China Miéville: »Perdido Street Station« (»Die Falter«, »Der Weber«) oder: Thrillerhafte Monsterhatz in einer urbanen Weird-Fiction-Fantasia
Eintrag No. 261 — Ich bin ja bekennender Bas-Lag und China Miéville-Fan. Meine größte Sorge ist da freilich, ob ich als ›Fan‹ überhaupt nichtpeinlich über das von mir bewunderte Werk schreiben kann. Folgende Besprechung erschien zuerst in »MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert.
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China Miéville (1972) bietet in »Perdido Street Station«‡ Phantastik, die zwar mit dem Genre der Fantasy kokettiert, aber die Mode a la Tolkien meidet. So erzählt der Roman weder von mystischen Questen noch von Kämpfen des Guten gegen das Böse, sondern die fatalen Folgen des Zufalls sind der Ausgangspunkt der Handlung.
‡ Originaltaschebuchausgabe in einem Band; 867 Seiten mit Karte; Pan Books; London, 2001 — Entweder: Für die deutsche Ausgabe in zwei Bücher aufgeteilt als: 1. »Die Falter«; 2. »Der Weber«; aus dem Englischen übersetzt von Eva Bauche-Eppers; je 557 Seiten; Bastei-Verlag; Bergisch Gladbach, 2002. — Oder: Einbändige Sonderausgabe von Amazon.
Es beginnt mit zwei Aufträgen.
Erstens: Der Universalgelehrte und Erfinder Isaac Dan der Grimnebulin soll einen Weg finden, daß der flügellose Vogelmensch Yagharek wieder nach Belieben fliegen kann.
Zweitens: Isaacs Geliebte Lynn ist Künstlerin. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit soll sie eine lebensgroße Skulptur des Verbrecherfürsten Vielgestalt (englisch: Mr. Motley) anfertigen.
Isaacs Recherchen führen zur Freisetzung von extrem gefährlichen, exotischen Labortieren. Nicht nur, daß diese Lebewesen auf ausgeklügelt schauderhafte Weise jagen und sich laben, sie sind zudem nur umständlichst überwindbar. Hilfsmittel gegen die Monster zu finden und die Viecher zu erlegen sind nun die Ziele einer kleinen verzweifelten Gruppe um Isaac.
Großartig versteht es Miéville, die Millionenstadt New Crobuzon zum Beispiel eben als Speisetafel für die gefährlichen Monster-Falter darzustellen. Überhaupt geht viel Verführungskraft des Buches von der höchst originell ausgestalteten Welt Bas-Lag, bzw. der Stadt New Crobuzon aus. Mit viel Liebe zum Detail wird uns eine kapitalistisch-industrielle Metropole geschildert, in der alles möglich ist, die brummt und schafft, ständig verdaut und gebiert, Sehnsüchte der Mächtigen erfüllt und Hoffnungen der Unmächtugen zernichtet.
Für mich ist New Crobuzon dabei durchaus verwandt mit Ankh-Morpork aus Terry Pratchetts Scheibenwelt, nur ungleich härter und grimmiger. Wo die Phantasie bei Pratchett der komödiantischen Verspieltheit frönt, gibt sich Miéville lieber dem Grotesken hin. Beide führen die Klischees der Fantasy vor, der eine um damit Satire zu betreiben, der andere, um dem Genre eine erfreuliche Frischzellenkurz zu verpassen.
Zum Beispiel Rassen: Miéville bietet unter anderem Vogel- Wasser- und Kaktusmenschen (sic!) und Insekenfrauen. Wie Miéville zurecht kritisiert, werden Rassen in der Fantasy oftmals nur als Kürzel benutzt (Zwerge gieren immer nach Gold, Elfen sind immer arrogant und Trolle dumpf), und er unterläuft diese langweilige Mechanik von phantasieloser Fantasy, indem er Allgemeinplätze über Rassen als genau das vorführt: als gedankenlose oder rassistische Vorurteile.
