Eintrag No. 41 - Zuvörderst: Ohne übergreifende Kenntnis der japanischen Geschichte zu haben, ahne ich doch, daß die Art wie sich dieses Land nach den Kanonaden der amerikanischen Schwarzen Schiffe von Anno-ungefähr 1870 öffnen MUSSTE, nicht okey war. Da teile ich jene vagen Symphatien für ein Land, das sehr schmerzlich die Entwicklung der Moderne vollzogen hat. - Also, mal gucken, wie ein US-Film da bestehen kann, obliegt ihm doch sozusagen die Pflicht, eine Versöhnung anzubieten. So zumindest nahm ich den Nimbus des Filmes vor Betreten des Turm-Kinos wahr.
Dem Japanischen wird in der Tat gehuldigt, angefangen mit der hervorragenden Ausstattung (die Samurai-Rüstungen sind beeindruckend), über die exzellenten Kampfszenen (gut vermittelt, daß Schwertkampf quasi tödliches Schnellschach der Körper ist, bei dem die Klingen Matt setzten) bis zum monatelang blühenden Kirschbaum (wie meine Kino-Begleitung Andrea mäkelnd bemerkt hat; aber auf's Mosern über solche Kleinigkeiten muß man immer röhren: "Eyh, das ist ein Film, noch dazu aus Hollywood". Damit wischt man läppische Einwände vom Tisch und spricht zugleich dem US-Studiobetrieb jede echte Mündigkeit ab). Zu meinem Mißfallen aber war es mit derartiger Respektsbezeugung bei der Musik zuende.
Der eigentlich Besseres zu bieten wissende Hans Zimmer (für Flauberts Wörterbuch der Gemeinplätze: "Unser Mann in Hollywood") hat für den Film nicht tief in seine Trickkiste gegriffen und nur eine recht einfaltslose, sich auf Bombast und Schmissigkeit verlassende Filmmusik geschrieben, in der eine japanische Alibi-Flöte und ein paar Trommler das ganze Lokal-Ambiente stemmen müssen. Leider keine stimmige Arbeit wie bei Gladiator, ehr ein Es muß krachen-Score a la The Rock. Herrgott, selbst der futuristische Akira hat mehr traditionelle japanische Musik als The Last Samurai.
Gut gefallen hat mir: das Spiel von Ken Watanabe als Ober-Samurai-Rebell. DAS ist hier der Schauspieler, wegen dem man sich den Film gönnen sollte. / Tom Cruise Eröffnungsauftritt als Propagandaschreier für Winchester-Knarren. Das kann der Bub. Schöne Variante seiner Gerichtsrede in Eine Frage der Ehre oder seines Sextrainerauftritts in Magnolia / Erster Kampf im Nebelwald bis zum Tod des roten Samurai. Dieser Kampf, bei dem eine berittene Rebellen-Samuraiattacke die schlecht ausgebildeten kaiserlichen Armeen westlichen Stils niedermacht. Cruise verteidigt sich atemberaubend, und ein Bogen wird zur Eröffnungsszene des Films gebildet, in der Watanabe von einem wilden weißen Tiger träumt (so voll auf Zen halt). Diese Kampfsequenz legt es darauf an, daß man einfach nicht fassen kann, wie lange sie dauert, wie sehr sich Cuise verausgabt obwohl er umzingelt und unterlegen ist, wie lange er erbittert den Todesstoß abwendet. Sprich: das Schicksal klopft mächtig an die Zuschauerstirn. Wieder mal versucht ein Film zu veranschaulichen, WIE schwer es ist, einen Menschen zu töten. Und Andreas Deutung ist ganz richtig: Cruise und seine scheinbare Unüberwindlichkeit in seinem Todeskampf ist die Urszene, zu der Monty Pythons Die Ritter der Kokusnuß die Parodie ist. Ha, das ist doch nur eine Fleischwunde. Komm her, ich spuck dir in's Auge und blende dich! / Der Ninjaüberaschungsangriff mit Hausgefecht. Bemerkenswert: kämpfendes Kind. Delikater Topos und - ich prophezeie - wird in den nächsten Jahren vermehrt auftauchen. / Erstes Gespräch zwischen Cruise und Watanabe. / Wetten beim Training. / Cruise bei Flucht von Watanabe als Übersamurai, filmisch gestaltet mit Zen-Schnittfolge.
Einige Handlungsstränge (Watanbes Sohn, die Witwe des roten Samurai) hängen noch lose baumelnd herum, aber ich nehme mal an, daß dieser Film von Beginn dahingehend konzipiert wurde, daß er der durch Peter Jackson losgetretenen Special Extended Edition-Welle folgen kann.
Cruise nimmt als herausgestelter Star dem Film viel Kraft, oder anders: läßt ihn in meinen Augen zumindest arg als einen weiteren "Lektion in großer Geschichte für einfache Amerikaner"-Film erscheinen, von denen Steven Spielberg seit Jahren einen nach dem anderen dreht, mal besser, mal schlechter. (Edward Zwick weiß da auch nix besseres und in mir keimt der Verdacht, daß es nicht Herr Zwicks Produzentenhändchen war, welches für die Gelungenheit von Shakespeare in Love verantwortlich war.) Obwohl: inzwischen habe ich gelernt darüber zu schmunzeln und freu mich halt zur Abwechslung bei Filmen wie Master & Commander. Trotzdem: Cruise leistet seinen Karthasisparkur, den die Drehbuchschreiber ihm da ausgelegt haben, mit nervigen 9,2 in der A- und respektablen 8,0 in der B-Note ab.
Ach, und weil ich mit Andrea darüber am meisten diskutiert habe nach dem Film: der schrullige Veteran-Trainer-Offizier der US-Armee zu Beginn war wohl doch nicht John Cleese. Andererseits: selbst bei imdb.com kann ich weder die Rolle noch ihren Darsteller finden und das läßt mich nun wieder glauben, daß dies vielleicht doch ein Cleese-Cameo war.
Mit großer Freude bin ich der Einladung von Herbert Gnauer gefolgt und habe für das österreichische ›Radio Orange 94.0‹ die 98ste Folge der kommentierten Komplettlesung von Egon Friedells »Kulturgeschichte der Neuzeit« aufgenommen. — Zur Sendung.
Ich lese aus dem dritten Kapitel (»Das Luftgeschäft«) des vierten Buches (»Romantik & Liberalismus«):
Die beiden Philosophen
Schopenhauers Charakter
Schopenhauers Philosophie
Die klassischen Romantiker
Die Live-Übertragung ist gerade von 12 bis 13 Uhr gelaufen.
