Neil Gaiman in Leipzig als Gedächtnisprotokoll mit Skribbels
Eintrag No. 357 — Donnerstag war Neil Gaiman auf der Leipziger Buchmesse, um die deutsche Ausgabe seines neuesten Roman »Anansi Boys« vorzustellen. Hier einige Spökes vom Nachmittagstermin auf dem ›Schwarzen Sofa‹ in Halle 2, und der abendlichen Lesung im Spizz (hab dort gute Bandnudeln mit Riesengarnelen gegessen; angenehmes, lebhaftes Lokal mit Jazz- und Lesungskeller).
Gaiman ist ein Musterknabe was Buchpromotion, bzw. Kontakthalten zu seiner Fan-Base angeht. Üblicherweise geht er dabei so vor: »Zuerst lese ich ein Stück aus meinem neuen Roman, dann spielen wir ›Frage und Antwort‹ – wobei Ihr die Fragen stellt und ich antworte – und schließlich werde ich signieren bis mir die Hand abfällt.« Beim Signieren malt er in jedes Buch andere Kringel und ›dumme Sprüche‹. Für einen Kumpel habe ich ein »Good Omens«-Exemplar mitgenommen: »Sebastian, burn this book – Neil Gaiman« steht nun drin.
Gaiman wollte als Jugendlicher Rockstar werden, und wenn das nicht aufgehen sollte, dann halt Comicautor & Schriftsteller. Zum Rockstar hats nicht gereicht, aber Gaiman gehört zu jenen wenigen Schriftstellern, für den sich seine Zuhörer im anglo-amerikanischen eng in großen Räume zusammendrängen. Das lohnt sich, denn das sanfte, klare Englisch Gaimans ist eine Wonne für die Ohren; er wirkt wie jemand, der eigentlich im Herzen immer noch ein wild vor sich hinfabulierender Bub ist, und so versteht es vorzüglich, selbst die ödesten Dinge irgendwie kurzweilig zu erzählen (z.B. das Hin- und Her um zustande kommende Verfilmungen seiner Drehbücher).
Im folgenden nun ein Gedächtnisprotokoll einiger Frage & Antwort-Ping Pongs vom Leipziger Donnerstag.
Nachdem Gaiman lange den mit zweifelhafter Ehre behafteten Titel inne hatte, der Autor zu sein, der die meisten noch nicht verfilmten Drehbücher und Lizenzen in Hollywood verkauft hat, kommen nun in kurzer Folge bald drei neue Filme nach Stoffen von Gaiman in die Lichtspielhäuser. Seit gestern ist der Trailer zu »Stardust« online, einer romatischen Abenteuer-Komödie, in der ein junger Mann für seine Liebste einen Kometen holen will, nur entpuppt sich der Komet als junge Dame. Michelle Pfeiffer, Robert de Niro und Claire Danes spielen in dem ab Oktober laufenden Film mit. Bald darauf im November kommt dann der aufwändige CGI-Film »Beowulf« von Robert Zemeckis zu uns, und u.a. zogen sich Angelina Jolie und Anthony Hopkins dafür Motion Capture-Anzüge an und verliehen den Figuren ihre Stimmen. Und nächstes Jahr trumpft dann nach »Nightmare Before Christmas« und »James und der Riesenpfirsich« der exzellente Puppentrickzauberer Henry Selnik auf, mit der Verfilmung des gruseligen Kinderbuches »Coraline«, diesmal mit Musik und Songs von They Might Be Giants.
Viele Fans der Terry Pratchett und Neil Gaiman-Cooperation »Good Omens« würden sich über eine weitere Zusammenarbeit der beiden freuen, doch lange hieß es: »Nein, Terry ich werden keine Fortsetzung schreiben.« Aber vor einiger Zeit haben sich die zwei nach Langem wieder mal getroffen und sich dabei aus Fadesse auszumalen begonnen, was die »Good Omens«-Protagonisten mittlerweile wohl treiben könnten. Beide haben also schwer Laune darauf, die Abenteuer von Teufel Crowley und Engel Aziraphale weiterzuspinnen. Falls also Terry und Neil mal 3 bis 4 Monate gemeinsame Zeit (im gleichen Land) übrig haben, könnte vielleicht mal eines Tages ect pp ff … was ja besser ist, als »nie«.
