Eintrag No. 735 — Lektüre: Geht etwas wild und durcheinander zu bei mir derzeit, da ich in einer Phase bin, in der ich verschiedenes durcheinander lese. Auf dem Gebiet der Sachbücher erfreue ich mich zweier Aufsatzsammlungen zum Thema Science Fiction.
1)»Red Planets. Marxism and Science Fiction« (Hrsg. von Mark Bould und China Miéville), in dem sich 13 Texte finden. In der Einleitung leistet Mark Bould eine interessante Schau auf die Veränderung der Kommentierung der globalen Ökonomie durch die SF anhand von Jules Vernes »20.000 Meilen unter dem Meer« und »The Matrix«. — Die erste Abteilung »Things to Come« beschäftigt sich mit den Spuren des utopischen ›noch nicht‹ von Ernst Bloch; — die zweite Abteilung »When Worlds Collide« legt u.a. am Beispiel der Werke von Charles Stross und Ken MacLeod dar, wie SF geschichtliche Zustände kommentiert, in denen sich Gelegenheiten für revolutionäres Hanlen eröffnen; — die dritte Abteilung »Back to the Future« schlägt am Beispiel der Werke u.a. von Philip K. Dick, Ursula K. Le Guin und dem Weimarer Kino alternative Science Fiction-Studien vor, die vom durch Darko Suvin gesetzten Paradigma abweichen. In seinem Nachwort »Cognition as Ideology: A Dialectic of SF Theory« nimmt China Miéville dann Suvins Theorie derart beim Wort, dass deren unterschwellige ideologische Setzungen deutlich zu Tage treten.
2) Eine wahre Fundgrube (mit 554 großformatigen Seiten) ist »The Routledge Companion to Science Fiction« (Hrsg. Mark Bould, Andrew M. Butler, Adam Roberts & Sherryl Vint). In vier Abteilungen werden Aufsätze zu den Bereichen Geschichte (18 Texte), Theorie (14 Texte), Themen und Herausforderungen (12 Texte) und Subgenres (12 Texte) geboten. — Soweit ich die Texte zur Geschichte der SF gelesen habe (die Ausführungen zur Literatur, Film und Comics umfassen), bin ich schwer begeistert über die nüchternen und sachkundigen Darlegungen. — Der Theorie-Teil berücksichtigt neben den zu erwartenden Aufsätzen über Feminismus, Sprache, Postmoderne und postkoloniale Studien auch Texte über marxistische SF-Theorie, Queer-Theory, Virtualität und Posthumanismus. — Die Abteilung Themen und Herausforderungen sind vor allem für akademische Leser von Interesse, denn hier werden Themengebiete behandelt, die sich (wenn) noch eher am Rande der universitären Diskurse abspielen, also Sachgebiete wie z.B. Tierstudien, digitale Spiele, Umweltfragen, Musik und Pseudowissenschaft. — Der Subgenre-Teil widmet sich dann gebräuchlicheren speziellen Feldern und Betrachtungswinkeln wie Arthouse- und Blockbuster-Filmen, Hard-SF und Space Opera, Alternativgeschichten und Slipstream. Besonders freut mich natürlich der Aufsatz über Weird Fiction von China Miéville.
Bereite mich auf’s zehnjährige Jubiläumsrekapitulieren von IX.XI. vor, u.a. indem ich Mathias Bröckers (dessen »Die Drogenlüge« ich empfehlen kann) & Christian C. Walthers »11.9. Zehn Jahre danach« lese. Gutes Buch, das zusammenträgt, welche Teile der offiziellen Geschichtsschreibung (vor allem »9/11 Commission Report«) einer ordentlichen staatsanwaltlich-forensischen Untersuchung nicht genügen, wer also nochmal vorzuladen ist, welche Unterlagen freizugeben sind, welche Umstände von unabhängigen Experten geprüft werden müssten. Es ist ja wahrlich erstaunlich und empörend, was da von Statten ging und geht: wie die offizielle Untersuchung geführt wurde, welche Erkenntisse, Spuren und Zeugen (begründungslos oder mit platten Ausflüchten) unberücksichtigt blieben.