Eintrag No. 746 — Um der Verwirrung vorzubeugen: dieser Wochenrückblick umfasst drei Nummern der Zählung, damit die Zahlen mit dem Wochenfortlauf übereinstimmen. Im August hatte ich derart viel um die Ohren, dass ich drei Wochen Rückblickpause eingelegt habe.
Lektüre: Ich trachte ja zu vermeiden, bei Hugendubel (oder anderen Buchgroßkaufhäusern die auf üble & mächtige Weise auf den Markt einwirken ) Geld zu lassen. Aber wenn dann die Frankfurter Filiale (wieder Mal) auf den Erstverkaufstages-Termin des Verlages pfeifft und ich somit z.B. früher als üblich an den neusten Roman von Neal Stephenson rannkommen kann, mache ich eine Ausnahme. — Also, seit Samstag lese ich »Reamde« (setzt bei der Aussprache die Silben so: Re|am|de). Bisher habe ich in zwei Tagen etwa 200 der ca. 1100 Seiten bewältigt und bin begeistert.
Die ›Nachdenkseiten‹ präsentieren den bisher vielleicht gescheitesten Text, der im deutschen Netzl über die Unruhen in England geschrieben wurde. Götz Eisenberg: Die große Wut der Überzähligen.
Sehr löblich, wie die Mutter Beate Turner sich mal die Geschichtslehrbücher ihres Sohnes vorgeknöpft hat, und bass erstaunt war, mit welch verhamlosender Propaganda darin die mittelalterliche Geschichte des Christentums behandelt wird: Geschichtsunterricht missioniert subtil (beim ›Humanistischen PresseDienst‹).
Endlich wurde eines der fulminantesten und originellsten Werke des großartigen Douglas Coupland übersetzt und erscheint diesertage beim Tropen / Klett-Cotta Verlag. Anlässlich von »JPod« hat sich Jan Pfaff für ›Der Freitag‹ mit Coupland unterhalten: Out of Office.
— Und das Schweizer Fernsehen hat Coupland eine ganze »Sternstunde Philosophie«-Sendung gewidmet: Der ganz normale Wahnsinn unserer Zeit. Bilde ich mir es nur ein, oder ist Coupland derzeit der aussichtsreiche Kandidat des ›Philip K. Dick Ähnlichkeits-Wettbewerbes‹?
Für ›Literaturkritik.de‹ hat Fabian Kettner eine Rezi zu Will Eisners Graphic Novel »New York. Großstadtgeschichten« geliefert: Comic-Dramen der Großstadt.
Zuletzt ein feiner Text von Andrea Diener für den Reise-Teil der ›F.A.Z.‹, über eine kleine deutsche Stadt, die ihren jahrhundertealten Untergrund entdeckt. Es ist erst einige Tage her, seit ich bei der Komplett-Hörbuchversion von Neal Stephensons »Barock-Zyklus« die Passagen über den Londoner Untergrund in »The System of the World« wiedererlebt habe. Dies eingedenk fand ich Perspektiven der Stadt (6): Oppenheim – Bacchus in der Unterwelt besonders spannend.
(Deutschsprachige) Phantastik-Links
Kaum zu fassen, wie lange es gedauert hat, bis nun endlich einmal eine günstige einbändige Ausgabe des dollen, irren Psychodelic-, SF-, Verschörungstheorie-, Drogen-, Magie- & Sex-Klassikers »Illuminatus!« von Robert Anton Wilson und Robert Shea auf Deutsch erschienen ist. Entsprechend gibt es einen Eintrag im aktuellen Rowohlt-Magazin. — Kann gut sein, und ich veranstalte hier bald ein kleines Preisausschreiben, um Molochronik-Lesern Gelegenheit zu verschaffen, eines Bandes habhaft zu werden. Hier habe ich anlässlich des Todes von R. A. Wilson schon einmal kurz über diese Trio berichtet.
Bald kommt eine dicke englischsprachige Anthologie, von niemand anderem als Jeff Vandermeer (einem meiner liebsten lebenden Phantasten) zusammengestellt auf den Markt: »The Weird«. Im verlinkten Blogeintrag kann man schon mal das Inhaltsverzeichnis des dicken Schmöckers einsehen. Sehr erfreulich, dass Vandermeer bei seinem gut 100-Jahre umassenden Blick auf die ›verdrehte‹, ›seltsame‹ Phantastik neben Stories von bekannteren zeitgenössischen Autoren wie China Miéville, Michael Chabon, Kelly Link, Neil Gaiman, Stephen King und George R. R. Martin auch weniger bekannte aber exzellente Autoren wie William Browning Spenser oder Michael Cisco, sowie Klassiker wie Mervyn Peake, Julio Cortazar, Jorge Luis Borges, (natürlich) H. P. Lovecraft, Stefan Grabinski, Franz Kafka, Georg Heym, Gustav Meyrink, Saki und Alfred Kubin berücksichtigt.
Peter V. Brinkemper veranstaltet für ›Glanz & Elend‹ wieder eines seiner klugen Textfeuerwerke in Sachen Pop-Phantastik, diesmal bezüglich zweier neuer Superhelden-Flicks: »Green Lantern« vs. »Captain America«.
Unter anderem bei ›The Laughing Squid‹ wurde folgendes lustiges fiktives Produktbildchen verbreitet: Mac OS Maru, anlässlich der Veröffentlichung des neusten Apple-Betriebsystems Lion. Wäre irre, wenn die Apple-Menschen ihr nächstes Betriebssystem tatsächlich nach der berühmtesten und putzigsten Internet-Katzenberühmtheit benennen (über die es inzwischen sogar ein eigenes Buch gibt).
›Game Wire‹ berichtet über ein iPad-App, das im Herbst erscheinen soll, und das ich unbedingt haben will: die interaktive Ausgabe von Douglas Adams’ Hitchhiker’s Guide To The Galaxy. Mehr demnächst auf der Herrsteller-Seite zum App.
Wieder ein Mal »Calvin & Hobbes«-Zeugs: der famose Pulp-Künsteler Francesco Francavilla hat zwei Poster gestaltet, die Calvin & seinen Stofftiger Hobbes in ihren Phantasie-Rollen als Hard Boiled-Krimihelden zeigen: C & H Private Investigations.
Da ich viel um die Ohren hatte (habe) in den letzten (kommenden) Wochen, lese ich vermehrt Comics. Unter anderem habe ich mir endlich alle 10 Sammelbände des ätzend-satirischen SF-Garns »Transmetropolitan« von Warren Ellis und Darick Robertson besorgt (die ich damals, um die Jahrtausendwende, als Einzelhefte komplett gelesen habe).
