Belgien, Brüssel: Tag 4
Eintrag No. 609 — Am Samstag vor allem die Füße plattgelaufen auf dem launischen Pflaster der Stadt.
Größte Kultur-Unternehmung war eine Wallfahrt zum Horta-Museum.
Über eine halbe Stunde Wartezeit. Aber im Museum dann eine Offenbahrung. Musste mich sehr zügeln, damit meine Gefühle nicht in die Außenwelt überschwappen, so überwältigend schön ist dieses Museum, diese Ballung wohldurchdachten, edlen Jugendstils. Da ist sogar die organische Form von Türklinken sowohl als Ornament schön, als auch angenehm zu greifen für die Hand. — Viktor Horta ist definitif nun Teil meines amœnokratischen Pantheons.
Auf dem Weg durch Saint Gilles haben wir das Fassaden-Ensemble in der Rue Vanderschlick bestaunt, gebaut 1900 bis 1903 von Ernest Blérot. — Und ganz doll: Am rechten Ende befindet sich ein feines, günstiges Eis-Cafe, in dem es den ersten richtig guten Kaffee Brüssels gab.
Weiter durch das Viertel Saint Gilles.
Ich bin wiederum baff, wie schön, wie durcheinander Brüssel ist. Der Phantastik-Fan in mir ruft sofort »Obacht!« als ich dieses Fenster sehe:
Da hat doch tatsächlich jemand sein Fenster mit einer »Frankenstein«-Illustration von Berni Wrightson aufgepimpt. Ich frage mich, ob das in Glas geschliffen und eingefärbt ist? Was für ein Aufwand!
Weiteres Fantasy-Detail. Diesmal sehr coole Drachen, die an der Fassade eines Hauses herumklettern.
Von Saint Gilles aus haben Andrea und ich uns dann ganz gezielt in Richtung Norden verlaufen und sind dabei einmal um den irrwitzigen Justizpalast von Joseph Poelaert herum. Dieser größenwahnsinnige Eklektizismusorgasmus ist wie so manches Gebäude in Brüssel ein möglicher Übergang in die Welt der ›Geheimnisvollen Städte‹ von Schuiten & Peeters. — Ich selbst war zu verstört von diesem Bau und konnte keine Photos machen. Hin und her gerissen war ich zwischen Fluchtreflex (weil mir der Bau tatsächlich Angst einflößte) und Faszination und dem Wunsch, das Trum ausgiebig zu studieren.
Hier eine schöne Ansicht, die Andrea aufgenommen hat:
Brüssel bescherte mir ja so manche unwirkliche Stimmung. Aber jetzt, zwei Tage nach Umrunden des Justizpalastes kommt mir dieses Gebäube tatsächlich wie eine Traumerscheinung vor. Alle anderen außergewöhnlichen Orte wirkten und wirken noch real, die Erinnerungen sind solche des Selbsterlebten, des ›Selbst dort gewesen seins‹. Nur nicht beim Justizpalast. An den erinnere ich mich so, wie man sich an einen Film erinnert, mit der tiefen Überzeugung, hier etwas vorgeführt bekommen zu haben, das nicht echt ist.
Ansonsten? — Natürlich wieder gut Kuchen gegessen mit heißer Schoki. Mich wieder mit Kriek abgeschossen und obendrein noch zwei feine DVD-Schnäppchen gemacht: »Hamlet« in der Brannagh-Fassung (UK-Edition, sogar mit deutscher Tonspur) und »Cosmos« von Carl Sagan.
Sicherlich nicht mein letzter Brüssel-Urlaub! Kaum zurück kann ich’s gar nicht erwarten, wann ich wieder in dieser phantastischen Stadt sein kann.
Belgien, Brüssel: Tag 3
Eintrag No. 608 — Gestern abend zum ersten Mal derbe belgische Frittches mit Curry- bzw. Remouladetunke gegessen. Fein fein, obwohl … danach etwas unruhig geschlafen.