In der ›F.A.Z.‹ (im Netz nun anderswo nachzulesen) erschien am 15. Juli eine Kurzkritik von Raphael Gross, der sich darüber beklagt, dass das Buch in einer ARD-Sendung lobend vorgestellt wurde: Verschwörungstheorie: Was geschah am 11. September 2001? / Die ARD präsentiert ein Panorama der Unsicherheiten. — Eine, wie ich finde, ziemlich ungustiöse Kritik, denn Gross geht gar nicht auf die Sache selber ein, sondern verfrachtet Autoren und Ansinnen einfach mal in die böse Ecke des Krypto-Antisemitismus. — Erfrischend dann aber wieder die Erwiderung von Herrn Walthers im Blog von Herrn Bröckers: Versagende Überwachungsinstanzen.
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Um nicht kirre zu werden vor lauter Sachbuch-Fakten entspanne ich mich mit den »Demon Download«-Büchern von Jack Yeovil (= Kim Newman).
Ich habe diese Quatrologie vor ca. 20 Jahren unkomplett gelesen. Neben den »Warhammer Fantasy«-Romanen von Yeovil gehören die »Demon Download«-Bücher nicht nur zum Besten, was jemals für die legendäre Spieleschmiede ›Games Workshop‹ geschrieben wurde, sondern auch zum Höhepunk dessen, was ich (bisher) an knackiger, exzellent geschriebener Genre-Krachbumm-Phantastik kenne.
Allein die Mischung! Der ›Dark Future‹-Weltenbau ist in einer nahen, ziemlich kaputten Zukunft angesiedelt und erinnert an Stoffe wie »Mad Max« und »Die Klapperschlange«. Wir haben also knappe Rohstoffe, chaotische Zustände in gesetzlosen Zonen der U.S.A., eine korrupte Regierung die nach der Peiffe großer Technologie- und Bio-Ware-Unternehmen tanzt, überall auf der Welt gewalttätige Konflikte zwischen Unabhängigkeits-Kämpfern und Hegemonie-Söldnern, während mediale Blödmaschinen die neusten Promi-Skandale und Sexutainment-Spielchen verbreiten. Western-artig ist der Gesetzeshüter- und Banditen-Konflikt, nur wird weniger geritten als mit Autos, Trucks und Motorrädern herumgefahren. Vom Cyperpunk entleiht man sich transhumanistische Gadgets, Hackerei und Datensurfen. Von Lovecraft und den Seinen übernimmt Yeovil das Konzept der Großen Alten, also finsteren Dämonen, die danach trachten, ihr Unwesen auf der Erde zu treiben. Das alles ist angereichert mit deftigen parodistischen und satirischen Dreingaben, ohne dass die äktionreichen Stories darunter leiden.
In eigener Sache 1: Soweit ich weiß das erste Mal, dass ich als Quelle in einem Wikipedia-Artikel erwähnt werde: Liste von Steampunk-Werken. Es freut mich ganz besonders, dass es meine Rezension von Ian R. MacLeods »Aether« angegeben wird, denn leider ist dieser vorzügliche Roman bei uns etwas untergegangen, so dass die ebenso brillante Weiterspinnung dieses magischen Steampunk-Weltenbaus, »House of Storms«, noch nicht auf Deutsch erschienen ist.
In eigener Sache 2: Es ist mir eine Ehre, dass meine Rezension von Max Brooks »Operation Zombie« von Maik Nümann auserkoren wurde, in seinem hervorragenden Blog ›Dystopische Literatur‹ als Gastbeitrag zu erscheinen.
Zuckerl: Popkultur & Kunst
Habe in den vergangenen Tagen nach neuen Schreibtischhintergrund-Schmuckbildern gestöbnert und folgende Gemmen geerntet: Behold the Power; — Lions, Kenya (Photo von Wai Chun Turnbull bei ›National Geographic‹); — Tree, Arches National Park (Photo von Bill Keaton bei ›National Geographic‹).
Unter dem Titel Nahaufnahmen hat ›Der Freitag‹ ein schönes Portfolio der Reportagen-Illustrationen von Güdel zusammengestellt. Ich bin ein leidenschaftlicher Fürsprecher der Tradition, Zeitungstexte mit genuinen Illustrationen zu versehen.