— Passend dazu hier ein Link einer erotischen Zeichner-Sitzung der Dr. Sletchy’s Anti-Art School: Spider Is Our Hero. Überhaupt eine anregende Sache, diese Dr. Sketchy-Sessions (ich wünschte, es gäbe einen Ableger in Frankfurt. Vielleicht reise ich mal zu einem Termin in Berlin oder Hanover).
— Eine der Teilnehmerin der »Transmetropolitan«-Sitzung war die New Yorker Illustratorin Queenmob (= Anna-Maria Jung), von der mir auch diese Zeichnung mit Killer Kaninchen gut gefällt.
— Schließlich noch der Hinweis auf das »Transmetropolitan«-Art Book 2011, das erscheinen soll, sobald die durch Fans gespendete Finanzierung steht (und das zur Unterstützung des Comic Book Legal Defense Funds beitragen soll).
Derweil die neusten Folgen von »Futurama« auf Englisch laufen und die Zukunft der Serie bis auf weiteres gesichert ist, habe ich mich gefreut, dass für das ›Der Freitag‹-Alphabeth Ulrich Kühne diesem SF-Komik-Wahn einen Eintrag widmen durfte. — Durchaus erstaunlich auch die realistischen Skulpturen einiger »Futurama«-Figuren von artanis one bei ›Deviant Art‹.
Krass-geil sind diese Logos des T-Shirt-Vertriebes ›Amorphia Apparel‹: Monsters of Gork. Namen von Wissenschaftlern und Philosophen in der Form von bekannten Band-Logos. Mein Lieblinge: Machiavelli in Metallica-Style und Anais Nin in Form des Nine Inch Nails-Logos.
Eintrag No. 739 — Kommen wir nun zum untersten und letzten Regalbrett des nord-östlichen 80-cm-Billys. Hier gehts okkult und durcheinander zu. Kein Wunder, denn dieses Regal ist etwas schwer zugänglich und da sammelt sich nun mal schnell, was ich nur selten rausziehe.
Es beginnt links mit ein wenig Erotica: der kleine Jan Saudek von Taschen; ein kleiner Katalog des Frankfurter Kunstvereins aus dem Jahre 1998 mit Zeichnungen des wahnsinnigen Javier Gil und der Taschenbildband »Digital Desires« von Natacha Merritt.
— Darauf liegen die Tarot-Karten, mit denen ich ab und zu rummwurschtl: eines von Milo Manara, das klassische Rider Waite-Deck und die unglaublich coolen ›World of Darkness‹-Karten aus der Welt des Rollenspiels »Mage – The Ascension«.
— Daneben dann einige alte Bücher von Andrea, die ich gerne in Verwahrung genommen habe: über Hexen, Haiti & Voodo, wobei »Der Tanz des Himmels mit der Erde« von Maya Deren sicherlich der beste Titel ist. Auch der weiter rechts stehende (ebenfalls Andrea gehörende) Band »The Magic Island« von William Seabrook ist ein lesenswerter Klassiker über die magische Seite von Haiti
— Nun meine paar alten Magie-Bücher, die im Lauf der Zeit nicht aussortiert wurden: toll zum Blättern der fette »Alchemie & Mystik«-Ziegel von Taschen; dann die Werke von Austin Osman Spare; und das wundervolle Buch zum Giger-Tarot und das Nachschlagewerk von Akron & Banzhaf zum Crowley-Tarot (ein Klassiker der Wohngemeinschafts-Esoterik).
— Bereichernde Schau auf die Geschichte der modernen Esoterik bieten die beiden Bücher von Colin Wilson »Das Okkulte« und »Mysteries«, auch wenn ich den Ausführungen über die geistigen X-Kräfte nicht mit dem Herz folgen mag.
— Schnitt und wir befinden uns in einer kleinen Abteilung mit Büchern über ferne Weltgegenden und historische Reiseaufzeichnungen des Unionsverlages und des Erdmann Verlages.
— Auch wenns nicht komplett ist, mag ich die etwas zerfledderte Diogenes-Ausgabe von Jules Vernes »Die großen Seefahrer & Entdecker«; daneben steht der »Südöstliche Bildersaal« des unvergleichlichen Fürst Pückler (mein erster Kandidat für eine deutsche ›Liga der außergewöhnlichen Gentlemen‹).
— Ganz rechts, eigentlich völlig Fehl am Platze, steht das dicke Ding mit den vergnüglichen Aufzeichnungen von Karl Ignaz Hennetmair »Ein Jahr mit Thomas Bernhard«.
Oben auf liegen noch zwei Sachbücher: einmal das etwas trockene aber ausgiebige Recherchefrüchte bergende »Magie & Magier im Mittelalter« von Christa Tuczay und der etwas planlose aber ebenfalls stoffreiche Titel »Der Teufel« von Alfonso di Nola.
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Damit ist die Wanderung durch das erste Regal abgeschlossen. Stehen noch sieben vor uns.
Eintrag No. 692 — Diesmal gibt’s ne fette Nummer. Also los.
Lektüre: Haruki Murakamis »Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt« habe ich erstmal wieder zur Seite gelegt. Ist einfach zu wenig los in dem Buch, und banaler Kram wird zu breit ausgewalzt
Richtig gut gefällt mir bisher »The Windup Girl« von Paolo Bacigalupi. Am Rande hab ich mitbekommen, dass wieder mal ein neues Subgenre ausgerufen wurde, nämlich ›Biopunk‹. Und wenn man sich auf das Schubladenspiel einlässt, dann kann man »The Windup Girl« als leuchtendes Beispiel für ›Biopunk‹ nehmen. Immerhin wurde der Weltenbau gewebt aus solchen Themen-Fäden wie Ökologie, Rohstoff- & Energiekriese, gentechnisch entworfene (& patentierte) Nahrungsmittel, Fanatismus & Genozid, Vertreibung & Immigration. Nix Weltraum oder Aliens.
»The Windup Girl« wird Anfang Februar als »Biokrieg« bei Heyne erscheinen und es gibt auch eine großzügige (vierzig Seiten-)Leseprobe im Netzl. Leider ist das deutsche Titelbild ehr doof, hat nur im übertragenen Sinne Bezug zum Inhalt und erinnert merklich an ein Motiv zur ersten Staffel von »True Blood«.