An kommenden Projekten steht an…
- …das nächste Kinderbuch: Arbeitstitel »Graveyard« (Friedhof), von dem Neil meint, es sei bisher sein gruseligstes Werk. Ein Baby verliehrt seine Familie und wird von den untoten Einwohnern des naheliegenden Friedhofs großgezogen. Später, als das Kind größer ist, soll der Friedhof einem Bauvorhaben weichen, und die Lebenden entpuppen sich als weitaus furchterrender als die Friedhofstoten. Übrigens: auf der ganzen Welt hätten laut Neil die deutschen Reporter und Rezensenten am meisten Magengrummeln gehabt, mit dem Gruselfaktor von »Coraline«. Was die wohl erst zu »Graveyard« sagen, fragt sich Neil.
- …das nächste Comic: nach »1602« und »Eternals«, die Neil auf Wunsch von Marvel geschrieben hat, möchte er nun lieber als nächstes wieder ein Comic machen, daß auf seinen eigenen Ambitionen beruht.
- …und dann wird am nächsten Roman für Erwachsene gearbeitet. Inhalt noch unbekannt. Neil erzählt, daß er sich vorkommt, wie ein Flugverkehrs-Dirigent. »Am Himmel kreisen mehrere Ideen in der Warteschleife, und die schwierige Aufgabe ist, daß ich mich entscheiden muß, welches dieser vielen Flugzeuge ich als lächstes einer Landebahn zuweise«. Neil wünscht sich, entweder mehr Zeit, oder mehrere Körper zu haben, um all die Projekte durchziehen zu können, die ihn interessieren. Auf die Frage, ob der nächste Roman eine Fortsetzung (z.B. von »Neverwhere«, »Stardust« oder »American Gods«) oder etwas ganz neues wird, antwortete er: »Gewöhnlicherweise, vor die Wahl gestellt, entscheide ich mich dafür, etwas neues zu machen. Falls ich damit dann zu große Schwierigkeiten habe, kann ich immer noch zu bereits bestehenden Stoffen zurückkehren.«
Am Abend im Leipziger Spizz dann eine wirklich schöne Lesung, mit einem hochaufmerksamen Publikum, das an den richtigen Stellen gelacht hat. Abwechselnd lasen Gerd ›The Piano Has Been Dringking‹ Köster und Neil englisch/deutsch aus »Anansi Boys«. Der schüchterne Fat Charlie und sein neu in dessen Leben trudelnder bisher unbekannter Bruder Spider brechen zu Wein, Weib und Gesang auf, um ihren grad verstorbenen Vater zu betrauern. Großen Applaus gabs für Gerd Köster, der wie ich finde, Gaimans Prosa sehr treffend las.
Die meisten Fragen der abendlichen Lesung drehten sich um Verfilmungen, geplante und geplatzte. Neil erzählt ja gern von seinen Erfahrungen mit Hollywood, einer ganzen Stadt (nicht nur einem Haus, we im »Asterix erobert Rom«-Film), die Leute verrückt macht. Nichts läuft dort so, wie man denkt, und wenn etwas zustande kommt, dann völlig unverhergesehen. Beispiel: Vor einigen Jahren schon, haben Roger Avery und Neil zusammen ein Drehbuch nach der altenglischen Sage »Beowulf« geschrieben, Avery sollte Regie führen, eine Herzensangelegenheit für ihn. Schnell war alles beisammen für Dreamworks mit Robert Zemeckis als Produzenten, das Budget stand, es konnte losgehen, bis ein Anruf von ganz oben den Film kippte. Jahre später nimmt Zemeckis wieder Kontakt mit Neil und Roger auf, und meint, er selbst würde »Beowulf« gerne als CGI-Film machen, das Drehbuch ginge ihm nicht mehr aus dem Kopf. Neil erzählt: »Das ist ja schön, sagte ich zu Robert, aber Roger träumt schon seit seiner Jugend davon ›Beowulf‹ zu verfilmen. Nu, meint Robert, wir heben Euch einen Heuwagen mit Geld. Okey, sagte ich, ich werde versuchen Roger zu überzeugen. Roger hörte sich das Angebot an und wir teilten dann Robert mit, daß Roger als Regiesseur für ›Beowulf‹ vorgesehen ist, immerhin ist es sein sehnslichster Wunsch usw. Also gut, sagte Robert, zwei Heuwagen mit Geld. Ja, also, meinte Roger darauf, das ist schon sehr verlockend, tja, wenn außer mir jemand den Film machen sollte, dann wärest Du Robert unser erster Wunschkandidat, aber ich möchte doch selber dringend diesen Stoff verfilmen. Robert: Drei Heuwagen. Roger: Okey.«
