molochronik

Molos Wochenrückblick No. 51

Eintrag No. 712

Literatur: Neal Stephenson: »In the Beginning was the Command Line«Zweimal Neal Stephenson: Als ich diesen Monat in Berlin war, habe ich mir im Otherland-Buchladen ein paar Bücher besorgt, unter anderem »In the Beginning was the Command Line« (1999). Mit diesem bisher einzigen Sachbuch-Titel bietet Stephenson, eine kurzweilige Mixtur seiner persönlichen Erlebnisse mit Computern, Betriebssystemen und graphischen Benutzeroberflächen; — der Nacherzählungen (für mich Laien fein nachvollziehbar) von deren Entwicklungsgeschichte und Funktionsweise; — sowie kenntnisreiche kultur-philosophische Kritik zum Zustand des Marktes. Knapp zusammengefasst findet es Stephenson empörend, wie sehr die Macht von Unternehmen wie Microsoft und Apple auf dem schönen Schein basiert, ihren Kunden gut gemachte Produkte zu verkaufen; — wie sehr sich Kunden dem Glauben hingeben, sie selbst (und nicht etwa die Shareholder dieser Unternehmen) stünden im Zentrum der Geschäftspraxis dieser Unternehmen. Und anhand des Vergleiches von Betriebssystemen und graphischen Benutzeroberflächen mit Disney gelingt es Stephenson, einige grundsätzliche erhellende Gedanken zum Thema ›vermittelte Weltwahrnehmung & -Handhabe‹ anzubringen.

Und dann: Endlich hat der Verlag Harper Collins Einzelheiten zum Ende 2011 erscheinenden neuen Roman von Meister Stephenson veröffentlicht! In »Reamde« (nicht »Readme«!!!) knüpft Stephenson wieder an Computerkultur-Stoffe an, die er in seinen früheren Büchern »Snow Crash« und »Cryptonomicon« verhandelt hat. Diesmal geht es um Richard Forthrast, der sich vor vier Jahrzehnten der Einberufung zum Militär entzogen hat, und einen Haufen Geld mit dem Schmuggel von Dope über die kanadische Grenze gemacht hat. Dieses Geld hat er mit Hilfe von Online-Spielen gewaschen und mit diesem Reichtum ein eigenes Unternehmen für Multiplayer-Fantasy-RPG gegründet. Ein asiatischer Goldfarmer löst dann versehentlich einen virtuellen Krieg um die Weltherrschaft aus und Richard findet sich zwischen den Fronten wieder.

Es freut mich, dass nach vielen Jahren ein neuer Roman von Lawrence Norfolk angekündigt wird: laut dem Ticker von Booktrade hat Norfolk im Frühjahr das Manuskript zu »John Saturnall’s Feast« abgeliefert. Im Englischsprachigen hat noch kein Verlag zugeschlagen, aber in Deutschland wird der Band bei Norfolks Stammverlag Knaus erscheinen. Die Kurzbeschreibung klingt verlockend (Schnellübersetzung von Molo): »John Saturnalls Gastmahl« spielt im 17. Jahrhundert und erzählt die Geschichte eines Waisen der während des englischen Bürgerkrieges lebt und zum besten Koch seines Zeitalters aufsteigt, und dessen Liebe zu einer Frau, die er niemals heiraten kann, sich zur großen Tragödie seines Lebens entwickelt.

Desweiteren habe ich nun mit dem zweiten Band der ›Die Zerrissenen Reiche‹-Reihe von Thomas Plischke begonnen: »Die Ordenskrieger von Goldberg«. Nachdem ich Band 1, »Die Zwerge von Amboss«, sehr kritisch aufgenommen habe, versprach ich mir selbst, Band 2 mit einer anderen Haltung zu lesen, mich nicht so schnell aufzuhängen an den Dingen, die mir Band 1 vergällten. Und siehe da: bisher komme ich um einiges besser mit Band 2 zurecht.

Schließlich habe nun endlich alle drei »Hellboy«-Kurzgeschichten-Sammlungen die Dark Horse auf Englisch herausgebracht hat: »Odd Jobs« (1999), »Odder Jobs« (2004) und »Oddest Jobs« (2008), zu denen solche meisterlichen Autoren und Autorinnen beitrugen wie Nancy A. Collins, Poppy Z. Brite, Frank Darabont, Charles de Lint, Guillermo del Toro, Joe R. Lansdale, Tad Williams und China Miéville.

