molochronik

Molos Wochenrückblick No. 2

Eintrag No. 619 — Bin auf den letzten Seiten von Miévilles neuestem Roman »Kraken«, und seit Samstag versinke ich zudem in James Webbs »Die Flucht vor der Vernunft« und »Das Zeitalter es Irrationalen« über »Politik, Kultur und Okkultismus im 19. / 20. Jahrhundert«. Großartige Lektüre für Großraumphantastik-Forscher. — Nun aber zum Wochenrückblick

Netzfunde

  • Mille Miglia, 1. Etappe und 2. Etappe in Andreas »Reisenotizen« am 12. und 17. Mai 2010. Bereits zum dritten Mal berichtet Andrea von diesem Härtetest für Oldtimer. Wie immer mit hervorragenden selbst geschossenen Fotoschmuckwerk und diesmal einem Gastauftritt von Jamiroquai. — Hier noch die Links zu Andreas Artikel für die »F.A.Z.« von 14. Mai: Tausend Meilen im Ausnahmezustand und zu Andreas Mille Miglia 2010-Flickralbum.
  • England hat einen neuen Premierminister. Martin Lewis hat für »Huffingtonpost« (11. Mai 2010) ausgebuddelt, was der Mister Cameron so in seinen wilden Studietagen getrieben hat: UK Election Winner! Meet the New Toff (Same as the Old Toffs) »UK Wahlgewinner! Das sind die neuen feinen Pinkel (Sind genauso wie die alten feinen Pinkel)«: Folgender Absatz ist zu schön um unübersetzt zu bleiben:
    Aus den späten 1980ern, als Cameron Mitglied {des berüchtigten Bullington Clubs} war, ist ein typischer Abend gut dokumentiert. Die Mitglieder des Clubs nahmen eine Nacht lang eines der edelsten Restaurants von Oxford in Beschlag, orderten die teuersten Gerichte der Speisekarte, soffen üppige Mengen der teuersten Weine und Champagner — dann verwüsteten und zerstörten sie das ganze Restaurant, Möbel und Ausstattung. Der Gnadenstoß am Ende eines solchen Ausfluges bestand darin, auf den traumatisierten, verzweifelten Restaurantbesitzer zuzugehen, und, entsprechend der Umgangsgepflogenheiten des Adels mit seinen Bauern in vergangenen Jahrhunderten, den unglückseligen Besitzer verächtlich mit Geldbündeln zu bewerfen, als Vergeltung für den angerichteten enormen Schaden.
    A well-documented typical evening while Cameron was a member in the late 1980s consisted of the members taking over one of Oxford's fanciest restaurants for the night, eating the priciest food on the menu, ordering and quaffing copious quantities of the most expensive wines and champagnes -- and then totally trashing and destroying the entire restaurant, furniture and fittings. The coup de grace at the end of each such excursion was to go up to the traumatized, distraught restaurant owner and, in a gesture that dates back to the aristocrat-peasant relationship of centuries passed, contemptuously throw wads of banknotes at the hapless owner as recompense for the massive damage caused.

    (via »BoingBoing«). — Tja, die Inselaffen. Was Tradition und Standesbewußtsein angeht können wir mit denen nicht mithalten.

  • Ebenfalls BoingBoing: Cory Doctorow machte am 14. Mai 2010 auf »The People’s Manifesto« von Mark Thomas aufmerksam. Von den Beispiel-Ausschnitten gefällt mir am besten:
    Politiker sollten dazu verpflichtet werden, auf ihren Wappenröcken die Namen und Logos der Unternehmen zu tragen, mit denen sie finanzielle Beziehungen pflegen, so wie Rennfahrer (»Sie sollten gezwungen werden, vor ihren Wortmeldungen im Parlament die Erkennungsmelodie des Unternehmehns zu singen«).
    Politicians should have to wear tabards displaying the names and logos of the companies with whom they have a financial relationship, like a racing driver ("They should be forced to sing the company's jingle when they stand up in the Chamber")
  • Jesse Bullington, der begnadete Autor von »The Sad Tale of the Brothers Grossbart«, hat am 13. Mai 2010 diesen lehrreichen Vortrag verlinkt: Tim Wise – The Pathology of Privilege, Teil 1 von 6. — Insgesamt eine gute Stunde Vortrag über den alltäglichen, institutionalisierten Rassismus gegenüber Nichtweißen und die eingeschliffenen, ungerechtfertigten Vorteile welche Weiße genießen, gehalten von einem Weißen, der gleich zu Beginn darauf aufmerksam macht, dass es an seiner Hautfarbe liegt, warum er diesen Vortrag hält, und nicht ein Farbiger, obwohl er, Tim Wise, sein Wissen eben von solchen Leuten bezieht, die den Rassismus und die Vorurteile tatsächlich selbst erleben.

Wortmeldung

Bis auf kurze, nicht erwähnenswerte: keine

Zuckerl

  • Der Carlsen Verlag kündigt an, ab Juli 2010 in sieben Bänden die Manga-Fassung von Hayao Miyazakis »Nausicaä aus dem Tal der Winde« herauszubringen. Freude! (Der Film aus dem Jahr 1985 greift nur Teile der Handlung aus den ersten beiden Bänden auf. Die Manga-Fassung entstand 1983 bis 1994. Wie bei »Akira« ist der Film nur eine Art langer Trailer für die wesentlich umfangreichere Mangafassung.)
  • Die Trailer zu Christopher Nolans nächstem Streich »Inception« sind wahrlich vielversprechend. Einzig die 08/15-Trailermusik langweilt mich. Das immer gleiche Gepulse und schicksalsschwangere Wummsgeräusch (dieser oft benutzte, und mich eben schon anödende Soundmisch aus Bassblechgewaber, Schlaggepeitsche und Synthieorchester). Aber die Bilder und die Andeutungen der Handlung machen trotzdem enorm Laune.

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Zusammenfassung von Albrecht Müller: »Was sollte Medienjournalismus leisten?«

Eintrag No. 617Langer Beitrag der »Nachdenkseiten«, den ich gut und wichtig finde und deshalb hier die Kernpunkte zusammendampfe:

Was sollte Medienjournalismus / sollten Medienjournalisten leisten?
  1. {Ü}ber den Zustand der Medien, über die Besitzverhältnisse, über Konzentrationsprozesse, über ihre Verflechtungen {…} aufklären;
  2. {A}ufklären über die Verflechtungen der Medien mit der Politik;
  3. {Besser aufklären} über die Tendenz von einzelnen Medien und des großen Stroms der Medien;
  4. Aufklären über den Einfluss großer Interessen auf die Medien mithilfe von Public Relations;
  5. {Ü}ber die Kampagnen der Meinungsbeeinflussung aufklären, und auch darüber wie Medien benutzt werden, um gefällige politische Entscheidungen herbeizuführen;
  6. {U}ns helfen, die Methoden des Kampagnenjournalismus und der heute üblichen Propaganda zu Gunsten von Interessen zu durchschauen;
  7. {D}en Medienschaffenden nicht durchgehen lassen, wenn diese weiterhin Wissenschaftler und Publizisten als sachverständig und unabhängig herausstellen und als Interviewpartner engagieren, wenn diese Wissenschaftler sich als Interessenvertreter und nicht als Vertreter einer unabhängigen Wissenschaft erwiesen haben — und zu diesem Zweck schwere Fehler gemacht haben
  8. Thematisierung des Interessengeflechts, in dem wichtige Medienmacher stecken.

Zum Trost ein Zitat aus »Eine andere Welt« von Plinius dem Jüngeren

Eintrag No. 611 — Für alle, die sich warum auch immer, über über geistlos und bequemlich aufgeklaubt Wiedergekäutes aufregen, dem, was laut Schopenhauer die niederste Art der Schriftsteller kennzeichnet, jene Parasiten nämlich, die zusammen- und abschreiben was andere bereits gedacht & geschrieben haben, hier ein tröstliches Zitat aus: »Eine andere Welt« (Französisch 1844) von einem anonymen Autor der sich ›Plinius der Jüngere‹ nannte, reichlich illustriert vom unübertrefflichen Grandville, übertragen in Teutsche von Goethe-Sekretär Oskar Ludwig Wolff (Deutsche Fassung 1847).

