden Anhäufung von visuellen …(wie sollen wir es nennen?) Müllkippen[2], die uns überzeugen, daß die Welt des Filmes dicht, verklumpt und total überbevölkert ist. Die Science Fiction kommt mit ihrer gedankenexperimentellen Weise oftmals enttäuschend dünn daher, wie eine abstrahierte technische Darstellung. Man will ja die wesentlichen Umrisse der Ideen klar erkennen können. Doch in Sachen Fiktionen kann sich das als schlechte Idee herausstellen.
Die Müllkippe die in Blade Runner die klaren, wesentlichen Züge verdeckt, ist zum größten Teil chronologischer Art: auf 40 Jahre der Vergangenheit wurden 40 Jahre Zukunft aufgetürmt, um Scotts eigene Aussage zu umschreiben; doch diese Halde zeichnet sich auch durch kulturelle, wirtschaftliche, wissenschaftliche und soziale Aspekte aus. Die Menschheit ist zur Müllkippe geworden, sogar unsere eigenen Erinnerungen sind nur Flickwerk und Stücksel, die in unsere Köpfe geschüttet wurden, und sind vielleicht nur die nachträglichen Einfälle anderer. Die Geschichte kommt wie ein Abfalleimer der Historie daher. Dagegen bezieht Blade Runner freilich Stellung, und tritt für das indiviuelle menschliche Bewußtsein ein. Dabei ergibt seltsamerweise die Handlung des Films nicht sehr viel Sinnfälliges. Eine Menge Noir und harte Polizisten-Klischees wurden da miteinander vermengt, doch die aufwändige Produktion läßt darüber gnädig hinwegsehen. Darauf kommen wir noch stillschweigend, wenn nicht sogar ausdrücklich zurück.
Was hat nun Blade Runner mit China Miéville oder Der Eiserne Rat zu tun? Ich glaube, Miéville will den Blade Runner der Fantasy schreiben. Eben eine Welt erschaffen, in der (wie es in Miévilles Manifesto heißt) »es knrischt und verzwickt zugeht, gerade so wie im echten Leben.«[3]
Zurück zu Blade Runner. Jaja, schon gut, es wäre flasch zu behaupten, daß Blade Runner igendetwas als erster vollbracht hat. Düstere, eigenbrötlerische, harte, verzwickte, dreckige und dystopische SF gab es davor auch schon. Aber der Film war vor allem Visuell etwas Neues. (Ich erinnern mich an William Gibson[4] der auf auf einer Lesung sagte, — oder vielleicht hab ich's nur von ihm gelesen. Er sagte jedenfalls, daß er damals bei Blade Runner vor Begeisterung schreiend aus dem Kino gekommen ist. 1982 war er gerade dabei Neuromancer zu schreiben; und sehet, es wurde ihm offenbahrt! Dieser Filmemacher war Gibson zuvorgekommen, und hatte dessen sehr an Oberflächen orientierte visuellen Vorstellungen auf den Punkt gebracht.) Blade Runner bewirkte eine maßgebliche Schwerpunktverlagerung in der Art wie man SF aufnahm und sich darüber Gedanken machte. Zumindest bleibt der Film eine weithin sichtbare Marke für diesen Wandel in der Haltung gegenüber der SF, wenn es ihn denn nun auch nicht ausgelößt haben mag. Jaja, schon klar, daß heißt auf keinen Fall, daß wir vor 1982 in einer Hugo Gernsback-Rille[5] festhingen. Um aber nun zur Sache zu kommen: Man kann sagen, daß es keinen Blade Runner der Fantasy gibt. Noch nicht. Kein Werk hat bisher eine Welt zwischen all die Tolkien-Nachahmer herabdonnern lassen, dessen Anblick diese tippenden Affen losheulen läßt, als ob sie einen Monolithen gesehen hätten. Und genau das möchte Miéville tun.
Wie Ridley Scott komponiert Miéville mit der Müllkippe als Medium; kunstvolle Anhäufungen von planlosem Müll — lebendiges, unbelebtes, quasi-lebendiges — was eine mächtige Illusion von Tiefe und Dichte in alle Dimensionen erzeugt; zeitliche und horizontale Ausweitungen, aufeinander- und wiedererrichtete Lebensräume, sowie eine promiske Einwohnerschaft. Miévilles Anstrengungen als Zweitweltschöpfer gelingen, Dank des puren Überflußes an … Abfall; Details, wenn man den freundlichen Ausdruck vorzieht.
Das ist sehr markant, denn Fantasy ist wie SF oft unbefriedigend seicht, nicht wie trockenes SF-Gedankenexperiment, sondern durch mikriges Vertrauen auf Klischees. Henry Farrell hat vor einiger Zeit[6] eine schöne Passage von Mike Harrison dazu zitiert:
Und ich selbst schrieb damals (und da ich mit dem Einkaufswagen buchstäblich richtig lag, ist es denke ich angebracht, daß ich mich selbst zitiere):
Die richtige Strategie, um den Schaden wieder gut machen, besteht nun jedenfalls darin, daß man wild Zeugs zwischen all die gleichförmigen Äcker pflanzt. In diesem Sinne sollte man Miévilles gegen Tolkien gerichtete Polemik verstehen. Aber immer schön der Reihe nach.
Einer der feinsten dramatischen Ausschnitte von Der Eiserne Rat ist die Szene, in der das avantgardeistische Stück der Puppentheaters Flex'ibilis von Die Traurige und Lehrreiche Moritat von Jack Gotteshand von den Zensoren von New Crobuzon unterbrochen wird (wegen »unmanierlicher Umtriebe zweiten Grades gegenüber New Crobuzon«), und sich in einen Tumult auflöst.[10] (Hier zollt ein Gegner Miévilles widerstrebend den Flex'ibilis künstlerische Anerkennung.[11]) Solche kleinen Tricks in hunderfacher Vielzahl verleiten den Leser dazu die Stadt — ihre Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, Historie, Bevölkerung — als wirklich zu betrachten. New Crobuzon, die Stadt zu der alle Wege von Bas-Lag führen, ist nicht irgendein Potemkischer Ort, an dem Elfen und Zauberer aus Pappe klischeehafte Stücke vom üblichen Kampf gegen das abolute Böse aufführen. Nur weil die Szenerie offensichtlich realistisch angelegt ist, bedeutet das andererseits aber nicht, daß die Darsteller keine genretypischen Pappfiguren sind. Ich werde darauf zurück kommen.
Ich werde jetzt einen doofen Kritikertrick anwenden. China kann »Nein, Du hast nicht recht« sagen, und ich werde ihn beim Wort nehmen müssen. Aber lassen Sie mich eine Einzelheit aufgreifen und als wahrhaft ideale Linse postulieren, durch die gesehen sich alle Aspekte von Miévilles Kunst bestimmen lassen.
Miéville versucht für die Fantasy das zu leisten, was die Puppenspieler für Jack tun wollen. (Wenn Sie wissen wollen, was es mit Jack auf sich hat, dann lesen sie das Buch oder Henrys Beitrag.[12]) Betrachten wir die Kunst der Flex'ibilen (ich vermute, ihr Name ist eine Homage an den Märtyrer Benjamin Flex, oder?[13]) Das Fantasywägelchen, von dem ich schrieb, wird renovierungsbedürftig und mit einem Haufen neuen Abfall[14] planmäßig auf die Bühne geschoben:
Aber diese Flex'ibilis waren Könner – freche Scherzbolde, ja, aber mit ernsthaftem Konzept –, und sie verstanden sich darauf, ihr Publikum bei Laune zu halten. Nach jeder Impertinzenz {verbotenden Obzönitäten} folgte schlagfertiger, witziger Dialog, oder mitreißende Musik, und es fiel schwer, den Unmut aufrechtzuerhalten. Trotzdem war das Ganze eine außerordentliche Herausforderung, oder vielmehr eine Reihe von Herausvorderungen, und das Publikum schwankte zwischen Verwirrung und Ärger. {…}
Man wusste nicht genau, was einem da zugemutet wurde, dieses unstrukturierte Bric-à-brac von Ausrufen und zerstückeltem Text und Geräuschen und den vielen komplizierten, rätselhaften Kostümen. Die Puppen wurden meisterhaft geführt, aber sie waren gedacht – und gemacht – hölzerne Akteure in volkstümlichen Fabeln zu sein, nicht diese kleinen Provokateure, die, von ihrem Lenker souffliert, dem Erzähler Widerworte gaben (immer in dem traditionellem Jargon der Marionetten, nachgeahmtes Kindergebrabbel aus zusamengesetzten Substantiven und Lautmalerei). Sie tanzten zur Musik und mimten Geilheit, so weit ihre Gelenke und Fäden es gestatteten
Über das aufgespannte Laken flackerten Bilder, sogar bewegte – in Abschnitte zerlegte Bewegungsabläufe in so schneller Folge, dass die Personen sprangen, liefen, Gewehre abfeuerten. Der Sprecher beschimpfte das Publikum, lieferte sich Wortgefechte mit den Puppen und den anderen Akteuren und unter zunehmender Unzufriedenheit in den Bogen schälte sich Stück für Stück die Geschichte von Jack Gotteshand aus dem Chaos.[15]
Dem stelle ich eine Passage aus einer Auslassung von Miéville über Tolkien gegenüber:
Das ist eine abstoßende Vorstellung, die viele Phantasten dankbarerweise mißachtet haben. Von den Surrealisten bis hin zum Pulp – über Mervyn Peake und Michail Bulgakow[16] und Stefan Grabinski[17] und Bruno Schulz und Michael Moorcock und M. John Harrison, und ich könnte noch mehr Namen nennen – haben die besten Autoren die Ästhetik der Phantastik genau dazu genutzt, um herauszufordern, zu befremden, und subversiv Erwartungen zu untergraben.
{…} Warum probiert man nicht zur Abwechslung mal ein paar andere Themen aus, oder auch ungewöhnlichere Monster? Warum nutzt man die Fantasy/Phantastik nicht, um gesellschaftliche und ästhetische Lügen herauszufordern?[18]
Diese Forderungen sind nicht gerade ungebührlich, aber es ist seltsam, daß in beiden Passagen ›nachgeahmt‹ auftaucht. (›Nachgeahmtes Kindergebrabbel‹, ›nachgeahmter Wagner'ianischer Pomp‹. Gehe ich zu weit?) Miéville drängt drauf, die Fantasy zu einer entscheidenden Konzentration zu treiben, die New Wave[19] der Sechziger zu aktualisieren möglicherweise unter dem Begriff ›the New Weird‹.[20] Also: Tolkiens Pickelhintern nimmt sich verglichen mit Miévilles ›New Weird‹ aus wie New Crobuzons traditionelles Puppentheater, wenn man esmit der subversiven Schau der Flex'iblen vergleicht. (Lieg ich richtig, China?)
3. OH, DU SÜSSE BÄRENHAFTIGKEIT DES ZUSTANDS DES TODES
Auf diese Thesen aufbauend, folgt nun einiges über Puppen, Mannequins und Golems. Erstens: Die Vorstellung, daß man aus der Fantasy folgendes machen kann — oder, wie Henry[21] schreibt, was Miéville bereits daraus gemacht hat (siehe auch Henrys Speculative Economics[22]):
In Miéville's Das Silmarill sag ich durch die Blume etwas ähnliches.[23]
Zweitens: Puppentheater — egal wie gesellschaftlich wachsam und subversiv es ist — handelt niemals von den wirtschaftlichen Grundlagen, außer wenn es auf äußerst eindimenionale Art expressionistisch ist. Es ist also eine heikle, zweischneidige Sache, wenn Miéville in seinem Manifesto schreibt, daß »Charaktere mehr als nur Pappfiguren sind«. Macht er also aus den traditionellen, eindimenionalen nun dreidimensionale Charaktere, oder führt er diese eindimensionalen Figuren eben nur mit bemerkenswert geschickterem und durchdachterem Puppenspielerkönnen? Das wären zwei Möglichkeiten der Steigerung, zwei Geschmacksrichtunen die sich nicht unbedingt gut miteinander vertragen. Lassen Sie mich dazu nochmal aus einem alten Beitrag von mir zitieren, der einiges über die Angelegenheit der Puppenspielerkunst vorwegzunehmen scheint:
Miéville kommt also angepriesen als der neue Peake daher und erkennt Peake auch als ein Hauptvorbild an. Und — nun ja, diese Nähe kann ich durchaus sehen. Und es ist nicht fair, wenn man Miéville zum Vorwurf macht, von seinem Vorbild abzuweichen (immerhin zwingt eine dankbare Verbindlichkeit ja nicht dazu, sein Vorbild plagiieren zu müssen.) Wie dem auch sei, hat Miéville etwas von Peake übernommen, was ich nicht gerade am meisten schätze: seine groteske Launenhaftigkeit und die zwanghafte, selbstberauscht überzogene, verbale Energie der Gormenghast-Trilogie. Die haben Sie nicht gelesen? Stellen Sie sich vor, Edward Gorey hätte Die Pickwicker[27] geschrieben. Oder noch besser: lesen Sie Gormenghast.
Und nebenbei hier ein Verweis auf diese schöne Edward Gorey-Gallery mit Umschlagsillustrationen.[28]
Wie ich schon sagte, ist jeder Charakter bei Peake eine Puppe, und seine Sprache läßt diese ausgezeichnet gestalteten Artefakte mit äußerst erstaunlicher Meisterschaft tanzen, vor allem auf visuelle Weise. Es bietet sich geradezu an Gormenghast als Puppentheater aufzuführen, auch wenn es dann nicht mehr so beeindruckend wäre, denn immerhin erwartet man bei einem Puppenpiel eben Puppen. Zu erleben, wie diese Charaktere in Puppenform in einem Buch lebendig werden — tatsächlich zu sehen, wie sie von den Seiten des Buches aufsteigen — ist eine ungleich einzigartigere ästhetische Errungenschaft.[29]
In dem zitierten Kommentar führe ich viele Beispiele an, um diesen Unterschied zu verdeutlichen, falls Sie mehr darüber lesen wollen.
Und nun möchte ich, auch wenn es scheinbar an der Sache vorbeigeht, fragen, was Peake denn mit seinen Puppencharakteren in Gormenghast vorhatte? Eine durchaus wahrscheinliche, gute Antwort darauf — die pure ästhetische Selbstberauschtheit, die könnerhafte Konstruktion von Bühnenbildern und Mannequins — gibt für mich schon ein anderer Autor, den Miéville in seiner Polemik lobend erwähnt, und über den ich in letzter Zeit einiges geschrieben habe: Bruno Schulz.
In diesem Beitrag[30] von mir schreibe ich über Golems und Schulz Die Zimtläden (auch bekannt als Die Staße der Krokodile). Es findet sich dort ein Verweis auf diese Site über Schulz, wo Sie einige neue englische Übersetzungen seiner Geschichten umsonst lesen können. Der erzählende Sohn preist in Die Zimtläden die Vaterfigur als einen Helden der Flucht … weg von der Langeweile der eintönigen Dumpfheit der Wirklichkeit. Ich kann mir denken, daß man sich Peake so vorstellen kann, wäre er von seiner Familie mit krasser Abschätzigkeit behandelt worden:
Das ist keine gesellschaftlich oder politisch herausfordernde Sprache, wie ich anmerken darf. Das ist kompromissloser Eskapismus, und das scheint der Kern von Peakes Werke zu sein (und auch von Schulz). Ich behaupte nicht, daß Miéville das leugnet. Aber vielleicht neigt er dazu, ›das Untergraben von Erwartungen‹ mit dem ›Herausfordern von Lügen‹ gleichzusetzten, oder er neigt dazu Eskapismus — d.h. die willentliche Weigerung der harschen Wirklichkeit ins Antlitz zu schauen — mit der Verhätschelung der Leser gemäß irgendeiner warmen, behaglichen Mode zu verwechseln. (Möglicherweise sind diese Dinge für Miéville nicht gleich. Kann sein, daß ich zuviel in all das hineinlese.)
Noch stärker beim Vergleich zwischen Schulz und Miéville fällt mir auf, daß Der Eiserne Rat nicht nur von Puppen handelt, sondern auch von Golems und von der fremdartigen Brut der Remade.[32] Schulz legt eine ganze Philosophie der Mannequins vor — oder der Golemetrie, wie Miéville die Sache nennt. Den folgenden Abschnitt habe ich schon einmal ausführlich zitiert, tue es aber hier nochmal, weil die Passage sich hier vorzüglich für meine Absicht eignet:
Jeder eigenen Initiative beraubt, wollüstig biegsam und geschmeidig, plastisch auf weibliche Art, überhaupt allen Impulsen unterworfen, bildet sie ein Terrain außerhalb des Gesetztes, das jeglicher Art von Scharlatarnerie und Dilettantismus offensteht, eine Domäne für Übergriffe jeglicher Art und zweifelhafte demiurgische Manipulationen. Die Materie ist das passivste und wehrloseste Wesen im Kosmos. Jeder kann sie kneten und formen, jedem gehorcht sie. Alle Organisationen der Materie sind unbeständig und locker, leicht empfänglich für Rückbildungen und Auflösungen. Es steckt nichts Böses in der Reduktion des Lebens auf andere und neue Formen. Der Mord ist keine Sünde. Er ist manchmal eine notwendige Gewalt widerspenstigen und verknöcherten Daseinsformen gegenüber, die aufgehört haben interessant zu sein. Im Interesse eines aufschlußreichen und wichtigen Experiments kann der Mord sogar ein Verdienst darstellen. Hier ist der Ausgangspunkt für eine neue Apologie des Sadismus.«
Mein Vater war in der Glorifizierung dieses wunderlichen Elements, wie die Materie es ist, unerschöpflich. »Es gibt keine tote Materie«, lehrte er, »der Zustand des Todes ist lediglich ein Schein, hinter dem sich unbekannte Daseinsformen verstecken. Die Skala dieser Formen ist unendlich, ihre Schattierungen und Nuancen sind unerschöpflich. Demiurgos war im Besitz wichtiger und aufschlußreicher Schöpfungsrezepte. Dank diesen Rezepten schuf er eine Vielzahl von Arten, die sich aus eigener Kraft erneuern. Es ist unbekannt, ob diese Rezepte jemals rekonstruiert werden können. Aber ist auch nicht nötig; denn selbst wenn sich diese klassischen Methoden der Schöpfung ein für allemal als unzugänglich erweisen sollten, verbleiben noch bestimmte illegale Methoden, eine ganze Unermeßlichkeit häretischer und verbrecherischer Methoden.«[33]
Und:
So ist unser Geschmack, das wird die Welt nach unserem Gusto sein. Demiurgos gefiel sich in ausgewählten, vollkommenen und komplizierten Materialien, wir geben dem Trödel den Vorrang. Uns entzückt und ergreift einfach das Billige, das Minderwertige, das Trödelhafte des Materials. Versteht ihr«, fragte mein Vater, »den tiefen Sinn dieser Schwäche, dieser Leidenschaft für buntes Dekorationspapier, für Pappmaché, für Lackfarbe, für Werg und Sägespäne? Das ist«, sprach er mit schmerzlichem Lächeln, »unsere Liebe für die Materie als solche, für ihre Flaumigkeit und Durchlässigkeit, für ihre einzige, mystische Konsistenz. Demiurgos, dieser große Meister und Künstler, macht sie unsichtbar, läßt sie aus dem Spiel des Lebens verschwinden. Wir dagegen, wir lieben ihr Knirschen, ihren Widerstand, ihre klotzige Unzierlichkeit. Wir lieben es, unter jeder Geste, unter jeder Bewegung ihre schwerfällige Bemühung, ihre Unbeweglichkeit, ihre süße Bärenhaftigkeit zu sehen.«[34]
Da sind wir also wieder bei der Menschen-Kippe — dem kurzlebigen, entropischen Abfall eines demiurgischen Zweitschöpfers. Wiegesagt, habe ich diese Abschnitte schon einmal zitiert, jedoch ohne dabei auf die fast schon unfassbar bittere Ironik der Todesumstände von Bruno Schulz hinzuweisen: er wurde kaltschnäuzig von den Nazis ermordet, die es nicht als Sünde ansahen, eine unterlegene Lebensform auszumerzen. Wie sich zeigte, war das Zeitalter von Schulz, kurz nachdem er Die Zimtläden schrieb, der Ausgangspunkt für neue Formen der Apologien des Sadimus. (Ich habe in The Cildren of the Heart[35] und (eher beiläufig) in Some Versions of Mock-Pastoral, Part I[36] mehr über Schulz geschrieben. Siehe dazu auch, wie David Grossman mit Stichwort: Liebe Schulz als einen idealen romantischen Typus würdigt[37] .)