Sympathisch finde ich, dass der Roman in Bangkok angesiedelt ist (wann genau, wurde bisher nicht gesagt, aber ich schätze mal in ca. 100 bis 200 Jahren), und dass die Protagonisten der vier Handlungsstränge gut ausgewählt sind:
a) Anderson Lake, der Fremdländer aus den USA, Leiter einer Fabrik für Antriebsfedern, aber eigentlich Spion für einen großen Genfood-Agrar-Konzern, immer auf der Suche nach neuen Lebensmittel-Züchtungen, bzw. Genehack-Verstößen;
b) Hock Seng, ehemals wohlhabender Händler in China, vor islamischen Fanatikern nach Thailand geflohen, schmeißt nun für Andersons Fabrik die Orga & Buchhaltung;
c) Jaidee Rojjanasukchai, Hauptmann beim Umweltministerium und scharfer, unbestechlicher Grenz-Kontrolleur, Held des Volkes und dem sich stets auf krumme Import-Deale einlassenden Handelsministeriums ein Dorn im Auge; und
d) das Titelmädchen, Emiko, eine künstliche Person, gebaut in Japan als Sekretärin, Übersetzerin und Gefährtin eines wohlhabenden Geschäftsmanns, wurde aber vom Besitzer in Bangkok zurückgelassen, wo Emiko nun als Sex-Spielzeug in einem Nachtclub darbt.
Zum anderen der Photobildband »Kleine Leute in der großen Stadt« des Londoner Streetartist Slinkachu. Irre Idee, kleine Eisenbahn-Figürchen irgendwo in der Stadt zu platzieren, stehen zu lassen als zu entdeckende Überraschung für Passanten und die abstrusen kleinen Szenen mit Photos zu dokumentieren.
Netzfunde
Klaus Jarchow liefert in seinem immer lesenswerten Blog ›Stilstand‹ eine knappe und exakte Analyse der Unverschämtheit von Sarah Palin im Zusammenhang mit den Amoklauf von Arizona: Vom Täter zum Opfer.
Unglaublich aber wahr: Im ›Focus‹ gibt es einen beherzigenswerten Text von Miriam Meckel zum Thema Wandel des Jouralismus in Zeiten des Internets und der sozialen Medien: Journalisten an der Crowdsourcing-Front. Sachliche und doch feurige »Bewegt Euren Hintern!«-Rede.
Die bisher erste (& zur Schande der deutschsprachigen Feuilleton-Landschaft) und einzige Rezension zu dem großartigen Buch »The German Genius« von Peter Watson bietet die ›Frankfurter Rundschau‹, wenn Arno Widmann loben darf …
So anregend hat lange niemand mehr einen Panoramablick auf die deutsche Geistesgeschichte der vergangenen zweihundertfünfzig Jahre geworfen. {…} Zur Moderne gehört die Kritik an ihr. Nirgends ist das, wie Watson zeigt, deutlicher zu sehen als in Deutschland. Genau darum aber empfiehlt er, die deutsche Erfahrung genau zu studieren:
»Was die Modernität betrifft, so ist Deutschland nicht nur eine ›verspätete Nation‹, es ist auch eine zögerliche Nation. Aber vielleicht birgt dieses Zögern eine Lehre. Wenn Wissenschaft und Kapitalismus … die Zerstörung unserer Umwelt, ja unserer Erde, nicht verhindern können, wenn sie sogar der primäre Auslöser für diese Zerstörung sind, dann wird nur eine Veränderung von uns selbst, ein Wandel unseres Willens etwas bewirken können. Die Deutschen erklären uns, dass der Weg aus unserem Dilemma weder ein technischer noch ein wissenschaftlicher, sondern ein philosophischer ist: eine Frage unserer Lebenseinstellung.«
Einsendeschluss ist der 31. März.
Mitmachen dürfen alle, die höchstens 18 Jahre alt sind.
(Zur Jury gehört auch so ein Spinner namens Molosovsky.)
Jubel ist angesagt, denn endlich endlich endlich geht es weiter auf der Hauptseite der Bibliotheka Phantastika. Vor allem die wunderschöne neue Gestaltug von moyashi gefällt mir. Es gibt neue Sächelchen, z.B. ein Blog, ein überarbeitetes Genre-Schubladensystem (mit ›Weird Fiction‹!), und eine Fibel mit Essays. Und 1000 Dank, dass der Molochronik auf der Link-Seite so weit oben ein Plätzchen eingeräumt wurde!!
Große Diskussion über die Lage der Fantasy in unseren Landen. Stein des Anstoßes war eine Erregung von Petra Hartmann im Fandom Observer 259 über die Schwemme an seichtem Fantasy-Lulu, dass die Buchhandlungen verstopft. Der Herr Breitsameter von SF-Fan hat daraufhin einige Leuts um Stellungnahmen gebeten (auch mich, aber meine Antwort fiel aus Zeitmangel zu kurz aus) und so gibt es die Antworten von …
… Markus ›Pogopuschel‹ Mäurer (Redakteur von ›Fantasyguide‹ und ›Phase X‹) :
Was mir persönlich ein wenig auf dem Buchmarkt fehlt sind einzelne, abgeschlossene Fantasy-Romane. Die unzähligen Reihen mit ihren Trilo-, Quadro-, Deka- und Kein-Ende-In-Sich-logien hängen mir inzwischen zum Hals raus. Hier wünsche ich mir etwas mehr Mut bei den Autoren und den Verlagen, aber auch bei den Lesern. Denn die Masse der Fantasyleser scheint ja leider das Bekannte (in Form von Endlosreihen) zu bevorzugen
… Adrian Maleska (Redakteur von ›Fantasybuch‹): Seine Meinung ist mir etwas zu vorsichtig und versöhnlich. Wertvoll finde ich seinen Tipp, sich als Leser doch mal zu bewegen und bei Verdruss nach neuen Weidegründen umzusehen.
… und Michael Scheuch (einem meiner beiden Redakteur-Cheffes von »Magira – Jahrbuch zu Fantasy«). Er hat die Cochones, auf einen der fatalsten Zustände hinzuweisen:
Im Buchhandel haben Thalia und Co. großen Einfluss auf die Gestaltung der Verlagsprogramme, und der rein optische Eindruck des Einerlei kommt auch von den Büchertischen und der Stapelware in den großen Läden.
Auf den Comic-Seiten des ›Tagesspiegels‹ empfiehlt unter dem Titel Schnüffler mit SchnauzeLars von Törne die Tierfabel-Noir Krimis »Blacksad« von Juan Díaz Canales und Juanjo Guarnido.
Ein Hoch auf Rupert Schwarz, der für ›Fictionfantasy‹ eine Rezension zu Tim Burtons Meisterwerk Mars Attacks liefert … auf Marsianisch!
Zuckerl
Web-Comic: Hochgradig durchgeknalltes Projekt, wenn bei Axe Cop der 29-jährige Zeichner Ethan Nicolle die Stories seines 5-jährigen Bruders Malachai Nicolle umsetzt. Richtig wilder Stoff in bisher knapp 60 Folgen.
