molochronik
Dienstag, 2. Oktober 2007

Vorschau auf Molos Rezis in MAGIRA 2007 (mit Portraits)

Eintrag No. 411

Jetzt im Oktober erscheint zum siebten Mal »Magira – Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Hermann Ritter & Michael Scheuch. Weil die Manuskripte von mir Ehren-Legastheniker sicherlich Zumutungen für jede Redaktion und Korrekturlesertruppe sind, ist es angebracht, daß ich den ehrenamtlichen Korrekturleser(n)Innen ganz demütig Danke! (Ich verbeuge mich herzlich grüßend vor Margit M. und Thomas G.!) Und Krischan S. hat sich wie immer heldenhaft mit den Scans meiner Portrait-Skibbels herumgeschlagen. Zu Dank verpflichtet bin ich auch meinen Habereren der verschiedenen Phantastik-Foren, in denen ich mich herumtreibe. So manche Wendung, Idee oder Einsicht, die Eingang in meine Sammelrezi fand, verdanke ich dem tastengeklapperten Tratsch mit Euch!
Wie schon in den vergangenen Jahren, gibts hier als Trailershow eine Übersicht meiner diesjährigen Empehlungen, die mit einiger Höflichkeitsverzögerung ab Anfang 2008 auch Stück für Stück in die Molochronik eingespflegt werden.
Aussicht auf 2008? Gerne will ich mal was anderes ausprobieren. Vielleicht eine Mischung aus Story, Rezi und Essay; vielleicht etwas, mit vielen kleinen Illus (so wie die TB-Ausgabe der Balzac'schen »Tolldreisten Geschichten« mit den Illus von Gustave Doré) … mal schaun.
Im Folgenden nun das »Introdubilo« und die Überleitungsabschnitte meines ca. 13.000 Worte langen »Magira 2007«-Beitrages.

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GUT GELAUNTE PHANTASTIK-EMPFEHLUNGEN DES LEKTÜREJAHRES 2006/2007
Da der Spielraum der Sinne enger ist als der Phantasie: so entsteht die Täuschung, dass wir uns jene nur in den Ketten des Körpers und diese nur in den Zügeln des Willens denken, da wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen. {…} So zieht das Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, um das gelobte Land der Zukunft. {…} Noch größer ist die phantasierende Kraft, wenn sie auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht.

—Jean Paul (1763-1825), »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft«[01]

Dicke, teilweise erschreckend anspruchsvolle Bücher, bzw. flotte Mehrteiler, haben mich im vergangenen Jahr in ihren Bann gezogen. Meine Eingeschüchtertheit vor einigen dieser Werke kann ich gar nicht übertreiben, und wieder mal[02] wurde ich heftig angestubst, mich mit Fragen über das Wesen der Phantastik im allgemeinen und insbesondere der Genre-Schublade Fantasy zu beschäftigen.

Streck- und Lockerungs-Übung: Wie lässt sich möglichst einfach erklären, was Phantastik eigentlich ist? Das Wort kommt ja aus dem Griechischen und bedeutet in etwa »erscheinen lassen«, »sehen lassen«. Gemeint ist, dass ein »Absender« durch Mitteilungen (»Medien«) beim »Empfänger« eine möglichst anschauliche Vorstellung hervorruft. Primitivstes Beispiel das mir dazu einfällt: ein der Sprache noch nicht mächtiges Kleinkind schreit und deutet auf sein geliebtes Stoffhäschen, und z.B. die große Schwester entschlüsselt diese Äußerung und bringt dem Kind das ersehnte Häschen. Oder nehmen wir Trunkenheit. Hält man sich an exakte Vermessungsmethoden, dann kann man den Grad seiner Trunkenheit »ganz nüchtern« in Zahlen ausdrücken, indem man das Mischverhältnis Blut/Alkohol ganz streng benennt: »Gestern hab ich heftig schwer gebechert und als mich der Herr Wachmeister in Röhrchen blasen ließ, zeigte das Gerät, dass ich mit 2,4 Promille unterwegs gewesen bin« (= wissenschaftlich-amtlicher Phantastik-Modus). Wer keine Ahnung hat von diesem Promillezeugs hat, kann ausweichen und sich helfen, indem die einverleibten Getränke aufgezählt werden: »Ach ja, gestern waren's fünf Weizen, drei Korn und zum Schluss noch ein Tequila« (= pragmatischer Modus). Schließlich kann man auch völlig blumig-skladische Umschreibungen verwenden, um den alkoholisierten Bewußtseinszustand kneipenpoetisch zu umschreiben: »Gestern abend haben wir so heftig gesoffen, dass wir einigen Bergen die Gipfel abgebrochen haben« (= umgangssprachlicher Modus[03]). Diese letzte Variante ist zwar total ungenau im Vergleich zu den ersten beiden, aber dennoch: man kann sich ein lebhaftes Bild davon machen, wie trunken durch die Gegend getorkelt wurde.

