molochronik

Tom Shippey: »J. R. R. Tolkien – Autor des Jahrhunderts«

Eintrag, No. 529

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2007 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Hier nun korrigiert und exklusiv um einige weiterführende Links erweitert.
••• Hier gehts zum Trailer der Sammelrezi mit Introdubilo und Warentrenn-Überleitungen.}

•••

Der vorherrschende literarische Modus des zwanzigsten Jahrhunderts war der des Phantastischen.

Mit diesem prächtigen Satz eröffnet Tom Shippey (*1943) seine große Führung durch das Schaffen und die Gedankenwelt des Mittelerdemeisters. Zugestanden: meine Begeisterung für Tolkiens Werk hält sich in Grenzen, aber das mindert nicht meine Faszination für diesen schrullig-konservativen Kreativ-Revolutionär der Phantastik. Trotz der Bedenken die mich zu vielen Aspekten von Tolkiens Fantasy umtreiben, teile ich die empörte Verdutzung der Phantastophilen über die ignorante Ablehnung und das zickige Unverständnis, mit der sich das ›literarische Establishment‹ größtenteils dem Papa Hobbit nähert[01].

Andererseits finde ich es genauso beunruhigend, wie Teile des Mikromilieus der Genre-Phantastikfans Tolkien unbekümmert nach jeweiliger Lust und Laune zurechtbiegen. Zugestanden: sich mit eigener Interpretation und Aneignung für ein Werk zu begeistern, oder simpel gesagt: für sich zu entdecken, schafft neue Perspektiven auf dieses Werk (auch für andere Leser, wenn man sich austauscht), aber dennoch bleibt es eine wichtige Orientierungsmarke, wenn man Schwammigkeitsriffe und Wischiwaschistrudel zu meiden trachtet, was denn ein Autor mit seinem Werk beabsichtig hat. Auf meinen Warnschildern an der Tolkien-Interprationsgrenze zum Unsinn stünde z.B. »Pfeiffenkraut ist kein Mittelerde-Marihuana!« und »Tolkien ist kein Pionier neuheidnischer Popular-Spiritualität!«.

Nun bietet Tom Shippey als einer der angesehensten, lebenden Tolkien-Experten mit seinem Buch angenehm verständliche Erläuterungen zum Mittelerdewerk[02]. Ein besonderer Glücksfall, denn nicht nur wandelt Shippey als Gelehrter für angelsächsische Literatur auf den gleichen Pfaden wie sein Vorgänger Tolkien, darüber hinaus ist Shippey selbst Herausgeber von Phantastik und (unter dem Pseudonym John Holm) auch ein Fabulierer. Er blickt also sowohl aus der Vogelperspektive akademischer Gelehrsamkeit, als auch aus der Froschperspektive schriftstellerischen Erzählens auf die Thematik. Skeptisch-bockige Verächter und überbegeisterte Zurechtdeuter können die Bröselig- oder Festigkeit ihrer Vorurteile anhand dieses Sachbuchs prüfen.

Der Hauptteil des Buches gliedert sich (weitestgehend chronologisch) in sechs Kapitel. Alles beginnt mit der eintönigen Korrigiererei von Studentenarbeiten, einer leeren Blattrückseite und einem gelangweilten John Reul Roland der gedankenlos einen Satz hinkritzelt, und ich meine natürlich: Alles beginnt mit dem »Loch in der Erde in dem einst ein Hobbit lebte«. Woher kommt das Wort »Hobbit«, und was soll man von anachronistischen Vokabeln wie »komfortabel«, »Tabaksdose«, »Postzustelldienst« und »Pfiff einer Lokomotive« in »Der Kleine Hobbit« halten? Hier ein Beispiel für Shippeys willkommenes Orientierungsgeschick:

Ein Autor, der eine Erzählung vor dem Hintergrund einer fernen Zeit darstellt, wird oft finden, dass die Kluft zwischen dieser Zeit und dem Bewusstsein des modernen Lebens allzu groß ist, um sich leicht überbrücken zu lassen; und folglich wird dann in den historischen Rahmen eine Gestalt von wesentlich modernerer Haltung und Empfindungsweise eingeschleust, die den Leser in seinen Reaktionen anleitet und ihm hilft, sich vorzustellen, ›wie es wäre‹, dabei zu sein.«[03]

Bilbo, dieser bequeme Mittelschichtbürger der viktorianisch-edwardischen Epoche, dient als »Spiegelteleskop in eine fremde Welt«[04], und fühlt sich entsprechend Fehl am Platze in dem archaisch-heroischen Reich von Mittelerde. Wortklaubereien behagen nicht jedem, aber wer eben von Tolkien diesbezüglich infiziert wurde, wird bereits in diesem ersten Kapitel reichhaltig verköstigt, mit Interessantem zu Begriffen wie Baggins (altes Nordenglisch für Brotzeit), oder »burglar« und »bourgeois« (der eine bricht in Burgen ein, der andere wohnt darin). Aufregend fand ich zum Beispiel auch, wie Shippey zeigt, dass die Schlacht der Fünf Heere im Grunde viele Wendungen des Ersten Weltkrieges in eine Pfeil und Bogen-Szenerie versetzt. Da organisiert Bard wie ein Infanterie-Offizier die kollektive Abwehr, da wird bis zum letzten Pfeil gekämpft (statt bis zur letzten Kugel) und werden Stellung gehalten, und Shippey resümiert diese Schlacht entsprechend:

Zwar ist der Sieg am Ende einem einzelnen und seiner von den Ahnen ererbten Waffe zu verdanken, doch liegt der Nachdruck der Schilderungen auf dem kollektiven Handeln, auf Planung und Organisation – mit einem Wort, auf Disziplin.[05]

Mit Spekulationen über den Zusammenhang von alten Wörtern für Höhlenbewohner (Holbytla), Hasen und Hobbits schließt Shippey das erste Kapitel ab, und verdeutlicht dabei, dass Tolkien daran gelegen war, eine Brücke zwischen Moderne und Vergangenheit zu bauen, und wie gut ihm das mit den Hobbits geglückt ist.