Es folgt ein Auszug der langen Schlussrede von Dr. Puff (Neugott), nach der Ausgabe des Diogenes Verlages 1979, Seite 291 ff (veraltete Schreibweise beibehalten):

»Ruhm erwerben ist überhaupt in unseren Tagen weiter Nichts als das Resultat eines chemischen Processes; man mischt Fremdes zusammen, bis es aussieht wie Eigenes, und zersetzt wiederum das, was Andere berühmt gemacht hat, bis Nichts übrig bleibt, als ein caput mortuum {dt. = Totenkopf}. Man affimiert sich und negiert alles Andere, darin besteht das ganze Geheimnis. Ich wundere mich, daß noch Niemand ein Handbuch für berühmte Männer und Solche, die es werden wollen, herausgeben hat. Es wäre ein gutes Geschäft damit zu machen.
Die wechselseitigen Lobassecuranzen tragen auch nicht wenig dazu bei, den Ruhm über Nacht wie einen Pilz ausschießen zu lassen. Am Besten verstehen es indessen noch immer die Verlagsbuchhandlungen, die jeden ihrer neuen Artikel einen Porspectus als Courier voraussenden, in welchem ›der unerbittliche Verfasser‹ endlich einem dringend gefühlten Bedürfnisse abhilft und die Buchhandlung diesem wunderbaren Werke für einen Spottpreis eine Ausstattung gibt, wie sie der Xsche Buchhandel bisher noch nicht auszuweisen hatte.
Ehe die Vorzeichen mir meldeten, dass das Ende der Welt nahe sei, hatte ich für eine neu etablierte Verlagsbuchhandlung ein Druckwerk erfunden, welches binnen einer Secunde die volkreichste Residenz mit Prospectus zu überschwemmen im Stande war. Leider erschöpften die Kosten dieser Prospectusse dermaßen die pecuniairen Mittel und Kräfte des jungen Geschäfts, daß es die angezeigten und ausposaunten Werke nicht zu bringen vermochte, obwohl es kein eigentliches Honorar für dieselben zu zahlen hatte, die sie sämmtlich nur Be-, Um- oder Überarbeitungen waren, denn, wie wir bereits zu Anfange dieses Buches sagten: Nicht stirbt, Alles verwandelt sich nur.
Vermittels dieses Axioms kann man ohne Gewissensbisse Anderen ihre Gedanken stehlen, man nennt das: sie verjüngen.
Das Plagiat wird überall geduldet und geschätzt, vertheidigt es doch schon Goethe, daß er sich stets von den Besten sein Bäuchelchen gemästet. Die Gesetze bestrafen jeden Diebstahl, nur nicht den Gedankendiebstahl. Die Einbildungskraft, diese offenherzige Göttin, darf es kaum wagen ihre Nasenspitze sehen zu lassen, so sind auch schon fingerfixe Schnipfer bei der Hand, die ihr gewaltsam die Taschen leeren und sich mit ihrem Raube davon schleichen.«

Finsternis in Schwarz-Gelb

(Eintrag No. 589; Gesellschaft) — Hammerschock, dass es reicht für eine CDU & FDP-Koalition. Will nur bescheid geben, dass ich mich nun offiziell in’s innere Exil begebe. Kann gut sein, dass ich mich in den kommenden Monaten auch vermehrt um politische Beiträge hier bemühe werde.

Meine Abneigung und Skepsis gegenüber neoliberalen Modellen und ›Utopien‹ dürften den geneigten Molochronik-Lesern vertraut sein. Es bleibt zu hoffen, dass nun nicht die letzten Reste funktionierender Sozial- und Bürgerstaat von Schwarz-Gelb zertrümmert, verscherbelt und zu Gewinnmaschen gehäkelt werden.

Hab morgen frei. Geh mich jetzt erstmal mit meinem Scotch besaufen.

Duck & Cover!! Die Vodafone-Vogonen wollen befähigen

(Eintrag No. 573; Gesellschaft, Woanders, Werbung, »Netz Zwei Null Drei Vier und Alle Schunkeln!!!«) — Ums kurz zu machen. Habe mich hinreissen lassen, auch meine zwei Pfennig Gedanken zum Rehlaunsch einer Marke zu schreibseln.

Das entsprechende Ifänt hat Andrea köstlich in »die kraft und die herrlichkeit in ewigkeit amen« dokumen-kommentiert:

Also Reklame. Kostet zwar mehr als jemand, der mal ans Telefon geht, belästigt aber gleich viel mehr Menschen, weil die Republik damit zugepflastert wird. Und was ist zu sehen auf der Reklame? Leute, die ins Internet schreiben. Für die hat sich Vodafone auch einen neuen Namen ausgedacht, Generation Upload nennt man das jetzt, das hat vermutlich auch ganz schön was gekostet.

Don Alphonso hat in der F.A.Z. unter »Vodafone lädt auf und eckt an« zusammengefasst:

Ein Spektakel auf allen Kanälen, das zukünftigen Werbern als 200 Millionen teures Beispiel dienen wird, wie man sich im Internet umfassend, oder wie man in der Branche sagt, 360 Grad, den Ruf ruiniert.

… und hier hat Mirco Lange dann seinem Ärger Luft gemacht, wie gemein die Netz-Fundamentalisten über die armen Vodafonevogonen herziehen:

Aber zurück zum eigentlichen Thema, zur “Generation Polemik”. Ich finde die aktuelle Situation in Deutschland einfach nur bedauerlich. Wir haben keine Kultur des Respekts vor Engagement. Keine Kultur der Anerkennung. Keine Kultur der Differenzierung. Überall wird sofort Raffgier und rein wirtschaftliches Interesse vermutet, streng nach dem Motto: “Vodafone tut ja nur so, als ob sie sich öffnen, damit sie uns besser bescheißen können – aber nicht mit uns!” {…} Ich finde, Vodafone hat Anerkennung verdient. Sie haben keine Anerkennung für eine tolle “Social Media Aktion” verdient, die war tatsächlich schlecht. Und ich halte die Testimonials auch für nicht unbedingt glücklich gewählt.

Ein Gedankenpferd hat mich wohl getreten, dass ich nun ausgerechnet in Herrn Langes Talkabout-Blogeintrag meinen Senf abgelassen habe.

Hier das Allgemeine meiner Gedanken, damit Ihr Molochronikleser Euch den Weg sparen könnt:

Wenn ein Großunternehmen wie Vodafone eine Absichtserklärung aufwändig in den Raum strahlt, heißt das ja noch nix. Mit der PR-Veranstaltung hat Vodafone sich mit ihrem vogonenhaften Auftreten, dem geballten Bullshit-Denglisch auf jeden Fall zur leicht treffbaren Zielscheibe gemacht. Was nun nach der stilistisch (für manche) peinlich bis schleimig wirkenden Absichtserklärung folgt, bleibt abzuwarten.

Es ist wohl nicht übertrieben anzunehmen, dass ein kommerzieller Großbetrieb wie Vodafone zuvörderst an Geld und Marktanteilen interessiert ist. Es wurde ja auch klar geäußert: der Kunde soll im Mittelpunkt stehen, weil zufriedene Kunden die besten Aquirierer neuer Kunden sind usw. Wiegesagt: ob das gelingt bleibt abzuwarten. Für viele ist aber der Auftritt, weil nicht authentisch, bisher schon mal in die Hose gegangen. Muss ja auch nicht sein, dass Vodafone sympathisch rüberkommt. Reicht ja schon, wenn Leistung und Service stimmen.

{…}

{S}oweit ich zu verstehen glaube was › Corporate Social Media‹ sein soll (denn auf die schnelle finde ich dazu nichts erhellend Erklärendes), bin ich dem Konzept gegenüber seeehr skeptisch. Klingt für mich nach einem weiteren Versuch, als Großunternehmen die Kunden gleich selber einzuspannen was Werbung und Marktforschung betrifft. Der Start des Blogs macht keine Hoffnung: irgendwelche Tüdel-Konzerte und Formel 1. Danke, aber solch seichter Schmu ist der Grund, weshalb ich im Netz nur sehr selektiv unterwegs bin und seit 15 Jahren kein TV gucke

Was Vodafone macht, ist mit 180 Millionen Aufmerksamkeit heischen. Nebenbei: Warum denkt keiner daran, die Steuern auf Werbung zu erhöhen. Ganze U-Bahn-Stationen in Frankfurt sind zugekleistert mit den Vodafon-Gedöns. Ich finde das einfach nur obszön. — Mit so viel Kohle kann man, auch als Unternehmen a la Vodafone, Klügeres machen

Ach ja: wo sind eigentlich die konkreten Produktangebote? Davon bekomme ich nirgendwo etwas mit. Es geht Vodafone derzeit wohl nur darum zu posaunen: »Wir empowern jetzt die Netzgemeinschaft, so die uns denn will«.