Auch der Umgang von Wissenschaft und Thaumaturgie (die X-Kunst) ist wohltuend innovativ. Magie ist ein Wissenschaftszweig von vielen und selten habe ich so schöne Spekulationen in der Fantasy gelesen, wie bei Isaacs Bemühungen um eine einheitliche Feldtheorie und Krisis-Energie, mit der er Yaghareks Problem zu lösen hofft. Zu den vielen Fäden und Themen der Monsterhatz wurden u.a. die Folgen von bedenkenlos eingesetzten ›Atomwaffen‹, der Verselbstständigung einer kypernetischen (= konstruierten) Intelligenz, blutig niedergerungenen Arbeiterstreiks, politischer Untergrundaktivisten, rassenübergreifer Geschlechtsbeziehungen verwoben. Dabei ist »Perdido Street Station« trotz flotter Ereignisfolge und bunter Schilderung nicht durchwegs aalglatt zu konsumieren, sondern spielt ganz bewußt mit punktuell ungestümer Wortwahl (siehe ›Hä?‹-Refelx), lyrischem Sprachfluß, Perspektivenwechseln und haarsträubenden Kulminationen.
China Miéville hat zwei große Interessen: Zum einen ist er in England als Sozialist politisch aktiv und hat sein Studium an der London School of Economics mit »Between Eqaul Rights« abgeschlossen. Zum anderen ist er ein echter Trash- und Monsterfan, der Rollenspielenzys als Unterhaltungslektüre verschlingt. Miéville nennt sich selbst einen Autor von ›Weird Fiction‹ und ihm ist nicht daran gelegen dem Leser tröstende Fantasy-Träume zu liefern, sondern er nutzt lieber die verstörenden, befremdenden Fähigkeiten des Genres. Mit traumwandlerischem Gefühl für Spannung, gute Dialoge und unterschiedlichste Athmosphären geschrieben, ist »Perdido Street Station« etwas, an das man fast nicht mehr glauben mochte: spekulative, provozierende Fantasy, schwindelerrend in seiner Erfindungswut und alles andere als tröstlich.
Sehr zu dessen Wohl und zum verblüfftem Vergnügen des Rezensenten.
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Hier zu einer Liste der Molochronik-Einträge, die sich mit Miéville (mehr oder weniger) und seiner Art von Phantastik befassen.
Internetforum für China Miéville-Leser
Eintrag No. 224 — Zuerst wars nur eine Mailingliste, und schwupps wurde daraus ein Internetforum mit Mailinglisten-Option.
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Bisher machen dort noch ›nur‹ knapp eine Handvoll Leute mit, aber das kann (und wird sich hoffentlich) im Laufe der Zeit noch ändern.
Ich gebe zu: die Forumsoberfläche ist nicht die knackigste und die Werbeeinblendungen nerven gewaltig. Aber es geht immerhin um einen der interessantesten und phantasie- und wortmächtigsten ›Weird Fiction‹-Autoren den man heutzutage lesen kann.
Also, wer wie ich die auf der Welt Bas-Lag angesiedelten Romane »Perdido Street Station« (»Die Falter« & »Der Weber«), »The Scar« (»Die Narbe« & »Der Leviathan« und »Iron Council« (»Der Eiserne Rat«) mag, dem empfehle ich dort mal vorbeizuschaun. Würde mich freuen, wenn wir uns dort treffen.
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Weitere Beiträge zu China Miéville:
• Kapitelstruktur der Bas Lag-Romane von China Miéville;
• Tolkien als Bilbo;
• Hurrah, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da;
• Portrait.
LiteraturBlogging de Luxe:
Crooked Timer-Seminar über China Miéville
Eintrag No. 179 – Erst vor Kurzem entdeckt: das aufregende Gemeinschafts-Blog Crooked Timber. Es kommt selten vor, daß Schriftsteller sich auf ein öffentliches Ping-Pong mit Kritikern einlassen (egal ob die Kritiker nun loben oder mäkeln).
Der Name des Blogs wurde von Immanueal Kant inspiriert:
Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz gerades gezimmert werden.
aus: »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, (1784).
Es gibt dort nun sechs Essays von akademischen Freunden der linken Phantastik, vor allem den dritten Bas Lag-Roman »Iron Council« betreffend:
• von John Holbo: We Shall Rise to the Challenge of Their Appointment to Life for That Single Moment – Ein Vergleich zwischen dem literarischen Weltbauten von Tolkien und Miéville unter Zuhilfename eines Arguments von Bruno Schulz.
• von Belle Waring: New Crobuzon: If You Can Make Re-Make It There! (You’ll Make It Anywhere) – Raunzt über zuviel Grimmigkeit in New Crobuzon.