In keinster Weise möchte ich nahelegen, daß Schulz an seinem eigenen Tod irgendwie schuld war, nur weil er ein eskapitsches Werk in Form einer romantischen Phantasmagorie geschrieben hat, in dem er mit dem Gedanken spielt, daß Morden nicht schlimmes ist. Vielmehr möchte ich Miéville gemäß seiner eigenen Aussagen beim Wort nehmen. Er drängt ja drauf, daß auch Fantasyautoren sich mit politischer Ernsthaftigkeit und gesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein ihrer Sache widmen sollen, und damit hat er zweifellos recht. Mit manchen Dingen liegen auch puppenspielende Eskapisten liegen ab und zu nicht daneben. Meine Meinung ist aber (wie soll ich es sagen? Ich bin nicht ganz sicher), daß Miéville sich nicht wirklich klar gewesen ist, was er eigentlich wollte — ob seine Zweitschöpfungen verantwortungsbewußt gehaltvoll, oder brilliant aber dünn expressionistisch sein sollen. Sollten Fantasyromane zu wirtschaftlichen und politischen Traktaten heranreifen, oder sollten die Charaktere zu Puppen ausgedünnt werden, deren Fäden sich mit mehr Geschick zupfen lassen? Einen künstlerischen Weg gibt es immer, aber ich muß gestehen, daß ich hier keine Möglichkeit sehe, diese beiden Impulse auf wirklich gütliche Weise miteinander zu vereinen. Ich bin der Ansicht, daß Miéville sich selbst dabei hemmt, sein ganzes Vermögen auszuspielen, weil er sich nicht für einen dieser beiden Modi entscheiden kann, von denen er gleichermaßen angezogen wird, und die er jeden für sich durchaus überzeugend meistern könnte.
4. PAPIER-FIGUREN, FÜSSE AUS LEHM[38]
Lassen Sie mich Miévilles Neigung für's Vermischen des Politisch-Wirtschaftlichen mit der Puppemspielerei veranschaulichen — anhand seiner farbenfrohen Groteskerien, die theatralisch das menschlich Furchtbare behandeln. In folgendem Abschnitt wird berichtet, wie New Crobuzon in einen Krieg mit Tesh, die Stadt der Schleichenden Wasser gerät. (Miéville zeigt uns diese Stadt mit »ihren Ringgräben und gläsernen Katzen und d{er} Catoplepas-Ebene und {den} Kauffahrteischiffe{n} und unsteten Diplomaten und de{m} Weinende Prinz« nie direkt.[39])
Berichte über Aggressionen Teshs gegen Crobuzoner Schiffe in der Lohwasser-Enge wurden häufiger und bekamen größere Präsenz in der Tagespresse und den Wandzeitungen des Magistrats. Die Bürgermeisterin versprach Vergeltungsmaßnahmen und Gegenschläge. Die Marine verstärkte ihre Rekutierungsmaßnahmen, parallel zu – hörte Ori – der Anwerbung mittels Schnappsflasche.
Das Ganze war immer noch fern, abstrakt: Seeschlachen tausend Meilen weit weg. Doch die Feindseligkeiten eskalierten. Immer mehr Reden von Ministern hatten den Krieg zum Thema. Der neue kaufmännische Unternehmungsgeist der Stadt brachte keinen Aufschwung: Absatzmärkte für Exporte blieben verschlossen, die Unsicherheit auf den Meeren blockierte den Import exotischer Luxusartikel. Schiffe liefen aus und kamen nicht wieder. New Crobuzons stillgelegte Fabriken nahmen den Betrieb nicht wieder auf, andere meldeten Konkurs an, und die Schilder am Tor wurden stockfleckig, zum Hohn der darauf verkündeten »vorrübergehenden Schließung«. Die Stadt stagnierte, sie wurde saft- und kraftlos und verlotterte. Der Krieg schickte seine Überlebenden nach Hause.
Soldaten, an Leib und Seele verwundet, vom Staat im Stich gelassen, sah man in Dog Fenn und Riverskin betteln und allen, die es hören wollten, ihre Erlebnisse predigten. Narbig, mit zerschmetterten Knochen, verstümelt vom Feind und im blutigen Chaos eines Feldlazeretts, hatten manche überdies befremdliche Blessuren davongetragen, wie nur die Streitkräfte Teshs sie ihnen zugefügt haben konnten.
Hunderte der Heimgekehrten waren ihres Verstandes verlustig gegangen, und in ihrem Wahn rabulierten sei in einer fremden, lispelnden Sprache. Alle, über die ganze Stadt verstreut, skandierten die gleichen Worte, synchron. Da waren Männer mit blutigen Gallertbällen als Augen, die dennoch sehen konnten, hörte Ori, und die unaufhörlich weinten, weil sie den Tod in allen Dingen sahen. Die Leute fürchteten, die Veteranen wie das eigene schleche Gewissen. Einmal, es lag inzwischen einige Monate zurück, war Ori an einen Mann vorbeigekommen, der auf seine verschreckten Zuhörer einredete und ihnen seine Arme zeigte, die wie gebleicht aussahen, fahlgrau.
»Ihr wisst, was das ist!«, rief er ihnen zu. »Ihr wisst bescheid! Ich war am Rand der Explosion – und ihr seht ja. Die Knochenflicker wollten mir die Arme abschneiden, sagten, sie müssten ab, aber sie wollten nur verhindern, dass ihr das hier seht…« Er schwenkte seine gespenstischen Gliedmaßen wie Scherenschnite, und die Miliz kam und brachte ihn zum Schweigen, schleppte ihn weg. Aber Ori hatte das Grauen auf den Gesichtern der Leute gesehen. Hatte Tesh wahrhaftig das vergessene Geheimnis der Farbenbombe wiederentdeckt?[40]
Für mich trifft das genau den richtigen Ton, der gelungen zwischen grimigem Realismus und herzhaftem Puppenspiel balanciert. Der Farbenbomben-Veteran könnte aus einem Bild von Otto Dix stammen.[41] Doch habe ich den Eindruck, daß dieser Ton nicht aufrechterhalten werden kann — oder jedenfalls eben nicht aufrechterhalten wird.
Zuerst aber ein weiteres ausgezeichnetes Beispiel. In New Crobuzon sind Thaumaturgen in den Straffabriken damit beschäftigt, aus Verbrechern groteske Gestalten zu machen. Die Philosophie die diesem Remaking, diesem Ummodeln zugrunde liegt, läßt sich, bis auf einen finsteren Foucault'schen Dreh, vergleichen mit der einfachen Freude der Vaterfigur bei Schulz, über den demurgischen Möglichkeitsreichtum, den langweilige Materie bietet. Arme Verbrecher werden umgemodelt (und dann zur Arbeit gezwungen, um ihr Remaking zu begleichen.) Entsprechend ihrer Verbrechen werden bei ihnen Körperteile durch Tier- oder Maschinenteile ersetzt, manchmal aber auch nur, um sie zu erniedrigen oder zu verhöhnen. Da gibt es dann sehr garstige Beschreibungen. Ein Junge, dessen Hals mit Insektenbeinen umwachsen ist, wie eine Krause. Menschen die sterben müssen, wenn ihnen die Heizkohlen ihrer eingemodelten Motoröfen ausgehen. Den unzureichend hergerichteten Remade-Sklaven, die gezwungen werden die transkontinentale Eisenbahnstrecke zu errichten, stehen tatsächlich über weite Teile des Romans im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. (Siehe dazu auch Henrys Essay.)
Ein entsetzliches Alptraumbild. Wie schon Schulz schreibt: »Wenn es Menschen sein sollen, werden wir ihnen zum Beispiel nur eine Gesichtshälfte, einen Arm, ein Bein geben – eben nur das, was sie für ihre Rolle brauchen.« Das läßt Gedanken an hässliche Folgen und Verwicklungen aufkommen. (Was ist in menschliches Fleisch geformt schlimmer: erzwungene Launenhaftigkeit oder maschinelle Effizienz?) Ich befürchte, daß sich spätestens mit Belles Esssay zeigen wird, daß Miéville im politischen und wirtschaftlichen Sinne nicht länger als erfolgreicher Expressionist gelten kann, sondern vielmehr jemand ist, der sich perverserweise weigert uns irgendetwas nettes oder erfreuliches zu zeigen, obwohl er versprochen hat, uns alles zu zeigen. (Wo bleiben die schönen Gegenden von New Crobuzon?)
Andererseits ist aber Golemetrie etwas durchaus hübsches; so etwas wie ein Hegel'scher Traum. In Der Eiserne Rat überlegt sich Judah Low:
Was ist denn Hegels Idee des Weltgeistes anderes, als ein seltsam beseelter, und dennoch im strengem Sinne lebloser Golem?
Als Gegenargument läßt sich dazu behaupten, daß wenn man denn nun Mitleid mit der Menschheit hat, wie sie als entropischer Abfallhaufen vom gedankenlosen Besen der Historie zusamen- und hinfortgefegt wird, dann kann Golemtrie etwas Humanistisches sein. Pennyhaugh hält Judah einen Vortrag über diese Wissenschaft:
Die Schwierigkeit liegt, wie der Vater bei Schulz es ausdrückt, darin, »den tiefen Sinn dieser Schwäche, dieser Leidenschaft für buntes Dekorationspapier, für Pappmaché, für Lackfarbe, für Werg und Sägespäne«[45] anzuerkennen, und dabei trotzdem jede noch so kleine Unterbrechung gegen die immanente Zerstörung zu unterstützen.
An dieser Stelle möche ich Sie, was diese Feststellung betrifft, und um keine entscheidenden Handlungswendungen auszuplaudern, weiterleiten zu Henrys Auseinandersetzung über Walter Benjamin und die nunc stans des Eisernen Rates.
5. GESCHICHTENERZÄHLEN
Nun wollen wir uns einmal anschauen, was für Geschichten uns Miéville erzählt. Das erste, was ich dazu sagen will, ist, daß mir diese Geschichten großartig gefallen. Stunden voller Unterhaltung. Zweitens finde ich das meine hier beitragenden Kollegen über das, was ich noch anmerken möchte, bisher in negativen Ausdrücken geschrieben haben. Belle behauptet, daß Miéville eine sonderbare Besessenheit für launisch-taktische Grabbelbeutel-Situationen pflegt. Matt Cheney stellt unverblühmt fest:
Während ich also darauf hoffe, daß sich Miéville bald ein neues Rezept einfallen läßt, kann ich andererseits auch verstehen, daß diese Formel, auf die er immer wieder zurückkommt, der Art von Geschichten die er bieten möchte nun mal innewohnt, und daß andere Autoren diese Aufgabe schon viel schlechter bewältigt haben. Miéville hat auch sonst noch so vieles zu bieten, weshalb es schade ist, daß er seine Fäden immer wieder damit zum Ende bringt, daß seine Figuren die meiste Zeit damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu töten.[46]
Dem will noch ein Detail hinzufügen. Miéville pflegt (wenn man seine polemische Haltung beachtet) einen merkwürdigen Hang zu Hollywood-artigen Spezialeffekt-Extravaganzen, kurz bevor der Nachspann einsetzt. Ich bin mir sicher, daß Miéville nicht absichtlich mit Blick in Richtung Hollywood schreibt. Vielleicht ist eine unabsichtliche Hingezogenheit der Grund. Auch bei vielen kleineren Szenen denkt man sich als Leser: das ist besser als alle CGI-Sequenzen.[47] Kurz vor dem Ende des ersten Teils gibt es zum Beispiel 10 Sekunden an gehaltsvoller (und teurer) Filmzeit:
Der Mann war schneller. Er spie Feuer, das wirkungslos über das Gesicht des Golems fauchte. Mit unvorstellbarer Kraft zerrte der Mann an dem Arm aus aneinander haftenden Felsbrocken und renkte ihn aus dem Gelenk, sodass die Bewegungen des Golems schwerfälliger wurden. Dennoch hielt er eisern fest. Obgleich sein Arm Stück für Stück abfiel, zog der Golem den schwebenden Mann aus der Luft, packte seine Beine mit einer steinernen Hand, den Kopf mit der anderen und riss ihn mitten entzwei.
Sobald der Wirt tot war, noch ehe die beiden Hälften der Leiche den Boden berührten, erstarrte der Golem, sein Werk getan. Steine lösten sich aus dem Verbund, Staub wölkte. Krachend und rumpelnd zerfiel er zu einem blutspritzenden Haufen, begrub eine Hälfte des toten Pferdes unter sich.
Die zerrissenen Teile des menschlichen Wirtskörpers rollten ins Farnkraut und tränkten die Erde mit Blut. Unter dem Anzug zappelte etwas.
»Haltet Abstand«, warnte Cutter. »Das Ding sucht einen neuen Wirt.«
Drogon hatte den Leichnam unter Feuer genommen, während er fiel. Der Rumpf war kaum zur Ruhe gekommen, als ein Ding auf vielen Beinen, kränklich lila wie ein Bluterguss, aus den Kleidern kroch. Es lief behände über den Boden, spinnenartig.
Sie spritzten auseinander. Pomeroys Gewehr entlud sich donnernd, aber das Ding trippelte beharrlich weiter und war nur noch wenige Schritte von Elsie entfernt, die schrie wie am Spieß, als eine Salve Drogons es aufhielt. Der Wisperschmied schritt darauf zu und schoss im Gehen, drei wohl gezielte Kugeln trafen das Ungeziefer, dass sich ins Gras duckte. Er stieß es mit dem Fuß an, bückte sich und hob es eauf, zerfetzt und bluttriefend.
Es war eine Hand. Eine gescheckte rechte Hand. An ihrem Handgelenk wuchs ein kurzer Schweif. Hing herab als totes Gewicht und troff.
»Dextrier«, bemerkte der Wisperschmied zu Cutter. »Kriegerkaste.«[48]
Der Roman ist nun wirklich nicht nur wegen für solcher Szenen geschrieben worden. Man möchte eine entschuldigende Bemerkung über die Dramaturgie des orthodoxen Flex'iblen Theaters machen: »Bilder, sogar bewegte – in Abschnitte zerlegte Bewegungsabläufe in so schneller Folge, dass die Personen sprangen, liefen, Gewehre abfeuerten.« Doch selbst diese Stelle würde sich geradezu gut auf der Leinwand machen. Anders als bei einer gewissen Art von Jux, kann aus Schlag-auf-Schlag-Blutspritzerei[49] niemals großartige Romanprosa werden. Und dennoch: ich hatte meinen Spaß. Mehr noch: ich bewundere den ersten Teil für seine unglaublich schnelle Abfolge der Geschehnissse. Im Rahmen eines kleines Experimentes habe ich auf den ersten 40 Seiten des Buches alle neuen und originellen Szenerien und/oder aufregenden Kämpfe gezählt. (Die Maßeinheit ist freilich ein wenig subjektiv gewählt.) Der Eiserne Rat brachte es auf stattliche 25 Punkte. Vielleicht glauben Sie nicht ganz, daß dies ein ein guter Wert ist, aber es wird tatsächlich um einiges mehr geboten, als bei einem fortgeschrittenem D&D-Modul[50] wo im ersten Raum eine Mantikore ist, hinter Tür 30 Orks warten, und im Gang ein gallertartiger Würfel schwebt, und am anderen Ende des Ganges sind ein Hügelgrabunhold und ein chaotisch-böser Priester. Zeitweise ist die Geschwindigkeit des Romans in bester Ordnung: »Ihre Rollen werden kurz und lapidar, ihre Charaktere ohne weitläufige Planung sein. Oft nur eine Geste, für ein einziges Wort werden wir uns der Mühe unterziehen, sie für diesen einen Augenblick ins Leben zurufen.« Dieser Effekt von Miéville läßt sich geographisch und gesellschaftlich nicht vergleichen, mit einem kümmerlich durchdachten Verließlageplan, den ein Zölfjähriger entworfen hat, ohne dabei daran zu denken, von wo die Orks ihr Essen holen und wohin sie gehen, wenn sie aufs Klo müssen. Nein, Mißeville liest sich vielmehr wie ein Gemälde von Hieronymous Bosch. Man bewundert diese erfindungsfreudige Ballung von so viel Groteskem auf einer Grundfläche. Das wird umso besser, desto mehr diese totale Lebhaftigeit aufkommt. Man fragt sich nicht mehr: von was ernährt sich der Vogel-Typ? Wer bezahlt den Maurer für das Errichten der Wand?[51] (Streikt er jemals, und wenn ja, wer läßt sich dann als Streikbrecher anwerben? Der Kerl mit all den Wundkrusten?)[52] Schachern die mit diesen toten Typen, die aus dem Auge des Dämons kommen? Usw.
Und da sind wir wieder bei der problematischen Unvereinbarkeit von politisch-wirtschaftlichem und puppenspielerischem Expressionismus.
Miévilles Talent fürs Hervorbringen eines ungemein heftigen Überflußes an beiläufigen Bosch-artigen Einzelheiten ist mir eindrucksvoll klar geworden, als ich vor kurzem Steph Swainstons Komet[53] gelesen habe. Dieser Roman wurde als Beweis dafür angepriesen, daß so etwas wie eine ›New Weird‹-Strömung gibt; daß dieses neue Genre nicht nur durch China Miéville allein bestritten wird. (Obwohl ich befürchte, daß diese neue Spielart bald schon durch entsprechende Ettikettchen heimgesucht wird; vielleich ›Käfer und Drogen‹ statt ›Elfen und Zwerge‹.) Swainstons Roman kommt mit einem überschwänglichen Zitat von Miéville im Klappentext daher, aber für mich wird das Buch diesem Lob nicht gerecht, größtenteils deshalb, weil die Reisen des geflügelten Protagonisten Jant bei mir keinen reichhaltigen Eindruck erwecken, was diese Welt alles bietet. Das kam mir nicht wie ein Kuchen mit 700 Schichten vor, sondern wie einer mit höchstens 70 Schichten, wenn's hoch kommt. Ich verfiel nicht wie bei Miéville der Täuschung, jeden Quadratzentimeter dieser Welt zu sehen, durch die ich im Höchsttempo gezerrt wurde. Für mich wurde dadurch deutlich, daß Komet, abgesehen von den ganzen Käfern und Drogen, im Grunde ›die finsteren Mächte rücken an‹-Fantasy/Phantastik von der Stange ist, mit einem guten Schuß Kostüm-Soap Opera-Melodrama über interne Machtrangelein der strammen Verteidiger. Komet strebt an, eine Mischung aus Der König von Narnia und Aliens mit einer Priese Naked Lunch zu sein. Doch ich finde, daß weder die Der König von Narnia-, noch die Aliens-Aspekte wirklich gelungen sind, womit die wirklich beeindruckenden Käferschlachten übrig bleiben. Die habe ich auch sehr genossen, aber ich fand nicht, daß diese Käferschlachten grandios sind. Das war unterhaltsamer Eskapismus.
Das Dauerfeuer an grotekem Erfindungsreichtum — eine Puppe pro Seite — dient in Miévilles Fall dazu, die Konventionalität des überwiegenden Teils seiner Erzählung zu verschleiern (auch wenn sich, wie es Henry in seinem Beitrag tut, behaupten läßt, daß Der Eiserne Rat einen anderen Ansatz bietet.) Diese Tarnung wirkt die meiste Zeit, bleibt aber Tarnung.
Und das einzige Problem damit, daß Miéville ein konventioneller Geschichenerzähler ist, besteht darin — nun ja, daß dies eben nicht zu seiner Polemik über eine reifere, genre-sprengendere Art von Fantasy paßt, die uns eigentlich versprochen wurde. Wie auch Belle in ihrem Beitag sagt, lassen sich keine schwerwiegenden Einwände dagegen anbringen, eine schon absurd erfolgreiche Revolution zu veranstallten, wenn zuvor bereits lächerlich arg in die Ecke gedrängte Helden die Gierfalter abgewehrt haben. Ein reiferes Gespür dafür, daß ›die Historie nun mal so schmerzhaft ist‹ verträgt sich eben nicht mit den aufgetakelten, affirmativen (sentimantalen, nennt Sie das wie Sie mögen) ›Frodo und Sam können es schaffen‹-Konventionen die sonst vorherrschen. Psychologischen Realismus anzustreben ist ein ernsthaftes Prolem, wenn man diesen action-abenteuer Genre-Erwartungen nachgeben will. Keine wirkliche Person wäre so heldenhaft, so daß ihr Eindruck echte Menschen zu sein wie Wachs zerschmilzt, wenn die Action benzlig wird und für uns nur … nun, Genre-Mannequins übrigbleiben. (Und das nach all der anstrengenden Mühe, das Wachs richtig gut wirken zu lassen.)
Kurz gesagt, auch wenn es in Miévilles Geschichten »knrischt und verzwickt zugeht, gerade so wie im echten Leben«, bedeutet das nicht, daß es in ihnen auf die gleiche Weise knirscht und verzwickt zugeht wie im wirklichen Leben. Das echte Leben folgt gewöhnlicherweise nicht den üblichen dramatischen Dreiecks-Strukturen wie sie Gustav Freitag[54] beschrieben hat. Wie schon sagte, folgt das echte Leben nicht der Hollywood-artigen ›die Bombe wird explodieren und alle sterben, wenn niemand sie aufhalten kann‹-Achterbahn-Dramatik mit Nervenkitzel, Überschwang, Schauer und Toten.[55] Das echte Leben verläuft vielmehr so ähnlich wie eine Jim Woodring-artige Geschichte: »Lieber Höchster Alturist, ich danke Dir, daß Du eine Bombe in mein Inneres gelegt hast, die nie zu explodieren aufhören wird«.[56] Auf soetwas will Miéville hinaus mit seiner Eisenbahngeschichte. Die Handlungsdramaturgie der Bombe entspricht aber dabei ganz dem Hollywood-Stil, daran ändert auch alles Knirschen und alle Verzwacktheiten nichts.