Eine Leserin, die »Neverwhere« drei mal angangen mußte, bis sie hineinfand und den Roman dann mit großem Genuß fertiglas, fragte, wann Neil ein Buch aufgibt und weglegt. Tatsächlich hat Neil erst spät gelernt, schwache Bücher abzubrechen. Er hat sich immer vorgestellt, daß ein strenger Engel, der zugleich Bibliothekar ist, eine Liste führt, und einen bösen Vermerk einträgt, wenn Neil ein Buch nicht brav fertigliest. Dann aber, 1991 oder so, war Neil einer der Juroren für den Arthur C. Clarke-Award und mußte deshalb alle in diesem Jahr in England erschienenen neuen SF-Bücher lesen. Da hat er dann gelernt, Bücher wegzulegen, nein, sogar lustvoll in die Ecke zu pfeffern. »Ein Buch das nach dem ersten Kapitel nicht in die Pötte gekommen ist, wird wohl auch nicht mehr viel besser werden.«
Pflichtfrage, da Neil in Leipzig weilt: Ob er schon mal was von Goethe gelesen habe. »Oh ja«, sagt Neil. »Aber nicht etwa, weil ich mir Goethe speziell vorgenommen hätte, sondern weil ich ein inniger Bewunderer des irischen Illustrators Harry Clark bin, und eben rauskriegen wollte, worum es im »Faust« vom Goethe geht, den Clark so wunderschön bebildert hat.«
Meine Frage schließlich bezog sich auf Neils Praxis, seine Erstentwürfe händisch in Blanko-Kladden zu schreiben. Ganz früher hat Neil mit Schreibmaschine gearbeitet, und manchmal Probleme damit gehabt, schöne weiße Papierbögen zu zerstören, indem er sie mit Buchstaben volltippte. Als Neil auf Textverarbeitung umstieg, fand es gar nicht mehr problemtisch auf dem Computer zu schreiben, denn da werden ja nur so Elektronen herumgeschubst. Aber, irgendwann machte es Neil zu schaffen, daß es auf einem Computer keine richtigen Schritte mehr zwischen der ersten und der letzten Fassung mehr gibt, sondern er an einer sich ständig wandelnden x-ten Fassung rumfuhrwerkte. Außerdem fand er es bedrückend, den schönen weißen Bildschirm zu zerstören. So sei er also wieder zum Schreiben mit der Hand zurückgekehrt, was den nicht zu unterschätzenden Vorteil mit sich brachte, daß in einer Kladde keine iChat-Fenster aufgehen, oder Links von Freunden 20 superinteressante und von der Arbeit ablenkende Websites aufpoppen lassen.
Hat Spaß gemacht, mal Fan zu spielen und einem verehrtern Künstler entgegenzureisen. Idolen zu begegnen endet ja schnell mal als Enttäuschung. Neil Gaiman aber bestätigte und stärkte den Zauber, den er aus der Ferne schon seit über 10 Jahren nur mit Worten auf mich wirkt.
Fantasy-Boom: »Die Welt« sagt ›Wirklichkeitsflucht‹, ich sag ›Mögklichkeitssinn-Mukkibude‹
(Eintrag No. 354; Woanders, Phantastik, Genre, Gesellschaft, Buchmesse) — Habe im literaturwelt-Blog auf einen Leipziger Buchmesse 2007 Vorfeld-Artikel von der »Die Welt« zum Fantasy-Boom reagiert.
Das ist der Herr Werner. Der darf (für Geld) über Literatur seine Meinung öffentlich verbreiten.
Improvisations-Portraits (1. Lieferung). Mit dabei: Joseph K. Junker
Erstellt von molosovsky um 19:01
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Portrait
(Eintrag No. 349; Improvisations-Portraits) — Und weiter mit Bleistiftskribbels; einem vom letzten Jahr und zwei neuen. Ich darf mit Freude kundtun, daß ich mit scanen nicht nachkomme derzeit. Es flockt. Oh meine Freunde, die Ihr Euch schon sorgtet, daß ein ›Zeichners Block‹ den Molo heimsucht: derzeit hat mich dieser Alp nicht im Griff.
Joseph K. Junker: Einer der seit 30 Jahren nicht reingelassen wird beim Bachmann-Wettlesen. So entstand sein Lebensepos »Die Kummerkammer«.