Das Pro und Contra zur Phantastik lässt sich im Grunde auf Deutungshoheitrangelein darüber zurückführen, welche Sprachgepflogenheiten, Bilderwelten, Vorstellungskonventionen und Denkkonstukte als zulässig bzw. unzulässig gelten sollen. Bei kontroversen Gesprächsrunden muss man meist nicht lange warten, bis jemand empört den Satz äußert: »Das kann man so nicht sagen!«. Unsere Sinneswerkzeuge können halt nur einen leidlich kleinen Ausschnitt des unendlich chaotischen Teiges der Echtweltwirklichkeit erfassen, und unsere Bewusstseins- und Denkorgane backen aus den handlichen Teigbröcken dann mundgerechte Impressions- und Erinnerungsbrötchen. Und weil wir Menschen nun mal derart beschränkt und (vor allem) zu fibbrig sind, als dass wir in das Wittgenstein'sche »Schweigen, worüber man nicht sprechen kann« verfallen wollen, hat die Menschheit aus unzähligen konkurrierenden Phantasma-Steinen und Metaphern-Verstrebungen einen Kommunikations-Turm zu Babel errichtet.

Die folgenden Titel meines zurückliegenden Lektürejahres haben alle mehr oder minder heftig mit nichts weniger als diesem vielgestaltigen Turm zu tun. Auf meinen ersten drei Stationen bereiste ich England, womöglich das Mutterland der modernen Phantastik, und mit vergnügten Eifer studierte ich Tom Shippeys Ausführungen über Tolkien; bewunderte die ungewöhnlich elegante Magie des Romandebuts und der versammelten Kurzgeschichten von Susanna Clarke; bestaunte hingerissen, wie die Gelehrten der Scheibenwelt unsere Rundwelt-Wissenschaft und -Kultur in einer ungewöhnlichen Novellen/Sachtext-Reihe bespiegeln, und im zeitgenössischen Russland entspannte ich mich von dermaßem viel Bildungsanstrengungen, indem ich meine Gaudi damit hatte, wie Sergei Lukianenko Fantasy, Horror und Poproman zu einem zwielichtigen Prosacomic vermengte.

Ich beginne mit einem J. R. R.-Schlenker (da ich auch mit Tolkien abschließen werde). Sein »Der Herr der Ringe« ist ja eines dieser Bücher, das dem Vernehmen nach von seinen begeistertsten Lesern immer und immer wieder, womöglich zur alljährlichen Besinnung und Erbauung gelesen wird[04]. Bei mir haben die folgenden voluminösen Brocken ‘ne gute Chance, genauso zu einer solchen (mehr oder weniger) regelmäßig-bereichernden Vergewisserungslektüre zu werden.

Neal Stephenson: Der »BAROCK-ZYKLUS« (I. »Quicksilver«; II. »Confusion«; III. »System of the World«) —oder: »It's the economy, stupid« … neben, ach, vielen vielen anderen Dingen.

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Wie locker oder verkrampft Phantastik betrieben und gehandhabt wird, hängt meiner Ansicht nach entscheidend davon ab, wie ruppig-leidgeprägt oder segensreich-glatt ein Kulturraum die Groß-Umwälzungen der Zeitenwende zur Moderne erlebte und empfand. Der Anglist Dietrich Schwanitz (1940-2000) schreibt dazu[05]:

»Während die Modernisierung {die Epoche des Übergangs von einer ständisch geprägten Gesellschaft zu einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft} in Deutschland die Gestalt einer finsteren Tragödie annahm, ist die englische Kulturgeschichte bei allen Kosten und Krisen im Vergleich zur deutschen eine Glücksgeschichte – und das heißt eine Comedia Anglica«.

Von allen internationalen Strömungen der Phantastik, ist mir die englische schon früh als besonders verführerisch und ergiebig nahegekommen. Es ist mir deshalb ein besonderes Vergnügen, mit einiger (hoffentlich verzeihbarer) Verspätung nun eine Autorin ausführlicher für MAGIRA zu besprechen, die sich ebenfalls dieser großen Zeitenwende widmet.

Susanna Clarke: JONATHAN STRANGE & MR. NORRELL« / »DIE DAMEN VON GRACE ADIEU« —oder: Ein edles Tröpfchen des berauschenden Weins der Magie.

