Anlässlich der Neuausgabe von Alfred Kubin: »Die Andere Seite« (mit Link-Service)
Eintrag No 555 — Wenn ich nach Gipfeln der deutschen Phantastik gefragt werde, nenne ich immer zwei Namen: Wolf von Niebelschütz (1913-1960) und Alfred Kubin (1877-1959). Ich finde es finster, wie wenig man sich (sowohl in den ernstliterarischen wie den Genre-Kreisen) mit diesen beiden Phantasten auseinandersetzt, wobei die Lage bei Kubin phasenweise immer wieder mal aufhellt.
Da bot zum Beispiel die »Neue Galerie« in New York von Ende September 2008 bis Ende Januar 2009 eine große Alfred Kubin-Ausstellung, zum Frühwerk des großen Monsterzeichners, anläßlich derer wieder einmal ein neuer Werkauswahlband zusammengestellt wurde (»Alfred Kubin Drawings 1897-1909«, gemeinerweise ist die deutsche Ausgabe einfach so 20 Euro teurer). — Und auch in der Frankfurter Schirn Kunsthalle gab es eine kleine feine Auswahl Kubinradierungen in der Ausstellung »Darwin – Kunst und die Suche nach den Ursprüngen« zu sehen.
Der von mir hoch geschätzte Jeff Vandermeer hat sich die Ausstellung New York gegönnt. Er bietet einige Aufnahmen aus dem Katalog und findet es interessant, wie Kubin beispielsweise Mervyn Peake und H. P. Lovecraft vorweggenommen hat.
Ebenfalls durchaus erfreulich ist, dass endlich mal wieder mittels einer schönen Neuausgabe der einzige Roman von Kubin, »Die Andere Seite« (1909) verbreitet wird. Zwar kann man noch billig gebrauchte Exemplare einer der vielen Taschenbuchausgaben erstehen, die es im Laufe der Jahrzehnte von dem Roman gab, aber die meisten dieser TB-Ausgaben sind schrecklich und derweil auch hie & da schrecklich (über)teuer(ert). Wirklich empfehlen kann ich nur die gebundene Ausgabe von Edition Spangenberg (ein Reprint der Erstausgabe) und eben jetzt die schöne Neuausgabe als Band 1444 der Bibliothek Suhrkamp.
Die gebundene Suhrkamp-Ausgabe ist nicht ganz billig (25 Euro), hat aber ein schönes Format (140 x 212 mm) und einen angenehmen Satz und ist auf feinem Papier gedruckt, enthält die 51 Illustrationen und einen Stadtplan der (Alp)Traumstadt Perle. Aber so gar nicht zufrieden, ja sogar enttäuscht und verärgert bin ich über das Nachwort des Büchnerpreisträgers Josef Winkler. 549 Zeilen ca. 19 Seiten lag ist es, und unverschämt eitle 104 Zeilen widmet Winkler Anekdoten zu seinen katholischen Kindheits- & Jugendprägungen. Nur halbwegs befriedigend ist die Bespiegelung Kubins durch von Winkler vorgestellte Zitate Julien Greens von dessen Besuch einer Kubinaustellung 1977. Der Rest bietet zwar eine gut geschriebene, aber flüchtig wirkende biographische Skizze zum Leben und Schaffen Kubins. Setzten: Fünf Minus! — Eine geraffte Fassung dieses Nachwortes (immer noch mit viel Winkler-Bauchnabelschau) kann man bei »Die Welt« lesen: »Tausend gottlose Wunderräusche«
Ergiebiger und informativer sind da folgende im Netz zu findende Texte über Kubin und »Die Andere Seite« (kleine Auswahl der lesenswertenden Beiträge aus der Masse der Googlefunde):
- Eine knappe Beschreibung aber ausführliche Lektüreempfehlungen hat man bei »Sandammeer« zusammengestellt.
- Eine (fast schon zu ausführliche) Inhaltsbeschreibung liefert »Wie man mit Buchstaben einen Alptraum malt« von Florian Kuhrt. Besonders schön formuliert ist sein Resümee:
Kubin haut uns in dieser monströsen Parabel Existenzphilosophie, Solipsismustheorien, Erkenntnisfragen und moralische Bärenfallen um die Ohren; selbst als die Menschen sich in reinste Trieb- und Bedürfnisanstalten verwandeln, sämtliche Sitten, Gedanken und Vernunft verfault sind, bleibt eines gewiß: die Leidenschaften des Menschen relativieren Begriffe wie Gut und Böse. Und auch wenn man jeden hermeneutischen Ansatz außer Acht läßt, bleibt eine großartige phantastische Erzählung.