Um mit positiven Bemerkungen diesen Punkt abzuschließen, will ich mich an die Szenen erinnern, die mir am besten in Miévilles Bas Lag-Büchern gefallen haben. Als Erstes muß man diese Anhäufung von Zeugs schon an sich würdigen. Das kommt an erster, zweiter und dritter Stelle. Dann folgen die Szenen in denen — wie oben beschrieben — für einen kurzen Augenblick das politisch-wirtschaftliche und puppenspielerhafte ausgewogen scheinen, auch wenn diese Momente nicht lange dauern. Anonsten mag ich die Passagen, in denen die eine oder andere Stimmung (politisch-wirtschaftlich oder puppelspielartig) deutlich gesteigert werden. So zum Beispiel in Perdido Street Station, wenn Rudgutter und Kollegen mit dem Teufel um Hilfe gegen die Gierfalter verhandeln, und erkennen, daß der Teufel aus Angst kneift, und die Gruppe sich (schaudernd) an den Weber wenden muß. Das ist ein herrlich albernes Puppenspiel über Machtpolitik und ›Profis‹, die man anheuert wenn die Angelegenheiten hässlich werden. Auf die gleiche Art ist der umfassende ›Jagd nach dem Schnark‹-Bogen[57] von The Scar schön (ich danke Henry, mich darauf aufmerksam gemacht zu haben; ich nehme an, daß China selbst Dir von den Namensscherzen erzählt hat. Ich selbst habe keinen davon bemerkt.) Für jemanden, der so stark von Peake beeinflußt wurde, bietet Miéville bedauerrlicherweise so gut wie keine Komik. Er sollte öfter versuchen komische Texte zu schreiben.
Am anderen Ende der Skala, wenn ich den politsch-wirtschaftlichen Pol betrachte, haben wir die rauen Arbeitsverhandlungen des Streiks der Vodyanoi-Hafenarbeiter. Sehr fein, wie auch der wendungsreiche Geheimagenten-Garn über eine Grindilow-Invasion in The Scar. Zu den meiner Meinung besten Abschnitten von Der Eiserne Rat gehören die Auftritte des Charakter Weather Wrightby (ob's recht sein wird?)[58], Industriekapitän der transkontinentalen Eisenbahnstiftung; sowie Judahs entbehrungsreiche Arbeit für Wrightby als Geländeauskundschafter, der unter den zum Untergang verdammten Stiltspear zum Antropologen wird. Die beharrliche Art und Weise, wie ironisch-verdreht gesellschaftliche Typisierungen und Probleme unserer Welt eingeflochten werden, hat etwas unaufdringlich Neues an sich. Ich vermute, das dies an der erwachseneren Reifere des Miéville'schen Fantasy/Phantastik-Ansatzes liegt. Nur allzuschnell könnten diese Abschnitte zur Parodie oder Abgedroschenheit geraten, was aber nicht der Fall ist. (Ich will nicht behaupten, das Parodien schlecht sind. Sie können sogar ziemlich gut sein. Ich denke dabei z.B. an Senator Bilbo[59] von Andy Duncan, einer Beschreibung von Rassenverhältnissen im Shire nach dem Fall von Sauron. Es gibt Immigranten-Orks, und der alte Biblo kann sie nicht ertragen, was auch ein netter Seitenhieb auf diesen Senator Bilbo ist.[60] Miéville unternimmt Sachen, die auch Tolkien-Parodisten anpacken, aber er tut es nicht parodistisch.)
Wie auch immer, glaube ich, daß Weather Wrightby, der trotz seiner monomanischen Onkelhaftigkeit seltsamerweise sympathisch wirkt, einem hohen Ziel, das sich Miéville selbst stellt, am weitesten annähert: gut und böse nicht vereinfachend darzustellen. Ich wünschte nur, es gäbe mehr Figuren wie ihn in den Roman. Aus dem Charakter läßt sich was machen.
6. TOLKIEN
Eigentlich wollte ich ein paar meiner Gedanken zu Tolkien im bisher Geschriebenen anführen, und nun weiß ich nicht recht, wie ich sie noch unterbringen soll. Sicherlich hab ich bereits genug dazu gesagt. Hier also als Erstes: Ich halte es für ungerecht, auf Tolkien wegen seiner »Verherrlichung des Krieges als Abenteuer für Jungs« einzuschlagen. Jemanden wie Tolkien, der auf dem Somme-Schlachtfeld war — dessen Freunde auf schreckliche Weise im Schlamm gestorben sind, und dessen Freund C.S. Lewis irrtümlich für tot gehalten auf dem Schlachtfeld zurückgelassen wurde, mag man womöglich Verherrlichung des Krieges vorwerfen können. Aber man kann ihn unmöglich beschuldigen, den Krieg auf eine ›Du glaubst nur, daß Krieg spaßig ist, weil Du Matsch und Blut nicht erlebt hast‹-Art gepriesen zu haben. Wenn also Tolkien moralisch gestört war, dann ist das eine anders geartete Störung. (Erinnere ich mich korrekt an die Kriegserlebnisse der Inklings?) Dazu möchte ich an einen Beitrag von Tom Shippey[61] in einer Dokumentation zu dem Die Zwei Türme-Film erinnern:
Der Umstand, daß diese Autoren Kriegsveteranen waren, gibt diesen Autoren nicht automatisch recht, aber es macht die Deutung der Reaktionen auf ihre Erfahrungen komplizierter. Zudem könnte man erwidern, daß Miévilles Kampfszenen selbst wiederum durch einen Gutteil ›Bubenhaftigkeit‹ geprägt werden. In ihren gelungensten Momenten wirken sie wie Boschgemälde oder wie feuriges Puppentheater. Aber die erzählerische Spannung von Judah Lowes Golemetrie-Fähigkeiten — zuerst verfeinert durch Straßenwettklämpfe in New Crobuzon und dann auf die Kampfschauplätze gebracht — gleicht sehr den Siegen des Protagonisten in Das Große Spiel[63]. Statt eines videospielenden Jungen, haben wir halt einen Schlachtspiele-Champion der alles zum Guten richtet. (Diese Bemerkung ist etwas zu grob.)
Zur erzählerischen Struktur: eines der auffälligsten Dinge an Tolkien ist ja, wie schlecht er schrieb. Oder bessser gesagt, daß er Dinge anstellte, die kein respektabler Berufsschriftsteller versuchen würde, offensichtlich, weil Tolkien vornehmlich zur eigenen Freude schrieb und gar nicht von der ›richtigen Art und Weise‹ zu schreiben wußte. Tolkien errichtete, wie ich schon schreib, Texte wie ein Maurer; was auch dem entspricht, wie Tolkien das von ihm verehrte Beowulf auffaßte, wie er in seinem Essay Die Ungeheuer und ihre Kritiker darlegt.[64] Das verleiht Tolkiens Schreiben seine schon monumentale Würde, und ist nicht zu vergleichen mit der für die moderne Agrarindustrie typische Monokultur. Seine Texte sind wie gothische Architektur, auch wenn man eingestehen muß, daß sie klobig sind. Deshalb glauben die Horden von Tolkiens Nachahmern, sie könnten mit klobigen Zeug kommerziell Erfolg haben, was ja auch stimmt. Aber dabei ist nicht Tolkien der Schuldige.
Nun weitere interessante Informationen aus den Dokumentationen von Die Zwei Türme, die ich zusammenfasse.
Tolkien begann zu schreiben und geriet in Schwierigkeiten. Statt Stellen zu streichen, um- und zurückzuzustellen, fing er wieder ganz ganz von Vorne an. Nochmal stieß er auf Probleme. Wieder beginnt er von Vorne. Kommt etwas weiter als beim ersten Mal. Hat wieder Schwierigkeiten. Wie Wellen auf den Strand treffen, schafft es Tolkien bei jedem Anlauf ein Stückchen weiter, doch für jeden Anlauf kehrt er zurück bis zum Ausgangspunkt, wie die Beiträger in der Dokumentation bestätigen. Es ist beachtenswert, daß wir einen Autor der so arbeitet, schnell als besessen-zwanghaft einstufen. (Das fügt sich passend zu der irgendwie vorwurfsvollen Beschreibung Tolkiens, als eines ungeübten Außenseiterkünstlers.[65] Ja, ja, ich weiß. Wirklich isoliert war er gar nicht. Er hatte C.S. Lewis und andere Inklings, die seinem entstehenden Werk Kritik angedeihen ließen.)
Der Herr der Ringe ist nicht wie ein ordentlicher Roman strukturiert, wichtige Figuren werden nicht entwickelt, es gibt zu viele Wiederholungen, die Eröffnung ist zu zögerlich, das Ende ist zu kurz, es wird viel geredet, es gibt lange Abschnitte in denen nichts geschieht, Elronds Rat mit seinen 15000 Wörtern liest sich wie eine schlecht geleitete Vorstandsbesprechung, bei der auch viel über Figuren geredet wird, die dem Leser nicht ordentlich vorgestellt wurden. Was für ein Mut dazu gehört, zu glauben, daß die Leser mit all diesem Unsinn zurande kommen! Welch brilliante Naivität es braucht, gar nicht zu merken, daß dies ein mutiges Unterfangen ist!
Mehr von Fran Walsh (der einen Hälfte des Teams, das die Bücher für den Film bearbeitete) und (ich glaub es wieder) Tom Shippey, über die Seltsamkeiten der Erzählstruktur von Die Zwei Türme. Eigentlich besteht die Erzählung aus zwei Büchern, die gekünstelt zu einem vereint wurden. Da ist einmal der Handlungsstang in Rohan, und dann die Geschichte mit Frodo, Sam und Gollum. Die beiden Stränge sind nicht bemerkenswert miteinander verbunden. Ganze Figurengruppen verliehrt man für 150 bis 200 Seiten aus den Augen, was das Tempo des Buches bedenklich gefährdert. Ein realistischer Eindruck entsteht, weil man nicht weiß was gerade geschieht und was als nächstes geschehen wird. Weil der Aufbau der Geschichte so seltsam ist, werden dem Leser nur wenig genre-typische Hinweise geliefert. Anders ausgedrückt, kann der Leser von seinem Standpunkt aus nicht darauf schließen, wo genau er sich in Freytags Dramaturgiedreieck befindet. Viel Spannung beruht darin, daß der Leser keine reichlichen, hollywoodartigen, wohligen Szenenwechsel geliefert bekommt, sondern darauf brennt zu erfahren, was im anderen Handlungsstange geschieht und entsprechend seine Erfüllungsfreude hinauszögern muß.
Wie auch immer, es geht mir darum, daß Tolkien, als jemand der wenig Ahnung vom komerziellen Geschichtenschreiben zu haben scheint, nicht darauf achtete, und sich auf eine gewisse Art — bezüglich des Aufbaus der Geschichte — von seinen gelehrten Fertigkeiten als Philologe, Historiker, Pedant und besessen-zwanghafter Hobbyautor hinreißen ließ. Zu welch gloriosem Ergebnis das führte. Seit dem haben sich in den Fabriken für Genre-Fantasy Tolkiens sehr persönliche Eigenheiten zu Klischees verkrustet. Die individuellen Beschränkungen die den authentischen Tolkien auszeichnen, lassen sich eben nicht einfach authentisch übernehmen von jenen, die Tolkiens Eigenheiten nachmachen wollen.
Miéville ist nun, trotz des Erfindungsreichtums seines Von-Hinten-nach-Vorne-Erzählens im Anamnesis-Teil von Der Eiserne Rat (siehe dazu auch Matt Cheney's Beitrag[66]), in mancher Hinsicht ein konventionellerer Fantasyromanautor als Tolkien. Damit will ich nicht sagen, daß Miéville trotz allem zur Monokultur-Sparte gehört, aber es läßt sich durchaus behaupten, daß er ihr näher ist, als Tolkien selbst. Obwohl Tolkien der Ausgangspunkt dieser Monokultur ist.
Unterm Strich blanciert Tolkien, wie auch Miéville, zwischen Fülle und Mangel. Füllige Ausgestaltung der Fantasywelt. Seltsam magere Charaktere. Bei Tolkien reicht das Spektrum der Gestalten von schlichten, hölzern bis hin zu schönen, architektonischen Figuren; bei Miéville reicht es von leicht aufgemotzten animierten Fantasy-Genreklischees, bis zu gekonnt geführten flexiblen Puppen. Genau dieser eigenartige Gegensatz zwischen verschwenderischem Weltenbau und papierdünnen oder hölzernen Charakterisierungen, hat viele von Tolkiens kritischen Gegnern so verstört und verärgert. (Zum Beispiel Edmund Wilson.)[67] Kann sein, daß Miéville im gleichen Boot wie seine Kritiker sitzt (wie ich bereits in Oo, that wicked watercraeft schrieb.)[68] Was also Miéville vielleicht tun sollte, ist, sich noch weiter von der Farmfabrik zu entfernen, und sich dabei in folgender Hinsicht näher an Tolkien zu orientieren: er sollte weniger augenfällig kommerzielle Fiktionen schreiben und den Lesern mehr dabei vertrauen, daß sie die privaten Überlegungen des Autoren verstehen, die ihn zu seiner Vorgehensweise veranlassen, verstehen.
Andererseits steht es Miéville natürlich frei, sich über Elfen und Zwerge und Sams hundeartige Treue für Frodo aufzuregen. (Aber nicht vergessen! Homesexualität soll man nicht verwechseln mit innigen Freundschaftsbanden! Wie oft müssen wir Verteidiger Tolkiens das noch klarstellen?) In einem meiner Blogeinträge habe ich einen Absatz aus Chunianas mittlerweile verschwundenem Blog gerettet:
Wie ich zu Beginn meines Beitrages schon schrieb, ist es möglich, daß Miéville auf seiner alten Website die Angriffe gegen Tolkien nicht ernsthaft so gemeint hat[70]; daß er sie nur ins Netz stellte um Reaktionen zu provozieren. Was ja durchaus in Ordnung ist. Das würde bedeuten, daß ich hier und in meinen Beiträgen in den letzten eineinhalb Jahren, diesen Angriffen zuviel Bedeutung beigemessen habe. Aber ich habe den Eindruck, daß Miéville seine Haltung dazu was er anstrebt, auf lehrreiche und klärende Art darlegen könnte, indem er genau benennt, was ihm nicht paßt. Welcher nüchterne Kern bleibt, wenn man sich der Polemik entledigt. Immerhin haben Miéville und Tolkien vieles miteinander gemein. Wie Shippey sagt, gibt es Autoren, die auf die Wirklichkeit nicht mit realistischen Mitteln reagieren können. Diese Schriftsteller müssen dann auf die Phantastik ausweichen. Tolkien ist so einer. Miéville auch.
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Englisch (erschienenen in der Socialistreview No. 259):
http://www.socialistreview.org.uk/article.php?articlenumber=7813
Deutsch (zuerst erschienen in Magira 2003 – Jahrbuch zur Fantasy; mittlerweile im Netz auf der deutschen Miéville-Fansite):
http://www.bas-lag.com/bas_lag_artikel1.html
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http://www.henryfarrell.net/movabletype/archives/000108.html
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http://homepage.mac.com/jholbo/homepage/pages/blog/giant%20thoughts/mieville.html
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http://www.bookslut.com/fiction/2004_07_002789.php
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http://www.latarnia.com/stefangrabinski.html ••• Zurück
http://crookedtimber.org/2004/08/02/more-mieville
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http://homepage.mac.com/jholbo/homepage/pages/blog/blog19.html#21
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Offizielle Website über Mervyn Peake und sein Werk:
http://www.mervynpeake.org/index.html
Im deutschen Netz gabs bis vor kurzem noch kaum was über Peake, weshalb ich einen längeren Beitrag über ihn geschrieben habe:
http://molochronik.antville.org/stories/1515309/
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http://www.goreyography.com/west/paper/paper01.htm
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http://homepage.mac.com/jholbo/homepage/pages/blog/blog09.html
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http://examinedlife.typepad.com/johnbelle/2004/11/golem_the_golem.html
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http://examinedlife.typepad.com/johnbelle/2004/06/the_children_of.html
••• Zurück
http://examinedlife.typepad.com/johnbelle/2004/05/some_versions_o_1.html
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http://www.usc.edu/schools/annenberg/asc/projects/comm544/library/images/709.html
Und S/W-Opfer von Ent-färbungsbomben in einer bunten Filmwelt gibt es z.B. auch in Loony Tunes 2 – Back in Action aus dem Jahre 2003 (Sequenz in Area 52). ••• Zurück
http://mumpsimus.blogspot.com/2004/08/iron-council-by-china-mieville.html
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http://www.ibiblio.org/wm/paint/auth/bosch/haywain/haywainr.jpg
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Zu Freitags ursprünglicher Darstellung des erwähnten Dreiecks in Die Technik des Dramas (1863):
http://www.matoni.de/technik/tec2_02.htm
Eine englische Graphik dieses Drama-Schemas:
http://www.cnr.edu/home/bmcmanus/freytag.html
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http://homepage.mac.com/jholbo/homepage/pages/blog/giant%20thoughts/mieville.html
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http://mumpsimus.blogspot.com/2004/08/iron-council-by-china-mieville.html
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http://www.jrrvf.com/sda/critiques/The_Nation.html
Deutsch als Die bösen, bösen Orks zu finden in Helmut W. Peschs Tolkien – Der Mythenschöpfer:
http://www.helmutwpesch.de/mythenschopfer.html ••• Zurück
http://crookedtimber.org/2004/07/29/oo-that-wicked-watercraeft/
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http://examinedlife.typepad.com/johnbelle/2003/12/sorry_for_the_d.html
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molosovsky Besitzerin
Warnung: Dieser Beitrag enthüllt wichtige Wendungen von Der Eiserne Rat, Die Narbe und Perdido Street Station.
Es ist eine bizarre Situation für mich, eine Literaturkritik zu schreiben, die der Autor mit ziemlicher Sicherheit lesen wird. Sowas passiert mir nicht, wenn ich über Petronius,[1] schreibe. Und weil das meiste, was ich anbringen werde aus kritischen Einwänden besteht, fühle ich mich verpflichtet mit reichlichem Lob zu beginnen. China Miéville ist ein Autor, der sich durch erstaunliche Kreativität auszeichnet. Der Stoff einer durchschnittlichen, zwei Satz langem Miéville-Beobachtung würde knauserigeren Fantasyautoren genug Fruchtfleisch für eine ganze Trilogie liefern. (Oder schärfer gesagt: man beachte, daß es Robert Jordan 18 Romane vorgelegt hat, von denen keiner auch nur einen einzigen Gedanken enthält, der nicht kraftlos von Tolkien oder Stephen R. Donaldson[2] abgekupfert wurde.)
Die Liste der Autoren, bei deren Werken ich dazu neige, sie (wenn überhaupt) als Szenario für Tagträume, für ordentliche Phantasien/Fantasy heranzuziehen, wo der Comer See gleich neben Rom liegt, ist sehr kurz, und die meisten dieser Leuchten habe ich kennengelernt, bevor ich 15 war. Wenn ich also sage, daß ich die Bas-Lag-Romane für ebensolche Träumerein nutze, dann will ich damit ausrücken, daß Miévilles Werke meine Vorstellungskraft buchstäblich gefangen genommen hat.
Über was beschwere ich mich also? Denn beklagen tue ich mich; ich freue mich sehr darauf die Bas-Lag-Bücher zu lesen, und werde dennoch zugleich wahrhaftig durch sie verstört. Auf eine bestimmte Weise liegt das an einer mir eigentümlichen ästhetischen Haltung: Ich mag es nicht, wenn ein Autor seine Figuren quält, klein und hilflos wie sie auf die Seiten gebannt wurden. Muß es denn wirklich sein, daß sie so übel behandelt werden? Für mich also bitte kein Beckett, danke. Thomas Hardy? Lieber nicht. Man darf aber nun nicht annehmen, daß ich depremierende Bücher verabscheue, denn das ist nicht der Fall. Ich liebe Dostojevskies Bücher und muß zugeben, daß er den ärgsten Folterautoren in nichts nachsteht, aber bei ihm hab ich das Gefühl, daß durch eine nicht näher bestimmbare Weise, die Anforderungen der Handlung diese Qualen rechtfertigen. Ich mag sogar Georg Eliot, auch wenn ich mit dem so meine Probleme habe. Mit Abstrichen habe ich sogar Chris Wares Jimmy Corrigan[3] gemocht, bewundere das Schreibhandwerk und fand die Geschichte interessant. Aber ich muß schon sagen, daß er aufhören sollte seine Figuren so zu foltern.
Es ist nicht leicht für mich, die Maß genau zu bestimmen, wann ich das Gefühl habe, daß die schlimmen Dinge die den Charakteren widerfahren auf so etwas wie böswillige Absichten den Autoren beruhen, und wann sie sich organische gemäß der Handlungsfortgänge entfalten. Aber ich beobachte mit großer Leidenschaft solche Entwicklungen. (Das mag auf Unzulänglichkeiten von mir beruhen. Ähnlich geht es mir, mit für mich unerträglicher Situationskomik. Mich regt deren Durcheinander, flüchtigen Verlegenheiten, ihre Demütigungen auf. Im Großen und Ganzen bevorzuge ich es, mir anzuschauen wie Leute in Law and Order ermordet werden.)