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Oh je, die böse »Entzauberung der Welt«! Auch wenn sich hinter diesem Schlagwort von Max Weber eine tiefsinnige Reflexion zu dem sich über lange Zeit erstreckenden Intellektualisierungsprozesses der Menschheit, von dem der wissenschaftliche Fortschritt nur ein Teil ist, verbirgt, habe ich mir diese Sicht der Dinge, diese heftige Klage über ein Zuviel an Desillusionierung und ›Ent-Täuschung‹ niemals wirklich zu eigen machen können. In unseren gegenwärtigen Zeiten eines unseeligen »Kampfes der Kulturen« wird diese Klage wieder vermehrt in den verschiedensten Formen vorgebracht, und tritt zum Beispiel als Reibung zwischen religiös-spiritueller und wissenschaftlich-naturalistischer Weltauffassung zutage. Während die einen vom begrüßenswerten, weil notwendigen, Wiedererstarken des Religiösen sprechen, gehen andere kritisch bis hart mit den Religionen ins Gericht und grenzen sich z.T. heftig gegen Mumbojumbo jeglicher Coleur ab.

Pratchett, Steward, Cohen: »DIE GELEHRTEN DER SCHEIBENWELT« —oder: Expeditionen in die Wirklichkeit der geschichtenerzählenden Affen.

Diese Reihe besteht (bisher) aus drei Titeln: »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, »Die Philosophen der Scheibenwelt« und »Darwin und die Götter der Scheibenwelt«.

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Die Übergänge zwischen dem, was man als »Realismus« preist, und dem was man »Phantastik« schimpft sind ja meistens fließender, als auf Dauer bequem ist. Schlicht um nicht durchzudrehen, sparen sich Menschen deshalb üblicherweise, ihre stillschweigenden Annahmen, Übertreibungen und Vereinfachungen die Wirklichkeit betreffend auszubreiten., aber es reicht schon, kurz irgendeiner langfristigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung Aufmerksamkeit zu schenken, um das Knacksen und Rumpeln plattentektonischer Weltbild-Spannungen zu hören. Ziemlich nichtig ist freilich so eine Frage, wie man sich einen »idealen Apfel« vorstellt (grün oder rot), aber bei folgenden Angelegenheiten wird's dann brenzlig: ob Geschlechterrollen biologisch oder durch kulturelle Gepflogenheiten bestimmt werden; ob der Verlauf zivilisatorischer Entwicklungen zyklisch, aufsteigend, irgendwas dazwischen oder völlig anders geartet ist; wie man mit den Widersprüchlichkeiten zwischen solchen Werten wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit umgehen soll; wie man sicher sein kann, was Gut und Böse ist. Das klingt jetzt vielleicht ganz schon heavy, aber die nächste Station meiner Lektürereise führt unterhaltsam vor, wie solche Probleme sich auch mit kurzweiliger Abenteuerprosa umkreisen lassen.

Sergeij Lukianenko: DIE »WÄCHTER«-TETRALOGIE —oder: Von den Einen, den Anderen und den ganz Anderen.

Diese Reihe besteht aus vier (no na, deswegen ja Tetralogie) Büchern: »Wächter der Nacht«, »Wächter des Tages«, »Wächter des Zwielichts« und »Wächter der Ewigkeit«.

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Zum Ausklang nach soviel ›englischer Extrentrik‹ und russischem Gemütskolorit, nun eine Rückbesinnung anhand eines Sekundärwerks, dass keinen geringeren Gegenstand behandelt, als den großen (unfreiwilligen) Initialzünder der (auch von mir) oftmals so schmählich beäugten modernen »Feudalismus-Light«-Fantasy.

Tom Shippey: »J. R. R. TOLKIEN – AUTOR DES JAHRHUNDERTS« —oder: Über das Menschenrecht auf Phantasie.

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ANMERKUNGEN:

[01] Aus der dritten Abteilung von »Quintus Fixlein, Hanser 1975, Band 7, S. 195ff. ••• Zurück
[02] Siehe meine »Launischen Eempfehlungen…« in »Magira 2006« zu Büchern von Tobias O. Meissner, Neil Gaiman, Ian R. MacLeod, China Miéville und Jeff Vandermeer. ••• Zurück
[03] Gehört an einem Frankfurter Poetenstammtisch. ••• Zurück
[04] Zum Beispiel:
»Vint Cerf aus Kalifornien {Anfang der 80ger einer der Entwickler des Internet-Verbindungsprotokolls TPC und z.B. Vorstandsvorsitzer der ICANN. – Molo}, der sich selbst als Nerd bezeichnete und sich jedes Jahr ein paar Tage freihielt, um wieder einmal den »Herr der Ringe« zu lesen, ist einer der wenigen Männer, die sich wirklich als Väter des Internets bezeichnen können.«

Aus: »Das Lächeln der Medusa – Die Geschichte der Ideen und Menschen, die das moderne Denken geprägt haben« von Peter Watson; GEO/C. Bertelsmann, S. 1048. ••• Zurück

[05] Dietrich Schwanitz: »Englische Kulturgeschichte«, Eichborn 1996; Seite 9 und 10. ••• Zurück
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