Heute dann früh raus, bei nicht mehr ganz so kalten (weil windstillen) 5° über Null. Urlaub mit mir ist, bis auf meine Frühaufsteherei, eigentlich ganz unkompliziert. Ich renne gerne durch die Gegend, auch planlos und mit viel versicherndem Geplapper darüber, dass ich mich nicht verlaufen aber Hunger & Durst habe. Museen, Zoos, Galerien, Geschäfte aller Art immer gerne. Architektur auch. Leute gucken aus der Deckung hinter einer Tasse Schoko oder einem weizenartigem Getränk. Alles fein. Abends dann bitte Theater, Kabarett, Kino, oder einfach zuhause bleiben. Kneipe oder ›Disko‹ bitte nicht unbedingt.
Heute kaum aufberochen, gleich hier beim Gemeindehaus Saint-Josse-ten-Noode eingebremst, wegen dieser netten Figur eines typischen ›Bürgers‹. Keine Ahnung, wer der Künstler ist. Hatte nichts zu Schreiben dabei heut.
Dann auf die Rue de Louvain zugehend denk ich mir: »Nanu, Bauarbeiten?«
Aber nein.
Auch hier wieder Kunst im öffentlichen Raum. Diesmal eine rote Holzstruktur mit grauen Einsprengseln. Was für eine irre Arbeit. Da hätte ich gerne zugeschaut, wie die das willenlos zusammenhämmern.
Und diese Struktur geht handbreitnah bis an die Gebäude heran. Würde bei uns kein Brandschutz zulassen! Aber für Kunst, so scheint’s mir, pfeifft der Brüssler auf alles. — {Nachtrag: Es handelt sich hier um die Skulptur »The Sequence« von Arne Quinze.}
Diese Struktur kann man sogar bei Google Map / Google Earth erkennen.
Weiter gings durch einen Park, dessen Grundriss aus 1342 Freimaurersymbolen besteht, und in dem krass kitschige und riesige neo-barock Kindchen-Nackedeis herumstehen und unerträglich Raffael-mäßig süß sind, so dass ich flüchten musste und mich danach über ein eigentlich ziemlich prosaisches Loch im Park freute wie nicht gescheit.
Runter gekommen von der Kitschpanikattacke bin ich dann im Magritte-Museum. Durfte dort keine Photos machen. Aber es lohte sich fett. Ich bin vor allem vom frühen Magritte beeindruckt, und auch seine Zeichnungen sind m.E. schwer unterschätzt. — Seit in der Schirn die pro-punkige Kuh-Periode (Periode Vache) zu sehen war, ist meine ohnehin schon große Sympathie zu Magritte nur noch gewachsen.
Per Kombi-Ticket gings nach dem Magritte weiter ins Museum der Schönen Künste. Im Museumsshop fast bei den Bosch Aktion Figures zugeschlagen. Naja, ein ander’ Mal vielleicht. — Für diesmal reichen mir drei Lesezeichen und zwei Breughel-Poster (»Kampf Karneval vs. Fasten« für mein Arbeitszimmer und »Höllensturz der gefallenen Engel« fürs Schlafzimmer).
Was sehe ich dann im großen Foyer des Museums für Schöne Kunst? Einen maglomanischen Samsa-Traum?
Geht ein paar Schritte zurück …
… und ihr erkennt, dass hier die Welt von Insekten erobert wurde.
Als Erholungskontrast hier eine kecke Keulenmuse. Leider hab ich keine Ahnung mehr, wer die gemalt hat (siehe Schreibzeug vergessen). Sie ist zu sehen auf einem Bild, dass eine Frauengruppe im Malatelier darstellt und dies ist die Schönheit in der Mitte, die Modell steht.
Die revolutionäre Entdeckung des Tages ist für mich das Kirschbier, sogenanntes Kriek, das verschiedene Brauereien anbieten.
Warum muss ich erst selbst mit fast 40 drauf kommen, dass es Kirschbier gibt??!! Warum hat man mir das nicht schon viel viel früher mal gesagt???!!!
Meine größte Sorge ist nun, ob ich im heimatlichen Frankfurt irgendwo dieses Zeug aufstellen kann.
P.S.: Gerade noch mal Tippfehler ausgemerzt. Dabei festgestellt, dass Kirschbier eien furchtbaren Schädel macht, der aber sehr schnell verfliegt. Bin nicht sicher, ob das nun eine gute oder eine schlechte oder eine gute & eine schlechte Nachricht ist.
