molochronik

Baltasar Gracian: »Das Kritikon« oder: Ein Monsterschmöcker aus der spanischen Barocke

Eintrag No. 260

Zuerst erschienen in »MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. — EDIT: Um Autorenportrait ergänzt und Formatierung verbessert am 31. Mai 2008.

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Balthasar Gracian — Tausendeinundvierzig Seiten, sechsundzwanzig s/w-Abbildungen, viele hilfreiche Fußnoten, ein ausführliches und anregendes Nachwort inklusive einem Vergleich verschiedener bisheriger Übersetzungen, sowie eine sechszehnseitige ›sprechende‹ (also synopsierende) Inhaltsangabe. »Das Kritikon«: ein Monsterschmöker aus dem spanischen Barock (1651-1657). Klingt nicht nach einem mal so nebenbei und schnell wegzulesendem Buch, sondern nach einem das genug Reichhaltigkeit, Tiefe, Details und Gewitztheit bietet, um den Leser über eine längere Zeitdauer zu begleiten. Nichts weniger als eine überbordende Vorstellung eines Großen Weltentheaters, ein universalsatirisches Panorama breitet der Jesuit Baltasar Gracian (1601-1658) hier aus. Der Autor ist in Deutschland hauptsächlich für sein von Arthur Schopenhauer übersetztes »Handorakel oder Die Kunst der Weltklugheit« bekannt.

Die rote Faden der Handlung des »Kritikons« ist schnell zusammengefaßt: Auf eine Insel gespült, trifft Critilo (ein Mann aus den Ostindischen Kolonien) auf Andrenio, einem Findelkind der Wildnis, ein Vorläufer von Defoes Freitag oder Kiplings Mowgli. Andrenio macht sich als lernbegieriger Schüler und treuer Begleiter Critilos mit diesem auf die Suche nach dessen verschollener Geliebter Felisinda. Die Reise von Critilo und Andrenio führt im geographischem Sinn durch die europäischen Kernländer, im übertragenem Sinn durch verschiedene symbolhafte Distrikte. Zu Beginn beispielsweise begegnen sie einer vielköpfigen Kinderschar, die von einer großen Frau zu einem Gebirgszug geleitet wird. Die Frau gibt den Infanten (= ›die noch nicht sprechen können‹) in all deren Wünschen nach und verhätschelt sie und führt sie dennoch wissentlich den aus den Bergen stürzenden Ungeheuern und Bestien zu. Ein spöttisches Bild auf die Erziehungsbemühungen von Elterngenerationen.

Unterhaltung und hohe Kunst waren im Barock noch nicht auf heutige Weise getrennt, und so ist »Das Kritikon« vom Anspruch her ein sehr ernsthaftes, zugleich aber im Auftreten ein sehr burleskes Buch. Bei der Gestaltung des Romans folgte der Jesuitengelehrte Gracian unter anderem diesen drei Überlegungen:

  1. Der christlichen Vorstellung des Lebens als Pilgerreise zum Seelenheil; der Mensch als Fremdling in der trügerischen Welt. Ein wichtiges Thema auch der Fantasy, man denke nur an Frodos Reise nach Mordor. Durch die Landschaften des Frühlings der Kindheit, des Sommers der Jugend, des Herbstes des Mannesalters und des Winters des Alters geht die Reise des vollständigen Menschen, der durch das Wechselspiel der Figuren Critilo (der geistvolle, erfahrenere Mann) UND Andrenio (der naive Naturjüngling) dargestellt wird. Auf dieser Reise werden die beiden oftmals von kundigen Führern (z.B. dem Chentaur Chiron oder dem Wandler Proteus) geleitet.
  2. Der Gegensatz von Täuschung (Wahnbefangenheit) und Enttäuschung (Wahnzerstörung), umfassend visualisiert in (alp)traumhaften Bildwelten, halluzinogenen Landschaften und Allegorie-Montagen des innigen Hieronymus-Bosch-Verehrers Gracian. Der verdrehten, verkehrten Welt — als die Gracian seine tubulente Zeit (sprich: die sich in der ersten Euphorie der terrestischen Globalisierung aufmachende Moderne) erlebte —, will er mit ihren eigenen Mitteln zu Leibe rücken. So wohldurchdacht der große ›belehrende‹ oder ›seelenförderliche‹ Bogen des Buches ist, so wirbeln im Detail verschrobene Sichtbarmachungen, rätselhafte Verschlüsselungen, ausgefallene Gedankenspiele, Übertreibungen und frappierende Pointen drucheinander, die mit Sprachwitz und Tollheit aus vielerlei unterschiedlichsten Inspirationsquellen zusammengetragen wurden.
  3. Die Vermittlung von Lebensweisheit und Ein-Sicht, die die Grundlagen für die Entwicklung zur ganzen Person bilden. Gracian stimmt hier als einer der ersten das Thema vom kalt analysierenden, antiutopistisch gestimmten Helden an, der ganz dem ungeschriebenen elften Gebot ›Du sollst dich nicht täuschen‹ (bzw: ›täuschen lassen‹) zu folgen trachtet.