Beeindruckende Photoserie von Francois Robert: Stop the Violoence. Aus den Knochen menschlicher Skelette zusamengesetzt Symbole, Worte und Waffen, sehr schön und zugleich spooky. Die Motive wurden aufgegriffen für eine Kampagne der ›Gesellschaft für bedrohte Völker‹.
Viel zu wenige Künstler liefern bratzige Brutalo-Hasen. Abhilfe schaffen aber die mutierten Roughneck Rabbits von Kai Spannuth.
Sehr elegenate Ansichten von Catwoman von Bengal, gefunden im ›Trixie Treats‹-Blog. Jummie!
Nase voll von den immer gleichen Kravatten-Knoten? Mit 5 New Creative Ways to Wear a Tie zeigt Caldwell Tanner von ›College Humor‹, wie Mann sein Repertoir aufbrezeln kann. Für Cthulhu-Acolyten natürlich besonders toll: ›The Lovecraft‹.
Bezaubende Phantastik-Gemälde von Julie Heffernan zeigt ›Escape to Life‹.
Zur Hebung der Laune präsentiert das ›Clockworker‹-Portal den kleinen Musikfilm Herr Ober, zwei Mocca mit Henry de Winter, begleitet von den Bratislava Hot Serenaders.
Zuletzt ein Schmankerl des von mir verehrten ›Distressed Watchers‹, der eine gloriose Top Ten der Antihelden erstellt hat. Ich bin sehr einverstanden damit, dass der »Unforgiven«-›Held‹ von Clint Eastwood Platz 1 belegt.
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Eintrag No. 666 — Räume am Sonntag im Billy mit den gebundenen Schinken Zeugs aus der ersten in die zweiten Reihe, um Platz zu schaffen für Sachen, zu denen ich öfters greife, oder denen ich mich auf absehbare Zukunft vermehrt widmen will. Da fällt mir »Das Kritikon« von Gracian aus zwei Meter Höhe auf das Nachschlagwerk-Arbeitsregal, dass es die Dübel aus der Wand reisst. Perdauz aber auch, das Bookanier-Dasein ist gefährlich.
Anna Gielas hat für ›Der Freitag‹ einen lesenswerten Text über die frühe Royal Society, bzw. deren Vorgänger, Invisible College geschrieben: Gezeter, Trotz, Duellpistole.
Endlich! In der SPD versucht sich ein laizistischer Arbeitskreis zu formieren: Soziale und demokratische LaizistInnen. Ich drücke die Daumen! Wenn Ihr mal rausbekommt, was Eremitenhäuser sind, und warum die eine Millionen € im Jahr brauchen, dann gebt mir bescheit.
Nochmal ›Der Freitag‹: Längeres Gespräch mit Susie Orbach»Wir modellieren Körper«, worin dann auch auf das sehr erstaunliche Any-Body-Blog verlinkt wird. Leute davon zu überzeugen, ihren Körper modifizieren zu müssen, bzw. erstmal dafür zu sorgen, dass Menschen sich mit / in ihren eigenen Körper nicht wirklich zuhause fühlen, ist eines der fundamentalsten und perfidesten Herrschafts- & Unterdrückungs-Instrumente die es gibt (und eines der ältesten).
(Deutschsprachige) Phantastik-Funde
Die Damen & Herren der deutschen Steampunker.-Site ›Clockworker‹ waren Im Salongespräch: Oliver Plaschka. Oliver ist einer der ganz wenigen deutschsprachigen lebenden Genre-Phantasten, die für mich in die Suppe kommen. Seine »Die Magier von Montparnasse« fand ich richtig gut, mit »Fairwater – Die Spiegel des Herrn Barthalomew« bin ich zu 1/3 fertig und finde es ganz apart, und ich freue mich schon darauf »Der Kristallpalast« zu lesen.
Bin im Lauf der letzten Woche wieder von einem Agentur-Menschen angeschrieben worden, der einen Linktausch vorschlägt. Wiederum für eine Verlags-Portal- & Onlinebuchhandel- & Social Netwörk-Site. Diesmal aber für eine ganzer Reihe Verlage, die ich sehr schätze, wie Edition Nautilus, Reprodukt, Kein & Aber. Also, ganz umsonst, hier ein Empfehlungslink auf den Eintrag zu Kurt Vonneguts »Ein dreifach Hoch auf die Milchstraße« (inkl. drei Leseproben) im ›Tubuk‹-Blog.
Für den ›Tagesspiegel‹ jubelt Lutz Göllner über Verhängnisvolle Freundschaften, sprich »20th Century Boys« von Naoki Urasawa.
Wortmeldungen
Habe mich im lauf der letzten Woche noch ein paar Mal in dem Exploitation SF-Thread bei ›SF-Netzwerk‹ gemeldet.
Zuckerl
›BoingBiong‹ weist auf Joe Jubnas Schemakarte zu Japanischen Konsolen-Rollenspielen hin: The Japanese RPG formula. Köstlich, und zugleich geeignet als Beweiststück in meinem ewigen Prozess, warum ich mit den allermeisten Franchise-Sachen nix anzufangen weiß, denn was sich auf solche Karten zusammendampfen lässt, kann (in meinen Augen) nicht allzuviel taugen.
Unglaublich aber wahr. Bei ›Life‹ hat man eine alte Photo-Reportage ausgebuddelt, wie einst, im Januar des Jahres 1941 in den Wäldern des US-Staates Mayland, eine Gruppe Leuts (unter anderem William Seabrook) mit einem Voodoo-Ritual dafür sorgten, dass die Nazis den Krieg verlohren: Putting a Hex on Hitler, 1941.
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Eintrag No. 21 — Zusammenfasungen der Zusammenfassungen des Buches »Idee und Leidenschaft — Die Wege des Westlichen Denkens« von Richard Tarnas (›The Passion of the Western Mind‹; HC zuerst bei Roger & Bernhard; als TB bei DTV; dann unter dem Titel »Das Wissen des Abendlandes« bei Patmos). 1991 auf Englisch, 1997 auf Deutsch erschienen, bietet einen guten groben Überblick über viele Themen/Spannungen die in Sachen Weltenbau, Magietheorie usw von Bedeutung sind. — Tarnas möchte ich mal als Steinbruch vorstellen, denn sein Buch ist mir mittlerweile als nützlich aufgefallen. Da bemüht sich einer, möglichst umfassend eine Kultur- und vor allem Ideengeschichte zu beschreiben, und legt dabei (soweit ich das abschätzen kann) wert darauf, nüchtern und objektiv zu bleiben. Meistens kann ich seinen Vereinfachungen und Aussagen zustimmen. Er versucht nicht polemisch zu sein, trübt aber damit auch den Blick auf heikle und exotischen Aspekte.