• von Matt Cheney: Balancing Traditions: The Pulp Origins, Muddled Moralities, and Anxious Audiences of China Miéville’s Aesthetic Revolution – Über die Bösewichter bei Miéville, sowie die Einarbeitung von Pulp- (Schund) und Avantgarde-Literatur in die Bas Lag-Bücher.
• von Henry Farrell: An Argument in Time – Über Geschichte und Mythos bei Miéville unter Zuhilfenahme von Walter Benjamin.
• von Miriam Elizabeth Burstein: Undoing Messiahs – Über Märtyrertum und Messianismus in »Iron Council«.
• von John Quiggin: Remaking the Past (and Future) – Über Revolution und Geschichte.
• Und eben die die ausführliche und kritisch/selbst-kritische Erwiderung von China Miéville auf diese Essays: With One Bound We Are Free: Pulp, Fantasy and Revolution.
Angenehmer Service der Posse des krummen Holzes: Hier all das zum Ausdrucken als PDF.
Kapitelstruktur der Bas Lag-Romane von China Miéville
Eintrag No. 136 – Hier Spektrogramme der Kapitelstruktur der drei Bas Lag-Romane von China Miéville. Diese Bücher sind Avantgarde, nicht nur als Vertreter der Phantastik (Miéville bezeichnet sich selbst gerne als ›Wierd Fiction‹-Autor), sie behaupten sich auch auf dem Turnier der großen Literatur als souverän, gewichtig und vielfältig. Anempfohlen allen, die bisweilen gerne mal ein außergewöhnliches Buch zur Hand nehmen, egal aus welchem Leserbiotop man kommt. Diese drei Bas Lag-Romane bieten für den Genre-Leser eben soviel, wie dem Verköstiger postmoderner Anspruchsunterhaltung. Die ›verdrehte‹ und groteske Phantastik von China Miéville ist Metaliteratur ex Cornucopia vom Feinsten.
Natürlich könnten die drei Kapitel-Spektrograme unterschiedlich lang sein, und damit die Seitenanzahl der Bücher wiederspiegeln. Tun sie aber nicht, und man möge somit den entsprechenden Längenvergleich also selbst im Kopf erledigen.
Was sich sehen läßt, ist der ungewöhnliche Aufbau des dritten Romans »Iron Council«.
Legende
»Perdido Street Station« (2000), 867 Seiten als Panmacmillan-Taschebuch; Deutsch aufgeteilt in zwei Bücher: »Die Falter« und »Der Weber«
»Perdido Street Station« (2000), 867 pages, Panmacmillan.
»The Scar« (2002), 795 Seiten als Panmacmillan-Taschebuch; Deutsch aufgeteilt in zwei Bücher: »Die Narbe« und »Leviathan«
»The Scar« (2002), 795 pages, Panmacmillan.
»Iron Council« (2004), 471 Seiten als Panmacmillan-Buch; Deutsch angekündigt, noch nicht erschienen.
»Iron Council« (2004), 471 pages, Panmacmillan.
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Chapterograms of the Bas Lag-Novells by China Miéville
(Grafimente, Dossier for Getting It, Literature) – One of my stranger hobbies is making diagrams while reading books. These images show the chapter-structure of the novells by China Miéville set on the world Bas Lag. These books are not only avantgarde among the fantastic terrain … they also joust very well on the tournament of all great literature. Recommended to everyone who likes to read one of those
extraodinary books once a while, regardless from which specific bibliothop the reader comes. The wierd and grotesque imagination of China Miéville delivers
metalitereture ex cornucopia of the finest.
Note that the diagrams are not analog to the length of the books.
And »Iron Council« really is the odd one.
Weitere Beiträge zu China Miéville:
• Tolkien als Bilbo;
• Portrait;
• Hurrah, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da.
Portrait: China Miéville
(Grafimente & Literatur) - Diese Zeichnung wurde leider nicht genutzt, also muß ich sie mal herzeigen, sonst grämt sie sich. Damit sich literaturinteressierte aber in Sachen moderne Phantastik weitestgehend scheue und unbeleckte Menschen eine vage Vorstellung machen können, welchen Schlages die Bücher des Engländers Miéville sind, habe ich folgend und nur auf Deutsch eine sprechende Inhaltsangabe des zweiten auf der Welt Bas-Lag angesiedelten Romans The Scar angefertigt. Damit Sie selbst entscheiden können, ob sie diese lesen wollen, habe ich sie als ersten Kommentar in meinen Kapitelstruktur-Bildern zu den drei Bas-Lag-Romanen aufgespielt, damit niemanden verraten wird, was er oder sie vielleicht gar nicht verraten bekommen möchte.