Gezeichnet Juno 2006. Ca. 75 x 95 mm; Bleistift in Moloskin.
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Aus der laufenden, frischen, dicken, großen, tollen Leuchtturm-Agenda-Kladde. Jeweils ca. 40 x 40 mm; Bleistift. — Vielleicht Figuren aus Rosendorfers »Nacht der Amazonen«?
Der Herr Söder; ein christlicher Politiker.
(Eintrag No. 317; Portrait mich beunruhigener Zeitgenossen) — Der Herr Söder von einer christlichen Partei ist uns allen ja schon einige Male durch markiges Röhren zu Themen wie ›abfaulende Hände muslimischer Wähler‹ und der »Popetown«-Hysterie aufgefallen. Ja, über so einen beherzen Fettbecken-Turmspringer verzieh ich fast so die Nas, wie über den Hias (wenn er wieder besonders holzwurmig denkt) in guten Volkstheaterstücken. Derzeit dürfte der Herr Söder wohl der rigoroseste hiesige Gotteslästerungsparagraphenverschärfungsbefürworter sein.
Buchmesse 2006 (7): Ganz unaufgeregt über »Zorn und Zeit« plaudern
Erstellt von molosovsky um 11:35
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Portrait
(Eintrag Nr. 304; Portrait)
Buchmesse 2006 (4): Gutes Viertelstündchen vor dem Buchmessen-Bloggertreffen
Erstellt von molosovsky um 17:06
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(Eintrag No. 300; Buchmesse, Bloggerei) — Eigentlich wollte ich den dreihundertsten Molochronik-Eintrag mit einer kleinen Jubelei begehen und meine eigenen Lieblingsbeiträge vorstellen und dazu korrigieren (sozusagen ›Molochronik-DeLuxe‹-Einträge hervorheben). Dies muß nun bis nach der Buchmesse warten und eine eben nichtrunde Überdreihunderter-Nummer tragen. Sei's drumm, egal.
Jetzt gibts erstmal ein kleines Buchmessen-Skribbel. Heute war Literaturwelt-Blogger-Treffen im Pressezentrum der Buchmesse. Mein ›Chef‹ (der unermüdliche Projekt-Zugbulle) Oli Gassner und ich waren ein wenig zu früh da. Oli hat gebloggt. Ich hab Hausmacherworscht gegessen und ein wenig durchgeatmet.
Buchmesse 2006 (3): Die sieben Favoritenerwähler von der »Die {Literarische} Welt«
Erstellt von molosovsky um 22:12
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(Eintrag No. 299; Literatur, Gesellschaft) — Für »Die Welt« dürfen sieben Herren ihre jeweiligen Buchmesse-Saison-2006-Perlen ausbreiten. Keinen Ranglistenhierachien, keiner Kanonambitionen gibt sich das Septett hin, sondern empfiehlt halt, was man für glänzend und wohlfeil rund hält.
Obere Reihe von links nach rechts: Krekeler, Werner, Müller, Wittstock; Untere Reihe: Krause, Stein, Kellerhof.
Elmar Krekeler mags vergnügt aberwitzig und legt uns Haas »Der Wetter vor 15 Jahren« (›fintenreiche, literarisch abgründige, literaturbetrieblich aufreizende, fiese, geniale Geschichte‹), Galvinic »Die Arbeit der Nacht« (›verdienten Durchbruch‹) und Stanisic »Wie der Soldat das Grammofon repariert« (›steckt unser altes Deutsch unters Sauerstoffzelt‹) ans Herz.
Henrik Werner breitet drückt dreimal für das Themenfeld ›Historie‹ die Hupe: für Kosellecks »Begriffsgeschichten« (›dem Verstehen {zuarbeiten}, wie es so weit mit uns kommen konnte‹); für Assmanns »Der lange Schatten der Vergangenheit« (›akribische Vermessung des Spannungsfeldes zwischen persönlicher Erfahrung und offiziellem Gedenken‹) und Hinck »Romanchronik des 20. Jahrhunderts« Teil 3 »Historien« (›geradlinig, gewitzt und meinungsfreudig‹).
Felix Müller gibt sich ebenfalls Geschichtssachbüchern hin, und macht Laune auf Sloterdijks »Zorn und Zeit« (›zündende Assoziationskraft und höchste begriffliche Anstrengung‹), Bedinis »Der Elefant des Papstes« (›wunderbar schillerndes Porträt Roms auf dem Höhepunkt der Renaissance‹) und Besiers »Das Europa der Diktaturen« (›eindrucksvolle, gewaltige Arbeit‹).