Aus sieben Teilen setzt sich Tarnas Buch zusammen:
I. Griechisches Weltbild / II. Transformation der klassischen Ära / III. Christliches Weltbild / IV. Transformation des Mittelalters / V. Modernes Weltbild / VI. Transformation der Moderne / VII. Epilog.
Die erste Zusammenfassung findet sich im ersten Teil und umreißt das duale Vermächtnis des Weltbildes der Antike. Zwei Fünfheiten stehen sich umkreisend gegenüber.
ERSTE FÜNFHEIT: Griechischer Rationalismus und griechische Religion wie vor allem durch Platon geprägt (S. 83f):
Die Welt ist ein geordneter Kosmos, dessen Ordnung mit der des menschlichen Geistes verwandt ist. Eine rationale Analyse der empirischen Welt ist deshalb möglich.
Der Kosmos als Ganzes ist Ausdruck einer planvollen Intelligenz, die der Natur Sinn und Zweck verleiht, und diese Intelligenz ist dem geschulten und gereiftem menschlichen Bewußtsein direkt zugänglich, wenn es sich ganz auf diese Intelligenz ausrichtet und konzentriert.
Eine durchdringende geistige Analyse offenbart auf ihrem Höhepunkt eine zeitlose, ihre temporären und konkreten Manifestationen übersteigende Ordnung. Die sichtbare Welt trägt eine tiefere, sowohl rationale als auch mythische Bedeutung in sich, die von der empirischen Ordnung widergespiegelt wird, aber aus einer ewigen Dimension stammt, die Quelle und Ziel aller Existenz ist.
Zum Begriff ›mythisch‹ und ›Mythos‹: ist für mich zuvörderst die Geschichte, wie sie von den Gewinnern (fast immer Aggressoren und Betrüger) geschrieben wurde. Mythen dienen also zur Propaganda, bzw. dem Vertuschen von (Betriebs-)Geheimnisen, sowie dem Überhöhen der eigenen und dem Herabsetzten der anderen Seite. — Verständigungsproblem beim Bau von Fantasy-Welten und Kulturen. Soll ein Mythos den man sich ausdenkt als ›Wahrheit‹ im Sinne des antiken Weltbildes verstanden werden, oder, wie durch moderne Augen gesehen, als pathetische Verklärung, Über-Untertreibung?
Die Erkenntnis der grundlegenden Struktur und Bedeutung der Welt erfordert Übung und den Einsatz einer Vielzahl von kognitiven Fähigkeiten — rationalen, empirischen, intuitiven, imaginativen und moralischen.
Die unmittelbare Verstehen der tieferen Wirklichkeit der Welt befriedigt nicht nur den Geist, sondern auch die Seele: es ist seinem Wesen nach eine erlösende Vision, ein dauerhafter Einblick in die wahre Natur der Dinge, intellektuell entscheident wichtig und zugleich spirituell befreiend.
Zumindest ich bin ein bischen baff, wie sehr diese ersten 5 Positionen noch virulent sind; in meinen misanthropischen Stimmungen nehm ich an, daß ›die Masse‹, das Gemensche sich kaum von diesen Ansichten gelößt hat.
ZWEITE FÜNFHEIT: Kritische Antipoden zu diesem idealistischen Realismus stellen folgende geistigen Annahmen und Tendenzen der griechischen Welt-Denkerei dar (S. 84f):
Wahres Wissen ist nur durch die strikte Anwendung von menschlicher Vernunft und empirischer Beobachtung erreichbar.
Die Basis wahren Wissens liegt in der gegebenen Erfahrungswelt, nicht in einer unbeweisbaren jenseitigen Wirklichkeit. Die einzige Wahrheit, die dem Menschen zugänglich und nützlich ist, ist immanent, nicht transzendent.
Die Ursachen natürlicher Phänomene sind unpersönlicher und physikalischer Art und sollten innerhalb des Bereichs der Naturbeobachtung gesucht werden. Mythologische und übernatürliche Elemente sind als anthropomorphe Projektionen aus kausalen Erklärungen herauszuhalten.
Tja, in Fantasy-Welten ist nun z.B. genau das die Spielwiese :-)
Jeder Anspruch auf ein ganzheitliches theoretisches Verstehen muß sich an der empirischen Wirklichkeit des konkreten Einzelnen in all seiner Verschiedenheit, Veränderbarkeit und Einzigartigkeit messen lassen.
Auch irdische Weisheit kennt den kontinuierlich gemahnenden Basslauf, daß der Mensch sich besser nicht selbstverständlich auf die Wiederholbarkeit von etwas verlassen kann und soll.
Kein Denksystem ist endgültig, und die Suche nach Wahrheit muß sowohl kritisch als auch selbstkritisch sein. Menschliches Wissen ist relativ und fehlbar und muß im Licht neuer Befunde und weiterer Analysen immer wieder revidiert werden.
Die nächste Zusammenfassung widmet sich der christlichen Transformation des klassischen Denkens, und stellt eine Sechsheit an Differenzen zum griechisch-römischen Denken vor. Tarnas weißt darauf hin, daß solche Zusammenfassungen immer ungenau sind. (S. 206f)
Durch die Anerkennung eines höchsten Gottes, dem dreieinigen Schöpfer und Herrscher über die Geschichte, hat das Christentum eine monotheistische Hierarchie im Kosmos geschaffen, die den Polytheismus der heidnischen Religionen überwand …
{naja, man könnte auch ›verdrängt‹ sagen}
… und in sich aufnahm, während sie der Metaphysik der archetypischen Formen ihren Vorrang nahm, sie aber nicht eliminierte.
Monos gegen Pluris. Darf ich das so platt gegenüberstellen?
Der platonische Dualismus von Geist und Materie wurde verstärkt durch seine Verschmelzung mit der Lehre von der Erbsünde, dem Fall des Menschen und der Natur, der kollektiven menschlichen Schuld. Eine weitere Zuspitzung kam dadurch, daß die Natur jede immanente Göttlichkeit, ob poly- oder pantheistisch, weitgehend abgesprochen wurde, ohne ihr aber dabei die Aura übernatürlicher Bedeutung zu entziehen — sei sie göttlich oder satanisch; sowie durch die radikale Polarisierug von Gut und Böse.