Und gebashed werden ist nun mal die Gefahr für alle, die sich breitbeinig mitten in der schönsten Gesellschaft an den Flügel setzten und drauf los klimpern. Natürlich ist es schön, wenn jemand Musik machen möchte, denn Musik ist etwas zutiefst Feines. Aber dann sollte man auch musikalisch sein, ein Instrument spielen können und die Mukke spielen, die zur jeweiligen Gesellschaft passt. Oder um bei Douglas Adams-Metaphern zu bleiben: ›die Netzgemeinschaft‹ ist eher Zaphod Beeblebrox, und Vodafone führt sich halt auf wie Vogonen. Kein Wunder, dass Zaphod genervt abschätzig reagiert.

Wahrscheinlich bin ich durch langjähriges »Dilbert«-Lesen einfach taub geworden für solche Werbeaktionen.

Ich will das wissen: Appell von »LobbyControll« für Transparanz

(Eintrag No. 569, Gesellschaft, Politik, Gestaltungsmacht, ›Perestroika.de‹) — Heute mal was aus der Abteilung klickbares politisches Engagement. Ich habe mich eingereiht bei denen, die sich sorgenvoll dafür aussprechen, dass offen und informativ kundgetan werden soll, wer in wessen Auftrag und mit wieviel Geld Einfluss auf die politischen Belange des Landes nimmt.

Hier geht es zum entsprechenden von »LobbyControl« auf den Weg gebrachten Appell an den Bundestag:

»Das Abenteuer Phantastik« aus »Kritische Ausgabe« (Sommer 2008)

Eintrag No. 558

VORBEMERKUNG: Dieser Beitrag erschien in »Kritische Ausgabe 01/2008: Abenteuer« und ich kann Marcel Diel gar nicht genug danken für sein enorm hilfreiches Lektorat. Noch immer bin ich ganz baff, dass dieser Text in so einem feinem Umfeld veröffentlicht wurde und ich habe hier zum Erscheinen der »Abenteuer«-Nummer meine Freude und Begeisterung über einige der Beträge des Heftes mitgeteilt.
Um nun, ein Jahr nach Erscheinen des Textes, Euch Molochronik-Lesern (exklusiv) mehr bieten zu können, habe ich im Folgenden den Text um Fußnoten-Anmerkungen ergänzt. Es geht mir der Redlichkeit halber darum, meine Quellen zu offenbaren und um die These zu illustrieren, dass alle Texte immer auch ein Gespräch mit anderen Texten darstellen. Ich möchte nicht den Verdacht auf mich ziehen, ein originellerer Denker zu sein als ich bin.
Wer so viel Text nicht am Bildschirm lesen mag, der kann sich mit dieser PDF-Version vergnügen.

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DAS ABENTEUER PHANTASTIK

Alle Leseerlebnisse reißen uns aus dem Fortlauf des Alltags. Wir treten heraus aus dem Zusammenhang des Hier und Jetzt und seiner Praxis-Zwänge und lassen uns auf eine zwischen Buchdeckel gebundene ›kleine Welt‹ ein, die nur mittels der magischen Kraft der Sprache in unserer Vorstellungskraft Gestalt annimmt. Dabei spielt es erstmal keine besondere Rolle, welches ›Wo‹ oder ›Wann‹ eine Geschichte beschwört: Ob man Kemal Kayankaya im zeitgenössischen Frankfurt bei seinen Detektivgängen begleitet oder mit Leopold und Stephen durch das Dublin des 16. Juno 1904 spaziert, ob man Quasimodos, Frollos, Pierres und Esmeraldas Schicksalswege im mittelalterlichen Paris verfolgt, ob man mit Frodo und Sam nach Mordor wandert, ob man die Marter von Winston Smith im Folterzimmer 101 des Ministeriums für Liebe miterleidet oder mit Hans Castorp bei seinem Sanatoriumsaufenthalt Ski fahren geht, niemals befindet man sich in der tatsächlichen Wirklichkeit, sondern immer tritt man durch einen Zauberspiegel in eine Welt der Sprache.[01] Die Leser entscheiden selber, ob sie die jeweiligen Angebote des Übertritts in eine narrative Welt als Ex-und-Hopp-Vergnügen nutzen, als Streichholz oder Fahrkarte die nach einmaligem Gebrauch weggeworfen werden, oder ob sie im Laufe der Zeit immer wieder zu bestimmten Schatzkästlein des Erzählens zurückkehren, um sich einen gediegenen eigenen Erinnerungspalast der Imagination einzurichten, den man als privates Hobby oder zum geselligen Austausch pflegt.[02] Grenzen zu verwischen scheint deshalb erstmal nötig, soll ein umfassender Blick auf das Abenteuer der Phantastik gewagt werden.

Immerhin herrscht einige Verwirrung zu dieser facettenreichen und umstrittenen Spielart der Literatur, was wohl schon darin gründet, dass ›phantastisch‹ und ›Phantastik‹ mit vielerlei Bedeutungen belegt werden, sich aber kaum jemals auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs besonnen wird. Etymologisch steckt nichts anderes hinter diesen Wörtern, als der Vorgang und die Gabe, Dinge ›sichtbar zu machen‹, ›sehen zu lassen‹, vor dem geistigen Auge der Vorstellungskraft ›erscheinen zu lassen‹. Durchaus nachvollziehbar sind dabei sowohl das Misstrauen und die Zurückhaltung, mit der Phantastik von den Kreisen der so genannten ernsten, hohen, relevanten Literatur beäugt wird, als auch die leidenschaftliche Begeisterung, mit der sich viele, darunter vor allem viele junge Leser des breiten Publikums willig auf die Abenteuer der Phantastik einlassen. Richtet man sein Augenmerk auf den Umstand, dass bei der Phantastik immer schon der Weltenbau selbst zum Gegenstand kreativer Machenschaften wird, ahnt man, dass diese seltsamen Fiktionen der Phantastik unerhörter- oder bezaubernderweise mehr zu leisten vermögen als die realistischen Erzählweisen der mimetischen Fiktionen. Die realistischen Modi mäßigen sich freiwillig dazu, lediglich zu erzählen, was ›geschehen ist‹ oder ›so hätte geschehen können‹. Jegliches Enerzählen, besonders aber die Phantastik nimmt sich außerdem heraus, von Dingen und Geschehnissen zu handeln, die so ›nie hätten geschehen können‹ oder die ›geschehen könnten, wenn …‹ oder reichert den Wirklichkeitsbau ihrer Fiktionen darüber hinaus merklich an mit Auswirkungen ästhetisch-ethischer Prämissen dazu, wie die Welt ›sein sollte‹ oder ›nicht sein sollte‹.[03]

Das Unternehmen, Phantastik kristallklar zu bestimmen mag löbliche Aspekte haben, und so berechtigt oder verständlich verschiedene Strömungen der entsprechenden Versuche scheinen, so beengend geraten dann am Ende die meisten ihrer Ergebnisse. Die sogenannten minimalistischen Definitionen ermöglichen zwar auf den ersten Blick die schlüssigere Handhabe, wenn sie einerseits eine tatsächliche, objektive ›die Welt ist, was der Fall ist‹-Wirklichkeit annehmen, um dann solche Fiktionen den phantastischen Gattungen zuzuordnen, in denen Unwirkliches, Irrationales, Wundersames, kurz: ›von der objektiven Faktenwirklichkeit abweichende‹-Seltsamkeiten ungestüm herumtollen.[04] Doch dieses Sprechen über Phantastik gerät schnell zu einer heiklen Angelegenheit, denn schenkt man der beunruhigenden Feststellung Glauben, dass vor allem die kulturellen, politischen, gesellschaftlichen und historischen Wahrheiten immer und überall gleich, nämlich unbekannt sind, tritt die Phantastik eher früher als später als mächtigstes, zugleich aber zwielichtiges Fundament all unseres Wünschens und (Ver-)Handelns zu Tage. Deutlich zu kurzsichtig ist es nämlich, Fiktionen nur auf ihr Verhältnis zur objektiven Tatsächlichkeit der äußeren Welt abzuklopfen, und die trügerischen Sphären der ideologischen, kulturellen und inneren Erlebniswelten zu vernachlässigen. Für den jeweiligen Leser ist es erkenntnistheoretisch zweitrangig, ob die Protagonisten einer abenteuerlichen Geschichte auf Drachen und Einhörnern durch exotische Arkadien- und Inferno-Gefilde reisen oder ob der Weg des Helden in vermeintlich realistischen Abenteuern durch die Graubereiche führt, welche die himmlischen Luxus-Milieus der Reichen und Schönen mit denen der kriminellen Unterwelt verbinden.