Oberstes Stilkriterium für einen guten Text war damals die Fähigkeit eines Autors zur scharfsinnigen Rede, und obwohl die Sinnes- und Erscheinungswelt für Gracian trügerisch und größtenteils von Übel ist, stellt er klar fest, daß ein schönes Geplauder in angenehmer Atmosphäre ein löbliches Vergnügen ist. Subversion ›schon‹ in dieser alten Zeit, wenn Gracian also weiß, daß ohne den Köder des gut Unterhaltenden man gar nicht erst anzufangen braucht, den Menschen Lebensweisheit und Kultiviertheit vermitteln zu wollen.

Man läßt sich hier also auf einen ziemlich skurrilen Text aus alter Zeit ein. Das größte Hindernis dürfte dem heutigen Leser dabei Gracians tiefe Verachtung der Frauen sein. Muß man nicht so ernst nehmen und an sich rannlassen, der Mann war immerhin Jesuit. Hochgläubige Monotheisten aller Coleur pflegen ja mitunter pekuliare Ansichtung & Praktiken Geschlechtliches und Körperliches betreffend. Dank der hervorragenden Übersetzung und den erhellenden Fußnoten von Hartmut Köhler findet man sich mit etwas Geduld bald in dem ausufernden und abschweifenden — Voltaire urteilte abschätzig ›harlekinhaften‹ — Text zurecht, und dann hat man auf lange Zeit gute Lektüre, denn …

… wer gerät nicht außer sich, wenn er ein so einmaliges Konzert vernimmt, einen Zusammenklang aus so viel Entgegengesetztem. (Seite 43)

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Das Kritikon (El Kritikon; erstmal erschienen 1651 bis 1657) aus dem Spanischen übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler, mit einem Nachwort von Hans-Rüdiger Schwab; Zeittafel, Personen- und Sachregister; 26 Abbildungen; 1041 Seiten.
Gebunden im Schuber & mit Lesebändchen, Ammann-Verlag, Zürich 2002; ISBN: 3-250-10437-x
Taschenbuch bei Fischer, Frankfurt 2004; ISBN: 978-3-596-15902-4

Der schönste Schlußsatz eines Buches

Eintrag No. 34 — Über Kumpel David wurde ich aufmerksam auf den Fragebogen ex Langeweile von Kollege DonDahlmann. Alle meine Antworten gibt es bald, aber hier ein Vorgeschmack, meine längste Antwort auf die Frage nach dem schönsten Schlußsatz eines Buches.

Nu denn...

Prinzipiell weiß ich lange Schlußformeln zu schätzen, doch das Der Demiurg ist ein Zwitter als Ende von »Die Andere Seite« bei Alfred Kubin drängelt sich immer wieder aufs höchste Treppchen meiner persönlichen Schlußsatzpokalverleihung. Aber es gäbe soviele Preise zu verleihen, ich will keine Zeit verliehren...