Als Herzstück des Buches folgen nun drei Kapitel über »Der Herr der Ringe« (desweiteren der Knappheit wegen HDR abgekürzt). Da (verständlicherweise) wohl kein deutscher Verlag auf absehbare Zeit (wenn überhaupt jemals) das Risiko und die ungeheuere Anstrengung wagen wird, die komplette dreizehnbändige »HISTORY OF MIDDLE-EARTH« zu übersetzen, sind diese Kapitel für alle, die sich hierzulande tiefer mit dem wichtigsten (wenn auch bei Weitem nicht einzigsten) Keimtext der heutigen Fantasy auseinandersetzen wollen, ein wunderbare Speisung, ein ausführlicher Ersatz für den editierten Nachlass. Zuerst widmet sich Shippey Tolkiens Tastversuchen um Struktur und Handlungsplan von HDR. Es ist eine verwickelte Queste für sich, wie sich Tolkien von Dezember 1937 an, Welle um Welle, lange Zeit planlos, mehrmals immer wieder von Vorne beginnend, langsam bis zur 1954/55 veröffentlichten Endfassung durchwurschtelte. Mit seiner Autopsie des Rats von Elrond (dieser unübersichtlichen Vorstandssitzung) verdeutlicht Shippey, dass dieses Kapitel in zweifacher Hinsicht einen bedeutenden Wendepunkt bezeichnet: erstens für Tolkien selbst, der bei seiner Arbeit an diesem Abschnitt endlich klare Sicht auf die großen tragenden Handlungssäulen seiner Wortkathetrale erlangte; zweitens als Wegscheide der Handlung, die mit der Mission der Ringzerstörung nun ein klares Ziel bekommen hat. Selbst für mich als Tolkienskeptiker ist es ein unterhaltsamer Unterricht, wie Shippey die ungeheuerlich unkonventionelle Komplexität von Tolkiens Schöpfung am Beispiel dieses Kapitels erläutert. In den beiden nächsten Kapiteln über die ideologischen und dann die mythologischen Dimensionen von HDR, legt Shippey die großen Themen aus, die Tolkien umtrieben. So zum Beispiel die quälende Menschheitsfrage nach dem Ursprung des Bösen, und warum es so viel Leid und Schmerz in der Welt gibt. Wie kann Gott das gewollt haben? Shippey zeigt, dass Tolkien sich dieser erzphilosophischen Probleme und Prüfungen des Glaubens annimmt, indem er zwei christliche Vorstellungen des Bösen, die ihn beschäftigt haben, gegenüberstellt: Erstens die orthodoxe Auffassung z.B. eines frühchristlichen Denkers wie Boethius, derzufolge das Böse keine eigenständige Wesenheit besitzt, nicht wirklich selbst etwas schaffen kann und nur durch die Abwesenheit des Guten Gestalt annimmt; zweitens das Gebäude des manichäischen Dualismus, demzufolge das Böse durchaus eine eigenständige dunkle Macht, und das Erdenrund ein Schlachtfeld des ewigen Kampfes zwischen Licht und Finsternis ist. Im Detail findet sich dieser Gegensatz z.B. in der Widersprüchlichkeit des Meisterringes wieder. Ist Saurons Über-Gadget ein psychischer Verstärker für unbewusste Ängste und egoistische Regungen? Oder ist der Ring selbst ein Charakter mit eigenem Willen? Auch als Nichtchrist kann einem dieses Beispiel Respekt für den Künstler Tolkien einflößen, wie er mittels dieses unentschiedenen Gegensatzes die zweifache Bitte um Schutz vor inneren und äußeren Versuchungen des Vater Unser-Gebets verarbeitet[06]. Beim Aufdröseln der mythologischen Dimension von HDR kommt Shippey schließlich auf zwei Vermittlungsambitonen Tolkiens zu sprechen. Einerseits war Tolkiens Anliegen, Verständnisbrücken zu errichten, zwischen christlichem Glauben und vorchristlicher heroischer Literatur (der sich J. R. R. und seine Inkling-Freunde, wie wir heute sagen würden, als Fans gewidmet haben), und andererseits zwischen christlichem Glauben und der nachchristlichen Gegenwartswelt (als welche der von den Schrecknissen der Moderne Traumatisierte seine Zeit empfand). Sozusagen locker nebenher liest sich das alles aber auch wie eine kleine (englische) Literatur- und Ideengeschichte, wenn Beziehungen zwischen Tolkiens Werk und solchen Klassikern wie Milton, Shakespeare und natürlich immer wieder »Beowulf« und die nordischen Sagas geknüpft werden.

Mit den beiden letzten Kapiteln leistet Shippey entsprechende Klärung zum »Silmarillion« und den kleineren Schriften Tolkiens. Da ich hoffentlich bereits genug Beispiele der klugen Beschäftigung Shippeys mit den Eingeweiden von Tolkiens Weltenbau angeführt habe, möchte ich das Augenmerk der geneigten Leser nun lieber auf die Einleitung und den Epilog von Shippeys Schatzkiste von einem Buch lenken. Diese beiden Teile sind nicht nur für Leser von Interesse, die ihre Sicht auf Tolkien schärfen möchten, sondern schildern anregend den merkwürdigen literaturkritischen Diskurs zu Tolkien und Phantastik. Shippey geht den Argumenten der Kritiker Tolkiens und dem überraschenden Erfolg vor allem von HDR auf den Grund, mit (wie ich finde) einer erfrischenden Portion streitbarer Plausibilität. Die Begeisterung des Publikums für Mittelerde wird drastisch kontrastiert durch die Ausgrenzung der Mehrheit der Gärtner der so genannten ernsthaften Literaturzirkel. Ein Exempel für die gespaltene Zunge der Kritik liefert Shippey z.B. mit Philip Toynbee, der 1961 in einem Artikel für die »Times« schrieb, dass die Kriterien, die ein guter Schriftsteller zu erfüllen habe, sein sollen:

  1. ein Privatmann zu sein, der sich nicht ums Publikum schert;
  2. er solle über alles schreiben und damit relevant machen können;
  3. er solle ein Artefakt schaffen, dass zuvörderst ihn selbst zufriedenstellt;
  4. und schließlich soll dieses Werk dann bei seinem Erscheinen schockierend, verblüffend und etwas für das Bewusstsein der Öffentlichkeit Unerwartetes sein.

