molochronik

Auf Pöppelgrund nicht ärgern, oder: Gemeinsame Abschottung in Klagenfurt

Eintrag No. 214 – Als Teen habe ich richtig gerne den Bachmannwettbewerb geguckt. Da gabs noch Babyficker und so Quasi-Punks mit Blut und einen ganzen Haufen sonstiger Freaks und Freakinnen.

Inzwischen hatte ich einige Male das Pech arbeiten zu müssen zu Bachmannzeiten (Himmel: andere waren Sonnenfinsternisgucken vor ein paar Jahren, ich hab Daten getippt, grmpf). Auch dieses Jahr habe ich da wieder Pech und verlasse mich auf zwei gewitzte Damen: Andreas und Hellas herrlich respektlose und angenehm unbetuliche Berichterstattung.

Den gestrigen Tag habe ich sogar noch 3/4 gesehen und gehört. Das Schmerzvergnügen die Klagenfurt-Übertragung zu gucken ist wirklich exquisit. Immer die gleiche Schose, immer die selbe Art besinnlicher Solepsismus im Kleinformat.

Literatur braucht Mut, sonst kommt der Größenwahn nicht richtig rüber. Und ohne Größenwahn wird kaum was aus dem Schreiben. Künstler, die auf die Frage, was sie als Kinder gerne werden wollten nicht »Herrscher der Welt« (oder sowas in der Richtung) sagen, sind für mich so glaubhaft wie Teens und Twens, die auf die Frage ob sie onanieren mit »Nein« antworten. Also unglaubwürdig.

Frage-Stöckchen. Diesmal zu Literatur.

Eintrag No. 201 – Und wieder beehrt mich TH mit netten Fragen. Auf Englisch antworte ich nur knapp, und ich übersetzte die Fragen mal. Ich schreib ja auf Deutsch wegen meiner Legasthenie schon einen Stiefel nach dem anderen zusammen. Ich fürchte, wenn ich mit meiner englischen hit & run-Grammatik anfange, versteht kein Mensch mehr, was ich eigentlich antworten wollte.

You’re stuck inside Fahrenheit 451, which book do you want to be?

Stell Dir vor, Du bist in »Fahrenheit 451« ein Angehöriger des Widerstandes gegen die allgemeine Büchervernichtung. Welches Buch hast Du auswendig gelernt um es zu retten? ••••• Ich fürchte, mein chaotisches Hirn ist schlicht nicht fähig, einen längeren Text in sich aufzunehmen. Ich tu mich ja schon schwer damit Lieder zu lernen. Aber wenn das alles kein Problem wäre, und es also nur um die Motivation des Rettens geht, würde ich vielleicht »Tristram Shandy« von Laurence Sterne retten wollen, damit die was zu lachen haben.

Have you ever had a crush on a fictional character?

Warst Du jemals verknallt/verliebt in eine erfundene Figur? ••••• Oh ja, oft. Beispielsweise war ich als Teen in Julia aus »1984« von George Orwell verknallt, und in jüngerer Zeit in Bellis aus »The Scar« von China Miéville. Aber ich verknall mich schnell in gutgeschriebene Figuren. Ich überhaupt so ein Schnellverlieber. Einer der Gründe, warum ich so ein Misanthrop bin.

The last book you bought is:

Das letzte Buch, daß Du gekauft hast ist: ••••• »Lone Wolf & Cub – Band VIII« von Kazuo Koike & Gôseki Kojima (Panini Comics, Planet Manga). Wenn graphische Literatur nicht gilt, dann wäre es mein Fund im Stadtbücherei-Flohmarkt »Georg Christoph Lichtenberg 1742-1799 Wagnis der Aufklärung« (Begleitband zur Ausstellung in Darmstadt/Göttingen 1992, Carl Hanser Verlag), und wenn gebrauchte Bücher auch nicht zählen, dann eben »Die Tatsachen des Lebens« von Hans Peter Duerr (Suhrkamp), wie hier vermeldet.

The last book you read:

Das letzte Buch, daß Du gelesen hast ist: ••• Bin heute mit zwei Zwischendurch-Büchern fertig geworden. Dem Andreas Eschbach seinem »Der letzte seiner Art« (Lübbe) und der Justina Robson ihrem »Die Verschmelzung« (»Natural History«, Heyne). Beides ganz nette SF.