Die erste Leseerfahrung, wegen der ich Miéville in diesem Zusamenhang einen Vorwurf machen möchte, war Lins Schicksal in Perdido Street Station. Was ihr widerfährt scheint mir doch zutiefst ungerechtfertigt. Es wurde in dem Roman erklärt, daß die Gierfalter zwei besondere Vorlieben bei ihrer Bewußtseinsnahrung hegen: zum einen für unkonventionelle, zum anderen für vertraute Geister, die den Gierfaltern während ihres Larvendaseins nahe waren. Mit Mr. Vielgestalt haben wir ein Bewußtsein von geradezu spektakulärer Seltsamkeit, und er ist der Drahtzieher hinter der Aufzucht der Falter. Außerdem ist er körperlich riesig. Und in besagter Situation sollen wir glauben, daß der Falter sich auf Lin stürtzt und Vielgestalt verschmäht? Es ist natürlich lächerlich, in solchen Fällen über die Wahrscheinlichkeiten zu reden. Es ist ja nicht so, daß irgendwer eine gesicherte Einsicht über die vielen verschiedenen möglichen Entwicklungslinien haben kann, über die Taten von magisch mutierten Faltern aus dem Malakornukopischen Fleck[4]. Das ist also nicht das eigentlich Problem. Wie soll ich es beschreiben? Ich will mich der Sache noch aus einer anderen Richtung nähern.
Es ist offensichtlich eine wichtige Angelegenheit für Miéville, daß seine Helden die Stadt retten und völlig unbelohnt bleiben. Mir kommt es so vor, als ob Miéville die Leser und das Genre zurechtweisen will, indem er sagt: »Ihr habt gedacht hier geht es um die Mär vom neunfingerigen Frodo und der Schicksalskluft, und wie die Wolken sich teilen um die Westlichen Gestade erscheinen zu lassen, oder nicht? Nun, so läuft es nun mal nicht immer.« Miéville möchte dem Genre ein Gespür für Authentizität einimpfen, ein Gefühl für wirtschaftliche und politische Wirklichkeit. Er weißt den Airbrush-Feudalismus zurück, der in der Fantasy vorherrscht. Es mag bei einem so durch und durch phantastischen Buch komisch erscheinen, daß es Realismus anstrebt, aber viele Vorkommnisse in Miévilles Büchern, und die Themen die sie behandeln, beruhen auf dem Versuch, Fragen zu beantworten, die in den meisten Fantasybüchern ungestellt bleiben. Wie wäre es wirklich, in einer Welt zu leben in der einige Leute zaubern können? So haben wir also den Arbeiterstreik der Vodyanoi-Waterkraefter, oder auch die Kaperung einer Steinmilch fördernden Bohrinsel; diese Dinge erscheinen auf eine Weise frisch und neuartig, wie es bei Zwergen und magischen Ringen niemals mehr der Fall sein kann.
So wundervoll Miévilles Beschwörungen New Crobuzons sind, habe ich den Eindruck, daß er sich fortreißen ließ durch seinen Geschmack für das Groteske. Er will, daß wir sehen wie der Dreck, die Fabriken und Bruchbuden von Khepri-Spei zusammengehalten werden; und das gelingt ihm vorzüglich. Trotzdem frage ich mich manchmal, wo denn die schönen Ecken der Stadt bleiben? Wie sehen denn nun die Villen der Reichen aus? An einem bestimmten Abschnitt der Handlung ziehen unsere Protagonisten (in Der Eiserne Rat) in das (dem Vernehmen nach schicke) Flag Hill. Unübliche Zartheit überkommt Miéville:
Und? Das war's? Selbst diese kurze Beschreibung läßt an Bilder denken, von den schwarzen Bürgersteig durchbrechender Pflanzenüberfülle denken. Nachdem er sich mit diesem Thema abgemüht hat, wendet sich Miéville seinem eigentlichen Interessen zu: »Jahrelang hatte in Flag Hill ein Slum geschwärt wie ein Abszess«[6]. Es folgen vier längere Absätze, die den Niedergang eines schiefgelaufenen Stadtplanungsexperiments, die schließlich erfolgende Kolonisierung durch die Wohlhabenden, und die Umwandlung in ein Slum-Museum im einzelnen beschreiben.
Liebe Mitleser, ich frage Sie: haben Sie den Eindruck, daß es in der Stadt New Crobuzon so große und zahlreiche Gebiete gibt, die derartig sauber und elegant sind, daß irgendeinem Bürger die vielfältigen, wimmelnden Slums entgehen könnten? Schaut denn niemand von denen aus dem Fenster runter, wenn sie in diesem Hochbahn-Dings sitzen?
Um auf mein Anliegen zurückzukommen: es ist also wichtig, daß die Helden in den Büchern Miévilles sowohl gegen alle Widerstände triumphieren und die Stadt oder die Welt retten, und ihnen auch schreckliche Dinge zustoßen. Wenn man sich einer Sache sicher sein kann, dann, daß es keine Konfettiparade geben wird, bei der der Bürgermeister von New Crobuzon allen Orden an die Brust heftet. In meiner Lesart des Buches, stellt diese wichtige Entscheidung eine Lektion für die Leser und eine Zurückweisung der Genrekonventionen dar. Zweiteres ist eine gute Sache; ersteres aber beunruhigt mich. Als ob Miéville mir über die Schulter guckt, während ich gerade den Schluß von Der Eiserne Rat lese, und sagt: »Du hast doch wohl nicht geglaubt, daß die Revolution erfolgreich sein würde. Du bist ja so naiv. So ist das Leben; es ist ein schmutziges Geschäft, und in den meisten Fällen geben böse Menschen mit Macht, die Macht nicht mehr aus der Hand.« Schon gut, in Ordnung. So eine Zurechtweisung würde ich vielleicht von anderen Autoren vetragen. In diesem Fall aber gibt es ja keine sachliche Faktenlage dazu, wie es in Bas-Lag zugeht. Es könnte ja sehr wohl ein Ort sein, wo es erfolgreiche Revolutionen durch das Volk gibt. Aber darauf wollte ich nicht hinaus, denn damit würde ich Miéville für gewisse Entscheidungen kritisieren, die als Weltenbauer nun mal seine Entscheidungen sind.
Ich glaube, der Grund für meine Irritation ist Folgendes: Miéville zeigt, daß er äußerst willens ist, sich alle anderen Fantasy/Phantastik-Konventionen vorzuknöpfen, bis auf das eine: Beherzte, scheinbar nicht zusammen passende Helden obsiegen trotz unmöglicher Wahrscheinlichkeit. Aber das tun sie doch immer. Die herkömmlichen Authoritäten wollen nichts tun, oder sind unfähig die heraufziehende Bedrohung zu bekämpfen, so daß eine kleine Gruppe Abenteurer gegen irgendein weltumfassendes böses Zeug antreten muß? Jawohl. Sogar die Kampfszenen, mit all ihrem Spektakel, erinnern mich ab und zu an die statischen Einstellungen einer Schlacht bei Tolkien. Die Vorliebe Miévilles für das Bizarre verleitet ihn auch dazu, Kämpfe zu arrangieren, die nichts so sehr entsprechen, wie einem außer Rand und Band geratenem Rollenspiel: du hast nur zwanzig leicht bewaffnete Zombies in Lenkballons, und dein Gegener kommandiert eine Truppe mit Pixies, deren Biß beinahe tödlich ist … ect. Es macht Spaß solche Sachen zu lesen, aber ich habe das Gefühl, daß jemand, der einen Flüsterschmied im letzten Augenblick angallopieren läßt, um einem Lichtgolem im Kampf gegen Elementare beizustehen, gegenüber Genrekonventionen nicht so so verdammt überheblich sein sollte.
Es wäre ja noch in Ordnung wenn Lin gestorben wäre. Aber daß sie vergewaltigt wird, die Beine ihres Kopf-Skarabäus einzelnen ausgerissen werden und dann ihr Bewußtsein teilweise zerstört wird, so daß sie ihre Persönlichkeit und ihre Kunst verliehrt? Ach komm schon, Alter. Das ist einfach nicht nötig. Es gibt scheinbar keinen Grund dafür: Ich bin bereit diesen Charakter die ärgsten Übel zustoßen zu lassen, nur um deine Genre-Erwartungen durcheinander zu bringen. Mir ist absolut klar, daß es … gelinde gesagt eigentümlich ist, sich über die Misshandlungen, die einer fiktiven Figur durch ihren Schöpfer zugefügt werden, aufzuregen, aber das tue ich hier nun mal.
Die erstarrte Eisenbahn in Der Eiserne Rat, ist für mich wie ein Emblem der Bögen, die Miévilles Romane auszeichnen.
Der Zug ist aufsehenerregend und grotesk, bespickt mit den Köpfen von magsichen Ungeheuern, bewegt sich ewig vorwärts und doch völlig unfähig sein Ziel zu erreichen. Die lange Reihung an Seltsamkeiten friert an einem bestimmen Punkt einfach ein. Nichts wird aufgelöst. Isaac rettet die Welt und seine einzige Belohnung ist die brutale, schlimmer-als-der-Tod- Zerstörung derjenigen, die er liebt. Toros Revolutionäre bringen die Bürgermeisterin um und nichts folgt daraus. Es kommt zu einer großen Revolution, die keine Veränderungen in der Politik des Gemeinwesens bewirkt.
Das brennende Verlangen Miévilles, die Ereignisse nicht angenehm enden zu lassen, verdirbt sogar die vorhandenen Errungenschaften seiner Romane. Rückblickend wird aufgedeckt, daß die Reise des Eisernen Rates Teil der Machenschaften von Wrightby ist; die Rebellen wurden nicht durch eigene Anstrengung gerettet, sondern durch Drogons Machenschaften. Die Ermordung der Bürgermeisterin entpuppt sich als Ergebnis des Zorns einer einzelnen Frau, und ist auf gewisse Weise nicht einmal eine politische Tat.
»Ja.« Ja, aber es ist nicht dasselbe. Es ist ein Nebeneffekt, der politische Aspekt diente dir nur als Mittel zum Zweck, und das ändert alles, dadurch wird alles anders.[8]
Auch die fehlgeschlagene Revolution stellt sich als ein Teil der Planes von Spiral Jacobs heraus, als eine gelegene Ablenkung und mehr nicht.
Wenn es also etwas gibt, daß ich mir bei einem neuen Roman von China Miéville wünschen würde, dann folgendes: Lass die Zügel sausen. Wenn sich Leute auf den Weg zur Narbe machen, dann lass sie verdammt noch mal auch dort ankommen. (Uther Douls scheinbare Subversion für ein Vohaben, für das er sein Leben aufs Spiel setzt, über 700 Seiten hinanzustellen, ist vollkommen motivlos.) Wenn jemand eine Revolution macht, dann soll die auch etwas verändern. Ich verlange nicht, daß der Bürgermeister von New Crobuzon am Ende Orden verteilt. Nur bitte, entspanne Dich ein wenig. Wenn man bereit ist seine Abenteurergruppe die Welt trotz überwältigender Widrigkeiten retten zu lassen, dann sollte man auch willens sein, ein bischen was Gutes, irgendeine Auflösung, daraus folgen zu lassen. Wie Ann-Hari zu Judah Low sagt:
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http://www.acmenoveltyarchive.org/item.php?item_no=131
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molosovsky Besitzerin
Als ich zum ersten Mal über China Miéville schrieb, kommentierte ich gegen Ende meines Beitrages:
Diese Ansicht ist wert beachtet und besprochen zu werden, und ich glaube, daß meine ursprüngliche Ausdrucksweise diese Angelegenheit schablonenhafter, als ich sie sehe, darstellt.
Jeder, der Miévilles Werke als mehr betrachten will, als nur den »guten reißerischen Garn«[2] (die sie sind), sollte beachten, daß er verschiedene populäre Genres miteinander vermischt und verschmilzt. Ein Reigen der Cover von Groschenheftchen sollte vor dem inneren Auge tanzen, wenn man die Homagen beachten will, die Miéville der Vergangenheit angedeihen läßt. Weird Tales, Startling Stories, Fantastic Adventures, Sky Fighters, Sea War Stories, Ace-High Westerns, Railroad Men's Magazine.[3] Eines der großen Vorhaben von Miéville ist, an diese Traditionen anzuknüpfen und sie zugleich zu überwinden.
Was aber bedeutet es, innerhalb dieses Traditionen zu schreiben und dabei auf thematische Komplexität und Raffinesse der Charakterisierung, zwei Techniken die Der Eiserne Rat bietet, zu hoffen? Bewirkt die Überwindung von »Gut gegen Böse« in dem Werk eine Überwindung der Pulp-Traditionen?
Ich stehe weiterhin zu meiner ursprünglichen Auffassung, daß die Mächte gegen die Miévilles Protagonisten kämpfen »volkommen abscheulich« sind, denn ich glaube, es ist offensichtlich, daß diese Mächte auf diese Art beschrieben werden (wenn auch in Die Narbe nicht so schlimm, wie in Perdido Street Station oder Der Eiserne Rat), aber das mag auch auf den Wahrnehmungen der Hauptfiguren beruhen, und diese Wahrnehmungen mögen sich den zentralen Anliegen der Bücher fügen — die zweischneidige Kraft der Leidenschaften, die die Figuren sowohl zu Heldentaten treiben, aber sie auch die Feinheiten der Welt übersehen läßt. Wir können nicht wissen, ob es in der Tat einige wohlmeinende Personen in der Regierung von New Crobuzon gibt, denn offensichtlich weiß keine der Hauptfiguren darüber bescheid. In Perdido Street Station sind die Gierfalter etwas völlig Unbekanntes; in Der Eiserne Rat ist es die Regierung. Wir erfahren kaum etwas über die Absichten der Regierung, sondern nur von den Auswirkungen ihrer Taten, und diese Auswirkungen sind entsetzlich.
Was Miéville hervorragend gelingt, ist die Gestaltung von Antihelden, Pseudohelden und Nicht-Helden, und diese dann mit Ereignissen zu konfrontieren, die äußerstes Heldtum herausfordern. Die moralischen Gerüste seiner Bücher werden dadurch zu »nicht vollkommen Böse gegen Gute«. Das entspricht womöglich genau des Balancekunststückes die Miéville schreiben muß, um die Art romantischer Philosophie zu liefern, die er scheinbar abstrebt. Die »Gut gegen Böse«-Gegensätzlichkeit mit Komplexität durcheinanderzubringen würde das Mark der ursprünglichen Einflüße zunichte machen; die eine Seite zu zerschlagen wärend man an der anderen Seite festhält bedeutet, dieses Motiv zu untergraben, nicht es auszuradieren.
Es ist eine Sache, wenn ein Schriftsteller so einen Balance-Akt unternimmt, aber wie steht es um die Leser? Von den drei New Crobuzon-Büchern hat Der Eiserne Rat die unterschiedlichsten Reaktionen geerntet, und viele haben in etwa gemeint: »Nun ja, der Roman ist gut, aber nicht so gut wie Perdido Street Station«, oder: »Nicht schlecht, aber Die Narbe moche hab' ich echt gemocht.«
Perdido Street Station erschien zu einer Zeit, als die Leute bereit dafür waren, ja sich vielleicht sogar danach gesehnt haben. Sehr viele Fantasyleser hungerten nach einem großen, saftigem Buch das keine weitere Möchtegern-Serie mit Tolkien-Versatzstücken, und auch kein gefühlsduseliger Mythos im städtischen Umfeld ist. Der Roman barg genau die richtige Mischung an Zutaten, die ein eigenes Publikum entstehen ließ. Für jeden erfolgreichen Autor stellt sich dann das Problem, daß die Leser keine Veränderungen mögen, selbst wenn sie das Gegenteil behaupten. Der Eiserne Rat unterscheidet sich sehr Perdido Street Station, was nicht bedeuten soll, daß eines der beiden Bücher besser oder schlechter als das andere ist, doch die ideale Leserschaft der beiden sind sich einander nicht wirklich gleich. Der Eiserne Rat ist subtiler, weniger barock als Miévilles Vorgängerwerke; es macht weiter mit der Erkundung von Themen, die Miéville schon auf den ersten hundert Seiten von Die Narbe behandelt hat — das Leben wie es gelebt wird, Personen wie sie sich entfalten und Historie die durchgemacht wird, bevor diese Dinge mit Zahlen und Daten zu »der Vergangenheit« gemacht werden.
Diese Herangehensweise mindert nun die Groschenhaft-Freuden im späteren Verlauf des Buches, denn wir haben gelernt andere Dinge als große Schlachten zu zu schätzen, und wir dann trotzdem noch mehr große Schlachen vorgesetzt bekommen. Aber auch das sind feste Bestandteile der Pulptradition — der Aufbau von Spannung, die heroische Anstrengungen die beim Aufeinanderprallen von Helden kulminieren, die Bedrohung schon der bloßen Existenz der Welt. In gewisser Weise ist Der Eiserne Rat vielleicht ein derart guter Balanceakt, daß es niemanden wirklich ganz gefallen kann, denn das Publikum das Macht-sie-platt-Aktion mag, wird von dem nichtlinearen Plot, der beschwörerischen Prosa, die Existenzangst[4] frustriert werden; gleichzeitig werden die Leser, die die Entwicklung von Miévilles schriftstellerischen Fähigkeiten spannend finden — er hat nun sein Talent scheinbar vollkommen im Griff — sich wundern, warum sie sich durch einen weiteren Kampf der Titanen robben müssen.
Vielleicht ist es aber auch Miévilles großes Probjekt zu zeigen, daß die verschiedenen Publikumsgruppen tatsächlich vereint werden können, daß Spaß an Baller-Aktion nicht ausschließt, sich auch an der Komplixität des Schreibhandwerks zu erfreuen. Das ist ein gewaltiges Ziel und es mag sich als unerreichbar erweisen, doch allein schon der Versuch es zu erfüllen führt zu interessanten Ergebnissen. Was all das Gerede über das Politische bei China Miéville angeht, wird sich am Ende wohl herausstellen, daß seine Revolution weniger eine politische und vielmehr eine ästhetische ist.
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molosovsky Besitzerin
—Ein Essay über China Miéville—
Wie schon Miévilles Vorgängerroman Die Narbe erzählt Der Eiserne Rat eine ganze Menge über Verrat. Die bedeutenderen Vertrauensbrüche in Der Eiserne Rat drehen sich weniger um persönliche Betrügereien, sondern vielmehr um die subtileren Verrätereien der politischen Mythologie; ihre ungewissen Konsequenzen und ihre notwendige Treulosigkeit gegenüber denen, deren Kampf mythologisiert wird. Einerseits erhalten politische Mythen die Hoffnung aufrecht und inspririeren zu Taten, andererseits spiegeln sie nicht die Wünsche der Einzelnen wieder, deren Handeln diese Mythen hervorgebracht hat. Das Herz von Der Eiserne Rat bildet ein ungelöstes und unlösbares Argument über die Beziehungen zwischen Revolution, Mythos und Historie.
Folgendes schreibt Michael Chabon in der Einleitung seiner letzten Ausgabe von McSweeney's (die Nummer enthält unter anderem auch eine neue Geschichte von Miéville):
In meinem Aufsatz werde ich nun Michael Chabons Vorlage noch überbieten. Nicht nur erwähne ich Benjamins Namen; ich versuche einen Dialog zwischen Der Eiserne Rat und Benjamins brillianten fragmentarischen Aufsatz Über den Begriff der Geschichte herzustellen. Selbst wenn, wie Miéville in seiner Erwiderung schreibt, er mit Der Eiserne Rat nicht unmittelbar auf Benjamin verweisen wollte, hilft uns der Vergleich zwischen den beiden dabei, einige Stränge des Romans genauer zu betrachten — denn wie Benjamin das messianische Judentum als eine Quelle für Revolutionsmetaphern anführt, hat erstaunlich viel Ähnlichkeit mit Miévilles ausgebüchster Eisenbahn. Von einer bestimmten Warte aus betrachtet, macht sogar die Stadt New Crobuzon einen Banjamin'schen Eindruck — erscheint weniger, wie in Miévilles früherem Roman Perdido Street Station, gleich einem Zusammenstoß von London und Rio de Janeiro, sondern wie durcheinandergeratene Brechungen des Berlins der Weimarer Repubik und das Paris des neunzehnten Jahrhunderts. Hier reiben sich die Einkaufspassagen und die Barrikaden der Kommunarden anneinander, und Flaneure betrachten in Gedanken ihre endlosen Spaziergängen als »eine Rekonfiguration der Stadt«[2] Besonders was Der Eiserne Rat über den Mythenmacher und Golemisten Judah Low berichtet, erinnert sehr an Benjamins Ideal des revolutionären Historikers, der »eine bestimmte Epoche {wahrnimmt}« nur um sie »aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen«[3] Anders als Benjamin problematisiert Miéville diese Form des Historiemachens; auch wenn sie notwenig sein mag (und die gemäßigte Hoffnung am Ende des Buches beisteuert), verrät dieses Geschichemachen doch jene die es feiert, indem es deren Ziele, ihre Handlungsabsichten nicht ernst nimmt.