Belgien, Brüssel: Tag 1 & 2
Eintrag No. 607 — Am Mittwoch angekommen. Gestaunt, wie gut die Belgier ihr Umland vor der Autobahn verstecken. Von der vollbeleuchteten Autobahn-Allee aus könnte man glauben, durch ein Niemandsland zu fahren. Links und rechts nur Bäume oder Lärmschutzwall. Ganz wenige sachte Gewerbe- und Industriegebietsandeutungen und – tada – plötzlich rollt man auf Brüssel herab.
Das Hotel in der Rue Traversie ist schnuckelig. Ich fühle mich wie Jeeves & Wooster oder wie Hercule P. Am ersten Tag sind Andrea und ich einfach nur durch die Innenstadt gelaufen und haben gestaunt.
Am meisten haut mich um, wie Architektur-crazy die Brüsseler sind. Nach 10 Minuten spazieren komme ich mir vor wie in einer Filmkulisse, wie in den Mauern von Samaris. Wie sich hier Neo-Gothik, Gründerzeit-Klassizismus, Art Deco, Betonkunst und Jugendstil gegenseitig um die Hausecken scheuchen ist nicht weniger als eine große Schau.
Habe in der königlichen Passage (St. Hubert) einen Laden mit Westen gesehen. Überlege Schulden zu machen. Anschließend einen großen Pott Muscheln verspeist; im nächsten Cafe noch’n Kirschkuchen druff und supersatt und plattgelaufen um sage und schreibe 21:15 ins Bett gefallen.
Gestern, Donnerstag, dann erster Kulturhubertag.
Ich bin ja kein religiöser Mensch, aber das Comicmuseum weckt in mir schon Gefühle der Ehrfurcht und des Heiligen.
Es ist wirklich erstaunlich, dass man von Frankfurt aus nur um die 300 Kilometer fahren muss, um inmitten von Menschen zu sein, die Comics ganz selbstverständlich als Kunst und Literatur schätzen, die ihre Schulklassen ins dafür gewidmete Museum schicken usw. — Ich habe unter anderem Originale von Andre Franquin, Francois Schuiten, Emile Bravo und Yslaire gesehen und wispere beeindruckt: »Die können zeichnen! So würd ich auch gerne mal zeichnen können.«
Neben der Dauerausstellung über Herge, Jacobs, Peyo und etwa ein Dutzend weitere franko-belgische Klassiker konnten wir zwei tempöräre Ausstellung sehen: einmal über die Mummins (dolle Hitler-Karikatur von Tove Janson), und über die 20 ›besten‹ Comics der letzten 20 Jahre.
Dannach dann ein wahnsinnig heftiges Limobier (Burger Witbeer) im wunderschönen Cafe Horta des Comicmuseums getrunken.
Zu Fuß dann nach Norden, die Chaussee de Haecht hinauf. Blöderweise trotz iTouch-Photo der Google-Map zu doof gewesen, auf Anhieb das Maison Autrique zu finden. Grummelig also nochmal heim, gucken, wie das Haus aussieht und wo es genau steht. Schließlich stehen wir davor und klingeln.
Das Maison Autrique war der erste bedeutende Bau des großen Jugendstil-Architekten Viktor Horta. Unter anderem auf Initiative des großartigen ›Die geheimnisvollen Städte‹-Teams Francois Schuiten und Benoit Peeters wurde dieses bürgerliche Haus restauriert und dezent-theatralisch zu einem Erlebnis hergerichtet.
Besonders entzückend für mich als Fanboy der ›Cités Obscures‹, dass die schräge Mary im ersten Stock herumsteht und sich im Dachkammerl inmitten einer Menge obskuren Gerümpels Eugen Robick findet. Und wenn an einen Blick durch den Türspion des Obergeschosses riskiert, dann kann man in die andere Welt der geheimnisvollen Städte gucken, in den (ich nenns mal so) ›Maschinenraum der Narration‹.
P.S.: Tausend Dank Andrea!, dass Du so nett warst, die Photos zu machen auf denen ich zu sehen bin.