Zweimal dolle Kunst, die im Blog ›This is colossal!‹ vorgestellt wurde: Zum einen die Verpixelten Tiere von Laura Bifano. Eine wahrhaft schräge Idee, in Gemäldeform Tiere so darzustellen, als ob sie aus Pixelblöcken zusammengesetzt wären.
Vor allem meine Lektüren von China Miévilles Bas-Lag-Romanen (z.B. »Perdido Street Station« und »Der Eiserne Rat«), Neal Stephensons »Barock-Zyklus« und Susanna Clarkes wunderbaren Fantasygeschichten die in der Regency-Epoche angesiedelt sind, haben mich in den letzten Jahren heftig über solche Fragen grübeln lassen.
Hier auch für die Molochronikleser meine Ergenisse des Google-Orakels zum Thema.
Bibliographie zum RPG-System »Castle Falkenstein«: Diese Fantasy-, Romance-, Steam Punk-Welt zeigt wunderbar, wie sich Wissenschaft und Magie in Fantasy die sich moderene Epochen annimmt mixen lassen.
»The Lost Notebooks of Leonardo da Vinci«: ein Sourcebook des »Castle Falkenstein«-RPGs. Wunderbarer Augenschmaus und hochoriginell. Auch einfach so schön zu genießen, ohne dass man Rolle spielen muss.
… dazu verweise ich als Bas-Lag-Aktivist mal auf diesen Thread auf der deutschen Bas-Lag-Seite »Die Crisis-Theorie«:. Miéville ist studierter Anthropologe und Politikwissenschaftler und greift für seine ›Weird Fiction‹-Welt Bas-Lag (für mich) erfreulicherweise auf modernere Denksysteme als Grundlage für seine Magie (= Thaumaturgie) zurück.
»SF Diplomat: Conservatice Fantasy«: Umfangreicher Thread des Genre-Kritikers Jonathan McCalmont. Ich habs nur überflogen, aber McCalmont kommt u.a. auf Stephens »Barock-Zyklus« und George R.R. Martin zu sprechen und vergleicht den Weltbildbau beider.
Ebenfalls sehr ertragreich und abseits des üblichen Fantasy-Mainstreams (wo, zumindest meiner Wahrnehmung nach, eine gewisse romantische Affinität für Magie und Neuheidentum vorherrscht) ist die Reihe »Die Gelehrten der Scheibenwelt« von Meisterfabulator Terry Pratchett und der Wissenschaftler Ian Steward & Jack Cohen. Meine Rezi dazu wird erst in den kommenden Monaten hier eingepflegt (hier derweil mein Trailer). Bis dahin bleibt nur, entweder das aktuelle »Magira — Jahrbuch zur Fantasy 2007« zu lesen, oder auf diese exzellente Besprechung von Andreas Müller beim Humanistischen Pressedient auszuweichen.
EDIT vom 14. Okt. 2007: Schöneres Cover-Img eingepflegt.
Eintrag No. 378 — Frank Weinreich hat mich schon beeindruckt, mit seinen umsichtigen Artikeln zu Tolkien. Klar, für mich als Tolkien-Skeptiker schreibt Frank zwar immer noch zu nachsichtig über JRR, aber dennoch gehört Frank zu den klügeren deutschen Tolkien-Exegeten und Fantasy-Erklärern.
Da freut es mich, daß im neuesten (Juno-)Magazinteil der Phantastik-Couch eine zusammenfassende Vorschau auf sein neustes Buch geboten wird, in dem es um nichts weniger gehen wird, als eine »Einführung in die Fantasyliteratur«.