Und dann tadelt dieser Toynbee im selben Jahr Tolkien, und war sich sicher, dass dessen Bewunderer ihre Mittelerde-Aktien bald wieder loswerden wollen, weil der ganze »Irrsinn« bereits der Gnade des Vergessens anheimfällt[07]. Shippey findet es kümmerlich, dass es Autoren wie James Joyce oder T.S. Eliot nicht angekreidet wurde und wird, dass sie ihre klar erkennbar modernen Werke mit Motiven alter Mythen und Sagen angereichert haben, genau dies aber gern gegen Tolkien angeführt wird. Und am ärgerlichsten: diese Ressentiments werden kaum jemals ordentlich begründet, und so vermutet Shippey, dass die damaligen Vorurteile der zumeist linksorientierten, protestantischen Literatur-Cliquen aus besserem Hause, gegenüber dem aus einfacheren Verhältnissen stammenden Katholen Tolkien für diese Betriebsblindheit verantwortlich waren, und sich diese Rhetorik gut eingeschliffen bis heute erhalten hat.

Wenn die Phantastik als Ganzes angegriffen wird, stelle auch ich Tolkien-Skeptiker mich beherzt auf die Seite des verständigen, aber alles andere als oberflächlichen Fürsprechers des Mittelerde-Meisters Shippey. Immerhin kann auch einer, der Tolkiens Werk für doof hält, die eigenen Argumente an so einem klugen Kenner wie Shippey schärfen. Nur zu gern habe ich mich von der Shippey-Lektüre zu »Hausaufgaben« anstiften lassen: z.B. mal mit Boetheus-Lektüre anzufangen und die Kurzgeschichten von Tolkien auf Englisch anzuschaffen und neuzulesen. — Abschließend möchte ich noch ganz unaufgeregt einem Wunsch Ausdruck verleihen: Eine günstige Taschenbuchausgabe von »J. R. R. Tolkien – Autor des Jahrhunderts« wäre sehr fein (und wenn’s noch’n büschen dauert bis dahin), denn immerhin kostet die gebundene Ausgabe 25,- € und es wäre schön, wenn ein verführerischer Taschenbuchpreis von ca. 12,– € weitere Leserkreise verführte, sich einmal »ernsthaft« mit dieser prominenten Zweitwelteschöpfung auseinanderzusetzen. Aber selbst wenn so eine Taschenbuchausgabe nicht zustande kommen sollte, ist es schön zu wissen, dass Klett-Cotta auch Shippeys »Der Weg nach Mittelerde« im Herbst 2007 auf Deutsch zugänglich machen wird. Ich freue mich schon darauf.

•••

»J. R. R. Tolikien – Autor des Jahrhunderts« (dt. »J. R. R. Tolkien – Author of the Century«, engl. 2000), übersetzt von Wolfgang Krege; Seiten: 396 Seiten; ISBN (gebunden): 978-3-608-93432-8.

•••

ANMERKUNGEN:

[01] Hier zum Sich-gruseln die ersten Zeilen des exemplarisch zickigen und unverständigen Eintrags in Frank Schäfers »Kultbücher« (Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2000, S. 81ff):
Ein riesiger, stofflich ausufernder, immerhin dreibändiger Schmarrn der erst 1969 ins Deutsche übersetzt wurde, was einigermaßen erstaunlich ist, denn der notorische Nachkriegs-Eskapismus wäre mit diesem atavistischen {gemeint ist vulgo: »rückständigen«, womöglich sogar »zurückgebliebenen« – Molo} Pseudo-Mathos doch eigentlich auch recht gut bedient gewesen. So erlößte jene Romantrilogie die meisten deutschen Traumtänzer und Schwarmgeister erst in den 70er und 80er Jahren (im Gefolge des Fantasy-Booms) aus ihrer Realitätsstarre und schickte sie auf eine weite Reise nach »Mittel-Erde«.