Schließlich können sich alle Fiktionen, alle Erzählungen, seien sie realistisch-tatsächlichkeitsnah oder wundersam-seltsamkeitssüchtig, nur Fragmenten der sogenannten Wirklichkeit widmen und vermögen den Effekt einer mit Absolutheitsanspruch auftretenden Welterfahrung lediglich durch Tricks zu beschwören, und egal, ob sie mehr in den geplant konstruierten Häfen der Ratio und des Logos ankern oder frei in den Gewässern der Affekte und des Mythos flottieren, die individuellen Horizonte bleiben immer begrenzt und endlich. Damit sollen die mehr oder minder strengen strukturalistischen Erkenntnissätze der minimalistischen Sichtweise nicht komplett verschmäht werden, denn erst, indem sie konsequent die Belange existentialistischer Probleme verfehlen und die Flexibilität von Leserhaltungen übersehen, vermögen sie eben auf die blinden Flecken der Erkenntnisfähigkeit selbst aufmerksam zu machen. Die Redlichkeit der minimalistischen Definitionsmissionen gründet auf der Ernsthaftigkeit, die bei ihnen zu Tage tritt, wenn zugegeben werden muss, dass es zwar in der Vorstellung und Sehnsucht unzählige, ja unendlich viele Möglichkeiten gibt, aber eben nur so lange, wie man keine konkreten Entscheidungen treffen muss.

Der sogenannte maximalistische Ansatz zur Beschreibung dessen, was Phantastik ist, erkennt das Dilemma an, dass der Horizont des als gesichert gewähnten Wissens wenig stabil ist, und bietet eine größere Auswahl an locker verhandelbaren Schubladen zum Sortieren der phantastischen Erzählweisen an. Legt man zur groben Orientierung eine historische Zeitachse an das Spektrum der Phantastik, bietet sich die vertraute Fächer-Trias der Science-Fiction (Zukunftswelten), des Horrors (beängstigende Welten) und der Fantasy (Vergangenheitswelten) an, und bei allem, was sich nicht eins-zwei-drei dort einordnen lässt, kann man getrost den Schirmbegriff Phantastik anwenden. Der maximalistische Ansatz versucht also oft gar nicht erst, eine fitzelige Hierarchie anzubieten, dergemäß verschiedene Erzählweisen der Phantastik in unterschiedlicher Nähe oder Ferne zu der ziemlich abstrakten Idee eines Konsens-Realismus liegen. Der Preis, den der maximalistische Ansatz dabei entrichten muss, ist der Makel des Schwurbelns. Kein Zweifel: Beide Ideenschulen der Phantastik, minimalistische und maximalistische, kneten zurecht und vereinfachen dabei, aber letztere springt wenigstens beherzt ins lebhafte Fruchtwasser der erzählenden und bilderschaffenden, kurz: der mythischen Kreativität. Und mythisch wird es, sobald Menschen so unbescheiden sind und zur Sprache zu bringen trachten, was jenseits der Sprache liegt. Wenn also nicht geschwiegen wird, wovon sich nicht klar und wohldefiniert kommunizieren lässt. Egal, ob dabei als Mittel des Erzählens eine biegsame und registerreiche Sprache, das Über- und Untertreiben und Neuerfinden von Eigenschaften und Kausalitäten oder die metaphorische Transformation und Übertragung angewendet wird, im Grunde kommt am Ende immer Phantastik heraus. Ob es sich dabei im Speziellen um Grotesken, Satiren, Weltraumopern, heroische Romanzen, düstere Intrigen-Thriller oder historische Konspirationsstoffe handelt, mag eine reizvolle Denksportaufgabe sein, aber ernsthaftes Interesse daran, dass möglichst enge Genre-Eingrenzungen gelten, können nur Vermarkter stromlinienförmiger Formel-Fiktionen sowie jene haben, deren bevorzugte Nischen-Stoffe ohne Nobilitierungsstützen in der globalen Narrationskonkurrenz in die Stillstandszonen abgedrängt werden.

Soweit es sich übers Knie brechen lässt, kommt das gemeine Publikum besser mit dem maximalistischen Ansatz zurecht, denn es kann im Großen und Ganzen wohl unterscheiden zwischen den beunruhigenden Herausforderungen des in der politischen Wirklichkeit stattfindenden Zwistes der konkurrierenden ideologischen Phantasmen und der eigenen Wohlfühlpraxis, sich mit Hilfe einer erzählenten Fiktion vom Alltag zurückzuziehen, um neue Kraft zu schöpfen oder überschüssige Energien abzufackeln. Das Publikum ist gemeinhin zufrieden damit, sich bei der Lektüreauswahl zu orientieren an der groben Unterscheidung zwischen den realistischen Fiktionen, die auf dem Boden des gegeben Möglichen bleiben, und den phantastischen, die mit kräftigeren Prisen des Seltsamen das Staunen und Träumen im großen Maßstab ermöglichen.

Phantastik und Pathos haben dabei viel miteinander gemein, da beide mit ihrer Faszinationskraft die Gefühle und Leidenschaften in ihren Bann zu ziehen verstehen, und beide können dazu dienen, alte oder neue Gemeinschaftswelten zu propagieren.[05] Wie gesagt, ist es verständlich, wenn jene, die das Privileg genießen, als Sachwalter und Priester der Literatur zu agieren, aufgrund der mit dem Geschichtenerzählen einhergehenden Verantwortung dazu neigen, vor allzu heftigen Fiktionsmodi zu warnen. Natürlich wäre es eine feine, jegliche Gesellschaft von ziellosen Trieben entgiftende Angelegenheit, wenn alle Leser sich darauf beschränkten und Geschichten nur deshalb läsen, um in narrativen Imitationen des Lebens verstehen zu lernen, welche Ursachen und Folgen verschiedene Erfahrungen, Meinungen, Affekte und Handlungen haben.[06] Aber der distanzierte Blick auf die Figuren einer Erzählbühne allein ist eben nur wenigen genug, und so verlangt auf vielfache Weise auch das Bedürfnis nach Identifikation und Miterleben nach Befriedigung. Doch damit nicht genug, locken eben doch auch ganze Welten und warten darauf, durchwandert, gelesen erkundet, erobert zu werden, ohne dass man sich mit großen Aufwand äußerlich einem Lifestyle anpassen, geschweige denn, sich wirklich als Abenteurer in die Wildnis aufmachen muss. Lesend begibt man sich als modernes Langeweilopfer eben gern in Gefahr.

Leben findet immer nur im Moment des Jetzt und Hier statt, in einem auf dem Wirbel aus Zeit und Raum treibenden Augenblick, einer kleinen Welt der intimen, intensiveren Bande, durch welche die eigene Person mit der sie umfassenden Gruppe und Kultur verkettet ist. Hier teilt man Werte der überschaubaren Gemeinschaft, des Stammes, Clans, der Familie, der Arbeitskollegen, der Nachbarschaft. Hier herrschen die tribalistischen Werte, mit denen diese Untergruppen sich stabilisieren gegenüber den überwältigenden und unübersichtlichen Faktenstrudeln und Meinungsstürmen. Die entsprechenden Zusammengehörigkeitsmythen werden oftmals als spießig, altmodisch, beschränkt und einengend bezeichnet oder empfunden, wenn die ständige Beäugung durch die eigene ›Peer Group‹, durch den eigenen Stamm die Luft zum Atmen abschnürt, wenn Rücksichten in Belastungsprüfungen umschlagen, wenn die Vergleichs-Animositäten und wilden Gerüchte zu ›Bei uns hat man das immer schon so gemacht‹- und ›Wo kämen wir denn da hin‹-Kerkern werden. Hier drohen Puristen unterschiedlichster Couleur für ihre Zwecke das Individuum einzuspannen und gemäß ihren Prämissen organisieren und formatieren zu wollen.[07]

Glücklich in dem einbettenden Gefäß ihrer kleinen Welten bleiben jene, die niemals auszubrechen trachten aus ihrem Milieus. Wenn niemals Not und Mangel oder die Verführungen des Übermutes und des Leichtsinns sie nach eigenen kräftigen Sinnes- und Tatleistungen streben lassen, können sie ebenso gut bequem Hause bleiben im Nahen und Bekannten. Ja, gesegnet sind sie, wenn niemals der Hunger nach Abenteuer oder eine Gefahr sie aus dem übersichtlichen Gehege treibt und das Vertraute immerdar genug Sicherheit, Erfüllung und Kurzweil liefert.