Die Beziehung des Transzendenten zum Menschen wurde dramatisiert als Gottes Herrschaft über die Geschichte, als die Erzählung vom auserwählten Volk, als historisches Erscheinen Christi auf Erden und als seine letztliche Wiederkehr, um die Menschheit in einem künftigen apokalyptischen Zeitalter zu erlösen. So entstand ein neuer Sinn für historische Dynamik, für die göttliche Logik der Erlösung innerhalb einer linear, nicht zyklisch verlaufenden Geschichte, der jedoch durch die schrittweise Verlagerung dieser erlösenden Kraft in die institutionelle Kirche implizit wieder zugunsten der Restauration eines statischeren Geschichtsverhältnisses zurückgenommen wurde.
Den heidnischen Mythos von der großen Mutter-Gottheit verwandelte das Christentum in eine historisierte Theologie mit der Jungfrau Maria als menschlicher Mutter Gottes und in die beständige historische und soziale Wirklichkeit Kirche als Mutter.
Das Beobachten, Analysieren und Verstehen der natürlichen Welt wurde abgewertet und damit die rationalen und empirischen Fähigkeiten gegenüber den emotionalen, moralischen und spirituellen vernächlässigt oder negiert, wobei alle menschlichen Fähigkeiten den Anforderungen des christlichen Glaubens und dem Willen Gottes untergeordnet waren.
Das Christentum verzichtete auf die Fähigkeit des Menschen, die Bedeutung der Welt selbstständig intellektuell oder spirituell zu durchdringen, aus Ehrfurcht vor der absoluten Autorität der Kriche und der Heiligen Schrift, denen die endgültige Bestimmung der Wahrheit überlassen bleibt.
Nun die Achtheit an Grundlagen des modernen Weltbildes. Versimpelt umreißt Tarnas folgenden Bogen: Die Antike war Bunt, das Christentum ist ‘ne Art von strenger Auskristallisierung bestimmter Aspekte und nun schwingt das Pendel wieder in die andere Richtung. Tarnas konzentriert sich auf die Aspekte des modernen Weltbildes, durch die es sich am stärksten von den Vorgängern abhebt (S. 359ff — Ich zitiere nur die ersten, bzw. markantesten Sätze der einzelnen Punkte):
Im Gegensatz zum mittelalterlich-christlichen Kosmos, den ein persönlicher und allmächtiger Gott nicht nur geschaffen, sondern auch stets und unmittelbar regiert hatte, war das moderne Universum ein unpersönliches Phänomen. {…} Er war nun weniger ein Gott der Liebe, des Wunders, der Erlösung und der historischen Intervention als eine höchste Intelligenz und erste Ursache, die das materielle Universum und seine unveränderbaren Gesetzte zwar geschaffen, sich dann aber jeder weiteren direkten Einflußnahme enthalten hatte. {…} Während in der mittelalterlich-christlichen Auffassung der menschliche Geist die im Grunde übernatürliche Ordnung des Universums nicht ohne die Hilfe der göttlichen Offenbarung verstehen konnte, war der menschliche Geist nach moderner Auffassung kraft seiner eigenen rationalen Fähigkeiten dazu in der Lage, die Ordnung des Universums zu verstehen; und diese Ordnung war ganz und gar natürlich.
Markant an der Zeichendeuterei der Vormoderne ist für mich, daß sie oft bis zur Lächerlichkeit naiv, hysterisch und paranoid war. Man muß nur mal bei den zivilierten Heiden (z.B. Griechen) gucken, was denen alles als Orakelmaterial diente. Zukunft vorhersagen anhand der Art wie Käse gerinnt, wie jemand lacht, anhand der Asche eines abgebrannten Feuers, anhand der Art wie eine Spinne ihr Netz gebaut hat. Immerhin glaubte man, dass Gott (oder Götter) noch dauernd in der Schöpfung rumfummelte und versuchte mit Zaunpfahlwinkerei die Schäfchen ins Trockene zu lotsen.
Die christlich-dualistische Betonung der Vorrangstellung des Spirituellen und Transzendenten vor dem Materiellen und Konkreten wurde jetzt weitgehend umgekehrt und die physische Wirklichkeit zum zentralen Bereich des menschlichen Interesses. {…} Der christliche Dualismus von Geist und Materie, Gott und Welt wurde allmählich in den modernen Dualismus eines subjektiven und persönlichen menschlichen Bewußtseins und einer objektiven und unpersönlichen materiellen Welt verwandelt.
Schönes Beispiel von extremistischen Pendelbewegungen in Sachen Ideologie. Wo der Verstand (weil zu bedrohlich kritisch) hinantgestellt wurde, zerrt man ihn in der Reaktion überprominent in den Vordergrund. Entsprechend kommt es in der Postmoderne (Stichwort: Negative Dialektik) zu einem scheinbar anti-rationalen Umkehrbild einer Kritik des Aufklärungsprozesses.
Die Wissenschaft ersetzt die Religion als überragende, das kulturelle Weltbild definierende, beurteilende und überwachsende geistige Autorität. {…} Mit einer transzendenten Wirklichkeit assoziierte Vorstellungen … galten als nützliche Beruhigungsmittel für den emotionellen Anteil des Menschen; als ästhetisch befriedigende Schöpfungen der Phantasie; als potentiell brauchbare heuristische Annahmen; als notwendige Bollwerke für Moral und gesellschaftlichen Zusammenhalt; als politisch-ökonomische Propaganda; als psychologisch motivierte Projektion; als die Lebendigkeit unterdrückende Illusionen; als abergläibisch, irrelevant oder sinnlos.
Dieser Punkt umreißt knapp die Funktionen und Restrinnsale des Religiösen (im europ.-westlichen Kerngebiet der Säkularisierung). Die nun entmonopolisierte Spiritualität wird zunehmend kommerzialisiert und privatisiert, von Freimaurei, Magierkreisen, über Popkultur & Rock'n Roll & Fandoms, bis hin zur Kunst, auspendelnden Körnerfresserei usw.
Ähnlich wie in der klassischen griechischen Anschauung besaß das moderne Universum eine immanente Ordnung. {…} Die moderne Weltordnung war keine transzendente, alles beherrschende Einheitsordnung, die sich im Inneren des Verstandes genauso wie in der äußeren Welt widerspiegelte und in der die Erkenntnis des einen zwangsläufig das Wissen des anderen nach sich zog. {…} Das Universum an sich war nicht mit bewußter Intelligenz oder Zwecken ausgestattet; allein der Mensch besaß solche Eigenschaften.
Hier bröckelts ja auch seit einiger Zeit (siehe ›Kultur bei Tieren‹). Aber ich behalte den Punkt ›bewußte Intelligenz‹ im Augenwinkel.