••• Zurück

[02] Shippey ist mir schon bei den Dokumentationen der Jackson’schen »Special Extended Edition« von »Der Herr der Ringe« angenehm aufgefallen. – Ich gestehe freimütig: Tom macht als leidenschaftlicher Experte bei diesen Dokus auf mich einen herzerfrischend sympathischen Eindruck. Vom Team des ganzen Verfilmungszirkus traue ich nur den beiden Künstlern John Howe und Alan Lee, sowie Christopher Lee zu, eine mit Shippey vergleichbare sinnfällige Schau auf Tolkiens Schaffen zu haben. ••• Zurück
[03] S. 46. ••• Zurück
[04] S. 47. ••• Zurück
[05] S. 82. ••• Zurück
[06] »Führe uns nicht in Versuchung / und erlöse uns von dem Bösen.« ••• Zurück
[07] Knuffig auch Hermann Hesses Urteil 1922 über E. A. Poe:
Die ganze ihm nachfolgende Literatur des Grauens und der Phantastik wird rasch wieder untergehen.

»Schriften zur Literatur« ••• Zurück

Vorschau auf Molos Rezis in MAGIRA 2007 (mit Portraits)

Eintrag No. 411

Jetzt im Oktober erscheint zum siebten Mal »Magira – Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Hermann Ritter & Michael Scheuch. Weil die Manuskripte von mir Ehren-Legastheniker sicherlich Zumutungen für jede Redaktion und Korrekturlesertruppe sind, ist es angebracht, daß ich den ehrenamtlichen Korrekturleser(n)Innen ganz demütig Danke! (Ich verbeuge mich herzlich grüßend vor Margit M. und Thomas G.!) Und Krischan S. hat sich wie immer heldenhaft mit den Scans meiner Portrait-Skibbels herumgeschlagen. Zu Dank verpflichtet bin ich auch meinen Habereren der verschiedenen Phantastik-Foren, in denen ich mich herumtreibe. So manche Wendung, Idee oder Einsicht, die Eingang in meine Sammelrezi fand, verdanke ich dem tastengeklapperten Tratsch mit Euch!
Wie schon in den vergangenen Jahren, gibts hier als Trailershow eine Übersicht meiner diesjährigen Empehlungen, die mit einiger Höflichkeitsverzögerung ab Anfang 2008 auch Stück für Stück in die Molochronik eingespflegt werden.
Aussicht auf 2008? Gerne will ich mal was anderes ausprobieren. Vielleicht eine Mischung aus Story, Rezi und Essay; vielleicht etwas, mit vielen kleinen Illus (so wie die TB-Ausgabe der Balzac'schen »Tolldreisten Geschichten« mit den Illus von Gustave Doré) … mal schaun.
Im Folgenden nun das »Introdubilo« und die Überleitungsabschnitte meines ca. 13.000 Worte langen »Magira 2007«-Beitrages.

•••

GUT GELAUNTE PHANTASTIK-EMPFEHLUNGEN DES LEKTÜREJAHRES 2006/2007
Da der Spielraum der Sinne enger ist als der Phantasie: so entsteht die Täuschung, dass wir uns jene nur in den Ketten des Körpers und diese nur in den Zügeln des Willens denken, da wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen. {…} So zieht das Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, um das gelobte Land der Zukunft. {…} Noch größer ist die phantasierende Kraft, wenn sie auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht.

—Jean Paul (1763-1825), »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft«[01]

Dicke, teilweise erschreckend anspruchsvolle Bücher, bzw. flotte Mehrteiler, haben mich im vergangenen Jahr in ihren Bann gezogen. Meine Eingeschüchtertheit vor einigen dieser Werke kann ich gar nicht übertreiben, und wieder mal[02] wurde ich heftig angestubst, mich mit Fragen über das Wesen der Phantastik im allgemeinen und insbesondere der Genre-Schublade Fantasy zu beschäftigen.