• Im Namen der Hessischen Drogenwohlfahrt spreche ich (posthum) Arthur Conan Doyle die Auszeichnung für sein bedröhntes Ausklingenlassen in »Das Zeichen der Vier« zu: »Mir«, erwiderte Sherlock »bleibt immer noch die Kokainflasche«, und er streckte seine lange, weiße Hand nach ihr aus.

• Die Spiralmusterplakette der Katholischen Psychonauten geht an Keith Gilbert Chesterton für »Der Mann der Donnerstag war«: Und in der Schwärze, die auf sein Bewußtsein herniedersank, vernahm er nur noch eine ferne Stimme, die einen abgedroschenen, schon irgendeinmal gehörten Satz vor sich hinsagte: »Können Sie aus der Tasse trinken, aus der ich trinke?«

• Für den Schlußsatz: Das ist ein Anfang. aus »Erledigt in Paris und London« von George Orwell, erwartet die Gesellschaft für Humanitäre Paradoxie eine Überweisung des Preisgeldes vom Konto der Orwell-Rechteinhaber auf das Konto der GHP in Höhe von nicht weniger als 10 Euro.

• Der Preis des Klassikerlesezirkels der Deutschen Pathologen für ›Leiche mit Pathos am Buchende‹, geht an Victor Hugo für »Der Glöckner von Notre-Dame«: Als man sein Gerippe von demjenigen trennen wollte, das er umschlang, zerfiel es in Staub.

• Für »Thank goodness!« said Bilbo laughing, and handed him the tobacco-jar. bekommt »The Hobbit« von J. R. R. Tolkien die Auszeichnung Besonders Wertvoll des Pädagogischen Verbandes Europäischer Tabakwarenhersteller.

• Neil Gaiman erhält die Goldene Nadel der Arkadischen Guerilla (Zelle Frankfurt) für: And they walked away, together through the hole in the wall, back into the darkness, leaving nothing behind them; not even the doorway. aus »Neverwhere«.

• Die Stiftung der Erbengemeinschaft Molosovsky vergibt den Amœnokratische-Zukunft-Preis an François Marie Arout aka. Voltaire für: »Wohl gesprochen«, erwiderte Candide, »nun aber müssen wir unseren Garten bestellen.« aus »Candide oder Der Glaube an die Beste aller Welten«.

• Den dritten Platz für ein feines weitschweifiges Ende ergatterte Baltasar Gracian für seinen Schlußsatz aus »Das Kritikon«: Was sie dort zu Gesichte bekamen, welche Genüsse sie dort erwarteten, wer das wissen und erfahren möchte, der gehe selbst Richtung Tugend und Vortrefflichkeit, Richtung Tapferkeit und Heldentum, und er wird am Ende zum Schauplatz der FAMA gelangen, zum Thron der Hochschätzung und mitten hinein ins immer währende Leben.

• Auf dem zweiten Platz für ein geiles weitschweifiges Ende gelangte Arno Ethymhansel Schmidt mit seinem »Gadir oder Erkenne dich selbst«: So schreibt Abdichiba, der Knecht der Knechte vor den großen Suffeten, ich schlage die Stufen Deines Stuhles mit meiner niedrigen Stirn, mein Rücken sei Dein Schemel; gebiete über mich und mein Haus, meine Weiber, meine Töchter und Sklavinnen, meine Söhne, meine Knechte, mein Vieh, mein Vermögen, gebiete über alles, o Liebling des Moloch, o Wonne der Gerechten, Du mein Herr! -

• Hans Pleschinski erhält für das Ende von »Pest und Moor« den ersten Preis. Da klammerte sich in Felljacken und Pelzen Alt und Jung, Groß und Klein, da rieb es sich gaßauf, gaßab, daß der weiße Atem aus den Mündern quoll, ungestüm waren die Bäckersfrauen an den Rücken der Waschweiber zugange, scheuerten die Winterjoppen der Stellmacher über die bunten Joppen der Färber, die Pelzbäuche der Augustiner über die Ärsche der Stadtwache, da blitzen die Funkengarben so wild durch die Luft, daß der Tod geblendet davon die Augen schloß und es durch seinen Schädel tönen hörte: »Los, alles enger zusammen, ja, reib dich feste! Feste!«

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