Five books you would take to a desert island:

Welche fünf Bücher würdest Du auf eine verlassene Insel mitnehmen? ••••• Vorausgesetzt, daß ich Schreibzeug und Papier zum Selberskribbeln und Fabulieren hab, und vorausgesetzt, es geht mir gut und ich also Werke wie »Autopathologie für Hypochonder mit beginnender Leichenstarre« und »Nehbergs Kompendium: Alles was man wissen muss um auf einer einsamen Insel zu überleben« nicht brauch. Dann würde ich also nur zur Kurzweil mitnehmen:

  1. »Kosmos« von Alexander von Humboldt (Die Andere Bibliothek, Eichborn);
  2. »Essays« von Michael de Montaigne (Die Andere Bibliothek, Eichborn);
  3. »Das Kritikon« von Baltasar Gracian (Amman);
  4. »Der Blaue Kammerherr« von Wolf von Niebelschütz (Haffmans-Taschenbuch im Schuber. Gilt als ein Buch, basta!);
  5. »Saki – Sämtliche Erzählungen« von Hector Hugh Munro (Haffmans).
Who are you going to pass this stick to (3 persons) and why?

An welche drei Leut wirst Du dieses Stöckchen/Staffette weiterreichen? ••••• Diesmal fallen mir sogar Blog-Kollegen und Blog-Kolleginnen ein, denen ich dieses Stöckchen gerne zuwerfen möchte: • Freilich an Andrea, weil die gleich nebenan sitzt und so ganz andere Sachen als ich ließt; • Auch meinen lieben Veteranenfreund David will ich diese Fragen gönnen, damit er einen Grund hat, mal wieder was über Literatur in seinem an genialen Collagen so reichen Blog zu schreiben; • Schließlich der Orts-Nachbarin Ju, die bestimmt das ein oder andere Buch kennt. Immerhin schreibt sie welche.

Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozess – Freude und Inhalt

Eintrag No. 199 — Zu Beginn der Neunziger habe ich »Traumzeit« und »Sedna oder Die Liebe zum Leben«, die ersten beiden Bücher des Ethnologen Hans Peter Duerr gelesen. Im Februar 1994 habe den ersten Band des fünfbändigen Werkes »Der Mythos vom Zivilisationsprozess« {MDZ} gekauft (und gelesen) und bis diese Woche hat es gedauert, bis ich alle Teile in der für mich erschwinglichen Taschenbuchausgabe zusammen hatte.

In meinem Molochronik-Beitrag Die Hüfte habe ich versucht, einen kleinen Einblick in meine Leseerlebnisse zu MDZ zu geben. Der Wissenschaftskreisen (und wohl auch allgemein weit) verbreitete Glauben an einen Entwicklungs- oder Reifungsprozesses der menschlichen Zivilisation wird von Duerr in Frage gestellt, und wie ich finde, auch überzeugend als Glaube, Mythos oder Idee eingestuft. Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei der Soziologe mit Freude am Geschichtedeuten Norbert Elias. Waren in früheren Zeiten (z.B. Antike, Mittelalter) die Menschen schamloser, gewalttätiger und unverdorbener, und haben sich erst mit der Neuzeit und der Moderne zu reiferen und affektbeherrschteren Wesen entwickelt? Sind Menschen sogenannter primitiver oder wilder Kulturen im Vergleich zu Menschen der neuzeitlichen Ersten Welt ebenso unterentwickelt, kindlicher und ungezügelter? Duerr legt deutlich dar, daß dem nicht so ist.

Nicht nur ist diese hochkpmplexe Materie von Duerr spannend aufbereitet worden, der Ethnologe platziert sich (für mich) mit dieser 3568 Seiten starken Arbeit unter die besten Stilisten und Schriftsteller, derer die deutsche Literatur sich sicher sein kann. Zugegeben ist es gewöhnungsbedürftig, ständig zwischen dem Haupttext und den reichlichen und z.T. langen Anmerkungen im hinteren Teil der Bücher und hin- und herzublättern. Mein Tip: Immer zuerst NUR den Haupttext lesen, dann kann man den das Kapitel durch gespannten Gedankenbogen gut folgen, und dies zuförderst zu tun empfehle ich sehr. Die Anmerkungen bieten manchmal lediglich Quellenangaben, oft aber noch weitere Beispiele zum Angemerkten, oder Diskurs-Beiträge, und ich habe es sehr genossen, sie bei einem Zweitspaziergang durch die Texte kapitelweise abzunicken, -schnauben und -kichern.

