»Inception«, oder: Auf der Suche nach (Selbst)Vergebung
Eintrag No. 640 — Christopher Nolan ist sicherlich einer der interessantesten Filmemacher derzeit. Sein »Memento« hat mich mit seinem Rückwärtserzähl-Kniff beeindruckt; seine beiden Batman-Filme »Batman Begins« und »The Dark Knight« haben gezeigt, dass Superhelden-Flicks mit Anspruch möglich und auch dem Publikum auch willkommen sind, und die Literaturverfilmung »The Prestige« (nach einem Roman von Christopher Priest) gehört für mich zu den besten Filmen des neuen Jahrtausends, ja zu meinem Allzeit-Lieblingsfilmen überhaupt. — Nun hat es »Inception« geschafft, dass ich mich wieder einmal aufraffe, eine Filmrezi zu schreiben.
»Inception« Die gute Nachricht: nach einer mir schon endlos erscheinenden Reihe bestenfalls mittelmäßiger Phantastik-Filme (»Iron Man 2«, »Prince of Persia«, »Clash of the Titans«) liefert »Inception« endlich wieder Gehirnstürm mit Tiefengang. Ein meisterlich inszenierter und gespielter Film, bei dem Drama, gewagter Weltenbau und handwerkliche Brillanz Hand in Hand gehen. »Inception« ist ein Film, der es wert ist, dass man ihn im Kino guckt.
Vorsicht, massive SPOILER: Die Science Fiction-Phantastik nimmt nur einen bescheidenen Platz als Ermöglichungs-Gadget für die Handlung des Filmes ein. Sie liefert technische Instrumente, ursprünglich von der Armee als Simulations-Werkzeug entwickelt, mit denen mehrere Personen gemeinsame Träume erleben können. Leonardo di Caprio spielt den Meisterdieb Cobb, der sich darauf spezialisiert hat, aus den Träumen (sprich: dem Unterbewußtsein) seiner Opfer geheime Infos zu klauen. Industriespionage a la Morpheus sozusagen. Ein von Ken Watanabe gespielter Unternehmensboss verlangt nun das angeblich unmögliche Gegenteil: Cobb soll im Unterbewußtsein seines überlegenen Konkurrenten Fischer eine Idee pflanzen (deshalb der Titel: »Inception« = engl. für ›Anfang‹, ›Beginn‹, ›Gründung‹), die Fischer dazu bringen soll, sein Erbe als mächtigster Unternehmensführer in den Wind zu schlagen. — Weite Teile des Filmes folgen also dem klassischen Einbruchskrimi-Schema. Cobb stellt ein Team mit Spezialisten zusammen, forscht sein Opfer aus, entwirft einen (für einen Sommer-Äktschnfilm erstaunlich komplexen) Plan, mittels dreifach ineinander geschachtelter Traumebenen die »Ich lass es bleiben«-Idee in Fischer zu sähen. — Und natürlich läuft dann, als es zur Sache geht, alles mögliche schief und man fibbert gespannt, ob, und wenn ja, wie alles noch wie gewünscht zum Ende kommt.