Doch auf der begrenzten Kugeloberfläche des Planeten Erde mit seiner dünnen menschenfreundlichen Schicht wird der Platz immer enger, und die gegenseitige Umzingelung des Menschen durch den Menschen[08] bei seiner Suche nach Sicherheit und Innigkeit wird von Spannungen und Gefahren begleitet, erschüttert mit Konflikten die immer nur vorübergehenden Sicherheiten der kleinen Gemeinschaften und zwingt sie dazu, ihre Perspektiven, ihre kleinen Erzählungen anzupassen. Kein Wachstum ohne Schmerzen, keine Neuformungen und Verschmelzungen ohne Auflösung der althergebrachten Formen, und die damit einhergehenden Belastungsprüfungen lassen die Einfassungen der kleinen Gruppen undicht werden. Der hereinbrausende bedrohliche Sturm der Außenwelt zwingt die Aufmerksamkeit dazu, anzuerkennen, wie gering die Kontrolle über das tatsächliche Tohuwabohu ist.

Jenseits der Ränder der Nestgemeinschaft und noch vor der Wahnsinn evozierenden Unwirtlichkeit des kosmischen Grauens aber betritt man erst einmal die konfusere, relativierende Ebene des Gewirrs von Gruppen, einem Durch- und Mit- und Gegeneinander von vielen Untergruppen mit ihren jeweiligen Traditionen, Geschichten und Interessen. Die entsprechenden, arg in Verhandlung und deshalb Wandlung befindlichen Globalmythen werden von den Kleingruppen oftmals als flach, beliebig, leer degradiert. Da erklingen dann die Vorwürfe gegenüber der Moderne oder Postmoderne, nur substanzloses Einerlei zu bieten, man schreckt zurück vor den Gefahren des Nihilismus, der Entmutigung angesichts von Entfremdung durch zweckrationalistische Machenschaften. Betrachtet man von diesem wuseligen Bazaar des Pluralismus aus die kleinen Nischen-Welten der Untergruppen, erscheinen letztere bei all dem Halt, den sie zu bieten vermögen, schlimmstenfalls als engstirnig, bestenfalls als unterhaltsam schrullig.[09]

Zwischen den verschiedenen eng und weit gefassten Wirklichkeitsperspektiven stößt man auf zig Grenz- und Übergangsbereiche, die mal als firmere Barrieren, mal als fließendere Passagen erlebt werden, und alle Menschen sind mehr oder weniger ständig unterwegs auf einer ›Queste‹, um in eigener oder gemeinschaftlicher Ambition symbiontische, mutualistische und parasitäre Arrangements zwischen verschiedensten Hübens und Drübens zu etablieren. Das intimste ›Hier‹ und ›Drinnen‹, in dem wir sind, stellt der eigene Körper dar, das klar gefasste Ich der eigenen Person. Das größte ›Drüben‹ oder ›Draußen‹, dem wir gegenüberstehen, ist der endliche Planet, den wir miteinander teilen, und das Universum, durch den dieser kreist. Beide Welten können wir mit Hilfe der Phantasie ergründen. Die Geheimnisse der äußeren Welt mühen wir uns mit Hilfe der objektiven Phantasie zu lüften, und der Aufstieg dessen, was man moderne Zivilisation nennt, legt umfassend Zeugnis davon ab, wie erfolgreich hier die Mächte des ›Sehenlassens‹ sind, wenn es gelingt sie in offenen und zugleich strengen Prozessen aufeinander abzustimmen und auszudifferenzieren. Doch wo einerseits die objektive Phantasie über die Materie triumphiert und einer sagenhaften Vermehrung des Komforts förderlich ist, haben andererseits die allzu separatistischen Terrains der subjektiven Befindlichkeitsphantasie, vor allem ihre anthropozentrischen und elitaristischen Seiten, Demütigung und Erschütterungen erlitten.

So pokern bei dem ›Ideenkrieg um das Sein‹[10], wenn sich widersprechende Ansichten und Ambitionen aufeinanderprallen, Gesellschaften vor allem um die Deutungs- und Gestaltungshoheitsposten, wie denn mit der brodelnden und wilden Phantasie-Fähigkeit der Menschen umgegangen werden soll und wie sich Ordnung schaffen lässt in diesem Dschungel aus verführerischen Hirngespinsten, faszinierenden Seltsamkeiten und erhellenden Veranschaulichungen. Die Phantasie und die mit ihr fabrizierte Phantastik sind immerhin schillernde, trügerische Angelegenheiten und deshalb oftmals scheel beäugt, zum einen, weil sie das irre Lodern des Aberglaubens anfachen und Blicke irreleiten können, zum anderen, weil sie die Aufmerksamkeit des Möglichkeitsdenkens auf Dinge zu lenken vermögen, welche von den Betreibern umfassender Projekte und Missionen im Geheimen oder in Verkleidung reibungsloser bewerkstelligt werden können. Bevor man gemeinschaftlichte Tatanstrengen angepacken kann, müssen Visionen geteilt und Träume aufeinander abgestimmt werden, und so tasten sich Leseabenteurer mit Hilfe von Geschichten an Ideale heran oder lernen ihnen zu misstrauen — Ideale die zum Beispiel bestimmen (wollen), was Elite, was das Wahre, Schöne, Gute sei, die Geschlechter- und Klassenrollen beschreiben, wie auch Körper-, Kindheits-, Jugend- und Partnerschaftswelten und Tausenderlei mehr.

Platon schrieb zwar, dass die Götter mit ihren Zeichen, die sie erscheinen lassen, nicht lügen, aber dennoch trennte er z.B. mittels seines Höhlen- und Sonnengleichnisses zwischen dem Wissen für die Masse (d.h. diejenigen, die nur die in einer Höhle aufgeführten Schattenspiele deuten können) und dem für die Eliten (die sich in Zwiebelschalen-Hierarchie um eine Wahrheitssonne tummeln). Der Ernstfall gewährt zuallermeist weder genug Zeit noch Ressourcen, um Entscheidungen friedlich auszudiskutieren, oder um eine musikalische Metapher zu bemühen: das freie Improvisieren ist das Privileg des Einzelnen oder einer kleinen Gruppe virtuoser Könner, vielköpfige Symphonik aber braucht erste Geiger und Dirigenten. Kein Wunder also, dass sich im Zentrum des Meinens und Streitens über Wert und Unwert der Phantastik immer wieder Fragen zu der Verantwortung gegenüber der Wirklichkeit und der Flucht vor derselben finden lassen.

Bei diesem ›Ideenkrieg um das Sein‹ geht es um nichts weniger als die konkret miteinander konkurrierenden Projekte der Gestaltung der Wirklichkeit, es geht darum, wer Architekt von Fundamenten und Navigator von Zielen sein darf, wer welche Stücke vom gebackenen oder erbeuteten Kuchen bekommt, und nicht zuletzt darum an wem die Drecksarbeit hängen bleibt von der zu sprechen oft schon genügt, um den Geistern des Unfriedens Tür und Tor zu öffnen. Die Konvention der guten Botschaften über gloriose Vergangenheiten oder edle Zukunftsprojekte verlangt, dass man die unangenehmen Facetten der eigenen Ambitionen unter den Teppich kehrt oder wiederum umgewendet als etwas Edles, Supremes postuliert. Doch der Globus ist lange schon vernetzt genug, als dass sich Rückmeldungen über die Folgen der miteinander konkurrierenden Exklusivitätsbestrebungen längerfristig unterdrücken oder ausblenden ließen, und so strebt die Schwarmintelligenz Menschheit danach ihre bellezistischen, elitären und pofitmaximierenden Tatunholde, ihre schauerlichen Unterweltmonster und die beschähmenden Opferkrüppel zu integrieren in der moderaten Masse des Allerweltstages. Solange ein Mensch nicht fix darauf programmiert ist, freiwillig und wissend wie ein Apostel oder unfreiwillig und blind wie ein Golem der weisenden Stimme seiner Herren zu folgen, solange genießt der Einzelne das Privileg bzw. muss mit der Zumutung zurechtkommen, selbstständig auf diesem Ozean der Überlieferungen, Meinungen, Visionen und Missionen zu navigieren. Wir alle sind dabei weniger vereinzelte Inseln als vielmehr Schiffe mitsamt ihrer Besatzung, oder um ein klassisches Fabelwesen als Metapher zu bemühen: wir alle sind Zentauren, eine Verschmelzung von Reittier und Reiter, und können nur dann mächtige Jäger, fähige Heiler und findige Spurenleser sein, wenn Tier und Mensch als Einheit miteinander auskommen, oder um diesen Gedanken durch die futuristische Metaphernmangel zu drehen: die Verschmelzungen von Mensch und Technik werden schon lange so heftig herbeigesehent, dass moderne Personen zu Cyborgs mutieren (wer dies nicht gleich radikal am eigenen Körper tut, ist durch die modernen Lebensumstände doch angehalten, sich als zumindest als organischer Teil einer Maschine-Mensch-, Computer-Person-, Fahrzeug-Lenker-Zwei-Einheit zur Verfügung zu halten).