Überhaupt Diskurs: Da es in diesen Büchern immer schon viel um Sex, Gewalt und die cthonisch-monströsen Aspekte des Menschenlebens geht, haben sie entsprechend viel Kritik und Widerspruch auf sich gezogen. Bewundernswert ist die Ausführlichkeit mit der Duerr an ausfälligere Aufschreier mit besten Manieren Replik-Watschen austeilt, oder freundlich und pragmatisch den Stutzigen ihre Kathegorie-Knoten aufdröselt.

Hier noch ein Service, denn zumindest in meiner Taschenbuchausgabe des Suhrkamp Verlages findet sich kein Gesamtinhaltverzeichnis. Bitteschön!

•••

Der Mythos vom Zivilisationsprozess

Band Eins: Nacktheit und Scham (Gebunden 1988 / Taschenbuch 1994; 515 Seiten; 222 Abbildungen)

Vorwort …7 Einleitung …9 § 1 Der nachte Held im alten Griechenland …13 § 2 Der nackte Ritter oder »Ich mousz doch sêre bitten« …24 § 3 Die mittelalterlichen Badestuben …38 § 4 Die mittelalterlichen Wildbäder …59 § 5 Das Bad bei den Römern, frühen Christen, Juden und Muslimen …74 § 6 Das Baden in der Neuzeit …92 § 7 Nacktheit in Japan, Rußland und Skandinavien …116 § 8 Der indiskrete Blick …135 § 9 Der nudistische Blick …150 § 10 Privatsphäre und Phantomwände …165 § 11 Die Scham im Bett …177 § 12 Die Sexualität der kleinen Kinder …197 § 13 Der heimliche Ort und der Kackstuhl …211 § 14 Urinieren, Defäkieren und Furzen in der eigenen und in der fremden Kultur …227 § 15 Die Entblößung vor Dienern, Sklaven und Ehrlosen …242 § 16 Der Henker und die Hexe …252 § 17 Die Entblößung als Strafe …267 § 18 Das Mittelalter und die Entblößung des Leibes …283 § 19 Die Nacktheit der mittelalterlichen Schauspieler und Huren …292 § 20 Das irdische Paradies …308 § 21 Der Nachweis der Impotenz und die öffentliche Kopulation …324 Anmerkungen …337 Bibliographie … 463 Register …507

•••

Band Zwei: Intimität (Gebunden 1990 / Taschenbuch 1994, 625 Seiten; 217 Abbildungen)

Vorwort …7 Einleitung: Antwort auf die bisherige Kritik »Theoretische Einwände« …11 § 1 Die Polemik gegen ›Man-midwifery‹ und gegen das Medizinstudium der Frauen …25 § 2 Die Gebäranstalten und der Gebrauch des Spekulums …35 § 3 Die gynäkologische Untersuchung im 18. und im 19. Jahrhundert …44 § 4 Der Arzt und die Scham der Frau im Barock …53 § 5 Der Arzt und der weibliche Genitalbereich im Mittelalter …67 § 6 Das Beschauen des weiblichen Körpers …80 § 7 Geburtshilfe und ›innere‹ Untersuchung in der Antike, bei den Arabern und bei fremden Völkern …95 § 8 Heimlichkeiten der Geburt und der Schwangerschaft …111 § 9 Gynäkologie und ›Affektstandard‹ im 20. Jahrhundert …124 § 10 Die Genitalscham der Frauen in fremden Gesellschaften …136 § 11 Anstandsregeln für sitzende Frauen …149 § 12 Das Schließen der Schamlippen …170 § 13 ›La Nouvelle Cythére‹ oder Die Schamlosigkeit der Frauen von Tahiti …179 § 14 Die häßliche Vuvla …200 § 15 Die schöne Vulva …222 § 16 ›Theorie‹ der Körperscham …256 Anhang: Antwort auf die bisherige Kritik »Empirische« Einwände I. Noch einmal: Die Ikonographie spaätmittelalterlicher Unzucht …270 II. Prostitution im Mittelalter … 289 III. Nobert Elias im Freudengässlein …316 IV. Die Nacktheit der griechischen Athleten …331 V. Körperkult und Scham bei den Nuba …339 VI. ›Triebverzicht‹ bei den Eskimo …351 Anmerkungen …363 Bibliographie …553 Register …615