Streck- und Lockerungs-Übung: Wie lässt sich möglichst einfach erklären, was Phantastik eigentlich ist? Das Wort kommt ja aus dem Griechischen und bedeutet in etwa »erscheinen lassen«, »sehen lassen«. Gemeint ist, dass ein »Absender« durch Mitteilungen (»Medien«) beim »Empfänger« eine möglichst anschauliche Vorstellung hervorruft. Primitivstes Beispiel das mir dazu einfällt: ein der Sprache noch nicht mächtiges Kleinkind schreit und deutet auf sein geliebtes Stoffhäschen, und z.B. die große Schwester entschlüsselt diese Äußerung und bringt dem Kind das ersehnte Häschen. Oder nehmen wir Trunkenheit. Hält man sich an exakte Vermessungsmethoden, dann kann man den Grad seiner Trunkenheit »ganz nüchtern« in Zahlen ausdrücken, indem man das Mischverhältnis Blut/Alkohol ganz streng benennt: »Gestern hab ich heftig schwer gebechert und als mich der Herr Wachmeister in Röhrchen blasen ließ, zeigte das Gerät, dass ich mit 2,4 Promille unterwegs gewesen bin« (= wissenschaftlich-amtlicher Phantastik-Modus). Wer keine Ahnung hat von diesem Promillezeugs hat, kann ausweichen und sich helfen, indem die einverleibten Getränke aufgezählt werden: »Ach ja, gestern waren's fünf Weizen, drei Korn und zum Schluss noch ein Tequila« (= pragmatischer Modus). Schließlich kann man auch völlig blumig-skladische Umschreibungen verwenden, um den alkoholisierten Bewußtseinszustand kneipenpoetisch zu umschreiben: »Gestern abend haben wir so heftig gesoffen, dass wir einigen Bergen die Gipfel abgebrochen haben« (= umgangssprachlicher Modus[03]). Diese letzte Variante ist zwar total ungenau im Vergleich zu den ersten beiden, aber dennoch: man kann sich ein lebhaftes Bild davon machen, wie trunken durch die Gegend getorkelt wurde.

Das Pro und Contra zur Phantastik lässt sich im Grunde auf Deutungshoheitrangelein darüber zurückführen, welche Sprachgepflogenheiten, Bilderwelten, Vorstellungskonventionen und Denkkonstukte als zulässig bzw. unzulässig gelten sollen. Bei kontroversen Gesprächsrunden muss man meist nicht lange warten, bis jemand empört den Satz äußert: »Das kann man so nicht sagen!«. Unsere Sinneswerkzeuge können halt nur einen leidlich kleinen Ausschnitt des unendlich chaotischen Teiges der Echtweltwirklichkeit erfassen, und unsere Bewusstseins- und Denkorgane backen aus den handlichen Teigbröcken dann mundgerechte Impressions- und Erinnerungsbrötchen. Und weil wir Menschen nun mal derart beschränkt und (vor allem) zu fibbrig sind, als dass wir in das Wittgenstein'sche »Schweigen, worüber man nicht sprechen kann« verfallen wollen, hat die Menschheit aus unzähligen konkurrierenden Phantasma-Steinen und Metaphern-Verstrebungen einen Kommunikations-Turm zu Babel errichtet.

Die folgenden Titel meines zurückliegenden Lektürejahres haben alle mehr oder minder heftig mit nichts weniger als diesem vielgestaltigen Turm zu tun. Auf meinen ersten drei Stationen bereiste ich England, womöglich das Mutterland der modernen Phantastik, und mit vergnügten Eifer studierte ich Tom Shippeys Ausführungen über Tolkien; bewunderte die ungewöhnlich elegante Magie des Romandebuts und der versammelten Kurzgeschichten von Susanna Clarke; bestaunte hingerissen, wie die Gelehrten der Scheibenwelt unsere Rundwelt-Wissenschaft und -Kultur in einer ungewöhnlichen Novellen/Sachtext-Reihe bespiegeln, und im zeitgenössischen Russland entspannte ich mich von dermaßem viel Bildungsanstrengungen, indem ich meine Gaudi damit hatte, wie Sergei Lukianenko Fantasy, Horror und Poproman zu einem zwielichtigen Prosacomic vermengte.