Netzfunde

  • Zweimal Neues von Andrea ›Reisenotizen‹ Diener: Hier geht es zu einem Interview mit ›stadtkindFFM‹ über Straßenfotographie; — und für die ›FAZ‹ war Andrea jüngst eine Woche in Ägypten und berichtet darüber in ihrem Text Das Prinzip Inschallah (= »So Allah will«, in etwa: »Wenn es sich ausgeht«).
  • Kirche(n) und Gesellschaft: Es gibt eine nützliche Website namens Informationsportal Staatsleistungen für alle, die mehr wissen wollen warum und wie die Kirchen von den Bundesländern eine Menge Geld bekommen; — für die Hessen unter Euch: bei der Petition Aufhebung des Tanzverbotes kann man sich beteiligen, wenn man es (wie ich) doof findet, wie christliche Privilegien dem Grundgesetzt zuwiderlaufen; — und schließlich erläutert in einem Interview mit der ›Wirtschaftswoche‹ Friedrich Wilhelm Graf (Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Autor des Buches »Kirchendämmerung«), das unerträgliche Monopol der kirchlichen Sozialunternehmen: »Ein Tauschgeschäft zwischen Staat und Kriche«. Knackigste Aussage für mich ist folgende Passage zum Problem der Kirchen:
    Weil sie {die Kirchen}, um einen Modebegriff zu benutzen, auf Nachhaltigkeit setzen sollten statt einen Personen- und Autoritätskult zu betreiben, der ihre eigentliche Botschaft beschädigt. Das gilt übrigens noch stärker für die katholische Kirche. Von der hört man immer nur, dass sie gegen die »Diktatur des Relativismus« antritt und »zurück zu den christlichen Wurzeln Europas« will. Das sind besonders törichte Formeln, weil sie den Pluralismus der modernen Gesellschaft diffamieren. Was, bitte schön!, soll denn an die Stelle des »Relativismus« treten? Ein neuer klerikaler Absolutismus?
  • ›Telepolis‹ bringt einen langen Text von Peter Weibel zum Thema Globalisierung und Medien.
  • In einem sehenswerten ›TED‹-Vortrag erläutert der Kanadier Dave Meslin Gegenmittel zur Apathie. Statt der dummen Meinung recht zu geben, dass die meisten Menschen zu selbstsüchtig, dumm oder faul sind, um sich für gesellschaftliche Belange einzusetzten, definiert er ›Apathie‹ um: politische Apathie der Bürger ist keine innere Haltung dieser Bürger, sondern ein komplexes Netz kultureller Hindernisse, durch welche die Teilnahmslosigkeit der Bürger verstärkt werden. Als wichtigste Hindernisse dieser Art nennt Meslin:
    1. Das Informations-Gebahren von Rathäusern (und anderen politischen Einrichtungen) fördert mit Unübersichtlichkeit und Beamtensprech den Ausschluß der Bürger.
    2. Der Öffentliche Raum wird von den Nachrichten derer dominiert, die am meisten bezahlen, also von Werbung. Entspricht einer Kommerzialisieung des Rechts auf freie Meinungsäußerung.
    3. Die Medien konzentrieren sich auf Promis und Skandale. Bei Berichten der Medien über z.B. Bücher, Filme und Restaurants, finden sich so gut wie immer Infos zu den Waren, Öffnungszeiten usw. Jedoch bei Medienberichten zu politisch-gesellschaftlichen Themen liefern Medien nur sehr selten Infos dazu, wie man sich als Bürger an diesen Themen aktiv beteiligen kann.
    4. Das dominierende Heldenbild: wie es auch schon China Miéville grandiös in »Un Lun Don« tat, kritisiert Meslin die weitverbreitete Story vom erwählten Helden, die ein sehr fragwürdiges Ideal von Führungspersönlichkeiten zu formen hilft. — Heldenhafte Taten kennzeichnen sich für Meslin nicht dadurch aus, dass sie Personen unternommen werden, die von Prophezeiungen auserkoren wurden, sondern vielmehr dadurch, dass sie a) gemeinschaftliche Anstrengungen sind; dass sie b) unvollkommene, andauernde Prozesse sind, die nicht glorios beginnen oder enden; und dass man sich c) freiwillig, einer innen Stimme, seinen eigenen Träumen folgend für sie entscheidet.
    5. Politische Parteien sollten eigentlich ein wichtiger Einstieg für Bürger sein, sich politisch zu engagieren. Parteien richten sich aber derart stark nach Meinungsumfragen und Beratern aus, dass sie alle in etwa die gleichen Botschaften verbreiten, die die Bevölkerung eh erwartet (und dann machen die Parteien wiederum, was andere wollen, z.B. die Wirtschaft, die Interessensverbände) und das fördert Zynismus.
    Weitere Hindernisse bietet das sogenannte demokratische Wahlsystem (sehr Kanada-speziefisch, aber unsere ›repräsentative‹ Demokratie ist auch nicht besser), und die Tatsache, dass gemeinnützigen Organisationen zu wenig Gehör im öffentlichen Raum und bei Wahlen geschenkt wird.

(Deutschsprachige) Phantastik-Funde

  • Hurrah! Auf ›Arte‹ wird »Twin Peaks« endlich mal wieder in deutschen Landen gezeigt. Passend dazu hat der Kultursender ein feines Twin Peaks Portal eingerichtet.
  • Ein neuer Eintrag der Reihe »Der Zwerg liest fremd« im Blog der ›Bibliotheka Phantastika‹. In The Age of Bronze geht um die »Ilias« von Homer und eine graphik-novellische Aufbereitung dieses Klassikers durch Eric Shanower.
Zur Erinnerung: Hinweise auf bemerkenswerte deutschsprachige Internet-Beiträge zum Thema Phantastik (in allen ihren U- & E-Spielarten) bitte per eMail an …

molosovsky {ät} yahoo {punkt} de

… schicken. — Willkommen sind vor allem Hinweise zu Texten, die wenig beachtete Phantastikwerke behandeln (z.B. also Einzelwerke statt Seriensachen), oder die über Autoren, Theorie und Traditionsentwicklungen berichten.

Zuckerl

  • In Wochenrückblick No. 46 habe ich den Comic »Fennek« von Trondheim und Yoann empfohlen. Für alle, die diesen Wüstenfuchs genauso putzig finden wie ich, hier eine kleine Flickr-Galerie: F is for Fennec.
  • Ab und zu überrascht mich, was bei der englischen Variante von ›Deutschland sucht den Superstar‹, die sich ›Britain Got Talent‹ nennt, abgeht (allein schon der Unterschied der Sendungs-Titel spricht Bände!): Hier singt Edward Reid ein Medley alltbekannter, ziemlich platter Liedchen in der überdrehten Manier der Schmalz- und Schmacht-Popträllerei und dekonstruiert letztere damit deftig. Bravo!!!
  • Zuletzt zwei sehr schöne Bilderstrecken mit Illustrationen von Mark Summers, der in klassischer Holzschnittmanier Komponisten und berüchtigte Gestalten der Historie konterfeit.

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