Ginge es bei Phantastik nur um Kinkerlitzchen der Ästhetik, nur um harmlosen Kokolores des Geschmacks, würden sich die Gemüter beim Austausch ihrer Pro- und Contra-Argumente zur Phantastik kaum so erhitzen. Sorge ist durchaus angebracht, wenn Phantastik durch Kulturindustrie- oder Kulturestablishment-Routinen zu Schablonen-Fiktionen ausartet, die, statt zur Aufmerksamkeit und Reflexion zu ermuntern, Passivität und Gleichgültigkeit befördern, wenn Leser sich nicht lustvoll und erkenntnishungrig in einem aus Sprache hingezauberten Bedeutungslabyrinth verirren sollen, sondern eben Reizformeln zur Anwendung gelangen, die als Erwartunghaltungs- und Vorurteilskristalle gehandelt und als Vorstellungscrack konsumiert werden. Die hierbei durchschimmernde Rivalität ist alt, die Reibungen zwischen den Anhängern des Realismus und der Phantastik sind nur ein modenes Echo des Stampfens und Klatschens des alten Watschentanzes der Parteigänger von Logos und Mythos, derjenigen, die für möglichst viele einsehbar im Offenen die gemeinsamen Angelegenheiten verhandeln wollen, und jenen, die mit Blendwerken unhinterfragter Zauberspektakel von ihren hinter den Kulissen ablaufenden Klüngeleien abzulenken gedenken. Gesellschaften funktionieren nur, wenn es gelingt, die Unruhe des diskursiven Verhandelns und die Stabilität von ›Basta!‹-Tabus ins Gleichgewicht zu bringen; und dazu braucht es Individuen die sowohl ihre objektive als auch ihre subjektive Phantasie anhand von Geschichten schärfen können, sodass es möglichst vielen gelingt, zusammen eine große Geschichte miteinander zu fabulieren. Das bedeutet nichts weniger, als eine hinter vorgehaltener Hand geteilte Erkenntnis der Alten zum Allgemeingut zu erheben: dass Phantastik nicht zuletzt das Prinzip der Politik ist.

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ANMERKUNGEN:

[01] Die genannten Protagonisten treten auf in folgenden Romanen: Kemal Kayankaya in den Krimis von Jakob Arjouni »Happy Birthday, Türke« (1985), »Mehr Bier« (1987), »Ein Mann ein Mord« (1991), »Kismet« (2001), alle erschienen im Diogenes Verlag. —/— Leopold Bloom und Stephen Dedalus sind die beiden mänlichen Helden in »Ulysses« (engl. 1921 / dt. von Hans Wollschläger 1975) von James Joyce, deutsch erschienen im Suhrkamp Verlag. —/— Quasimodo, Claude Frollo, Pierre Gringoire und Esmeralda sind Figuren aus dem Roman »Der Glöckner von Notre Dame« (franz. 1831 / dt. von Hugo Meier 1986) von Victor Hugo. Ich bevorzuge die Ausgabe bei Manesse Bibliothek der Weltliteratur. —/— Frodo Beutlin und Sam Gamschie sind die Hobbit-Helden in »Der Herr der Ringe« (engl. 1954/55) von J. R. R. Tolkien, Deutsch erschienen bei Klett-Cotta. Ich vevorzuge die alte Übersetzung von Margaret Carroux die 1980 erschien. —/— Winston Smith ist die arme Sau in »Neunzehnhundertvierundachtzig« (engl. 1948) von Geroge Orwell. Ich bevorzuge die Übersetzung von Kurt Wagenseil, die 1983 bei Diogenes erschien. —/— Hans Castorp ist die Hauptfigur in »Der Zauberberg« (1924) von Thomas Mann, erhältlich als Fischer Taschenbuch. ••• Zurück
[02] Die Metapher von Lektüren als (entweder) Fahrkarte & Streichholz (oder) Einrichtung & Inventar eines Gedankenhauses- bzw. Schatzkistchens habe ich von »An Experiment in Criticism« (engl. 1961) Clive Stapelton Lewis entliehen. Deutsch 1966 als »Über das Lesen von Büchern – Literaturkritik ganz anders« in der Herder-Bücherei erschienen, übersetzt von Hans Schmidthüs. ••• Zurück
[03] Bei der Aufzählung verschiedener Modi von Fiktionen bezüglich ihrer Haltung zur ›tatsächlichen‹ Wirklichkeit folge ich dem enormen Blogeintrag »Narrative Grammars« von Hal Duncan, Autor von »DAS EWIGE STUNDENBUCH«; Band 1: »Vellum« (engl. 2005 / dt. 2008), Band 2: »Signum« (engl. 2007 / dt. 2009), kongenial übersetzt von Hannes Riffel. ••• Zurück
[04] Die Umschreibung ›die Welt ist was der Fall ist‹-Wirklichkeit fusst natürlich auf Ludwig Wittgensteins »Tractatus Logicus Philosophicus« (1921). —/— Die dann beschriebene Trennung ist eine heftige Zusammendampfung der Thesen von Tzetvan Todorovs in »Einführung in die Fantastische Literatur« (franz. 1970; dt. 1972). ••• Zurück
[05] Auf diese Gemeinsamkeiten zwischen Phantastik und Pathos wurde ich aufmerksam, durch Kaya Pressers Notizen im Blog »Die Sprachspielerin« zur dreiteiligen Poetikvorlesung von Helmut Krausser an der Ludiwig-Maximilians-Universität in München im November 2007. Hier zu den Protokollen: Krausser eins / Krausser zwei / Krausser drei. ••• Zurück
[06] Zur Aufgabe von Drama und Fiktion habe ich mich leiten lassen von den Ausführugen über den ersten bekannten Literaturtheoretiker & -Kritiker, den Inder Bhamaha, in Peter Watsons »Ideen – Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne« (engl. 2005 / dt. von Yvonne Badal 2006), C. Bertelsmann Verlag, Seite 466. ••• Zurück
[07] Reichlich flappsige Paraphrase von Ausführungen, die ich entliehen habe aus Ted Hughes Aufsatz »Mythen und Erziehung« (»Myth and Education«, 1976) aus dem Essay-Band »Wie Dichtung entsteht« (ausgewählt und übersetzt von Jutta Kaußen, Wolfgang Kaußen und Claas Bazzer), Insel Verlag 2001, Seite 76ff. ••• Zurück
[08] Diese wundervolle Formulierung habe ich von Peter Sloterdijk. Das Zitat lautet im Ganzen:
All diese Ideen {Vorstellungen von einer Aufhebung & Überwindung des Weltzustandes mittels Erlöserreligion, Weltflucht, Nihilsmus und Utopismus} bezeugen durch ihr Alter und ihre beharrliche Wiederkehr ein Kontinuum revolutionärer Spannungen: seit mehr als zweitausend Jahren erzeugt die Umzingelung des Menschen durch den Menschen heftige Brüche mit den Zwangssystemen mythischen Herkunftsdenkens.
in: »Weltfremdheit« (Suhrkamp 1993), Seite 55 (Erster Aufsatz »Warum trifft es mich?«, Kapitel 3: »Das umzingelte, das harte, das deprimierte Selbst«). ••• Zurück
[09] Wie Fussnote 07. ••• Zurück
[10] Die Phrase vom ›Ideenkrieg um das Sein‹ beruht auf einer (durch Gedächtisschlamperei verursachten) Variation einer Stelle aus Peter Sloterdijks Werk »Sphären II: Globen – Makrosphärologie« (Suhrkamp 1999). Der mich angeregt habende Abschnitt lautet:
Die gedachte wahre Welt wirft der bloß wahrgenommenen wirklichen Welt den Handschuh hin. {…} Von ihm {Platons Text »Timaios«} her beginnt der ideologische und technische Umbau des Seienden. Es ist offenkundig geworden, daß die Welt selbst nicht eine differenzlos einfache und einstimmige ist und daß, wer Welt sagt, wissenschaftlich oder nicht immer schon Welt-Unterscheidung oder Welt-Krieg meint. Der schon von Platon völlig realistisch als »Gedankenkrieg um das Sein« charakterisierte Urstreit, einmal ausgebrochen, erlaubt es niemanden, sich zum Nicht-Kombattanten zu erklären; in diesem Krieg sind alle Partei, auch jene Naiven, die vorgeben, nicht zu wissen, worum es geht.
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Gott, christliche Männer, Todesstrafe & Soldaten

(Eintrag No. 542; Gesellschaft, Religion, Fundamentalismus, Großraumphantastik) — Lobenswerterweise hat Gerd Langguth in der »Die Welt« in gesetzten Tönen schon am Freitag darauf hingewiesen, dass es hierzulande neben islamischen Fundamentalisten, links- und rechtslastigen Extremisten auch christliche Querprediger gibt, die es dank ihrer zu steilen gesellschaftlich-politischen Thesen verdient hätten, mal genauer vom Verfassungsschutz beäugt, und gegebenenfalls verboten zu werden.