Ich beginne mit einem J. R. R.-Schlenker (da ich auch mit Tolkien abschließen werde). Sein »Der Herr der Ringe« ist ja eines dieser Bücher, das dem Vernehmen nach von seinen begeistertsten Lesern immer und immer wieder, womöglich zur alljährlichen Besinnung und Erbauung gelesen wird[04]. Bei mir haben die folgenden voluminösen Brocken ‘ne gute Chance, genauso zu einer solchen (mehr oder weniger) regelmäßig-bereichernden Vergewisserungslektüre zu werden.

Neal Stephenson: Der »BAROCK-ZYKLUS« (I. »Quicksilver«; II. »Confusion«; III. »System of the World«) —oder: »It's the economy, stupid« … neben, ach, vielen vielen anderen Dingen.

••• Hier gehts weiter zur Rezi.

•••

Wie locker oder verkrampft Phantastik betrieben und gehandhabt wird, hängt meiner Ansicht nach entscheidend davon ab, wie ruppig-leidgeprägt oder segensreich-glatt ein Kulturraum die Groß-Umwälzungen der Zeitenwende zur Moderne erlebte und empfand. Der Anglist Dietrich Schwanitz (1940-2000) schreibt dazu[05]:

»Während die Modernisierung {die Epoche des Übergangs von einer ständisch geprägten Gesellschaft zu einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft} in Deutschland die Gestalt einer finsteren Tragödie annahm, ist die englische Kulturgeschichte bei allen Kosten und Krisen im Vergleich zur deutschen eine Glücksgeschichte – und das heißt eine Comedia Anglica«.

Von allen internationalen Strömungen der Phantastik, ist mir die englische schon früh als besonders verführerisch und ergiebig nahegekommen. Es ist mir deshalb ein besonderes Vergnügen, mit einiger (hoffentlich verzeihbarer) Verspätung nun eine Autorin ausführlicher für MAGIRA zu besprechen, die sich ebenfalls dieser großen Zeitenwende widmet.

Susanna Clarke: JONATHAN STRANGE & MR. NORRELL« / »DIE DAMEN VON GRACE ADIEU« —oder: Ein edles Tröpfchen des berauschenden Weins der Magie.

••• Hier gehts weiter zur Rezi.

•••

Oh je, die böse »Entzauberung der Welt«! Auch wenn sich hinter diesem Schlagwort von Max Weber eine tiefsinnige Reflexion zu dem sich über lange Zeit erstreckenden Intellektualisierungsprozesses der Menschheit, von dem der wissenschaftliche Fortschritt nur ein Teil ist, verbirgt, habe ich mir diese Sicht der Dinge, diese heftige Klage über ein Zuviel an Desillusionierung und ›Ent-Täuschung‹ niemals wirklich zu eigen machen können. In unseren gegenwärtigen Zeiten eines unseeligen »Kampfes der Kulturen« wird diese Klage wieder vermehrt in den verschiedensten Formen vorgebracht, und tritt zum Beispiel als Reibung zwischen religiös-spiritueller und wissenschaftlich-naturalistischer Weltauffassung zutage. Während die einen vom begrüßenswerten, weil notwendigen, Wiedererstarken des Religiösen sprechen, gehen andere kritisch bis hart mit den Religionen ins Gericht und grenzen sich z.T. heftig gegen Mumbojumbo jeglicher Coleur ab.

Pratchett, Steward, Cohen: »DIE GELEHRTEN DER SCHEIBENWELT« —oder: Expeditionen in die Wirklichkeit der geschichtenerzählenden Affen.