Oftmals fühle ich mich wie ein querulantischer Kobold, wenn ich meine literaturgeschichliche Maximalsicht auf »Fantasy« (ich rede halt lieber von »Phantastik«) verbreite und auf dieser meiner Sicht beharre;— und es taugt mir deshalb enorm, daß Frank eine ganz ähnlich unverschämte Weitwinkelobjektivsicht auf das Genre pflegt, wenn er z.B. schreibt (Hervorhebung von Molo):
Vielleicht wäre es am treffendsten, die Fantasy als nicht geglaubte Mythen zu bezeichnen. Das zeigt dann auch, dass die Geschichte der Fantasy nicht erst mit muskelbepackten Schwertschwingern wie Conan beginnt, sondern schon mit muskelbepackten Schwertschwingern wie Achilles. Nur dass Homers Geschichten über den Letzteren allgemein als Fanal für den intellektuellen Aufschwung des Abendlandes gehalten und als erster glänzender Höhepunkt der Literatur im speziellen und der Kreativität im allgemeinen interpretiert werden, während man Conan auch ganz gerne als Symbol für kulturellen Trash empört in die Höhe hält. Und auf hohem homerischen Niveau geht es ja weiter, wenn man schaut, welche namhaften Menschen Fantasy schrieben, auch wenn man es zu ihrer Zeit natürlich nicht so nannte: Dante, Chaucer, Shakespeare, Goethe und und und. Der Autor hält sich jedoch nur kurz bei der Geschichte der Vorläufer der eigentlichen Fantasy auf und legt den Schwerpunkt der Darstellung auf die moderne Fantasy, die im 19. Jahrhundert mit den Werken George MacDonalds und William Morris´ beginnt.
Schade nur, daß in der Vorschau das Trösten und Sinnmachen für meinen Geschmack zu einseitig betont. Nix gegen den Sinnmach-Aspekt der Phantastik, aber neben dem Trösten gibts halt noch viel anderes, was »Fantasy« kann. Nicht umsonst fransen die drei Hauptgenre der Phantastik — Fantasy, Horror, SF — an den Rändern aus und werden von entsprechenden Kreativen miteinander munter verflochten.
Fantasy/Phantastik übertreibt und fuhrwerkt mit Zauberdingen, Wunderorten, Monstern, Halbmenschen und vielerlei anderen Extotismen. Sie bedient also zuallererst unsere Neugier bzw. unseren Sinn für das Wundersame (Sense of Wonder), unser menschliches Verlangen danach, das Gesichtsfeld zu erweitern, Neues zu entdecken (und dieses Neue kontrolliert zu erschließen, zu beherrschen).
Die echte Welt ist zuallermeist eben banal, eintönig und langweilig, und die Gravitationskräfe des Daseins ziehen uns alle in Richtung Vergänglichkeit und Auflösung. Die Phantastik bietet nun mit ihrem als Eskapismus übel beschimpften Moment einer raumerschließenden Horizontserweiterung eine Milderung zu dieser alles niederziehenden Schwerkraft des Daseins an. Und ohne einem entsprechenden Talent zum Selberstiften solcher Fluchtbewegungen ist keine Kultur denkbar (siehe das Nietzsche-Zitat am Ende).
Was ich aber gerne betone ist, daß so wie die Fantasy Sinn zu stiften vermag, so kann sie auch alle sicher geglaubten Sinngerüste zum Wanken bringen; und so wie sie zu trösten vermag, kann Phantastik eben auch beunruhigen. Mit Namen wie George McDonals, William Morris und JRR Tolkien wird eine bestimmte Spielart der modernen Phantastik betontz, die ihre Stimme überwiegend als kritisch-romantische Gegenstimme zur ach so bösen Moderne erhob. Bin schon neugierig, ob (und wenn wie) Frank hier einer gegen die Übel der Moderne anwetternden Fantasy das Wort redet, oder nicht. — Aber so im Großen und Ganzen macht die Vorschau auf Frank Weinreichs Buch einen guten Eindruck bei mir.
So zum Beispiel, wenn er sich auf das Übernatürliche als Definitionsfundament beruft. Gespannt bin ich auf das kommende Buch, denn schon bei der Aufdröselung des für die Fantasy grundlegenden Übernatürlichen bekomme ich ein wenig Schwindelgefühle, wenn es heißt (Hervorhebung von Molo):
Meist wird das Übernatürliche in Form von drei charakteristischen, ebenfalls auf der inhaltlichen Ebene zu findenden Motiven in Szene gesetzt: durch das für die Geschichte bestimmend wirkende Vorhandensein von Heldinnen und Helden (die können auch mal negativ gezeichnet sein), durch eine imaginäre Welt als Haupthandlungsort (dies kann auch ein irrealer Teil der realen Welt sein, wie die Zauberschule Hogwarts) und durch die Ausübung von Magie (im Sinne von Praktiken, die den Verlauf von Ereignissen auf übernatürliche Weise beeinflussen) als für die Erzählung selbstverständliches Faktum.