- Tolle Beispiele für Kubins Zeichenwucht findet sich auf den Seiten des Kubinkabinetts, hier als Ankostbeispiel zur Reihe »Die Sieben Todsünden«.
- Hier zur Seite von Dedalusbooks, bei denen die englischsprachige Ausgabe »The Other Side« erschienen ist. Der Link für zur Leseprobe der Übersetzung von Mike Mitchell.
- Das englischsprachige Blog »David X – Extraodinari Books« eine begeisterte Besprechung dieser englischen Ausgabe und zeigt einige Zeichnungen von Kubin. Sein Fazit lautet:
This book is a definite must read. It should be required reading in the hope that the warning signs of violent psychosis shown by an entire society may someday be heeded preventing future bloodbaths and perhaps accomplishing homosapiens next great evolutionary step into a truly self aware being, no longer controlled by ancient demons and evil forces.
{Molos Schnellübersetzung:} Dieses Buch muss man lesen. Man sollte es in der Hoffnung lesen, dass die warnenden Vorzeichen gewaltsamer Psychosen einer Gesellschaft eines Tags als beachtenswerter Rat dienen können, um zukünftige Blutbäder zu vermeiden und somit möglicherweise Homo Sapiens dabei unterstützen, den nächsten großen evolutionären Schritt zu tun hin zu einem wahrlich selbstbewußten Lebewesen das nicht länger den Dämonen und bösen Mächten der Vergangenheit unterworfen ist. - In »Welcome To My Nightmare« bietet 1800blogger eine hymnische Besprechug der oben erwähnten »Neue Galerie«-Ausstellung nebst deren Katalog, inklusive weiterer Bildbeispiele zu Kubins Kunst.
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simifilm
Habe das Buch gerade zum ersten Mal gelesen (in der besagten Suhrkamp-Bibliothek-Ausgabe) und gebe Dir Recht, was das Winkler-Nachwort betrifft.
Ansonsten konnte mich der Roman nur so mässig begeistern. Natürlich immer wieder grossartige Bilder und Momente aber als Erzählung ein bisschen beliebig. Gerade weil Du ja immer wieder dafür plädierst, dass das eine ideale Vorlage für einen Film wäre, habe ich eigentlich mehr Plot erwartet.
molosovsky Besitzerin
Hi Simi.
Uiiii, da freu mich ja doppelt: (A) Dass Du mir was den Bauchnabel-Josef angeht zustimmst, und (B) dass Du den Kubin gelesen hast. —— Da macht es mir auch nichts aus, dass Du den Handlungsverlauf beliebig findest. Du hast ja recht.
Das ist nun mal ein Roman, der in ca. 12 Wochen fieberhaft hingeschmiert wurde. Produkt einer Krisenbewältigung. Kubin war erfüllt von Arbeitswut und Ideen, aber seine Zeichenfähigkeit stockte. Dieses Fiber, diesen Taumel, dieses fast Platzen an Ideen und Stimmungen, Launen, merkt man dem Buch an.
Wollte man »Die Andere Seite« verfilmen, würde ich dazu raten, dabei recht frei zu verfahren. Wichtig wäre, die unheimliche Stimmung, das Groteske und auch das Schräg-Satirische zu erhalten (z.B. Abstauben der Schachspieler) und vor allem nichts am apokalyptischen Ende zu ändern.
Aber Du hast vielleicht recht, Simi, und der Roman ist eigentlich kein so geeigneter Kandidat für eine Verfilmung (eher schon für eine Vergraphiknovelisierung?). Immerhin: ein Traum bleibt das trotzdem für mich.
Ich freue mich narrisch darauf, das Buch nach langer Zeit mal wieder zu lesen und mich in den kommenden Monaten in eine allgemeine Kubin-Lesephase zu begeben, denn ich will auch seine beiden kleinen Bände »Aus meinem Leben« und »Aus meiner Werkstatt« noch mal gründlich lesen, sowie die beiden Kunstbände, die ich habe und in den örtlichen Bibliotheken stöbern, was sich noch alles von/über Kubin auftreiben lässt.
lesvodi
"Die Andere Seite" wollte ich schon urlange mal gelesen haben. Danke für den Hinweis! Ich habe mir das Buch jetzt bestellt, in der Hoffnung, dass seine materielle Präsenz die Wartezeit auf der Leseliste verkürzt (seufz)...
molosovsky Besitzerin
Für einen Traumvölkler sollte DER deutschsprachige Roman über ein Traumreich eigentlich Pflicht sein, lesvodi.
Also wenn die Post das Buch gebracht hat, einfach gleich ganz nach oben auf den Lesestapel damit. Am besten, direkt nach dem Auspacken gleich zum Lesesessel mit dem Roman und frisch begonnen.