Diese Reihe besteht (bisher) aus drei Titeln: »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, »Die Philosophen der Scheibenwelt« und »Darwin und die Götter der Scheibenwelt«.

••• Hier gehts weiter zur Rezi.

•••

Die Übergänge zwischen dem, was man als »Realismus« preist, und dem was man »Phantastik« schimpft sind ja meistens fließender, als auf Dauer bequem ist. Schlicht um nicht durchzudrehen, sparen sich Menschen deshalb üblicherweise, ihre stillschweigenden Annahmen, Übertreibungen und Vereinfachungen die Wirklichkeit betreffend auszubreiten., aber es reicht schon, kurz irgendeiner langfristigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung Aufmerksamkeit zu schenken, um das Knacksen und Rumpeln plattentektonischer Weltbild-Spannungen zu hören. Ziemlich nichtig ist freilich so eine Frage, wie man sich einen »idealen Apfel« vorstellt (grün oder rot), aber bei folgenden Angelegenheiten wird's dann brenzlig: ob Geschlechterrollen biologisch oder durch kulturelle Gepflogenheiten bestimmt werden; ob der Verlauf zivilisatorischer Entwicklungen zyklisch, aufsteigend, irgendwas dazwischen oder völlig anders geartet ist; wie man mit den Widersprüchlichkeiten zwischen solchen Werten wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit umgehen soll; wie man sicher sein kann, was Gut und Böse ist. Das klingt jetzt vielleicht ganz schon heavy, aber die nächste Station meiner Lektürereise führt unterhaltsam vor, wie solche Probleme sich auch mit kurzweiliger Abenteuerprosa umkreisen lassen.

Sergeij Lukianenko: DIE »WÄCHTER«-TETRALOGIE —oder: Von den Einen, den Anderen und den ganz Anderen.

Diese Reihe besteht aus vier (no na, deswegen ja Tetralogie) Büchern: »Wächter der Nacht«, »Wächter des Tages«, »Wächter des Zwielichts« und »Wächter der Ewigkeit«.

••• Hier gehts weiter zur Rezi.

•••

Zum Ausklang nach soviel ›englischer Extrentrik‹ und russischem Gemütskolorit, nun eine Rückbesinnung anhand eines Sekundärwerks, dass keinen geringeren Gegenstand behandelt, als den großen (unfreiwilligen) Initialzünder der (auch von mir) oftmals so schmählich beäugten modernen »Feudalismus-Light«-Fantasy.

Tom Shippey: »J. R. R. TOLKIEN – AUTOR DES JAHRHUNDERTS« —oder: Über das Menschenrecht auf Phantasie.

••• Hier gehts weiter zur Rezi.

•••

ANMERKUNGEN:

[01] Aus der dritten Abteilung von »Quintus Fixlein, Hanser 1975, Band 7, S. 195ff. ••• Zurück
[02] Siehe meine »Launischen Eempfehlungen…« in »Magira 2006« zu Büchern von Tobias O. Meissner, Neil Gaiman, Ian R. MacLeod, China Miéville und Jeff Vandermeer. ••• Zurück
[03] Gehört an einem Frankfurter Poetenstammtisch. ••• Zurück
[04] Zum Beispiel:
»Vint Cerf aus Kalifornien {Anfang der 80ger einer der Entwickler des Internet-Verbindungsprotokolls TPC und z.B. Vorstandsvorsitzer der ICANN. – Molo}, der sich selbst als Nerd bezeichnete und sich jedes Jahr ein paar Tage freihielt, um wieder einmal den »Herr der Ringe« zu lesen, ist einer der wenigen Männer, die sich wirklich als Väter des Internets bezeichnen können.«

Aus: »Das Lächeln der Medusa – Die Geschichte der Ideen und Menschen, die das moderne Denken geprägt haben« von Peter Watson; GEO/C. Bertelsmann, S. 1048. ••• Zurück

[05] Dietrich Schwanitz: »Englische Kulturgeschichte«, Eichborn 1996; Seite 9 und 10. ••• Zurück
Sie sind nicht angemeldet