•••

Band Drei: Obszönität und Gewalt (Gebunden 1993 / Taschenbuch 1995; 741 Seiten; 216 Abbildungen)

Einleitung …9 § 1 »Mit den Waffen einer Frau« …33 § 2 Die aggressive Entblößung der Brüste …47 § 3 Die Frau auf der Barrikade …54 § 4 Die versöhnende Entblößung der Brüste …72 § 5 Die Vulva als Schreckmittel …82 § 6 Das Lachen der Götter …91 § 7 Die Entblößung der Vulva als Beleidigung …105 § 8 Die Macht der Frauen …120 § 9 Die Frau als Vergewaltigerin …134 § 10 »Leck mich am Arsch!« …148 § 11 Der bedrohliche Phallus …158 § 12 Penisfutterale und das Problem der öffentlichen Erektion …172 § 13 Der Hosenlatz und die Schamkapsel …193 § 14 Die Wurzeln der Männlichkeit …211 § 15 Rammbock und Festungstor …220 § 16 Das »Ficken« von Feinden und Rivalen …242 § 17 Die homosexuelle Vergewaltigung …259 § 18 Die Kastration des Mannes als Unterwerfung …274 § 19 Die sexuelle Verstümmelung der Frau als Entehrung …284 § 20 Die Entblößung als Demütigung …296 § 21 Im Vorhof der Hölle …309 § 22 Die sexuelle Belästigung von Frauen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit …319 § 23 Das ›Betatschen‹ und ›Begrapschen‹ von Frauen in späterer Zeit und heute …333 § 24 Der Griff des Mannes an die Brüste der Frau …343 § 25 Der Griff der Frau an den Penis oder »Huy fotz, friss den Mann!« …354 § 26 Die Vergewaltigung von Frauen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit …363 § 27 »Schreiender Mund und nasse füd« …373 § 28 Die Täter und ihre Strafe …382 § 29 Kriegsvergewaltigung und die »Truppe der Samennehmerinnen« …391 § 30 Notzucht und Zivilisationsprozess …408 § 31 »Nix Jüdin, du Frau!« …413 § 32 Die Vergewaltigung als Entwürdigung …428 § 33 Die Lust des Täters und die Lust des Opfers …438 § 34 Der Widerspenstigen Zähmung …452 Anmerkungen …461 Bibliographie …659 Register …731

•••

Band Vier: Der erotische Leib (Gebunden 1997 / Taschenbuch 1999; 669 Seiten; 211 Abbildungen)

Vorwort …9 Einleitung: Paradigm Lost: Theoretische Bemerkungen zur Zivilisationstheorie …11 § 1 Die Viktorianer und das Dekollté …27 § 2 Liberté, egalité, frivolité …35 § 3 Die »ärgerlich und schändlich entblößten« Brüste im 17. Jahrhundert …46 § 4 Die jungfräuliche Königin … 53 § 5 Die »nit bedeckten Milchsäck« im Späten Mittelalter …64 § 6 Gab es im Mittelalter eine ›Oben ohne›-Mode? …74 § 7 »Das tüttel aus dem pousen sprang« 86 § 8 Die Brustscham im Mittelalter …94 § 9 »… möchte mit den Brüsten spielen« …106 § 10 ›Funktionale‹ Brustentblößung: Schandstrafen und Stillen des Säuglings …118 § 11 Die Muttergottes und sündige stillende Frauen …131 § 12 Die Angst vor dem ›Verlust der Figur‹ und die gotische S-Linie …145 § 13 Falsche Brüste …156 § 14 Das Ideal der flachen Brust und der »Bubibusen« …165 § 15 »Mammary Madness«, American Style …176 § 16 Der ›Monikini‹ und seine Folgen …196 § 17 Die freien und die unfreien Brüste …213 § 18 Das Auf und Ab des Büstenhalters …231 § 19 Der BH außerhalb Europas und das Ideal der Hängebrüste …248 § 20 Die ›Enterotisierung‹ der Mutterbrust …261 § 21 Die Töchter des Regen- und die des Handelsgottes …277 § 22 Der »hüpfende Doppelhügel« in Ostasien …289 § 23 ›Oben ohne‹ in Südostasien und Indonesien …301 § 24 Der nasse sári auf der Haut der indischen Frauen …310 § 25 Odalisken mit freien Brüsten …319 § 26 Sind Brüste auch dort erotisch, wo sie unbedeckt getragen werden? …328 § 27 Warum sind weibliche Brüste überhaupt erotisch? …343 Anhang: Antwort auf die zwischenzeitlich erschienene Kritik …354 Anmerkungen …389 Bibliographie …583 Register …653