In einem der früheren Kapitel von Der Eiserne Rat wird dieses Thema vorweggenommen, mit der Schilderung einer Aufführung der »TRAURIGE{N} UND LEHRREICHE{N} MORITAT VON JACK GOTTESHAND« des Puppentheaters Flex'ibilis.[4] Das Puppenspiel erzählt wie der anarchistische Rebell Gotteshand, der bereits in den Zwischenräumen von Perdido Street Station auftrat, gefangengenommen wird, und durch die Hand einer geheimnisvollen pockennarbigen Gestalt stirbt. Diese Geschichte, wie man sie sich in den verstrichenen Jahrzehnten erzählt, wurde auf viele unterschiedliche Arten interpretiert, immer mit bestimmten politischen Implikationen. Gemäß der ›offiziellen‹ Version der korrupten Parlamentsregierung New Crobuzons, wurde Gotteshand von einem rachsüchtigen Verwandten eines seiner Opfer getötet. Eine spätere Variation behauptet, daß ein Kammerad sich erbarmt hat, und mit einem Gnadentod die Gotteshands von seiner Gefangenschaft erlösen wollte; auch diese Version wird von den Zensoren geduldet (sie stellt Gotteshand und seine Verbündeten als edle aber zur Erfolgslosigkeit verdammte Verliehrer dar, die niemanden zu einer Rebellion anstacheln). In der neuen und subversiven Fassung der Geschichte des Flex'ibilis stirbt Gotteshand bei dem Versuch eines seiner Kammeraden ihn zu befreien; »{…} wo die beiden kleinen Figuren nicht bereits zum Untergang verurteilt waren oder geschlagen mit allzu idealistischen Vorstellungen oder Opfer einer Welt, die ihresgleichen nicht dulden konnte, sondern wo sie noch nicht aufgegeben hatten, wo sie immer noch versuchten zu siegen.«[5]
Der Straßenkämpfer Ori und andere Figuren werden durch diese Version politisch inspiriert, auch wenn diese Fassung mit an Sicherheit grenzer Wahrscheinlichkeit nicht stimmt. Wer Perdido Street Station gelesen hat, wird in dem pockennarbigen Mann den Garuda-Renegaten Yagharek wiedererkennen, und daß dieser nicht aus politischen Gründen, sondern höchstwahrscheinlich seinem persönlichen Pflichtgefühl folgend Gotteshand befreien will. (Am Ende von Perdido Street Station lehnt Yagharek die Einladung Gotteshands ab, sich dem politischen Kampf anzuschließen.) Obwohl es nicht in Yaghareks Absicht lag, sorgt die Vorstellungen der Flex'ibilis für Aufruhr und fördert damit das Heranreifen einer umfassenderen Revolution in New Crobuzon. Was diese Ereignisse den in ihnen verwickelten Darstellern bedeutet haben mögen, wird durch den politischen Stellenwert der Puppenspielfassung verdrängt.
Genau so verhält es sich mit ›dem Eisernen Rat‹ und dessen Mythologisierung durch Judah Low. Wie Matthew Cheney bereits sagte, ist der Anamnesis-Teil von Der Eiserne Rat, in dem es um Judah Low und die Rebellion die den Eisernen Rat formt geht, womöglich der gelungenste und kraftvollste längere Abschnitt, den Miéville bisher verfaßt hat. Er hat eine neue Sprache erfunden — gedrängt, ungrammatisch, manchmal außerordentlich bewegend. Die Eisenbahn selbst ist eine mächtige und mehrdeutige Metapher. Michael Dirda hat den Zug in Der Eiserne Rat in der Washington Post mit Lenins bekannter Reise nach Finnland (um dort eine Revolution zu entfachen) verglichen, und John Quiggin bringt Trotzkies berühmten gepanzerten Zug als Parallele ins Spiel. Ich vermute, daß sich hier ein dritter Bezug verbirgt — zu Lenins berühmten Aufsatz über den Imperialismus[6], in dem die Ausbreitung der Eisenbahn als ein handfester Gradmesser für den weltweiten Fortschritt des Imperialismus dargestellt wird (Miéville deutet an, daß die wirtschaftliche Krise von New Crobuzon aus imperialistischer Überproduktion resultiert; der Zugang zu außwärtigen Märken wurde abgewürgt). In Der Eiserne Rat ist das Unternehmen des Transcontinental Railway Trust, Schienen durch den ganzen Erdteil zu verlegen, typisch für eine gewisse Art der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation; und es macht die Anstrengungen der Kapitalisten von New Crobuzon deutlich, ihren Einfluß auf den Kontinent auszuweiten. Noch mehr als all das, verschafft dieses Unternehmen einem besonderen Ideal des politischen und wirtschaftlichen Fortschritts Geltung. Weather Wrightby, der kapitalistische Visionär hinter dem Trust, beschreibt die Eisenbahn als die Macht der Historie:
—Aber dammich, begehrt Judah auf. —Dies ist kein herrenloses Land.
Auf den Zügen des alten Mannes malt sich Verwunderung. —Was sie haben, was immer sie dort bewahrt haben, in diesem Sumpfland, über Jahrhunderte, es ist willkommen, sich der Zeit zu stellen, die ich bringe, wenn es denn stark genug ist.[7]
Die Eisenbahn kerbt sich einen Weg durch den Kontinent kerbt, verwandelt dabei den Raum, verstört die Gemeinden durch die sie kommt, und modelt sie nach dem eigenen Bild um, läßt dabei kurzweilig Siedlungen mit Spielern, Arbeitern und Huren sprießen. Das ist auf seine Art ziemlich unwiderstehlich; Wrightby ist ein waschechter Visionär, selbst wenn er ein Monstrum ist. Der Ewige Zug wird offenkundig von einer unausweichlicher Kraft getrieben, er ist ein linearer Prozess, der unvermeidlich aus der Wildnis ein Hinterland[8] des Kapitals macht. Judah Low ist als Geländekundschafter, der sich den Eingebohrenen (den Stiltspear) angeschlossen hat, zuerst fassungslos, unfähig sie gehen die Eisenbahn und die Kräfte des Fortschritts zu beschützen.
Diese lineare Entwicklung wird durch die Geburt des Eisernen Rates unterbrochen, und so strömen neue Kräfte in die Historische Zeit. Die Revolte die zum Eisernen Rat führt fängt mit einer Beruhigung der Zeit an, einem Augenblick des Zögerns, gefolgt von der Tat eines namenlosen Arbeiters:
Miéville beschönigt diesen Moment und was darauf folgt nicht — die Beschreibungen der Nachwirkungen sind angereichert mit Brutalitäten, Uneinigkeiten und Widersprüchlichkeiten. Diese Ereignisse hätten viele verschiedene Verläufe nehmen können, doch tiefgreifende Auswirkungen haben sie — sie ermöglichen den Arbeitern und Sklaven, über ihre eigene Historie zu dem was ihnen angetan wurde, selbst zu bestimmen, und etwas neues daraus zu schmieden. Ann-Hari, eine der Anführerinnen des Aufstandes, sagt das so:
Sie deutet in die Schwärze des Tunnels, wo die Arbeit weitergeht. —Alles das. Wir haben Geschichte bewegt. Wir haben Geschichte gemacht. Wir haben Geschichte in Eisen gegossen, und der Zug hat sie hinter sich ausgeschissen. Jetzt haben wir das ausgetilgt. Wir ziehen weiter, und unsere Geschichte nehmen wir mit uns. Erneuerung. Das ist unser ganzer Reichtum, alles, was wir haben, unser einziger Besitz. Wir nehmen es mit.[11]
Der Zug verläßt buchstäblich das geplante Gleis, schlägt eine neue Richtung in die Wildniss ein, reißt die alten Schienen hinter sich ab, um sie vor sich wieder zu verlegen.
Im Gegensatz zu dem gescheiterten Revolutionär Ori, dessen Hoffnung darin besteht selbst wie sein Held Jack Gotteshand ein Mythos zu werden, sorgen sich die Rebellen vom Eisernen Rat um das Hier und Jetzt — wollen die Kontrolle über ihr Leben erlangen, um ihre Historie in die eigenen Hände zu nehmen. Genau dieses Streben wird durch den Golemisten Judah Low zu nichte gemacht.
Um Judah Lows Beweggründe nachzuvollziehen ist es hilfreich, Der Eiserne Rat zur Seite zu legen und sich Walter Benjamins Überlegungen zur materialistischen Geschichtsschreibung zuzuwenden. Benjamins Aufsatz ist sowohl ein Angriff gegen die Geschichtsauffassung von Ranke[13], wie auch gegen die meliorativen[14], sozialdemokratischen Geschichsschreiber. Benjamin findet, daß erstere aus der Historie einen Triumphzug für die Sieger macht, womit sie die Geschichte ihrer politischen Kraft berauben; und zweitere wendet sich von den Kämpfen der Vergangenheit ab, zugunsten von (niemals verwirklichbaren) Versprechen von zukünftigen Verbesserungen. Historiker betrachten die Geschichte als einen linearen Prozess, erzählen die Ereignisse eines nach dem anderen, wie »einen Rosenkranz«.[15] Benjamin schlägt stattdessen eine materialistische Auffasung von Geschichte vor, bei der die Historiker versuchen sollen, als schwache Erlöser zu wirken, die die Kämpfe der Vergangenheit vergelten, indem sie sie auf die Gegenwart beziehen. Der Historiker greift mit der Gegenwart nach der Konstellation einer vergangenen Epoche, und sorgt damit für eine Gegenwart, »in welcher Splitter der messianischen {Zeit} eingesprengt sind«[16], und der es möglich ist erlöst zu wertden, und gleichzeitig Vergeltung für diejenigen zu üben, die in der Vergangenheit gekämpft haben. Wenn die Vergangenheit sich an der Gegenwart reibt, mögen die Funken der Revoltion fliegen. Laut Benjamin verlangt das vom Historiker eine ganz besondere Methode:
In Der Eiserne Rat ist Judah Low genau so ein Historiker, und Golemitrie, in ihrer entwickelsten Form, ist genau so eine Manipulation der Zeit, eine »Unterbrechung«. Low hat in dem Buch eine zweifache Rolle; er ist sowohl ein Golemetrist (ein Erschaffer und Lenker von Golems), und er ist auch der Barde des Eisernen Rates in der Fremde, der den Mythos für die Bürger in New Crobuzon, der Stadt, welche die Rebellen hinter sich gelassen haben, am Leben erhält. Diese beiden Rollen sind miteinander verwoben; Lows Golemetrie ist eine Ausbuchstabierung seiner Rolle als umherziehender Propagandist im Namen des Eisernen Rates; beide Tätigkeiten verlangen sowohl den Eisernen Rat zu abstrahieren, als auch ihn in einem Bild einzufrieren. Lows letzte Handlung als Golemist ist der Höhepunkt seines Auftritts als Barde; nach dem er viele Jahre den Eisernen Rat mythologisiert hat, macht er am Ende äußerst wortwörtlich einen Mythos aus dem Eisernen Rat.[18] Wie einer von Benjamins materialistischen Historikern, zwingt Judah Low den Eisernen Rat aus dessen eigener Zeit heraus, aus seiner eigenen Geschichtsspur, so daß der Eiserne Rat zu etwas außerhalb der Zeit wird, gefangen in einem ewigen nunc stans.[19]
Dazu ist Low fähig, weil er die Golemterie von den Stiltspear gelernt hat, einem Fischer- und Jägervolk im Sumpfland. Low beginnt mit der Belebung von roher Materie, aber er nutzt Aufnahmen der Stiltspeargesänge, um zu lernen Zeit einzufangen. Im letzten Akt dann ›rettet‹ er den Eisernen Rat, kurz bevor der New Crobuon erreicht und mit hoher Wahrscheinlichkeit von den versammelten Truppen der Stadtmiliz vernichtet worden wäre. Low hat am Ankunftsort eine Golemfalle plaziert und sprengt mit dieser den Zug aus der Zeit. Der Eiserne Rat wird zu einem in der Zeit festgefrorenem Bild, kann nicht berührt werden und befindet sich in einem immerwährenden Augenblick der Ankunft.
Man konnte ihn nicht immer deutlich sehen. Brutal aus dem Zusammenhang gerissen, waren seine Ränder schartig und mit Bruchstellen vielfach facetiert, Opalesszenzen verletzter Zeit. Aus manchen Blickwinkeln war der Zug schwer zu erkennen, oder es war schwer, an ihn zu denken oder sich an ihn zu erinnern. Je nachdem. Aber er bewegte sich nicht.[20]
Dadurch wird der Zug zugleich bewahrt und verraten. Oder in den Worten von Benjamins Beschreibung wird die Lebensarbeit der Renegaten-Historie »aufbewahrt« und gleichzeitig »aufgehoben«. Selbst wenn der Anblick des Zuges als Inspiration für andere erhalten bleibt, werden die Hoffnungen und Sehnsüchte der Renegaten des Eisernen Rates, die absolut dazu bereit waren in den Tod zu gehen, zunichte gemacht. Lows seligmachende Rücksichtslosigkeit, seine Bereitschaft den Rebellen des Eisernen Rates die Entscheidunggewalt über ihr Schicksal aus der Hand zu nehmen, ist ein typisches Merkmal dafür, daß er zu den Rebellen als Personen keine Beziehung, keine Verbindungen gepflegt hat. »Er beobachtet die Welt durch Glas.«[21] , und wie ein anderer Renegat sagt, kann man Low nicht ganz trauen:
Low behandelt die Renegaten des Eisernen Rates genauso, wie er auch die Stiltspear, die vor der anrückenden Eisenbahn geflohen sind und gestorben sind, behandelt hat; als einen historischen Hebel, als ein dem Endziel dienliches Mittel. Er liebt sie auf eine abstrakte Art, aber er respektiert sie nicht wirklich als Individuen. Wie Ann-Hari am Ende des Buches sagt:
Wenn Low ein materialistischer Historiker in Benjamins Sinne des Wortes ist, dann wird Benjamins Unternehmen von Grund auf durch Fehler getrübt. Wenn es denn erreicht, was es bezwecken soll (den Mythos des Eisernen Rates als Inspiration für den Kampf zu bewahren), dann muß es die tatsächlichen Personen die den Eisernen Rat mit Leben und Atem erfüllen, verraten, und aus ihnen eine Abstraktion machen. Das Vermögen des Historikers als ein Messias zu fungieren, und jene die in der Vergangenheit gekämpft haben zu ›erlösen‹, beruht zumindest teilweise auf einer Illusion; diese Historikerfähigkeit kann ihnen nicht gemäß ihrer eigenen Bedingungen gerecht werden.
Das bringt uns nun zu der spannungengeladenen Problematik, die den Kern des Romans bildet. Mythen brechen ihr Versprechen. Obwohl sie zu politischen Taten inspirieren können, bleibt die Bedeutungen ihrer Aussagen den Menschen, deren Kampf die Mythen feieren, nicht treu. Das bewusste Verlangen einen Mythos zu schaffen (Judah Low), oder zu einem Mythos zu werden (Ori), kann ungewisse oder sogar verheerend schreckliche Folgen bewirken. Der eindeutigste Held des Romanes, Cutter, macht etwas das dem Feind die Erschaffung eines eigenen Gegen-Mythos ermöglicht, denn andere Möglichkeiten scheinen noch fürchterlicher zu sein. Dennoch (und hierin zeigt sich das Reiben, die Widersprüchlichkeit, die Dialektik) funktioniert das Heraussprengen des Eisernen Rates aus der Historie. In den abschließenden Romankapiteln bekommen wir gezeigt, wie eine historische Spannung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hergestellt wird, zwischen dem Mythos vom Eisernen Rat — nun und immerdar — und der schäbigen Wirklichkeit des politischen Ringens und Kompromisseschließens. Diese Spannung selbst könnte explodieren und dafür sorgen, daß der Meniskus der Historie durchbrochen wird. Walter Benjamins abschließende Worte dazu:
Oder, wie es in den Worten der revolutionären Zeitung »Lauffeuer«, in Der Eiserne Rat heißt:
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wurde bei der Übersetzung:
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/imp/index.htm
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molosovsky Besitzerin
Zum dritten Roman von China Miévilles Reihe über die bemerkenswert verdreckte Stadt New Corbuzon (dem Vernehmen nach für eine ganze Weile der vorläufig letzte Bas Lag-Roman), hat es einiges Gemotze gegeben. Dem heftigsten Genörgel stimme ich zu — nämlich, daß der Roman zu lange braucht, um in die Gänge zu kommen: die Uneindeutigkeit des Anfangs ist zwar an und für sich ausgezeichnet, aber die erzählerische Spannung bricht unter der kakophonischen Belastung an üblichen, seltsamen Kreaturen zusammen. Ich kalauer mal absichtlich: Als die Sache dann schließlich ins Rollen kommt, steigt das Tempo merklich an. Die Erzählung selbst konzentriert sich abwechselnd auf drei Hauptfiguren: Judah Low, eine vermeitliche Erlöserfigur der sich auf die Erschaffung von Golems spezialisiert hat; Cutter, sein Liebhaber und treuster Anhänger; und Ori, einem entkoppelten, jungem Radikalen. Und es gibt den ›Eisernen Rat‹ selbst, eine quasi-utopische bewegliche Stadt ehemliger Verbecher, Arbeiter und Prostituierten, immer unterwegs mit der gestohlenen Eisenbahn. Aufbau und Verlauf der Handlung ähneln dabei mehr Der Narbe als Perdido Street Station, auch wenn Miéville weiterhin seiner frohgemuten Gewohnheit folgt und gutgelaunt seine Hauptfiguren tötet oder psychisch verstümmelt. Zwei der wichtigeren Handlungswendungen behandeln verzwickte, doppelbödige Betrügereien, wenn auch die Einzelheiten des Verrats nicht so ausführlich wie in Die Narbe ausgebreitet werden.
Miéville wird manchmal pauschal mit den Steampunk-Autoren[1] in einen Topf geworfen, denn immerhin ist Bas-Lag von außergewöhnlich verdrehten und verunstalteten Kreaturen und Konzepten bevölkert, die auf unserer tatsächlichen Erden-Wirklichkeit zu beruhren scheinen. Mit Der Eiserne Rat befinen wir uns in Bas-Lags neunzehntem Jahrhundert, und der Roman nimmt sich eines bemerkenswerten Gegenstands des neunzehnten Jahrhunderts an: die Eisenbahn als Metapher für die Historie, den Fortschritt und die Modernisierung. Ich mußte an Walt Whitmans An eine Lokomotive im Winter denken, in dem die Einsenbahn bejubelt wird als »Modell der Moderne! Emblem der Bewegung und Kraft! Puls des Kontinents!«[2] (Auch hat mich das, wenn auch zwiespältiger, an Dickens Dombey and Sohn[3], mit seinem zerstörerischen, schlussendlich tödlichen Zug erinnert.) In Der Eiserne Rat wird aus dem Kampf um die Kontrolle des Zuges eine umfassende, politische und metaphorische Auseinandersetzung entwickelt. Auf der einen Seite befindet sich Weather Wrightbys TRT, der Schienen durch den Kontinent verlegen will; in der Erzählung von Judahs Erinnerungen wird uns gezeigt, daß ein Ergebnis davon die Vernichtung jeglicher im Wege stehender Rassen ist. (Bezeichnenderweise lernt Judah seine Zauberei von so einem Volk.) Auf der anderen Seite befinden sich sich TRT-Streiker, die die Kontrolle über den Zug an sich reissen, und die Schienen willkürlich in neue Richtungen verlegen:
Anders als die vom TRT beabsichtigte richtungsmäßige und utilitaristische Bewegung, derzufolge die Schienen einen einfachen Weg quer durch den Kontinent sichern sollen, damit New Crobuzon seinen wirtschaftlichen Horizont ausweiten kann, schafft der ›Ewige Zug‹ Tag für Tag seine flüchtige Route. Zu den offensichtlich zufälligen Richtungsbewegungen des Ewigen Zuges durch das Gelände paßt wie ein Echo zu Cutters späteren verzweifeltem Ausruf, daß die »Geschichte nicht nach einem Plan {verläuft}«[5]; und während die Ziele des TRT äußerst endgültig und profitorientiert sind, trachtet der Eiserne Rat lediglich danach, sich selbst und seinen Weg des gemeinsamen Lebens fortzuschreiben. Doch auch der Ewige Zug hinterläßt Narben auf seinem Weg, »gräbt seine Spur tief in die Erde«[6] der Landschaft. Selbst die vom Ewigen Zug versprochene Freiheit, kommt als Belastung über das vom Zug beanspruchten Land.
Die radikalen politischen Bewegungen stürzten in diesem Roman über sich selbst zusammen, wobei hie und da Auseinandersetzungen über Ziele und Mittel hervorlugen. Im Handlungsstrang mit Ori kommt es zum spektakulärsten Kollaps: er tut sich mit dem berüchigten Verbrecher ›Toro‹ zusammen, um eine politische Schlüsselfigur zu ermorden, nur um dann zu entdecken, daß Politik eigentlich nur als Deckmäntelchen für Toros wahren Beweggründen diente. (Aufmerksame Leser werden merken, daß wir Toro in einem früherem Roman bereits begegnet sind.) Um die Sache noch schlimmer zu machen, hält Ori dann einen anderen Charaktur für eine politische Befreierfigur, nur um zu erfahren, daß sie tatsächlich weitaus Gefährlicheres heraufbeschwört. Ganz ähnlich endet Juda Lows christusartiger Versuch den Eisernen Rat zu ›retten‹, mit teilweise verblüffenden, teilweise fatalen Folgen, in einem Märtyrertum, das keines ist:
Und du wirst auch nicht begreifen, was ich dir jetzt sage, du kannst es nicht, aber du stirbst nicht als Opferlamm, nicht als Märtyrer deiner guten Absichten. Du stirbst, weil du nicht das Recht hattest, Judah Low, du hattst nicht das Recht.«[7]
Bei dieser Aufhebung der Passion Christis spielt Judah nicht die Rolle einer geweißsagten Figur, die sich für die Menschheit opfert und damit deren Sünden wieder gut macht; stattdessen stirbt er wegen seiner anmaßenden Einbildung, daß er überhaupt derjenige sei, der für Erlösung und Heil zuständig ist. Während also Judah einerseits das meiste des Eisernen Rates vor dem sicheren Tot durch die Miliz von New Crobuton bewahrt, löscht seine Entscheidung die freie Entscheidung des Eisernen Rates aus. Von dem Dreigestirn der Hauptcharaktere ist Judah auf schon unangenehme Art Ori ähnlich, dem irrgeleiteten Revolutionär: Judah nimmt an, daß die in Gang gesetzten Ereignisse kontrolliert werden können, und das Absichten moralisch bedeutender als Taten sind. Kurz vor Judahs Tod erfahren wir, daß der eigentliche Zweck des Ewigen Zuges ganz anderen Absichten entsprach, als Judah dachte; wie auch Ori hat er nicht erkannt, daß seine utopische Vision für andere von Beginn an lediglich eine weitere taktische Möglichkeit darstellte. Doch auch wenn der Roman gegenüber vermeintlichen Erlösern und gewalttätigen Revolutionären scheinbar zynisch ist, spendet das Ende doch mit dem Geist des gessellschaftlichen Wandels selbst auch ein wenig Hoffnung.