Gemeint ist (natürlich) die in den letzten Wochen bekannt gewordene Piusbruderschaft, welche zum einen Holocaustleugner in ihren Reihen kennt, die aber zum anderen vom Papst wieder zurückgeholt wurde an die Brust von Mutter Kirche.

Ich habe mir nun den von Langguth vorgestellten Text mittlerweile angesehen. Er stammt vom Oberhaupt der deutschen Piusbrüder Pater Franz Schmidberger und findet sich in »Civitas. Zeitschrift für das christliche Gemeinwesen« No. 1/2008, Seite 47 - 51.

(Im »Civitas-Institut« haben sich christliche Laien zusammengetan um »um ihren Beitrag zur Verwirklichung des sozialen Königtums Jesu Christi zu leisten«)

Was hat einer wie Schmidberger für Vorstellungen, wenn es um »Grundsätze einer christlichen Gesellschaftsordnung« geht? — Hier meine (angesichts der Materie für manchen vielleicht arg respektlose) Zusammendampfung und Auslegung der 18 BastaAxiome.

  1. Es gilt das von GOtt kommende Naturrecht (¿des Stärkeren?), und somit die übernatürliche Heilsordnung der Mutter Kirche ohne Wenn und Aber für alle Menschen nach dem Sündenfall (damit sind wir gemeint).
  2. Der Boss im Staat ist nicht die Regierung, auch nicht das Volk, sondern eben GOtt, der ja alles lenkt und waltet (»Es gibt keine Gewalt, die nicht von GOtt käme.« Damit sind auch gemeint alle Grippeviren, Selbstmordattentäter, Autounfälle, Meteoreinschläge und alle dargestellte Gewalt in Ballerfilmen und Killerspielen). — Auch Regierungen, welche nicht demokratisch und offen gewählt wurden, können somit für diesen Christenmenschen legitim sein. Erwähnt wird als Beispiel die Erbmonarchie, aber eigentlich könnten damit alle gemeint sein, die es irgendwie geschafft haben, sich an die Spitze einer lokalen materiellen Hackordnung zu hieven.
  3. Wählen sollten nur noch Familienoberhäupter dürfen. Keine Singels, keine Frauen. Unfruchtbare und anderwertig Kinderlose haben Pech gehabt.
  4. Parteien sind des Übels, denn sie spalten das Volk. Christliche Männer, sittlich reif und reich an Lebenserfahrung sollten sich um das Gemeinwohl kümmern.
  5. Weltlicher Zentralismus ist böse, außer natürlich wahrscheinlich, wenn der der Zentralismus vom Vatikan ausgeht. (ABER: Metaphysischer Zentralismus mit dem einen GOtt in der Mitte ist supergut.) Die Obermonsterform des weltlichen Zentralismus ist der Internationalismus, denn er macht alle eigenständigen Völker und Kulturen kaputt. Nicht fruchten sollen also alle Ideen von einer gleichberechtigten Weltgemeinschaft. Weltbürgertum ist übel. Schön findet der Christenmensch a la Schmidberger aber einen Zustand, der dem Gestaltungsprinzip des ›Teile und Herrsche‹ folgt. Ich vermute mal ins Blaue, dass man dann auch wieder Latein als die einzige weltweite Amtssprache einführen will; nicht ohne zuvor alle Lateinlehrbücher, die sich außerhalb des christlichen Zugriffs befinden, zu vernichten.
  6. Ehen sind unauflösbar, punktum. Jegliche sexuelle Handlung außerhalb der Ehe ist des Teufels (aber letztendlich ja auch wieder auf GOttes Wirken gegründet, siehe Punkt 2.) Und Verhüterlis müssen alle weg.
  7. Ach ja, wenn man schon mal dabei ist: Gotteslästerung, Homosexualität, Pornos, Abtreibung, »das schöne Sterben« und Drogen sollen weg. ¿Wie, kein Wein mehr, kein Kaffee, keine Medikamente, gar nix mehr? Nur noch Oblaten? (Panik) — Freimaurer und Geheimgesellschaften sollen auch weg. Gilt das dann auch für christlich-katholische Geheimgesellschaften, oder was? Dürfte man in einer Welt, die Schmidbergers Thesen folgt, erwarten, dass Opus Dei und Co ihre Türen und Tore weit aufmachen, um allen offen und frei zu zeigen, was man so den lieben langen Tag macht? Keine geheimen Sitzungen mehr, nirgendwo? Auch nicht bei der Papstwahl? Alles auf den Tisch!! Perdauz, die Idee finde ich gut.
  8. Außer der katholisch-christlichen Kirche und ihrer Religion hat kein anderer ›Kult‹, keine andere Religion ein Naturrecht auf Existenz. —(Sprache ist doch was feines. Kann man einfach so hinschreiben: »Eingewachsene Nasenhaare haben kein Naturrecht auf Existenz.«)— Warum gibt’s dann trotzdem andere Kulte und Religionen? Weil der liebe GOtt, der oberste Gewaltensteuerer, nun mal die wunderbare Vielfalt liebt, denk ich mir in meinen religiös durchhauchten Augenblicken.
  9. Gemeinwohl soll sein: geistlich-geistiges Wohl, Tugendhaftigkeit, Ruhe und Ordnung. Keine Widerworte, keine mehr oder minder chaotischen Debatten, keine Meinungsvielfalt. Status Quo macht alle froh.
  10. Die Familie sie die Kernzelle so eines Christenstaates. Erziehung und Bildung soll in deren Hand und der der Kirche liegen. Nix mehr öffentliche Schule und weltlicher Bildungskanon. Aber durchaus her mit Grundbesitz und Privatinitiative. Wenn geistig alles gleichgeschaltet wird, brauchen die Leute ja was, worum sie sich raufen können.
  11. Juristisch soll erstmal die Rache im Mittelpunkt stehen, dann erst die Läuterung des Verbrechers. (Von Opferhilfe ist gar nicht die Rede, außer freilich wenn es um Rache geht.)
  12. Dazu passt, dass die Todesstrafe als geeignet betrachtet wird, um Schwerverbrechern beizukommen (Abschreckung). Ganz nebenbei könnte man auch wieder dolle Spektakel mit Blut und Grauen auf den Marktplätzen bieten. Merke: wo keine allgemeine Unterdrückung und Brutalität auftritt, da ist’s auch mit der heiligen, zitternden GOttesfurcht nicht weit her.
  13. Schluss soll sein mit der Tyrannei der Banken und des Kapitals (diesen elendigen Konkurrenten der Kirche). Finanzielle Spekulation ist Sünde (unhaltbare Spekulationen der Kirche über einen absoluten, obersten Mono-Gott oder ein Leben nach dem Tod aber sind erlaubt, ja sogar erwünscht).
  14. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen mit ihrem kleinlichen Gekabbel aufhören, zusammenkommen und sich um ihre gemeinsamen Interessen kümmern. — (»Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt«, die der unwissentliche GOttes-Prediger Marx schon wußte.) — Klingt ja schön, denn eine lebenserhaltende Umwelt oder friedliche Zukunft liegt ja im Interesse aller. Nur: wie soll das funktionieren, wenn Privatinitiative und Grundbesitz noch gelten sollen? Oder will der Kirchenstaat alle, die zu groß werden um noch gemeinwohlverträglich zu agieren, enteignen und auf ein gesundes Machtmaß zurechtstutzen?
  15. Unternehmer sollen (geistig-moralische) Väter ihrer Arbeiter sein, was sie dadurch erreichen, dass sie vorbildlich Sonntags in die Kirche gehen, Sakramente empfangen, und zum Arbeitsbeginn vor versammelter, mitbetender Belegschaft den Segen GOttes herabrufen.
  16. Überhaupt sollte wieder die Agrarwirtschaft DIE Grundlage eines Landes sein. Agrarfabriken und Kolchosen sind aber des Übels (ich nehme aber an, dass Schmidberger sich ein Wiederaufblühen der Klöster erhofft). Vielleicht ist damit auch gemeint, dass es statt Autobahnen und freier Fahrt dann Schrebergärten für alle geben geben soll.
  17. Völker sollen den Willen haben, das Reich Gottes verteidigen, was sie erreichen indem sie den Willen haben ihren Glauben (ihre Grenzen, ihre Kultur, ihre Bewohner) zu verteidigen. Oh wie innig verbunden, weil sich einander ähnlich, sind doch die ehrwürdige Missionars- und Soldaten-Berufung. Sie verteidigen: nach Innen, nach Außen, nach Überallhin, wo durch GOttes kecken Humor die Gewalten des Bösen und der Sünde angestoßen wurden uns Erbsünderherde zu versuchen.
  18. Lieben sollen wir die Erde (siehe Agrarwirtschaft), die Natur (wohl bei einer Wallfahrtswanderung), das Volk, die Arbeit, die Heimat mit ihren Bräuchen und Traditionen (und so etwas wie freie Meinungsäußerung, Skeptizismus, Atheismus, Heidentum usw. hat freilich keinerlei Anspruch darauf, sich als eine Tradition zu bezeichnen). — Entwurzelung (von der einen selig machenden Kirche und ihren GOtt), Landflucht (aus Gegenden, wohin die dolle christliche Gesellschaftsordnung ihre Krisen und Notstände hinverlagert hat), und Großstädte (Herd allen weltlichen, kirchenkritischen Denkens) sind ein Fluch.