Meiner Meinung nach ist das aber nur die Oberflächenhandlung. Interessanter und dramatisch anspruchsvoller ist die persönliche Geschichte von Meisterdieb Cobb, dessen eigenes Unterbewußsein die größten Gefahren und Unwägbarkeiten für den Plan bedeuten. Cobb ist nämlich von der Machbarkeit der als unmöglich geltenden Ideeneinpflanzung überzeugt, weil ihm das einst bei seiner eigenen Frau, Mal, fatalerweise gelungen ist. Mit Mal zusammen hat er lange gemeinsam geträumt und die beiden haben dabei die Traumallmacht wie Götter Wirklichkeit kneten zu können genossen, bis es zumindest Cobb zuviel wurde. Um seine Frau wieder auf den Geschmack für die echte Wirklichkeit zu bringen, säuselte er ihr ein, dass alles Träumen ja nicht echt ist. Von diesem Ideen-Samen blieb ein »Nichts ist wirklich« wie ein Virus auch im Unterbewußtsein der wiederaufgewachten Ehefrau hängen und wucherte, bis Mal überzeugt ist, dass auch die Wachwelt nur ein Traum ist. — Ein Weg, aus den gemeinsamen Träumen zu erwachen, ist es, zu sterben. Fatalerweise stürzt sich Mal in den Tod, was Cobb sich nicht verzeihen kann. Nun hat er die Justiz am Hals, vagabundiert im Ausland herum und telefoniert ab und zu mit seinen Kindern zuhause. Schlimmer noch: Ein Abbild seiner Frau Mal (lateinische Vorsilbe für ›schlecht‹, ›übel‹, ›böse‹) spukt weiter durch Cobbs Unterbewußtsein als anklagender Rache- und Vereitelungsengel und droht seine Traumdiebstahl-Coups ein ums andere Mal ins Chaos zu stürzten. — Ende der großen Spoilerei
Kurz und gut: »Inception« ist (für mich) ein Film über das schmerzliche Ringen um Selbstvergebung und die Mühen, zwanghafte Erinnerungen überwinden, sowie über die Sehnsucht eines von seinen Kindern Getrennten nach seinem Zuhause, und nicht zuletzt über die Notwendigkeit, die Supermächtigen irgendwie dazu zu bringen, ihre Privilegien sein zu lassen, damit sie lernen, ohne goldenen Löffel und auf eigenen Beinen Mensch zu sein.
Soweit so gut. Aber: Trotz all meiner Begeisterung für diese feinen Thematiken bin ich aber (nach einmaligen Sehen der Originalfassunng) nicht bereit, dem Film die Höchstwertung zu geben. — Die Musik von Hans Zimmer ist es vor allem, die mich zurückhält. Beispielsweise wurden von Zimmer dialoglastige Expositionsszenen mit Orchester-Synthi-Gewaber derart zugekleistert, dass mich, da es für mich mittlerweile totaler Mainstream-Ideenlosigkeit entspricht, einfach nur nervte. Zudem ist der Film erstaunlich trocken, bieder und sogar etwas zäh. Nichts dagegen, dass »Inception« ein ernster Film sein will und damit gottseidank das oftmals dämliche ironische Gezwinker in Richtung zum Publikum sein lässt. Aber man kann es auch übertreiben mit der Ernsthaftigkeit und Schwere. Entsprechend ließen mich weite Teile der großen finalen Äktschn-Sequenzen (vor allem die im Schnee) ziemlich kalt, so schön sie auch gefilmt sind.
Service-Links:
- Künstler dehans hat bei »Deviantart« eine erhellende Übersichtsgraphik zum großen Ideen-Säh-Coup erstellt.
- camiam321 zeigt mit einem kleinem youtube-Clip, wie das markante »Inception«-Thema durch Verlangsamung eines Edith Piaf-Liedes geschaffen wurde.
- Auch wenn ich die überschwengliche Höchstwertungsbegeisterung der meisten Stimmen nicht teile, hier ein Link zur großen Reziübersicht bei »Schöner Denken«
- Chester A. Bum hat »Inception« gesehen und findet natürlich, dass dies der beste Film ist, den er ja gesehen hat!!!
Edit-Ergänz: Nach einiger Zeit des Nachdenkens habe ich den Film nun von 9 auf 8 Punkte herabgestuft. Am meisten begeistert mich die Metaphern-Sprache, die »Inception« entwickelt. Man könnte lange darüber diskutieren, was verschiedene Vorgänge und Bezeichnungen des Films ›eigentlich‹ bedeuten. Ich denke da nicht nur an die offensichtlichen Namensmetaphern (Ariadne, Mal), sondern vor allem an alles, was mit Gleichgewicht zu tun hat: der Kreisel-Totem, die aufgehobene Schwerkraft, der weckende Kick. Trotzdem komme ich nicht umhin festzustellen, dass »Inception« im Rückblick und nach einigem Gären über den Film in meinem Gedächtnis (nach zweimaligen Gucken) erstaunlich schnell verblasst, bzw. sich vage Enttäuschung bei mir breit macht, z.B. über die ziemlich gewöhnliche Schnee-Äktschn.