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http://www.bartleby.com/142/260.html
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http://www.gutenberg.org/etext/821
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molosovsky Besitzerin
Science Fiction und spekulative Fiktionen haben sich schon immer ganauso viel mit der Vergangenheit, wie mit Zukunft beschäftigt. Buck Rogers findet sich ins 25. Jahrhundert versetzt, befreit seine unterdrückten Mitgefangenen und kämpft sich nochmal durch den ersten 1. Weltkrieg, inklusive Artilleriesperrfeuer. Eine Stufe höher als so ein Groschenheft, ist die Wiederaufführung des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches, der Isaac Asimov sein Genre der ›Zukunftshistorie‹ weiht.[1] Und schließlich gibt es die unzähligen Umsetzungen von mittelalterlichen Romanzen, Seefahrer- und Westerngeschichten zu verschiedenen SF- und Fantasy-Mischungen.
Diese Unternehmungen machen einen ziemlich bedeutungslosen Eindruck, auch wenn nicht alle gleichermaßen schlecht sind. Die Idee, daß Wissenschaft und Technik wichtig sind, daß wir in einer anderen Welt auf völlig unterschiedliche Weise leben könnten, und dabei über uns selbst neues entdecken, ist die Essenz der Science Fiction. ›Harte‹ wissenschaftliche Fiktionen halten sich unveränderlich an diese Voraussetzung, auch wenn die Umsetzung oftmals eher simpel ist — man drehe an dem technischen Knopf A und erhalte das Ergebnis B. Es bleibt immer ein Problem, daß, da wir die Zukunft ja nicht kennen, man sich unausweichlich immer auf die Vergangenheit oder Gegenwart zurückgreifen muß. Mithilfe einer Blaupause aus der Vergangenheit über die Zukunft zu schreiben, bringt einen wie es scheint dennoch nicht wirklich weiter.
Während des zwanzigsten Jahrhunderts, von den Anfängen der Raumfahrt bis zum Ende des Kalten Krieges, boten als Spekulationen über die Zukunft getarnte Kommentare über die Gegenwart, wie 1984 oder Schöne Neue Welt, überlicherweile aussichtsreichere Quellen, als eine Aufbereitung der Vergangenheit.[2] Auch wenn wir noch nicht das Ende der Historie erreicht haben mögen, scheint es in unserer gegenwärtigen Zeit oder der absehbaren Zukunft, wenig Grundlagen für radikale Spekulationen zu geben.
Nach einem Zeitraum, in dem das Genre der spekulativen Fiktionen bereits scheinbar vom Aussterben bedroht wurde, ist die große Entdeckung der jüngstvergangenen Jahre die fiktionalen Möglichkeiten, die das neunzehnte Jahrhundert bietet, diese Zeit als die Moderne, die Umwandlung des Lebens durch Wissenschaft und Technik noch neu und aufsehenerregend war. Der entscheidenste Ansatz dazu waren historische Alternativweltgeschichten, zu denen auch William Gibsons und Bruce Sterlings Die Difffernz-Maschine, Philip Pullmans His Dark Materials-Trilogie und, wenn auch auf ganz andere Weise, Susanna Clarke Jonathan Strange und Mr. Norrell.[3]
In Der Eiserne Rat, seinem kürzlich erschienen Folgeband zu Perdido Street Station, treibt China Miéville diesen Prozess noch einen Schritt weiter. Insofern liefert er standardübliche SF, indem er Anschauungen, Darstellungen und Einordnungen wortwörtlich nimmt und aus ihnen neue Welten, nichtmenschliche Arten und sowohl wundersame wie auch schreckliche Biotechnologie macht.
New Crobuzon, so wie es von Miéville in Perdido Street Station beschrieben wird, gleicht jedoch erkennbar dem London des späten neunzehnten Jahrhunderts, mit seiner angesehenen Ober- und Mittelschicht und deren fassadenhaften Liberalismus, mit seinem gewaltigen und buntgemischten Unterwelt, sowie seinen allgegenwärtigen, beständigen, miastischen Nebel.
Auch wenn das Ambiente von London geprägt wird, erinnert die Politik mehr an das kontinentale Europa, besonders an Paris, mit seinen Gendarmen und agentes provokateurs, dem Hexenkessel radikaler und revolutionärer Organisationen, die gelegentlich mit politischen Morden, oder Barikaden und Straßenkämpfen aus der Reihe tanzen. Dies tritt in Der Eiserne Rat noch deutlicher hervor, weil hier die Eisenbahn als zentraler Charakter auftritt, dieses große Emblem des neunzehnten Jahrhunderts und der Industriellen Revolution. Die Eisenbahn des Eisernen Rates in mehr als einer Hinsicht revolutionär — der Eiserne Rat besteht aus den Arbeitern des Bautrupps des Transcontinental Railway Trust, die sich von ihren Aufsehern befreit haben und in die unerforsche Wildnis geflüchtet sind. Da denkt man doch gleich an Trotzki und seinen gepanzerten Zug, mit dem er von einem Schlachtfeld zum nächsten hetzte.
Zu Beginn der Geschichte erfahren wir, daß in New Crobuzon durch einen Krieg und der damit einhergehenden Wirtschaftskrise eine Revolte ausgebrochen ist, und der Eiserne Rat deshalb zurückkehren und den Rebellen dort helfen muß. Judah Low bringt diese Botschaft zum Rat; Judahs frühere Tätigkeit für die Eisenbahn (als Anthropologe und Geländekundschafter der ›zu den Wilden übergelaufen ist‹), hat ihm die Kunst der Erschaffung von, und Arbeit mit Golems gelehrt. Nachdem er sich einige Jahre im radikalen Untergrund von New Crobuzon tummelt, bricht er auf, um den Eisernen Rat zurückzuholen. Die Schilderungen springen vorwärts und rückwärts durch Zeit und Raum, und langsam werden dabei die Lücken der etwa dreissigjährigen Historie, die seit dem Ende von Perdido Street Station vergangen sind, geschlossen.
Wie wird eine Geschichte die so beginnt wohl enden? In der wirklichen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, sind die Kämpfe zwichen Arbeitern und Bossen als zahmes Unentschieden im Sande verlaufen, und die scharfen Kannten wurden mithilfe von wirtschaftlichem Wachstum und Sozialdemokratie geglättet. Das Ringen ist zugegebenerweise noch nicht vorrüber, und die Bosse, die sich die meiste Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts im Rückzug befanden, haben in den letzten Jahrzehnten wieder viel zurückgewonnen. Zumindest für diejenigen von uns, die diese Jahre durchlebt haben, scheinen Kämpfe über die Private Finanz-Initiative[4] oder Wohlfahrtsreformen nicht zu den Dingen zu gehören, über die irgendwer etwas lesen möchte.
Auf der anderen Seite, scheint das Vorhaben, eine schlüssige Geschichte in einer Alternativwelt zu erzählen, die mit einem vollausgeformten sozialistischen Staat endet, wohl eher ein unmögliche Aufgabe zu sein. Und die Alternative, eine ruhmreiche Niederlage zu schildern, macht einen genauso unzufriedenstellenden Eindruck.
Miévilles Lösung besteht darin, daß er Judah seinen unmöglichen Golem erschaffen läßt, einen Zeitgolem der den Eisernen Rat zu einem unendlichen Moment erhöht, eine endlose Erinnerung für die Herrschenden von New Crobuzon, daß ein besserer Tag kommen wird. Das ist eine ziemlich gebräuchliche Sache; in ganz Europa liegen Herrscharen von Rittern in ihren Höhlen und hohlen Hügeln, und erwarten die Stunde der höchsten Not, wenn man sie ein letztes Mal zu den Waffen ruft.
Meinem Eindruck nach ist das eine passende Metapher über unsere Zeit. Trotz der enttäuschenden prosaischen Wirklichkeit der Nachkriegs-Sozialdemokratie, und den entmutigendem Verteidigungskrampf der vergangenen 25 Jahre, ist die Erinnerung an die Arbeiterbewegungen, die sich im neunzehnten Jahrhundert gebildet haben, immer noch sowohl mächig, und zeigt zudem immer noch Möglichkeiten zur Befreiung. Die Wege, wie diese Erinnerungen wiederbelebt und nutzbar gemacht werden können, sind noch unklar. Vielleicht kann die wachsende Gemeinschaft des Internets vor den Dotcom-Profitmachern gerettet werden, die aus diesem Kommunikationsmedium für die meiste Zeit seines frühen Lebens ein gigantisches Ponzi-Schema[5] gemacht haben. Vielleicht erfüllt Europa ja dem Traum von Orwell und anderen, von einem Vereinten Sozialistichem Staatenbund. Was auch immer geschehen wird, die Kämpfe der Vergangenheit werden immer mit uns sein.
Oder, wie Miéville seinen Roman beschließt:
Jahre mögen vergehen, und wir werden die Geschichte des Eisernen Rats erzählen, wie er entstand, wie er sich aus eigener Kraft erschuf und in die weite Welt hinausfuhr, von seiner Rückkehr, wie er zurückgekommen ist und immer noch zurückkommt. Frauen und Mäner kerbten einen Pfad durch das unwegsame Land und haben dabei Geschichte geschrieben, und die Geschichte hinaus in die Welt und zurückgeschleppt. Rufenden Mundes sind sie stumm, und wir führen sie heim. Sie kommen aus den felsigen Schluchen zu den Schatten der Ziegelmauern. Unaufhörlich kommen sie.[6]
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http://www.bwl-bote.de/20031227.htm
sowie jüngst das Kapitel Realer Kapitalismus: Kollapsverzögerung in gierdynamischen Systemen in Peter Sloterdijks Zorn und Zeit (Suhrkamp, 2006). ••• Zurück
molosovsky Besitzerin
Warnung: Im Folgendem wird enrom viel über wichtige Handlungswendungen von Perdido Street Station, Die Narbe und Der Eiserne Rat verraten.
EINLEITUNG UND CAVEATS
Ich fühle mich sehr geschmeichelt und bin für die Aufmerksamkeit welche die beiden Johns, Belle, Miriam, Henry und Matthew meinen Sachen gewidmet haben sehr dankbar, wie auch für ihre Einladung reagieren zu können. Wenn die eigenen Sachen von Lesern sehr geschätzt werden, ist das schon etwas Großartiges, wenn zudem auch darüber nachgedacht wird, ist das nur um so ehrender.
Das bringt mich jedoch auch in eine heikle Lage. Normalerweise reagiere ich in der Öffentlichkeit nicht auf Kritiken, egal wie für wie starrköpfig oder scharfsinnig ich sie auch halte. In neun von zehn Fällen finde ich die Reaktion von Autoren auf ihre Kritiker bestenfalls würdelos. Ein Argument, mit dem Autoren dabei alles einzuebnen pflegen, ist diese Narretei des »Ich weiß es besser als ihr, denn ich hab's geschrieben«. Um meinen Standpunkt völig klarzumachen: zum Teufel mit der Intention des Autoren. Ich weiß es nicht notwendigerweise am Besten. Womit ich betonen will, daß diese ungewöhnliche und erfreuliche Gelegenheit unvermeidlich eine ›Erwiderung auf meine Kritiker‹ darstellt, und ich bitte deshalb darum, sie als Verteidigung aufzufassen. Wenn ich im folgenden widerspreche, dann tue ich das im Sinne einer aufgeschlossenen Auseinandersetzung.
Ich habe versucht meinen Beitrag thematisch zu ordnen. Unzählige Fragen wurden in der Diskussion gestellt[1], einigen Belangen würde ich mich gerne ausführlicher widmen[2], und einige Verweise gerne nähern erläutern[3], aber unvermeidlicherweise muß ich mich aus Platzgründen bei all dem einschränken.
Am wichtigsten ist mir aber vor allem, mich bei allen Beiteiligten herzlich zu bedanken.
1. SCHEISS AUF DIE BALROGS[4]
Tolkien ragt auf diese Auseinandersetzung herab (wie er es scheinbar immer tut). Es klingt vielleicht wie eine verschlagene Ausrede, aber ich hoffe, ich komme noch mal soweit, nicht mehr über Tolkien reden zu müssen. John Holbo bietet mir großzügigerweise eine Entschuldigungsklausel an, dernach meine Angriffe gegen J.R.R. aus der Perdido Street Street-Zeit Punk-Pöpelein gegen die Macker waren, und man sich nicht länger mit diesen Äußerungen aufzuhalten braucht. So verführerisch es für auch mich ist zuzustimmen, wäre das dennoch unaufrichtig.
Was nicht bedeuten soll, daß meine Punkposen keinen Biss haben. »Der Pickel auf dem Hintern der Fantasy…«? Heutzutage verziehe ich darüber freilich ein wenig das Gesicht. (Nicht zuletzt, weil mir gesagt wurde, daß Pickel eine Art von Eiterbeule sind, die ausschließlich im Gesicht vorkommen. So etwas wie Pickel auf dem Hintern gibt es gar nicht. Ich Depp![5])
Wie ich in einigen meiner späteren Äußerungen klar zu stellen versuchte, war mein Angriff weniger gegen Tolkien gerichtet, als vielmehr gegen seinen Einfluß. Womit ich mich nicht von einzelnen Kritikpunkten über Tolkiens Werk distanzieren möchte (von denen natürlich keiner auf mich zurückgeht. Die letzten Jahre habe ich dabei auf Michael Moorcocks Essay Epic Pooh[6] zurückgegriffen.)
Was ich aber gegen Tolkien gerichtet getan habe, war, in Perdido Street Station soviele thematische Möbel von Tolikien umzukrempeln, wie ich konnte. Soweit es mich betrifft, war das auch schon alles. Tolkien schaute mir bei Perdido Street Station über die Schulter, aber nicht — zumindest war mir das dann nicht bewußt — bei Die Narbe oder Der Eiserne Rat (obowhl es natürlich naiv von mir wäre mir vorzustellen, daß ich seinem Einfluß irgendwie ›entkommen‹ könnte, oder daß ich kein Nachfahre von ihm bin.)
1.1: Eine widerwille Verteidigung Tolkiens
Der Vergleich von John Holbo ist sehr passend: Tolkien war als Künstler ein Außenseiter. Sein Genie gründet auf seiner neurotischen, unabhängigen, paranoiden Schöpfung einer Sekundärwelt. Dieser Akt einer grundlegend radikalen Stubenhockerei[7], hat das Prinzip der bis dahin bestehenden Fantasy/Phantastik-Zweitschöpfungen auf den Kopf gestellt: anders als Eddisons Merkur[8] und Leibers Newhon[9], ist zuerst Mittelerde entstanden, und dann erst die Geschichten die dort angesiedelt sind. Genau diese Herangehensweise, über die sich der ›Mainstream‹ am meisten aufgeregt hat, ist Tolkiens wahrhaft radikalste und fruchtbarste Seite. Die buchstäbliche Phantastik der Szenerie erschuf eine unmögliche Welt, die sich selbst Glauben schenkt, und die nichts mit dem mühseligen Symbolismus gemein hat, durch die soviel ›Magischer Realismus‹ verdorben wird, wenn sich die Phantastik selbst nicht über den Weg traut, und sich, wie deren Autoren versichern, eigentlich um ›beliebiges-Thema-einfügen‹ dreht.
Tolkiens »Verabscheuung von Herzem«[10] der Allegorie aber bedeutet nicht, wie einige seiner Anhänger, die meisten seiner Gegner, und scheinbar Tolkien selbst glauben, daß es von der Wirklichkeit losgelöste Fiktionen gibt — Fiktionen die von nichts Wirklichem handeln. Damit ist eigentlich eine Phantastik gemeint, die sich nicht reduzieren läßt auf die Art von spießbürgerlicher, simpler, moralisierend-fabulierender Darstellung von sogenannten ›bedeutungsvollen‹ Anliegen, wie es bei Fiktionen vorkommt, die ihre eigene Phantastik verachten und verneien. Von der Allegorie Abstand zu nehmen bedeuted nicht, daß man auf Metaphern verzichtet[11]; Phantastik die an sich selbst glaubt, erzählt von sich selbet, und auch von anderen Dingen.
Deshalb bin ich der Meinung, daß Phantastik grundsätzlich dann am besten ist, wenn sie sich nicht auf einen der Pole beschränken muß, die John Holbo beschreibt: politisch-wirtschaftlichen Expressionismus oder Puppenspieler-Expressionismus. Denn der Realismus der Angelegenheiten und die Fremdartigkeit des Ausdrucks stehen jeweils für sich, aber durch die Metapher, diesen dialektischen Leim, dienen sie bei kritischer Phantastik zugleich auch einander als Mittel. (Wobei es möglich ist, daß mir das in meinen Romanen mißlungen ist.)[12]
Damit will ich die Grobheiten, die ich gegen Tolkiens Themen, Prosa, Frauen, Klassen, Politik, Moral usw. vorgebrach habe nicht verleugnen. Wenn ich die Aufmerksamkeit auf die Art lenke, wie Phantastik zu sich selbst steht, auf die Wirkung, die an sich selbst glaubende Phantastik beim Leser hat, dann will ich damit dafür eintreten, Tolkiens Kind, seine Phänomenologie der Phantastik, zu hegen und zu pflegen, aber das Badewasser dieser Ideen wegzuschütten. Es ist mittelweile ganz schön dreckig.
1.2: Eine Erlaubnis zum Krieg
Was Tolkien und den Krieg betrifft, stimme ich John Holbo zu. Meine Kritik, daß Tolkien einer bubenhaften Abenteurerei anhing, war unangebracht. Ich denke immer noch, daß Tolkiens Schlachten ›moralisch gestört‹ sind, auch wenn es, wie John Holbo schreibt, eine ›anders geartete Störung‹ ist.
Stattdessen nimmt sich der überwiegende Tonfall von Tolkien zum Krieg aus, wie eine Art melancholische Glorifizierung, eine leicht elegische TRAGÖDIE in Großbuchstaben, mit aufblitzenden Schwertern und tapfern Rössern die zur Hilfe herangallopieren, nicht gerade so aufgesetzt wie bei Just William[13], aber doch so pathetisch wie Der Todesritt der Leichten Brigade.[14] Das liegt nicht nicht etwa daran, daß Tolkien den Krieg gar nicht aus eigener Anschauung kannte, sondern erscheint vielmehr wie ein Versuch, den Krieg vergessen zu wollen. Tolkiens Phobie vor der Moderne, wird anhand seiner Beschwörung einer Adeligkeit deutlich, von der er wußte, daß es sie so nicht gibt.
Es ist interessant, Tolkien mit einem anderen großen künstlerischen Außernseiter der Phantastik, Lovecraft, zu vergleichen. Obwohl Lovecraft den Krieg nie erlebte, sah er doch sehr deutlich das soziale Chaos das der Erste Weltkrieg herbeiführte. Der ›Große Krieg‹ war das erschütternste Ereignis für das Selbstbild der Moderne, als einem rationalen, menschlichen System: das Paradox ist nun, daß Tolkien das Gemetzel ersterhand erlebt hat, und versuchte der posttraumatischen Moderne den Rücken zuzuwenden, wohingehen Lovecraft tausende Meilen entfernt vom Zentrum des Schreckens war, aber ein neurotisch genaues Barometer der psychologischen Zerrüttung der Gesellschaft war.
Diese unterschiedlichen Haltungen zeigen sich in ihrer Phantastik. Um es mit unfairer Grobheit auszudrücken, gleicht Tolkiens Phantastik jemanden, der sich selbst zumurmelt: »Es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung«, aber nicht daran glaubt; und Lovecrafts Phantastik ist wie jemand, der »Gar nichts ist in Ordnung, oder wird es jemals sein« ruft. Unüberzeuges Vergessen gegen psychotische Fixierung: beides sind Folgen von Traumatisierungen.
2. DAS POSITIVE HERVORHEBEN
2.1. So geht die Nachbarschaft dahin
Sowohl in Belles wie in John H.s Text wird jeweils dieselbe Frage gestellt: Wo bleiben die schönen Seiten von New Crobuzon?
Damals, als Perdido Street Station erschienen ist, behauptete eine der interessantesten Rezensionen des Buches (von Tom Arden für Interzone[15]) genau das gleiche, und wie immer wenn man weiß, daß eine Kritik recht hat, war das für mich ein quälendes Ärgernis. Wie alle Autoren die sich selbstherrlich gern als ›mutige‹, ›herbe‹, ›raue‹ ect. Realisten sehen, reizen mich bröckelnde Ziegelsteine mehr als neue, interessiere ich mich mehr für das kaputte Durcheinander als für schöne, weiße Marmorsäulen. Ich wußte, daß ich in Perdido Street Station einige Szenen geschrieben hatte, die in den besseren Vierteln spielen, aber wie sich gezeigt hat, war ich wohl nicht wirklich bei der Sache, so wie bei den Szenen in den schlechteren Gegenden.