Magengrummeln bereiten mir die Helden, bzw. daß pauschal alle Protags der Fantasy gleich als Held bezeichnet werden. (Andereseits kann man freilich alle Protagonisten aller Genre-Felder als Helden bezeichnen. Hat sich halt so eingeschliffen.) Aber wahrscheinlich bin ich da voreingenommen, weil ich nun mal den Begriff Held mit großer Vorsicht und Skepsis nehme. Helden sind die Figuren der großen Taten, sind die Burschen und Mädels, die der Welt ihre Meinung/Haltung aufprägen müssen. Helden sind zwielichtige/zweischneidige Figuren, was deutlich wird wenn man beobachtet, daß die eigenen Krieger, Beschützer, Eroberer und Trickser gefeiert & verehrt, die Helden der anderen aber als Monster, Unholde und Kriegsverbrecher gefürchtet & verachtet werden.
Weiter: gern les ich, daß Weinreich sich in seinem kommenden neuen Buch mit den literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Helmut Pesch und Northrop Frye auseinandersetzten wird. Ersterer (Pesch) hat die bis heute ergiebigste deutschsprachige Arbeit zu Geschichte und Wesen der Fantasy(1982/2001, »Fantasy—Theorie und Geschichte«) geschrieben; zweiterer ist ein englischer Literaturwissenschaftler, der für die Güte seines Buches »Analyse der Literaturkritik«(1957, »Anatomy of Criticism«) hierzulande sträflich-beschämend unbekannt ist (Meine Meinung lautet ja, daß die Germanisten den Anglisten und Amerikanisten was Literaturbeschäftigung betrifft ca. 20 Jahre hinterherhinken. Allein wie die bereichernden Entwicklungen der Genre Studies und Cultural Studies hierzulande nicht in die Puschen kommen {¿dürfen?}, läßt mich wähnen, in einem kirchturmfixierten Dorf zwischen Runkelrüben und Kühen zu weilen). — Aber ich gräme mich, daß auch Weinreich den unsäglichen, zu nichts außer zur Abschreckung zu gebrauchenden Tzvetan Todorov aus der Mottenkiste verschwurbelter Siebzigerjahredenke vervorzerrt (1970, »Einführung in die fantastische Literatur«), in der Todorov einem die entweder/oder-Pistole auf die Brust setzt, und für die Phantastik nur einen ziemlich kleinen Raum übrig läßt, der von kläglich wenigen Genre-Texten eingenommen werden kann. Klassisches Beispiel einer Theorie, die am Gegenstand vorbeitüdelt und damit vielleicht als Denkschwulst beeindruckt, aber als Leitfaden und Werkzeug völlig versagt.
Gespannt bin ich auf Weinreichs Behandlung des innigen Zusammenhangs von Phantastik und Mythos. Immerhin kannten die alten Griechen schon zwei Begriffe für Wort: einerseits nannten sie die vernünftige Rede, das Be-sprechen Logos, das ›unnüchternde‹ Reden in Sagen- und Legendenformat aber nannten sie Mythos. Man sieht also: so neu ist das Alternativkultur-Thema des ›Wilden Denkens‹ (und Fabulierens) gar nicht. Und es ist, wie Nietzsche so trefflich sagte, ein ›umhüllender Wahn‹ der Kulturgemeinschaften bindet. Phantastik ist nicht zuletzt wegen seiner Auseinandersetzung mit diesen Wahn ein so wertvolles und wohl auch heikles Genre.
Aber selbst jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht einen solchen umhüllenden Wahn, eine solche schützende und umschleiernde Wolke; jetzt aber hasst man das Reifwerden überhaupt, weil man die Historie mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphirt darüber, dass jetzt »die Wissenschaft anfange über das Leben zu herrschen«: möglich, dass man das erreicht; aber gewiss ist ein derartig beherrschtes Leben nicht viel werth, weil es viel weniger Leben ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt, als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch Instincte und kräftige Wahnbilder beherrschte Leben.