Fazit: Wunderschöner, anspruchsvoller SF-Streifen mit geschickt plazierten spirituellen und therapeutischen Passagen. — 8 von 10 Punkten.
•••••
Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist.
oliverj
Ich war jetzt gestern drin (erster Kinobesuch seit 14 Monaten) und muss mich für meine Rezension diese Woche noch zwischen 9 und 10 Punkten entscheiden.
Deine schön formulierte Kritik lässt die Nadel im Moment eher zur 9 tendieren. ;o)
Die Vergebungsstory gibt bei mir natürlich auch Pluspunkte, allerdings wohl nicht so viele wie bei Dir, weil ich für mich etwas zu deutlich gespürt habe, dass das ein narrativer emotional hook sein sollte, so wie das mit dem "allzu willkürlich dürfen wir jetzt nicht mehr sterben, sonst Limbo-Strafe" ein offensichtliches raise the stakes war. Beides natürlich per se absolut in Ordnung und willkommen, für mich aber zu deutlich spürbar.
Ich stimme Dir zu, im aktionsreichen Finale waren in der Tat manche Action-Szenen trotz aller Virtuosität etwas zu sehr im Leerlauf (gerade in der 007-Alpenfestung).
Vielleicht komme ich aber doch zu 10 Punkten: Diese famose Aufeinanderschichtung von fünf verschiedenen Erzählebenen mit unterscheidlichen Zeitläufen macht erzählerisch einfach enorm viel her und die optische Brillanz (die non-CGI Modell-Effekte sind ein Triumph!) ist ein Hingucker, da ist meine Dankbarkeit schon sehr groß.
Bei unserem "Waber-Disput" im SF-Netzwerk muss ich mich übrigens wieder etwas mehr Dir anschließen. Wie gesagt, ich mag Wabern (Horners Aliens- und Silvestris Predator-Partitur könnte ich immer noch immer wieder hören), was unser Hans hier bei "Inception" aber zusammengewabert hat, war häufig für mich doch allzu funktional.
molosovsky Besitzerin
Vorgestern habe ich endlich »Shutter Island« gesehen. Da stimmt die Musik, die freilich von allen möglichen klassischen und minimalistischen Quellen zusammengesammelt wurde. Bei »Shutter Island« ist die Mukke ›altmodisch avantgardistisch‹; gerade die Steichermusik ist kontra Mainstream und für viele wohl stressig & ungewohnt. Aber genau diese ›gefällige‹ Mainstream-Synthy-Streichermukke, die gerade Zimmer und seine Lehrbuben Badelt und Co so populär einzusetzten verstehen, vergällt mir einen ›Anspruchsfilm‹ wie »Inception«. Ich wünschte, da hätte sich Nolan getraut, sich deutlicher abzusetzten.
voivod
über folgendes bin ich gestern gestolpert und dachte mir es passt doch zum Thema:
http://videogum.com/208132/caught-inception-ripped-off-scrooge-mcduck/remakes-and-spinoffs/ - von hier kann man sich zum Comic weiterklicken.
Habe Inception selbst noch nicht gesehen, aber freue mich ob der vielen Vorschusslorbeeren schon drauf (deshalb habe ich auch deinen Text auch noch gar nicht gelesen)
molosovsky Besitzerin
Hallo Voivod.
Jupp, die Sache mit dem »Onkel Dagobert«-Comic habe ich auch vor ein paar Tagen entdeckt, in einer Rundschau mit »Inception«-Links bei »Super Punch«.
Da gibt es zum einen das erwähnte »Onkel Dagobert«-Comic »The Dream of a Lifetime!« von Don Rosa (Dezember 2002. Die Ähnlichkeit mit »Inception« ist frappierend!
Die anderen Links bieten einen »Calvin & Hobbs«-Strip mit mehrfach ineinandergeschachteltem Traum; — einen Essay darüber, dass der Film eigentlich von den Ängsten Christopher Nolans handelt einen teuren Film mit anderer Leute Geld zu machen; — sowie ein ausführliches Interview mit »Inception«-Kostümdesigner Jeffrey Kurland.