Das hab ich mir zu Herzen genommen und versucht, es in Der Eiserne Rat besser zu machen. Zwar hatte ich nicht vor, soviel schöne wie niedere Dinge zu beschreiben, aber ich wollte es zumindest nicht ganz so einseitig geraten lassen. Selbstbewußt führte ich die Figuren nach Flag Hill und auf einige andere ruhigere, angenehmere Seitenwege. Ich war stolz darauf, wieder ein gewisses Gleichgewicht hergestellt zu haben.
Offenbar ist mir das nicht gelungen. Mir bleibt nur, einzugestehen versagt zu haben. Zweierlei möchte ich aber zur Verteidigung von Der Eiserne Rat anführen:
Zu der Frage, wie es denn möglich sein kann, daß »irgendeinem Bürger die vielfältigen, wimmelnden Slums entgehen könnten«, würde ich sagen, daß es sich mit den Anwohnern des Eton Squares heute ähnlich verhält. Soweit sie auch zur Kenntnis nehmen mögen, daß nur ein paar Meilen entfernt Grundstücke beschämenderweise verfallen, bleibt ihr Wissen darüber äußesrt einseitig, einbettet in Ausreden und Ausflüchte von Unvermeidlichkeiten und einer Art von philantropischer Unruhe, die typisch ist für den ziemlich abstrakten Charkter ihres Wissens. Und einige würden es in der Tat nicht glauben, so wie viele wohl nicht daran glauben mögen, daß fast 40% der Kinder Londons in Armut leben.[22]
Im Grunde aber geht es bei dieser Angelehenheit natürlich nicht um Architektur, sondern um gesellschaftliche Aufrichtigeit. Die unerbittliche Vorliebe für Elendsquartiere wird genauso als Lüge angesehen, wie die herausgeputzten Türme von Minas Tirith. Heutzutage ist es wohl so, daß eher die Slums und nicht heilige Hallen als Klischee gelten.[23]
Wie auch immer, sind natürlich alle Wahrheiten einseitig, und die Wahrheiten die ich in Der Eiserne Rat abbilden wollte, sind die Wahrheiten der in den Elendsquartieren lebenden Leute. Ich will hoffen, daß die besseren Viertel von New Crobuzon in den Romanen eine Rolle spielen, ständig präsent sind, hauptsächlich durch ihre Abwesenheit. So zumindest werden sie von den Protagonisten wahrgenommen.
2.2. Sadismus gegen Symbolismus
Wenn man eine Hauptfigur tötet, ist man offensichtlich ein ›mutiger‹ Autor ect. ect. Figurenmord wird durch diese Art von fadenscheiniger Mittelschicht-Gravitas gerechtfertigt. Natürlich ist es kein Schwindel, wenn man seine Figuren umbringt, aber man sollte dafür auch nicht gleich automatisch Pluspunkte bekommen.
Klarerweise ist die ärgste Sache, die man mit einer Figur anstellen kann, sie oder ihn über den Jordan zu schicken, doch mit nebulösen Strukturen kann daraus leicht auch etwas Angenehmen machen. (Was daran, wenn überhaupt, verkehrt sei, ist eine bedeutende Frage, und für viele hier angesprochenen Dinge entsprechend grundlegend. Für den Augenblick möchte ich betonen, daß alle meine Texte dazu neigen, skeptisch gegenüber Trost und Komfort zu sein.)
Genau deshalb bin ich auch nicht überrascht, daß Belle Lins Schicksal in Perdido Street Station ablehnt. Genau das: »kein Grund« rechfertigt, was Lin zustößt. »Wenn Lin gestorben wäre«, ist das wie Belle schreibt, »noch in Ordnung.«. Wenn sie getötet worden wäre, gäb's keine Probleme. Darüber hinaus würde es uns eines der abgedroschensten Themen der romantischen Kunst bescheren: Die ›Wunderschöne Tote Weibliche Geliebte‹. Ich wollte keine Euridyke aus Lin machen, weshalb ihr ohne Grund etwas schlichtweg Widerliches zustoßen mußte. Ich bleibe dabei, daß es ein respektvoller Umgang mit Lin als Figur ist, ihr etwas widerfahren zu lassen, was sich vehement gegen jede Ästhetisierung streubt, statt sie der Logik eines Mythos, Symbols oder Genres zu unterwerfen. (Besonders wenn (Orphelia im Wasser, und vor sich hinhustende schwindsüchtige Schönheiten) diese Logik zutiefst durch frauenfeindliche Abscheu geprägt und srukturiert wird. Hmmm … Vergewaltigung und Bewußtseinszerstörung einer weiblichen Figur, als Schwertstreich gegen die Strukturen von Geschlechts-Essentialismus? Nun ja, genau das soll es nun mal sein.)
Die Schwieirgkeit bei dieser Strategie ist natürlich, daß man auf einem schmalen Grat wandelt. Treibt man es zu weit und die Müh war vergebens. Ästhetischer Sadismus, daran besteht kein Zweifel, genießt ein billiges und zweifelhaftes Renommee. Er ist die Lüge, mit der die nervtötenden Übertretungen von viel ›mutiger‹, ›grenzüberschreitender‹ und ›Underground‹-Literatur begründet werden. Bin ich selbst zu weit gegangen? Ich hoffe nicht. Ich weiß nicht, wie ich sonst hätte vermeiden können, daß Lin vom unersättlich Schlund der ›Bedeutungsvollen Tragödie‹ verschlungen worden wäre, außer, indem ich sie derart durch die Mangel drehe. Eben diesen Sadismus wollte ich vermeiden, indem ich Lin verschwinden ließ, während die Scheußlichkeiten begangen werden. Vielleicht hat das nicht funktioniert. Aber das war zumindest meine Idee.
Es ist auch möglch, daß die aufzehrenden, unerfreulichen und angestrebterweise bedeutungslosen, amoralischen Prüfungen von denen meine Figuren geplagt werden, eine Überkompensierung sind, ein immer wieder unternommener und immer schon scheiternder Versuch mit der Tatsache fertig zu werden, daß die Darstellung des ›wirklichen Lebens‹ ohne Abstraktion, Fetischisierung und Moralisierung unmöglich ist. Die Möglichkeiten der fiktions-eigenen Kritik des Fabulierens und Moralisierens sind letztendlich und an sich begrenzt. John Holbo schreibt: »Das echte Leben folgt gewöhnlicherweise nicht den üblichen dramatischen Dreiecks-Strukturen wie sie Gustav Freitag beschrieben hat.« Das ist völlig richtig. Es ist nun mal wahr, daß man seine Figuren, indem man überhaupt eine Geschichte schreibt, den Regeln einer Narration unterwirft, womit eine Unterstellung von Bedeutung einhergeht, was natürlich eine Form des Trostes ist. Lins Schicksal, obwohl ich immer noch dazu stehe, läßt sich vielleicht so begreifen, daß ich diesem Problem ins Gesicht sehe und dabei zuviel protestiere.
2.3. Verknäulte Netzte
Ja, ich wollte eine Komplikation andeuten, wollte die Wirklichkeit des Romans den mythischen Strukturen entwinden, sogar von den Mythen an denen sich Leute orientieren, wenn sie ihre Entscheidungen treffen, die sie dann wieder als Mythen wahrnehmen. Ein Weg um solche ›üblich heldischen, manchmal tragischen, immer abstrahierten und fetischisierten‹ Narrationen aus dem Gleichgewicht zu bringen, besteht genau darin, das Wirrwar der anstößigen, eigentlichen Motive oder waltenden Kräfte zu entschleiern. Und dennoch hoffe ich, daß sich das nicht auf eine ›schäbige Wahrheit‹ reduzieren läßt. Denn die Handlung und die Taten haben, trotz solcher ausgleichenden Bestrebungen beim Schreiben, ihre eigene Dynamik.
Das legt Henry meiner Ansicht nach sehr schön dar. Es ist nun mal so, daß trotz Weather Wrightby der Eiserne Rat etwas Außergewöhnliches und Inspirierendes erreicht: durch seinen handfestem Erfolg verfinstert der Eiserne Rat die niederen Dynamiken, die ihn als Abstraktion geformt haben.
Die Offenlegung der ›Wahrheit‹ läßt die Errungenschaft unter neuen Gesichtspunkten erscheinen, zerstört sie aber nicht: Taten entwickeln eine Eigendynamik. Die Nachricht von Wrightbys Eingriffen wirft den Eisernen Rat nicht aus dem Gleis. Die Figur die das annimmt, Cutter, geht genau mit Belle Warings Anliegen zu Ann-Hari: es ist nicht echt, wir haben nicht wirklich etwas erreicht, oder nicht für die Gründe, die wir anstrebten. Und Ann-Hari erwidert unterm Strich in etwa ›aber wir haben es vollbracht, und taten es wegen unserer Gründe, was immer Du auch sagst, was wahr oder falsch sein mag‹.[24]
3. DUNKLE HERRSCHER UND FARBE BEKENNEN
Matthew hegt seine ursprüngliche Ansicht, daß die ›Übeltäter‹ in New Crobuzon — ganz besonders die Regierung — als durch und durch böse dargestellt werden.
Es stimmt, daß ich das einseitige moralische Schema des Romans erreichen wollte, indem ich die Narration bei den Rebellen verankerte, und die hassen die einzelnen Mitglieder der Regierung. Die Untaten der Bürgermeisterin sind bekannt und werden aufgezählt, doch auf gewisse Weise bleiben sie nur abstrakte Vorstellungen, und so kann sich Ori, als er der Bürgermeisterin von Angesicht zu Angesicht begegnet und ein wenig Mitleid für sie empfindet, nicht vorstellen, daß sie für diese Dinge verantwortlich ist.[25]
Tatsächlich gab es in der ersten Fassung von Der Eiserne Rat einen ›sympathischen‹ Militiasoldaten. Doch diese ›Balance‹, die dieser vorsichte Eingriff bewirkte, machte einen erzwungen Eindruck, wirkte wie ein ziemlich abgedroschener Verweis auf morliasche Komplexität, wie man sie normalerweise von einem Roman der irgendwie ›durchdacht‹, oder wenigstens nicht ›allzu vereinfachend‹ ist, zumindest vage erwartet.
Aber die Sicht des Romans wird bestimmt durch seine Protagonisten, die mit Konflikten bombardiert werden, und die nicht notwendigerwesie auf simple, sondern durch und durch feindliche Weise auf ihre Gegner reagieren. So wie auch nur wenige Bolschewisten 1917, oder Anhänger von Allende 1973 sich ständig daran erinnerten, daß einige Zaristen oder Gefolgsleute von Pinochet womöglich gute Menschen sind, denken auch Ori und die Dirimisten vom Eisernen Rat nicht an die vielleicht ehrenhaften Beweggründe ihrer Unterdrücker. Ein Roman der sich vorgenommen hat, revolutionäre Inbrunst darzustellen, ist nicht verpflichtet die Intensität die er erreichen kann, mit Erinnerungen daran, daß es auch andere Standpunkte gibt, zu brechen. (Natürlich zeigt der aufgetürmte Haufen meiner politischen Beispiele, daß Der Eiserne Rat Inbrunst nicht nur darstellt: der Roman bezieht für seine Seite Stellung.)
Die Zielstrebigkeit der Rebellen muß nicht bedeuten, daß sie die vielschichtige Komplexität der Motive ihrer Gegner überhaupt gar nicht berücksichtigen, und die Revolutionäre (weder im Roman noch im wirklichen Leben) sind deshalb nicht gleich naiv und gedankenlos: die sture Zielstrebigkeit ist eine Begleiterscheinung der Tatsache, daß die Rebellen von Feinden konfrontiert werden.
Mit Weather Wrightby wollte ich einen glaubhaften, eindrucksvollen Charakter bieten, der eben genau aus denkbar entgegengesetzten Motiven als die Protagonisten handelt, und den man dennoch ernst nehmen muß, und der nicht einfach nur als ›böse‹ dargestellt wird. Ich denke nicht, daß irgendeiner der Übeltäter ›volkommen abscheulich‹ ist, obwohl die Protagonisten das zweifelsohne gern so sehen wollen. Im Augenblick ihres Todes, ist selbst die Bürgermeisterin eine Person, keine zähnefletschende Banshee des kapitalistischen Hasses. Ja, Wrightby ist vornehmlich der Feind, aber er ist auch ein Visionär.
4. FLUCHT ZUM SIEG
Viele Male schon wurde die Grundsatzdebatte über Eskapismus aufgeführt, mit der Aufstellung Moorcock gegen Tolkien, wobei ich mich als würdeloser, Pompons schenkender Cheerleader gebärded habe (Gebt mir ein M!) Die Behauptung, daß Fantasy eskapistisch ist, wurde interessanterweise sowohl von Gegenern wie auch von Befürwortern des Genres ins Feld geführt.
Weil Eskapstik, wie ihre Gegner sagen, dem was wirklich wichtig ist den Rücken zuwendet, verfehlt sie es uns überhaupt etwas mitzuteilen. Das Gegenargument dazu lautet, daß die Phantastik sich selbst zwar als eakapistisch auffassen mag, aber weil sie eben nicht wirklich irgendetwas zu entkommen vermag, ist die Meinung, daß Phantasik gar nichts über die ›Wirklichkeit‹ mitzuteilen weiß, eine wilde Vereinfachung.
Die Verteidiger der Phantastik wiederum behaupten, das der Eskapismus indem er sich abwendet, an sich eine Zurückweisung einer unhinnehmbaren Wirklichkeit ist. Dieser Standpunkt kommt am klarsten in Tolkiens Behauptung zum Ausdruck, daß ›Gefängsniswärter Eskapismus nicht mögen‹.[26] Neben anderen hat M. John Harrison diese sogenannte ›Flucht‹ der Phantastik als Selbsttäuschung entblößt, und Tolkiens bon mot wurde gänzlich zertrümmert durch Moorcocks vernichtende Replik, daß Gefängniswärter Eskapismus sogar lieben, was sie aber hassen, ist die Flucht.
Ich glaube, daß diese Auseinandersetzung gelähmt wird durch ein Mißverständnis darüber, was genau denn Eskapismus in der Literatur sein soll. So meint zum Beispiel John Holbo in seiner atemberaubenden Erläuterung über Bruno Schulz:
Ich bezweifle, ob die Schlußfolgerung richtig ist, daß nur offenkundige gesellschaftliche und politische Herausforderungen nicht-eskapistisch sind. Peake liest sich in meinen Augen zum Beispiel wie eine Auseinandersetzung über toten Ritualismus gegen dynamischen Wandel, über Loylität für ein System gegen die Moral selbstdienlicher handfester Taten, und diese Fragen standen im England der Nachkriegszeit gesellschaftlich auf der Tagesordnung. Das soll nicht heißen, daß Peakes Bücher sich im engeren Sinne ›um‹ diese Angelegenheiten kümmern, oder gar ›für‹ sie eintreten: ich will damit nur klarstellen, daß ich nicht glaube, daß seine Bücher eskapistisch sind und daran scheitern, sich auf die Wirklichkeit einzulassen.
Die erstaunlichen Ausführungen von Schulz über die Zeit, über die ›Nebengleise‹ der Historie, über die Sackgassen der Geschichte in denen vielleicht hermetische Blasen einer Alternative wachsen, seine Gedanken über die Verlockungen des Billigen und Nächstbesten lassen deutlich ›wirkliche‹ gesellschaftliche und psychologische Bezüge erkennen. Ich bezweifle, daß John Holbo das in Frage stellen würde. Schulz ist insofern ›eskapistisch‹, als er die Befreiung der Phantasie fordert und die Vorstellungskraft gegen die Beschränkungen der dumpfen Wirklichkeit verteidigt. Das Bemerkenswerte aber ist, daß Schulz aus dieser Auseinandersetzung eine Fiktion über Eskapsimus macht, den Eskapsimus — und die Flucht — einem Verhör unterzeiht. Schulz ist weniger ein Eskapist, als vielmehr ein Meta-Eskapist.
Es ist nicht einfach nur eine Wortspielerei: die anderen Möglichkeiten, die eintönigsten Phantasien scheinen von sich selbst zu glauben, daß sie entkommen. Das ist nicht nur unreifer als Schulz, es ist zudem selbsverleugnend. Anders als bei solchen Werken, gründet der Eskapismus bei Schulz auf einer umfassenden Aufmerksamkeit für den Umstand, daß es eine Wirklichkeit gibt, gegen die man fortwährend eine Fluchtgeschwindigkeit aufrecherhalten muß.
Diejenigen von uns, die ›Nicht-Eskapismus‹ als Tugend der Fiktionen verteidigen wollen, müßen die Fantasy/Phantastik von der vereinfachenden Idee abbringen, daß nur solche Dinge nicht-eskapistisch sind, die offen und ausdrücklich eine Herausforderung für den Status Quo darstellen.
Damit hängt auch die Frage nach der Subjektivität zusammen. Wenn irgendwelche Radikalen schamesrot zugeben, eine Vorliebe für gewisse ›eskapistische‹ Bücher zu hegen (aus irgendeinem Grund beichtet man mir das regelmäßig), dann meinen sie damit oft Bücher, die ihnen ›Vegnügen bereitet‹ haben. Bei der Unterscheidung von ›eskapistisch‹ und ›vergnüglich‹ herrscht eine schreckliche und weitverbreitete Verwirrung.
Nur weil etwas ein ›Happy End‹ hat, würde ich es nicht als eskapistisch verurteilen wollen, oder, Gott bewahre, weil etwas Vergnügen bereitet, aber durchaus, wenn ein Werk sein Gespühr für die komplexe, niederdrückende Gesammtheit des Lebens verliehrt. »Kunst, der das Gespühr für die gesellschaftlichen Lügen abhanden kommt«, wie Trotski sagte, »wird unvermeidlich durch die eigene Affektiertheit vereitelt, verkommt zum Manierismus.«[27] Manierismus und Eskapismus. Selbstverständlich läßt sich sowas genauso oft über ›realistische‹ Fiktionen sagen, wie über phantastische (vieles von dem was Ian Banks ›Hamstead Romane‹ nennt[28], beruht auf dem hermetischen Versiegeln eines bestimmten Mittelschicht-Milieus, das dann zum moralisch bedeutungsvollen Universum erklärt wird), und ist fast genauso oft auch eine treffende Bescheibung der meisten ›harten‹ und ›experimentellen‹ Fiktionen, wie auch des ›Mainsteams‹. (Es fällt zum Beispiel nicht leicht, sich eine noch manieriertere Prosa als die der späten Beat-Epoche vorzustellen[29].)
5. PULP, SUBVERSION UND KONVENTION
John Holbo, Matthew und Belle liegen völlig richtig wenn sie behaupten, daß ich auf entscheidende Weise ein ›konventioneller Genre-Geschichtenerzähler‹ bin. Matthew legt dar, daß ich innerhalb einiger verschiedener Groschenhefttraditionen schreibe, und fragt sich, wie ich dabei diese Traditionen »untergraben kann ohne sie zu zerstören«. Wie Belle es beschreibt, bin ich »äußerst willens, mich aller anderen Fantasykonventionen anzunehmen«, abgesehen von Happy Endings.
Der Umstand, daß ich verschiedenen Groschenheft- und Genreeigenheiten ziemlich treu ergeben bin, muß nicht bedeuten, daß meine Kritik über diese Traditionen zahnlos ist. So kann ich beispielsweise gegen Tröstung und abstrakte Moral anpöblen, während ich Cliffhanger und Ballereien beibehalte. Die Frage ist, warum man etwas so oder so macht. Um es banal zu sagen, finde ich zum Beispiel diese Tradition des spannenden Geschichtenerzählens, bei der man das Buch nicht aus der Hand legen kann, eben aufregend und interessant.
Ein Weg um auf dem Gebiet der Pulp- und Genreliteratur nach Glaubwürdigkeit zu streben liegt darin, das Publikum durch Zunicken und Andeutungen wissen zu lassen, daß man selbst viel zu reif ist, um nicht zu wissen, was man mit diesen populären Zeug anstellt. Im schlimmsten Fall wird daraus ein nervtötendes Nicken in Richtung Publikum: Ich habe das die Postmoderne der Philister genannt.[30]
Womöglich kann sich selbst-gewahre Genreliteratur etwas mehr Glaubwürdigkeit bewahren, als unreflektierte Genrewerke. Das zu erwähnen mag überflüssig scheinen, aber es läßt eine kritische und bedachte Art des Lesens erkennen, und deshalb sollte man das nicht unter den Teppich kehren.
Die frohgemuten Parodien auf die D&D-artigen Aspekte, die sich in meinen Romanen finden lassen, sind stimmig und witzig. Diese Art der Selbstreflektion von Klisches hatte ich im Sinn, als ich in Perdido Street Station ein paar Figuren so umschrieben habe: »Abenteurer, immer auf der Suche nach aufregenden Gefahren … skurpellose Grabräuber … tun alles für Gold oder Erfahrung.«[31] Genau so einen Eindruck machen nämlich die Spielerfiguren wohl auf die anderen Einwohner von Greyhawk[32], oder zumindest sollten sie das, wenn diese oder andere derartige Welten gesellschaftlich sinnvoll erscheinen sollen. Wenn Du den Spott verstehst, dann warst Du sein Ziel. De te fabula narratur — das ist nicht der eleganteste literarische Schachzug, aber einer, der es mir gestattete meinen Narretei-Kuchen[33] zu behalten und zu essen.