Wenn ich noch lange genug lebe, und es Christenmenschen dieser Denke schaffen die Macht wieder an sich zu reißen, dann freue ich mich schon auf die Ehre, von denen an den Pranger gestellt zu werden. Mit einer munteren Beethoven-Ode auf den Lippen würde ich zum Scheiterhaufen gehen. Bis dahin bleibt mir nur, mich zu gruseln.

Otto Kallscheuer: »Die Wissenschaft vom Lieben Gott«

Eintrag No. 353 — Was die für mich bisher und ansonsten vorzügliche Reihe »Die Andere Bibliothek« angeht, so dachte ich bis jüngst, dass es da weder Mittelmäßiges noch gar Schlechtes gäbe. Nun aber bin ich eines besseren belehrt worden, denn zur Jahreswende habe ich mir »Die Wissenschaft vom Lieben Gott« von Otto Kallscheuer (wenn auch nur als Taschenbuch) gegönnt.

Vergnügt hat mich das Buch schon, auch und gerade indem es mich uffgeregt und genervt hat. Kallscheuer babbelt die meiste Zeit derart flappsig und kalauernd daher, dass ich mich frug, ob ich es hier mit einem (Möchtegern-)Komiker zu tun hab. Den glaubensverteidigenden Humorleistungen eines G. K. Chesterton kann Kallschauer jedoch nicht das Wasser reichen und so wirkt die Witzischkeit von »Die Wissenschaft von Lieben Gott« desöfteren mehr wie aufgesetztes Ornament, nicht wie tragende Struktur. Die besteht leider aus jenem (für mich Ungläubigen mal zutiefst unheimlich, mal putzig anmutendem) kirrem, sturem und treuherzigem Postulieren von Absolutismen, also ›Überdrübergehtnixmehr‹-ismen, welche unter dem exotisch und ehrwürdig klingenden Namen Theologie angeredet werden dürfen.

Theologie geht ja so: verleibe Dir möglichst viel von der Konkurrenz ein (antiker Philosophie, Heidentum, Volksaberglaube), steigere all das dann zum Besten, Größen, Herrlichsten, Mächtigsten usw. und wenn jemand dann auf die Fehler, Widersprüchlichkeiten und Unklarheiten aufmerksam macht, redet man sich raus mit dem Hinweis, dass über GOtt zu reden oder ihm gar mit Vernunftargumenten beikommen zu wollen eh eine Knieschußaktion ist, weil unsere menschliche Sprache zu unvollkommen, unser menschlicher Verstand zu begrenzt, unsere menschliche Existenz zu beschränkt seien, um sprechend, denkend oder seiend IHM, DER DA IST wirklichend gerecht werden zu können. Nur wer wahrhaft glaubt, kann der Gande zuteil werden, irgendwie und ungefähr GOtt zu erfahren und SEINE HERRLICHKEIT ein izzi-bizzi-wenig aber mystisch zu schauen.

Wer sich ordentlich über die Geschichte theologischen Denkens informieren will, kann sich das Buch sparen, denn es bietet weder eine historische noch eine thematisch sinnvolle Aufbereitung des monotheistisch-theologischen Denkens und Glaubens. Vor allem aus den ersten zwei Dritteln kann man aber durchaus erfahren, aus welchen Legosteinchen der Glaube an einen absoluten persönlichen Eingott zusammengesteckt wurde.

Die Verstiegenheit des Buches fasst sich im letzten Absatz selbst ganz prächtig zusammen, wenn es heißt, dass die Globalisierung, also die ethisch-politische Vereinigung zu einem Königreich, ein Projekt Gottes sei, inklusive der wissenschaftlich-technischen Erforschung und Durchdringung der Welt. — Das ist richtig gruselig, denn durch das Buch zieht sich als ein roter Faden (oder als Achse des Westlich Guten™???) die Lobpreisung eines gewissen Bildes vom geistig-philosophischen Westen (für Kallscheuer eben die Essenz der drei Monotheismen Judentum, Christentum und Islam). Hiermit ist eine Denkart gemeint, bei der es noch EINE höhere Zielgerichtetheit, EINE teleologische Schöpferabsicht in der Welt und für uns Individuen, eben EINE Wahrheit gibt. Entsprechend hat das Buch nur Spott und Schimpf für antike und moderne Phantasmen-Vielfältigkeiten übrig (ganz nach dem Gebot: »Du sollst kein Trugbild haben neben mir«), grämt sich über die Popularität von fernöstlichem, weichgewaschen-christlichen und pokulturll-beliebigen Glauben. Diskurse die wahrhaft kritisch zu werden drohen sind Kallscheuer abhold.

Zudem: Ulkige Fehler lassen sich finden. Kallscheuer zitiert zwar alle möglichen obskuren Katholen mit Inbrunst, aber aus dem ägyptischen, einen Falkenkopf tragenden Gott Horus macht er einen ›Stiergott‹ (S. 161), und aus Hergé, dem Schöpfer von Tim & Struppi, wird ›Hervé‹ (S. 386).

Das Buch bietet auch Lobenswertes: da ist als erstes der dialogische Aufbau des Textes zu nennen, welcher im Großen und Ganzen für eine lockere Lesbarkeit sorgt (ein paar Kapitel gehen trotzdem wegen ihrer eintönigen »GOtt ist groß«-Formelhaftigkeit schwer runter); dann ist der Spott und die Schimpfe, die Kallscheuer den ganz engsternigen (Un-)Glaubensgenossen angedeien läßt, erfrischend zu lesen, und so genoß ich die verbalen Kopfnüsse und Brennesseln gegenüber Kreationisten, Wohlfühl-Esotrikern und Bequemlichkeits-Atheisten; und drittens amüsiert das Buch streckenweise mit seinen begeisterten Science Fiction- und Fantasy-Einlagen, wenn zum Beispiel quantentheoretische Multiversum-Spekulationen, oder freakige Jesutien-SF über den Omegapunkt der Evolution referiert werden.

Am meisten auf den Wecker gegangen ist mir allerdings die Art, wie Kallscheuer sich selbst in seinem Dialog immer wieder das Wort verbietet, ja geradezu anherrscht, nur bis hier und nicht weiter zu spekulieren, zu fragen, und also das Maul zu halten:

»Lassen wir das! Das wäre schon wieder eine andere Debatte {…} Ihre Frage ist ja sinnvoll, aber hier muß ich die Notbremse ziehen {…} Darum lassen wir hier die Finger davon, mon cher {…} Halt! Zu diesem Punkt entziehe ich Ihnen (und mir) das Wort {…}«

Nene, von einem guten Sachbuch erwarte ich anderes.

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Otto Kallscheuer: »Die Wissenschaft vom Lieben Gott. Eine Theologie für Recht- und Andersgläubige, Agnostiker und Atheisten« 486 Seiten, XVIII Kapitel; Die Andere Bibliothek, 2005 (gebunden), ISBN: 978-3-821-84561-6; — Piper, 2008 (Taschenbuch) ISBN: 978-3-492-25221-8
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