Uwe Wittstock hatte nur Zeit oder Bock für zwei Favoritisierungen, nämlich
»Mikado« von Strauß (›Geschichten, in denen Zeitkritik nicht zur sauren Predigt wird‹), und »Jedermann« von Roth (›ist von großem literarischem Format‹).
Tilman Krause ist völlig und weg weil er »Drei Tage bei meiner Mutter« von Weyergans (›dass man außer sich geraten möchte vor Entzücken‹), »Ich nicht« von Fest (›Für Neubürger Pflicht-, für Altbürger Wehmutspensum!‹) und den Handke-Lenz'schen Briegwechsel »Berichterstatter des Tages« (›tröstliches, ein heilsames Buch‹) zur inniglichen Beherzigung anführen kann.
Auch Hannes Stein bestreitet seine diesmalige Buchmessenempfehlungsgelegenheit mit ›nur‹ zwei Titeln: Bajohrs und Pohls über die Deutschen im Dritten Reich »Der Holocaust als offenes Geheimnis« (›sine ira et studio‹), und den neuen Gedichten »Heimat« von Biermann (›handelt gar nicht von Deutschland, sondern von Südfrankreich‹).
Zuletzt streut Sven Felix Kellerhof seine lockerern Tipps für Heavy-History-Lektüren an: Weinke »Die Nürnberger Prozesse« (›knapp und präzise‹), »Halbmond und Hakenkreuz« von Mallmann und Cüppers (›Pflichtlektüre‹) und »Gefangen unter Hitler« von Wachsmann (›{zeigt nebenbei wie} harte Wissenschaft und Verständlichkeit fast mühelos koexistieren können‹).
Buchmesse 2006 (2): Die »Cicero«-Bestenliste 2006
Erstellt von molosovsky um 15:17
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(Eintrag No. 298; Literatur, Gesellschaft) — Drei Damen und vier Herren die ›wichtigsten {…} exponiertesten deutschen Literaturkritiker‹ haben für die jüngste Nummer des Berliner Stucksalon-Magazins eine fünfzigstufige Bestenliste zusammengestellt.
Von links nach rechts, obere Reihe: Auffermann, Greiner, Hage, Isenschmidt; untere Reihe: Radisch, Schmitter, Weidermann.
Man darf überrascht sein, denn für die drei Medaillien-Ränge wurden Botho Strauß, Peter Handke und Peter Rühmkorf auserkoren. Strauß und Handtke, weil sie ›wahlweise für Verblüffung oder Verdruss {sorgen}, verwandt im Gestus mit Interventionen, die die Spielregeln der Konsensgesellschaft glanzvoll verletzten‹. — Nun ja, die Spielregeln einer durch gegenseitige Blockade formatierten Konsensgesellschaft zu verletzten ist meiner Ansicht nach keine große Kunst. Ängstlich und verwirrt-widerwillig Aneinanderkauernden zu attestieren, daß sie kein hübsches oder würdiges Bild abgeben, ist nu' wirklich nicht knifflig. Wäre unsere zurecht geschmähte Konsensgesellschaft eine konviviale Gemeinschaft, deren Zusammenhalt auf Überzeugung und Vergewisserung beruht (und nicht auf kuschenden Komfortkalkül), dann wäre es schon um einiges schwieriger für Literaten, gegen den Grundbass dieser Konsensgesellschaft anzuschreiben.
Desweiteren erklärt sich Christine Eichel für »Cicero« die drei Erstplatzierten damit, daß diese für die Jury dadurch konsensfähig wurden, weil Werk und Wortmeldung der Sieger ein Spannungsverhältnis auszeichnet, das (wohl im vorbildlichen Sinne) Adornos Diktum folgt, dementsprechend sich ›die Größe von Kunstwerken {daran} bemesse, »dass sie sprechen lassen, was die Ideologie verbirgt«.‹ — Auch hier wundert sich der Korinthenschubser in mir, WELCHE der vielen flottierenden Ideologien denn bitte schön gemeint sein könnte.