In ähnlicher Weise wurde, als ich vor Jahren festgelegt habe, daß Der Eiserne Rat ein Western sein sollte, beschlossen, daß zu irgendeinem Punkt in der Geschichte die ›Kavallerie Zur Retteung Eilen‹ würde. Indem ich ›»Ja ich weiß, was für ein schrilles Klische das« sage, versuche ich mich gegen Vorwürfe zu impfen, die mich der Groschenheft- oder Trivialliterur-Schreiberei bezichtigen. Bis zu einem gewissen Grad funktioniert das auch.
Begrenzt wird dieses Manöver bezeichnenderweise dadurch, wie Matthew beschreibt, daß »das Publikum, das Macht-sie-platt-Aktion mag, von dem nichtlinearen Plot, der beschwörerischen Prosa, die Existenzangst frustriert {wird}; und gleichzeitig jene Leser, die die Entwicklung von Miévilles schriftstellerischen Fähigkeiten spannend finden — er hat nun sein Talent scheinbar vollkommen im Griff — sich wundern, warum sie sich durch einen weiteren Kampf der Titanen robben müssen«. Diese Aufgabelung nahm in den äußerst gegensätzlichen Reaktionen zu Der Eiserne Rat deutlich Gestalt an. Für jeden Rezensenten, der den Anamnesis-Teil für das beste hält, was ich bisher geschrieben habe, gibt es einen Leser für den dieser Abschnitt den Roman ruiniert hat. Für jeden, der den Anfang mag, weil da so viel los ist, gibt es einen anderen, der den Anfang ungelenk und flach findet. (Um es vereinfacht zu umreißen, haben Rezensenten von Magazinen und professionellen Websites das Buch eher gut aufgenommen, wohingegen die Fans um einiges skeptischer reagierten.)
Unterm Strich: ich schreib selbstverständlich erstmal die Bücher, die ich selbst gerne lesen würde. Die Kavalerie kommt deshalb rettend herbeigeritten, teilweise um zu zeigen, daß ich mir über Genre-Klisches im Klaren bin, aber auch, weil ich der Kavallerie halt gern zuschaue, wenn sie den Tag rettet. Ich mag halluzinatorische Prosa, avantgardistische Stilistik, Nichtlinearität und Existenzangst[34], und ich mag Monster und Ballereien und handfesten Pulp. John Holbos Andeutung, daß ich doch versuchen sollte »weniger augenfällig kommerzielle Fiktion zu schreiben und den Lesern mehr vertrauen, daß sie die privaten Überlegungen des Autoren verstehen, die ihn zu seiner Vorgehensweise veranlasst haben« ist verführerisch, aber das ›Kommerzielle‹ (sprich: das Geschichtenerzählen) ist für mich keine Zumutung, sondern ein Verlangen.
Ich muß gestehen, daß diese Kommentare mich erst einmal innehalten ließen. Mein Problem (?) ist, daß ich große Kampfszenen mag, und ich es auch mag sie zu schreiben (auch wenn das wahrscheinlich genauso eine Pest wie ein Vergnügen ist). Auch John Holbo fragt ja sinngemäß, »in welchem Ausmaß verschiedene ästhetische Werte sich gegenseitig in einem Werk beeinträchtigen?«
Ich wünsche, ich könnte diese Frage beantworten. Es erscheint mir zumindest durchaus möglich zu sein, daß diese Tugenden sich gegenseitig »zersetzen« (um Johns exzellente Metapher aufzugreifen). Es gibt mehrere Werte — das avantgardistische Feingefühl, die realistische Schilderung von gesellschaftlichen Strukturen, ein reißerisches Garn zu spinnen — und es ist unklar, bis zu welchem Maß diese Werte in einem Text miteinander fruchtbar auskommen.[35]
Verständlicherweise drängt mich John Holbo was diesen Punkt betrifft, und es tut mir leid, daß ich ihn da nur enttäuschen kann. Ich weiß schlicht nicht, ob ich diesen Kuchen zugleich essen und behalten kann: kritisch die politische Ökonomie darzustellen, und gleichzeitig Geballer aufführen und sich Leute vom Abgrundrand in ein magisches Getümmel stürzten lassen. Das beste was ich anbieten kann, ist ein Gedanke. Selbst wenn diese verschiedenen Werte grundsätzlich erstmal zum gegenseitigen Schaden wirken, und der Versuch sie zu vereinen immer zum Scheitern verurteilt ist, so kann dieser Weg sich dem Erfolg vielleicht asymtotisch annähern. Nochmal versuchen, wieder scheitern, besser scheitern. Diese Spannung, dieser Prozess des immer besseren Scheiterns — das Mißlingen selbst, wenn es die beste Form des Fehlschlags ist — bringt womöglich Ergebnisse hervor, die ›erfolgreicher‹ sind, als es z.B. ästhetisch redliche Werke sein könnten.[35]
6. MYTHOS, GEDENKEN UND REVOLUTION
Henry hat recht wenn er Der Eiserne Rat als einen Roman beschreibt, in dem eine Auseinandersetzung über ›Revolution, Mythos und Geschichte‹ stattfindet. Seine Analyse der Unvereinbarkeit der Absichten von Individuen, Politik und Mythos entspricht erstaunlich genau meinem Vorhaben (auch wenn ich auf Benjamins Aufsatz, obwohl er zu meinen Lieblingstexte zählt, nicht absichtlich zurückgegriffen habe). Während ich die radikale Bewegung des Eisernen Rates auf Bas-Lag mit Warzen und allem drum und dran beschreiben wollte, endet der Eiserne Rat als Mythos, als Inspiration.
Alle drei Bas-Lag-Bücher, vor allem Perdido Street Station und Der Eiserne Rat, türmen sich am Ende zu etwas auf, das ganz absichtlich als unlösbares Dilemma entworfen wurde. Im ersten Fall gibt es für Isaac keine wirklich korrekte Art, auf die Neuigkeiten über Yaghareks Verbrechen zu reagieren. Bei letzterm Fall ist die Pointe, wie Henry so schön schreibt, daß »das Heraussprengen des Eisernen Rates aus der Geschichte funktioniert«. Henrys Sicht — seine Konzentration darauf, daß der Eiserne Rat als Mythos, zumindest was die Motivationen der Dirimisten betrifft, eine Lüge ist — unterscheidet sich nicht wirklich von meiner, nur daß sie die melancholische Seite stärker betont. Es gab keine ›korrekte‹ Route: hätte der Eiserne Rat New Crobuzon erreicht, hätte man ihn zerschmettert. Dennoch, daß der Eiserne Rat daran gehindert wurde, stellt einen Verrat durch Judah dar, gegenüber den Dirimisten selbst, deren Entscheidungen ignoriert wurden. Judahs Tod ist nicht der messianische Augenblick, als den er ihn selbst wohl versteht: »{er} stirbt wegen seiner anmaßenden Einbildung, daß er ünerhaupt derjenige sei, der für Erlösung und Heil zuständig ist.«, wie es Miriam in ihrem weitsichtigen Essay beschreibt.
John Quiggin deutet einen Aspekt des Schicksals vom Eisernen Rat aus, seine Umwandlung zum ›König Unter Dem Berg‹, zu einem Prager Golem, wartend, gleich einem Versprechen das ›in der Zeit der größten Not‹ erfüllt wird. Aber John betrachtet das als eine »Metapher über unsere Zeit«, trotzdem »die Kämpfe zwichen Arbeitern und Bossen als zahmes Unentschieden im Sande verlaufen {sind}, und die scharfen Kannten mithilfe von wirtschaftlichem Wachstum und Sozialdemokratie geglättet {wurden}.«
Ich stimme der politischen Analsyse nicht zu, die den Eisernen Rat als Metapher einer Art Nostalgie von der ›wirklichen‹ Klassenpolitik versteht. Tatsächlich ist es so, daß sich die Gangart der Politik in der gegenwärtigen Ära des ›Antikapitalismus‹ (oder auch der ›Anti-Gloablisierungs Bewegungen‹ oder wie man das auch nennen mag) beschleunigt, daß die Klassengegensätze verschärfen sich, wenn auch nicht mit soviel industrieller Militanz wie in den Siebzigerjahren. (An anderer Stelle habe ich sogar darüber spekuliert, daß ein Großteil der Vitalität heutiger Phantastik eine vermittelte Reaktion auf diese neue Politik ist.)
Natürlich sehe ich ein, daß John und ich uns nicht einig werden müssen, und darüber weiter diskutieren können. Wie dem auch sei, wurde Der Eiserne Rat unmittelbar durch meine Herangehensweise an diese Problematik geformt. So zeigt der Roman einerseits ein Aufeinanderprallen der Rechte von Judah und den Dirimisten — es war sowohl korrekt aber auch unverzeihlich, was Judah den Dirimisten antat — und der Schluß bringt andererseits das unlösbare Dilemma zum Ausdruck, dem sich ein linker Romanautor stellen muß (oder dem sich zumindest dieser linke Romanautor stellt).
Für einen Sozialisten gehört der Einbruch des grundlegenden gesellschaftlichen Wandels — die Revolution — notwendigerweise zu seinem Horizont, ist Teil seiner gesellschaftlichen Vorstellungen. Viele Romanautoren haben die Revolution dargestellt. Das Paradox besteht nun darin, daß für einen, von den Möglichkeiten und der Notwendigkeit der Revolution überzeugten Romanautoren, die Revolution sowohl etwas sehr viel wichtigeres ist, als für seine/ihre unüberzeugten Kollegen, und, anders als für diese Kollegen, etwas entsprechend Undarstellbares.
Wenn die Revolution unerfolgreich dargestellt wird, kann die Fiktion sich schnell, wenn auch nicht zwangsläufig, dazu entwickeln, einzutrichtern, daß Revolutionen von niemanden gewonnen werden können, sondern edle aber zum Untergang verdammte, durch und durch tragische Unternehmungen sind. Die Weihe der gescheiterten Revolution, des gescheiterten Revolutionärs ist eine klassische Strategie des Liberalismus, um die Revolution zu kastrieren.
Auf der anderen Seite löst die Darstellung der erfolgreichen Revolution keine Probleme. In dem Fall kann dann der Versuch dem Marx'schen ›Karneval der Unterdrückten‹[37] Gestalt zu geben — eingeschränkt durch die Worte und Zusammenhänge einer Gesellschaft, die sich durch ihren Mangel an revolutionärer Aktivität auszeichnet —, schnell mal zu stalinistischem Agitprob verkommen. Selbst wenn einem Werk gelingt das darzustellen, bleibt das Problem bestehen, die nachrevolutionäre Gesellschaft zu beschreiben.
Auch wenn diesbezügliche Gedankenexperimente von unschätzbarem Wert sein können — wie Michael Alberts Parecon[38] — bleibt eine nachrevolutionöre Gesellschaft doch unvorstellbar, wenn man das Ausmaß an sozialem und psychischem Aufruhr ernst nimmt: wenn man nicht in nachrevolutionären Zeiten geboren wurde, muß schon selbst eine Revolutionszeit erleben, um sich das umfassend vorstellen zu können. Eine Revolution darzustellen bedeutet sie zu verkleinern.
Es gibt eine dritte Darstellungsweise, in der die Revolution zugleich zu scheitern und erfolgt zu haben scheint. Das ist das reaktionärste aller Muster, demnach die Revolution von statten geht und gewinnt und sich aber insgesamt nichts verändert. Entweder frisst, wie das garstige Klischee sagt, die Revolution ihre Kinder, oder diese Kinder schließen ihren Frieden mit der Macht. Vorbildlich für diesen Ansatz ist Ian R. MacLeods beeindruckender Roman Aether,[39] wenn auch beunruhigend für einen Sozialisten.
Revolutionen sind für einen Sozi also etwas unvergleichlich Wichtigeres und schwerer zu Beschreibendes, als für einen Nichtsozialisten. Es ist keine Szenerie, sondern ein Moment der selbst bei den alltäglichsten Banalitäten gegenwärtig ist, von Momenten gesellschaftlicher Anspannung ganz zu schweigen. Je weiter sich ein sozialistischer Romanautor der Revolution annähert, desto unmöglicher wird die Aufgabe sie darzustellen.[40]
Die Phantastik aber widmet sich nun mal ganz besonders dem Unmögichem.
Einige haben das Ende von Der Eiserne Rat als Elegie gelesen, als Errichtung einer Art Denkmal auf die Revolution. Tatsächlich war meine Absicht, die Revolution in den Roman einzubetten, sie als etwas fortwährend Immanentes darzustellen, mittels einer der Unmöglichkeiten, einer buchstäblich aufgefassten Metapher, die aber ihre Wortwörtlichkeit nicht ihrer Metaphorik unterordnet. Dafür eignet sich Phantastik unübertroffen gut.
Das Ende ist erstmal eine Darstellung der Revolution selbst, war aber gedacht als Rechtfertigung der, und Homage auf die Phantastik. Ich tat das in der Hoffnung, daß das Genre es zuläßt nicht nur das wissenschaftlich Unmögliche darzustellen (Monster und Magie), sondern auch das politisch-ästhetisch Unmögliche (eine Revolution beschreiben ohne sie zu verkleinern).
Wie bei allem was ich schreibe (Pulpschmierer der ich bin), sollte es keine Rolle spielen, ob man sich für die politischen Themen interssiert oder nicht, denn die Schießereien, Monster und Remade sollten einen auch so bei Laune halten. Allerdings sollte Der Eiserne Rat für jene, die sich um politische Themen sorgen, wieder etwas anderes sein. Die Phantastik und der Sozialismus sind meine beiden großen Leidenschaften. Und ich hatte schon immer ein unbestimmtes Gefühl, daß diese beiden Dinge miteinander zusammenhängen, zumindest für mich. Vor allem stellt Der Eiserne Rat den Versuch dar, die einzigartigen Kräfte der Phantastik so zu arrangieren, um einem revolutionärem Sozialistem zu ermöglichen, schreibend eine Revolution zu betreiben.
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- »…ich vermute … der Name {der Flex'ibilis} ist eine Homage an den Märtyrer Benjamin Flex, oder?« — Richtig.
- »Also: Tolkiens Pickelhintern nimmt sich verglichen mit Miévilles ›New Weird‹ aus wie New Crobuzons traditionelles Puppentheater verglichen mit der subversiven Schau der Flex'ibilis. (Liege ich richtig, China?)« — Absolut. Die modernistische Aufführung der Flex'ibilis ist auch eine Homage für Alfred Jarrys (1873-1907) Ubu-Stücke, die ebenfalls mit einer durch einen Konsonanten getarnten Obszönität beginnen (auf Englisch ›pshit‹, ›merdre‹ im Französischen Original {Molo: ›Schoiße‹ in der Deutschen Fassung}).
- »Weather Wrightby (ob's recht sein wird?)« — Richtig, aber das war ein glücklicher Zufall. Wrightby ist eine Homage auf Wright Wetherby, den Eisenbahn-Visionär aus dem Roman The Road von John Ehle (1925).
••• Zurück† {Molo}›MacGuffin‹: Von Alfred Hitchcock geprägter Begriff für Figuren oder Dinge, welche die Handlung auslösen oder vorantreiben, ohne selbst groß wichtig zu sein oder erklärt zu werden.
†† {Molo} Frank Spearman (1859-1937): Hauptberuflicher Bankdirektor, amerikanischer Autor von Westerngeschichten, sowie Erzählungen und Sachbüchern über die Eisenbahn. Miéville bezieht sich wohl insbesondere auf Spearmans Roman Whispering Smith, der auch mit Alan Ladd von Leslie Fenton 1948 verfilmt wurde (dt. Todesverächter). ••• Zurück
http://www.revolutionsf.com/article.html?id=953
••• Zurück
Der Herr der Ringe, S. 12 (übers. von Wolfgang Krege, einbändige Ausgabe bei Klett Cotta 2000). ••• Zurück
http://www.michaelrosen.co.uk
••• Zurück
http://news.bbc.co.uk/1/hi/england/london/4018537.stm
••• Zurück
Englisch: http://pubs.socialistreviewindex.org.uk/sr259/mieville.htm
Deutsch: http://www.bas-lag.com/bas_lag_artikel1.html
••• Zurück
http://de.wikipedia.org/wiki/Greyhawk
••• Zurück
annehmen ließ, daß ich der ideale Leser dafür bin. ••• Zurück
Im Netz nachlesbar unter:
http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm
Eine erste Übersicht zum Komödie- und Karneval-Begriff bietet ein PDF der Germanistin Rösch von der Universität Regensburg. ••• Zurück
http://www.parecon.de/
Auf Englisch umsonst im Netz unter:
http://www.zmag.org/books/pareconv/parefinal.htm
••• Zurück
Ich denke, genauso ist es, und es gibt eine enge Beziehung zwischen der Revolution und der knapp-außer-Reichweite-Phantastik von Harrison. Darüber könnte man natürlich einen eigenen Aufsatz schreiben, und ich habe das Thema in meiner Einleitung für Harrisons Kurzgeschichtenband Things That Never Happen gestreift. Ich denke, daß der Moment des Phantastischen den Henry so richtig benennt, MJHs einzigartige kritisch-phantastische Anpassung einer Aufassung ist, die in der ekstatischen und kritischen Kunst und Religion schon seit Jahrhunderten anzutreffen ist. MJH nimmt vom Gnostizismus den Begriff des Pleroma für das Reich der Fülle, und das gnostische Konzept des in den Alltag eingebetteten Göttlichem, zu dem sich Parallelen in den Visionen von Juliana von Norwich, William Blake, Hildegard von Bingen, Francis Thompson, Gerard Manley Hopkins, Israel ben Elieser, Dschalal ad-Din ar-Rumi und hunderter anderer finden lassen. Die Unterschiede bei all diesen Autoren und Autorinnen sind natürlich äußerst bedeutend. Aber ihnen allen ist ein gewisser Sinn für eine unmittelbare Beziehung zu der Gottheit gemeinsam. Es ist keine Überraschung, daß religiöse Bewegungen mit solchen Vorstellungen, vom Chassdismus in seinen ersten Jahren, zu den Levellers, den Lollarden, gnostischen Sekten wie den Circumcellionisten, Radikale waren, die oftmals in Momenten der Unterdrückung auftraten, und als eine Bedrohung der Macht angesehen wurden. Was all diese Gruppen miteinander teilen, ist, daß sie in einem unmittelbar utopischen Augenblick leben. Dieser bessere Ort — religiös als das Göttliche wahrgenommen — umfängt sie überall, ist in den Alltag eingebettet, und dieses Konzept betrachtet diejenigen, die gerade an der Macht sind mit einem radikal-skeptischem Blick, um zwischen uns und der Welt zu vermitteln. Das Göttliche ist in seiner majestätischen und völligen Andersartigkeit grundsätzlich undarstellbar, weshalb man sich auch so sehr auf die ekstatischen Rituale besinnt, diese synästhetischen Versuche das Uneinbeziehbare einzubeziehen, oder wie Hopkins mit seiner erstaunlichen freude- und gewaltvollen Neuanordnung der Sprache vorführt, um etwas Neues zu schaffen. Entscheident ist folgende Übereinstimmung mit derRevolution, doch ich bin vorsichtig wie ich das in Worte fassen soll, da man es allzuleicht als Wiederholung des angegrauten Fehlurteils verstehen kann, daß der Marxismus/Sozialismus eine Art Religion ist: die Revolution und Eschatologie. Im Wesentlichen geht die Verbindung in die andere Richtung. Es ist, wie ich denke, nicht so, daß der marxistische Sozialistmus einfach nur die jüngste einer langen Reihe utopischer Bewegungen darstellt. Nur zu einem ganz bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt ermöglicht es der gesellschaftliche Zusammenhang, die nötigen Machenschaften rational zu begreifen und vorzuschlagen, mit denen sich die historisch-utopischen Impulse der Menschen verwirklichen lassen könnten. Der Marxismus ist ein Erbe der utopischen Tradition, aber er ist wie ich denke auch ihr Höhepunkt und ihre Transformation. Harrisons weltliche (sogar profane) Übersetzung der utopisch-religiösen Wahrnehmung führt ihn manchmal zu einer ganz schön düsteren Position — wenn es keine Gottheit gibt, befindet sich das Göttliche nur in der Welt um uns herum. Aber paradoxerweise waren diese Rechtfertigung des Alltäglichen, marxistische, revolutionäre Konzepte des gesellschaftlichen Wandels — die Übersetzung von ›Utopis‹, des Pleroma, in der Tat ein Schritt, der vielen nichtreligiösen Sozialisten das Sekulare näher brachte. Diese Ambivalenz findet sich bei Harrison — durch sein ganzes Schaffen hinweg bewegt sich diese Düsternis, und ohne eine der (visionären) Grundlagen zu ändern, entwickelt sie eine viel vergebungsvollere Sicht auf die Welt, mit etwas Raum für gesellschaftliche Hoffnung (ohne das ausdrücklich in Begriffe der sozialistischen Politik zu übersetzten). Womit gesagt werden soll — ja, die Analogie zwischen Harrisons Phantastik und meiner Revolution paßt. ••• Zurück