Wenn Sie sich wirklich einen guten Überblick verschaffen wollen, was an China Miéville so toll ist, dann kann ich Ihnen den gutgeschriebenen und profunden Artikel von Marcus Hammerschmitt bei Heise empfehlen. Sapere aude!
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Weitere Beiträge zu China Miéville:
• Kapitelstruktur der Bas Lag-Romane von China Miéville;
• Tolkien als Bilbo;
• Hurrah, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da.
Ich hoffe bald eine ausführliche und kommentierte Inhaltsangabe der zwei Bas-Lag-Romane hier vorlegen zu können, zum Zwecke der Steigerung des Ansehens der Phantastik.
Portrait: China Miéville
This drawing was not printed, so i have to show it here. — {Drawn in Fabruary 2003, digitally upgrade March 2004}
Other grafimente concerning China Miéville: Tolkien as Bilbo for Chinas »Middle-Earth meets Middle-England«.
Hurra, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da
Eintrag No. 42 — China Mieville und sein Roman »Perdido Street Station« haben 2002 meine fast vollkommen erloschene Begeisterung für neue Fantasy/SF wiederbelebt. Ich dachte schon, ich finde nur noch auf dem Totenacker der Literatur mich nicht langweilende oder platt dünkende Genre-Phantastik.
Nun freue ich mich, daß der Bastei-Verlag auch den zweiten Roman aus der Welt Bas-Lag »The Scar« veröffentlicht. Eva Bauche-Eppers hat wiederum die Übertragung ins Deutsche besorgt, und ich habe nach den ersten Dutzend Seiten den Eindruck, daß ihr das anerkennungswürdig gelungen ist, bedenkt man die kurze Zeit (die das Verlagsgeschäft für eine Taschenbuchübersetzung einräumt). Immerhin ist China Mievilles Stil sprachlich und imaginativ recht komplex, überbordend und das Buch ein dickes (engl. Ausgabe: 795 Seiten). Leider konnte die sehr schöne Umschlagsgestaltung des Originals nicht übernommen werden, da der Roman in zwei Teile aufgespalten wurde (Band 1: »Die Narbe«, Band 2: »Leviathan«), aber immerhin wurden die deutschen Umschlagbilder von Arndt Drechsler diesmal passend zum Inhalt gestaltet.
Doch leider sind mir auf dem Weg von Bahnhofsbuchhandlung nach Hause auch schon wieder die ersten Ausreißer aufgefallen:
- Das Impressum gibt an, daß der erste Band die Kapitel 1-20 enthält. Das letzte Kapitel des ersten Bandes ist aber das sechsundzwanzigste.
- Der erste Satz im Original: A mile below the lowest cloud, rock breaches water and the sea begins. Daraus wird im Deutschen: Eine Meile unterhalb der tiefhängendesten Wolke mit ihren geblähten Schlechtwetterbäuchen, stürzt Fels lotrecht in Wasser und der Ozean beginnt. - Wie der unterstrichene Teil des Satzes sich aus dem, was da im Englischen steht ergibt, kann ich nicht ganz nachvollziehen … kreativ ist es aber schon.
- Lustiger Sachfehler auf Seite 101 (dt) wo das englische pirates of pantomime übertragen wurde mit Piraten der Pantomime. In England gibt es in der Winterzeit um Weihnachten und Neujahr die Tradition, lustige Theaterabende zu veranstalten, z.B »King Lear And His Ugly Daughters«. Da wäre Faschings- von mir aus auch Karnevalspiraten besser gewesen. Die Welt Bas-Lag ist ja gehörig phantastisch, aber ich glaube auch dort, hätte eine Schauspieltruppe mit dem Schwerpunkt Piratenpantomome kaum Ruhm.
Aber, weg ihr Nörgelgedanken. Ich bilde mir ein deutlich zu bemerken , daß Frau Bauche-Eppers mit der vielstimmigen Sprache von Mieville vertrauter ist, als noch bei Perdido Street Station. Nicht oft kommt es vor, daß mir das Lesen einer Übersetzung dermaßen Spaß macht. Also ihr Fantasy-Recken und Phantastik-Gourmets: lauft in den Buchladen oder klickt euch diese Romane ins Postloch..