Frau Eichel schwurbelt dann einen Absatz lang über den nur zögerlich (also gar kaum) stattfindenen Generationswechsel, wie ihn die Bestenliste zeichnet. Tatsächlich: nur fünf der fünfzig Aufgeführten sind unter vierzig Jahre alt. Dass die Konsensauen des vorgeführten Literaturbiotops die tatsächliche Altersverteilung der Bevölkerung wiederspiegeln, nehm ich als Omen, daß auch weiterhin den Gegenwarts- und Zukunft-Torf lieber von Autoren trockenlegen und stechen läßt, deren Denke und Sprache in der Vergangenheit in ähnlichen Mileus & Begriffsunterhölzern geformt wurden, wie die der Juroren. Unterm Strich darf ich als 34-Jähriger wohl mosern: Man wählt sich (wieder mal) selbst.
Listen dieser Art arbeite ich fast schon zwanghaft ab, und kritzle kleine Grinsegesichter für Nennungen die mich freuen, Schmollfratzen für Platzierungen die mich ärgern, und mach einfach nur einen neutralen waagrechten Strich, wenn ich nicht genug affektiert wurde (oder zu uninformiert bin), um kommentierend Stellung zu nehmen. Die Neutralen lass ich mal weg, sonst artet dieser Eintrag hier ja vollends aus.
• Die in meinen Augen akzeptablen Genennten (in Klammern die Platzierung): Rühmkorf (3), Enzensberger (9), Goetz (10), Grass (11), Mora (14), Ransmayer (18), Kracht (26), Manesse (27), Kempowski (28), Biller (29), Kirchhoff (32), Händler (35), Jelinek (45);
• Die in meinen Augen überschätzen Blender & Langweiler: Handke (2), Walser (5), Rothmann (23), Hürlimann (34), Maier (37), Treichel (39).
Völlig schrill auflockern durften noch sieben Beilagenkritiker mit je fünf Empfehlungen in super-originellen Eigenbaukategorien: Mein derzeitiger LitKrit-Held Denis Scheck hat als einziger »Cicero«-Meinungsschieber den Mumm, in seiner Auswahl (›für Donald-Duck-Leser‹!) einen Trash-Autoren (Schätzing) zu nennen, anständigerweise bezüglich dessen helleren Werkes (»Nachrichten aus einem unbekannten Universum«). — Desweiteren werden erwähnt und kratzen mich wenig bis kaum: die ›unerträglichsten Heuchler‹ (coole Sparte, Herr Seligmann!); die Besten ›über Familie und das Ende der Familie‹ (von Frau Salamander); die ›politischsten‹ (Herr Schreiber) und ›besten Rezitatoren‹ (Herr Wittmann). — Eine feine Fünferreihe der ›besten Stilisten‹ fährt Maxim Biller auf: Goetz, Kehlmann, Süskind, Maron und Ajourni; da schlafen mir mal nicht die Füße ein. — Henryk M. Broder kanns wieder mal nicht lassen und gibt sich in der Rolle des über-chuzpigen Lausbubs, indem er sich (wenn auch als letzte Nennung) selbst mit seinem »Hurra, wir kapitulieren!« auf seine Liste der ›besten Protagonisten angewandter Vernunft‹ platziert. Vielleicht meinte er ja ›Unverschämtheit‹ und in der Redaktion gabs einen Verleser.
Klagenfurter Portraitskibbels
Erstellt von molosovsky um 16:12
in
Portrait
(Bachmannwettlesen) — Mein Zahn schmerzt, ich schweb auf Schmerzblockern durch die Wohnung und sehne mich nach Schlaf. Stellt mich also schwer augenberingt vor. Nebenbei läuft das Klagenfurter Wettlesen, das Jubiläums- weil dreissigste -Jahr. Andreas Berichtkonzentrat sei allen empfohlen, die wissen wollen, worum es denn bei diesem Literatur-und-Diskurs-Ringelrei geht.
Heinrich Detering ist mitnichten einer meiner liebsten bezahlten Literaturmeinungs-Replikatoren, aber einer, der in diesem Jahr den brauchbarsten Begriff geprägt hat (bezüglich des maultrommelzupfenden Alptenschamanen Bodo Hell): Avantgardistische Trivialliteratur.
Ich bin nicht sicher, ob Heinrich Detering diesen Begriff bös, ironisch oder sonstwie mäkelnd meinte, aber ich nehm ›Avantgardistische Trivialliteratur‹ gerne in mein Repertoir auf.
Und weil die so flott von der Bleistiftspitze ging, hier noch die Gewinnerin des Bachmannpreises: Kathrin Passig.
Portrait: John Irving
(Portrait) — Nach dem Autorenphoto seines Romanes »Until I find you«
John Irving. Based in the photograph in his novel »Until I find you«