Im Gegensatz zu der integierten Vielfalt von Erkenntnismethoden der klassischen Antike war die Ordnung des modernen Kosmos prinzipiell allein den rationalen und empirischen Fähigkeiten des Menschen zugänglich. {…} Die Erkenntnis des Universums war jetzt in erster Linie eine Angelegenheit nüchterner, unpersönlicher wissenschaftlicher Forschung. War sie erfolgreich, so endete sie nicht so sehr mit Erfahrung spiritueller Befreiung … sondern mit der intellektuellen Beherrschung der Natur und der materiellen Verbesserung des Lebens.
Hier sind wir wieder beim Flackerbegriff der Magie bzw. Technik. Ich finde, man kann beides zusammenhaun und diesen Audruck ›intellektuelle Beherrschung der Natur‹ als Kernpunkt beider Disziplinen nehmen. Magie ist Technik, von der so getan wird, als wäre sie etwas Übernatürliches, Wundersames (siehe Hüten von Betriebsgeheimnissen).
Die Kosmologie des klassischen Zeitalters war geozentrisch, endlich und hierarchisch; sie nahm die Himmelskörper als Orte transzendenter archetypischer Kräfte wahr; deren Bewegung bestimmten und beeinflußten die menschlicher Existenz. {…} Anders als im antiken und mittelalterlichen Weltbild besaßen die himmlichen Körtper des modernen Universums keinerlei geistige oder symbolische Bedeutung; sie waren nicht dazu da, dem Menschen sein Schicksal zu zeigen oder seinem Leben Sinn zu verleihen. {…} Ähnlich wurden auch alle Zeichen des Göttlichen in der Natur als Symptome eines primitiven Aberglaubens und wunschgeleiteten Denkens bewertet und aus dem ernsthaften wissenschaftlichen Diskrus entfernt.
Vieles, vor allem praktisches Wissen ging verlohren, einzelne Wissenschaften machen sich nun wieder auf, die brauchbaren Aspekte dieses alten ›Wunderglauben-Wissens‹ zu suchen und zu sammeln. Meiner Einschätzung nach, war aber vieles was im Fortlauf der Moderne als Aberglaube verunglimpft wurde, wirklich kaum der Erkenntnis wert.
Dank der Integration der Evolutionstheorie und ihrer vielfältigen Auswirkungen auf andere Gebiete ließen sich das Wesen und der Ursprung des Menschen sowie die Dynamik des Wandels in der Natur jetzt ausschließlich natürlichen Ursachen und empirisch beobachtbaren Prozessen zuschreiben. {…} Die Struktur und Entwicklung der Natur war kein Ergebnis eines wohlmeinenden göttlichen Plans und Zwecks, sondern eines amoralischen, zufälligen und brutalen Kampfes ums Dasein, in dem nicht der Tugendhafte, sondern der Taugliche Erfolg hatte. {…} Das moderne Universum war jetzt ein ausschließlich säkulares Phänomen, das immer weiter fortfuhr, sich selbst zu verändern und zu erzeugen. Es besaß keine göttlich konstruierte Finalität mit einer ewigen und statischen Struktur, sondern war ein sich entfaltender Prozess ohne absolutes Ziel und ohne absolute Grundlage, außer Materie und ihren Verwandlungen.
Anders als das mittelalterlich-christliche Weltbild bestätigte das moderne radikal die Unabhängigkeit des Menschen — ob geistig, psychisch oder spirituell. {…} Das klassische griechische Weltbild hatte die Vereinigung — oder Wiedervereinigung — des Menschen mit dem Kosmos und dessen göttlicher Intelligenz als Ziel der intellektuellen und spirituellen Tätigkeit des Menschen hervorgehoben. Das christliche Ziel war es, den Menschen und die Welt wieder mit Gott zu vereinigen. {…} Im Vertrauen auf die Kraft seines autonomen Intellekts ließ der moderne Mensch die Tradition weitgehend hinter sich und machte sich alleine auf den Weg, entschlossen, die Prinzipien seines neuen Universums zu entdecken, dessen neue Dimensionen zu erforschen und zu erweitern sowie seine Erfüllung hier und jetzt zu finden.
Oder anders betrachtet: Die Menschheitsgeschichte ist die der zunehemend enger werdenden Nachbarschaft; die Kulturgeschichte ist die Geschichte des von Menschen umzingelt werdenden Menschen. Die älteste Lösung dieses Engeproblens ist die Flucht nach Außen (territoriale Flucht), die Flucht nach Innen (mystisch-asketisch-ekstatische-usw Flucht) und die Flucht in die Zukunft (bzw. Schuldenabschieben auf Nachfahren).
Als hier vorläufig letzte Zusammenfassung folgt ein Sprung über Jahrhunderte, ins kalte Wasser Bucheepilogs, wenn Tarnas eine postmoderne Theorie zum Mutter-Kind ›Double-bind‹ — also über wechselseitig sich widersprechende Forderungen die dazu führen, das Menschen schizophren werden — auf das Verhältnis Welt-Mensch umformuliert (S. 526f):
Die Beziehung des Kindes (Menschen) zur Mutter (Welt) zeichnet sich durch vitale Abhängigkeiten aus (ist durch vitale Abhängigkeiten geprägt), was es für das Kind schwierig macht, Mitteilungen der Mutter richtig einzuschätzen (was es schwierig für den Menschen macht, die Beschaffenheit dieser Welt richtig einzuschätzen).
Das Kind empfängt auf verschiedenen Ebenen widersprüchliche oder unvereinbare Informationen von der Mutter, indem beispielsweise eine explizite verbale Botchaft durch einen nonverbalen Kontext zugleich wieder dementiert wird — etwa wenn eine Mutter ihrem Kind mit feindseligen Augen und verspanntem Körper sagt, »Schatz, du weißt, daß ich dich sehr lieb habe«. Beide Signale lassen sich nicht in Übereinstimmung bringen. (Der menschliche Geist empfängt in sich widersprüchliche oder anderweitig unvermeidbare Informationen über seine Situatiuon in bezug zur Welt. Unter anderem stimmt seine innere psychologische und spirituelle Wahrnehmung der Dinge nicht mit der allgemeinen — auch von ihm selbst anerkannten — wissenschaftlichen Sicht der Dinge überein.)
Das Kind wird keinerlei Gelegenheit gegeben, der Mutter Fragen zu stellen, die die Kommunikation klären oder den Widerspruch auflösen kann. (Erkenntnistheoretisch ist es dem menschlichen Geist unmöglich, in eine direkte Kommunikation mit der Welt zu treten.)
Das Kind kann das Feld, das heißt die Beziehung nicht verlassen. (Existentiell ist es dem Menschen unmöglich, das Feld zu verlassen.)