•••

Band Fünf: Die Tatsachen des Lebens (Gebunden 2002 / Taschenbuch 2005; 1018 Seiten; 158 Abbildungen)

Einleitung …7 § 1 Der Geschlechtsverkehr in der Öffentlichkeit …117 § 2 Mythen vom wilden Sex der Wilden …132 § 3 Der weibliche Orgasmus unter widrigen Umständen …147 § 4 Die passive Frau …162 § 5 Die aktive Frau …177 § 6 Wer ist der sexuell »Aktive«? …206 § 7 Die weibliche Lust im 19. Jahrhundert …225 § 8 »Stoß zu, Freundchen, heut ist Zahltag« …253 § 9 »Der kützel der wollust«: Lustquell und Ärgernis …271 § 10 »Rape me, nigger, rape me!« Rassistische Sexualphantasien …305 § 11 »Geil wie ein Judd am Schabbes« …340 § 12 Lüsterne Bauern und unzivilisierte Arbeiter …361 § 13 Die Aufklärung der Kinder und der sexuelle »Diskurs« …381 § 14 Das Nachtfreien, die Hochzeitsnacht und die Ahnungslosigkeit der Braut …406 Anhang: Antwort auf die zwischenzeitlich erschienene Kritik …441 Nachwort …525 Anmerkungen …529 Bibliographie …873 Register …1003

1999, ein bitteres Phantastik-Sachbuch-Jahr

Eintrag No. 191 – Heute ist mir das Buch »Deutsche Phantastik – Die phantastische deutschsprachige Literatur von Goethe bis zur Gegenwart« von Winfried Freund aus dem hammerseriösen UTB/Wilhelm Fink-Verlag untergekommen. Inzwischen sechs Jahre alt, gehört es in der Stadtbücherei Frankfurt immer noch zu den aktuellsten Sachbüchern zur Phantastik. Dennoch: weder Niebelschütz noch Krausser finden sich darin. Traurig, traurig. Dafür stolperte ich in der Einleitung über dieses eloquente Gedankenunterholz. (Hegel und Adrono, ick hör Euch trapsen).

Seite 13: Die folgende, an den zentralen Gattungen literarischer Phantastik orientierte Darstellung versteht sich als exemplarisch und representativ zugleich. Herausgehoben werden sollen in den einzelnen Genre-Portraits die Einzelwerke, in denen das Phantastische im fundamentalen Sinn Gestalt gewonnen hat und traditionsbildend gewirkt hat bzw. wirken könnte. …
Das »könnte« macht mich bangen.
… Literarische Phantastik wird dabei durchgängig als die Literatur verstanden, die in negativer Dialektik den Aufbruch durch das Ende und Entwicklung zum Höheren durch das Abgründige aller Existenz entwertet, die alle Sinnstiftungen in die Sinnlosigkeit, alle Hoffnungen in die Verzweiflung und jeden Fortschritt in die Katastrophe münden läßt, die das Ideal wie den Glauben desillusionieren und das Gestaltete ins Formlose, das Sein ins Nichts, die Fülle des Daseins in die Leere und die Ordnung in Chaos auflöst. Konstruktive Aspekte des destruktiv Entfesselten bleiben vereinzelt.
Fehlt nicht viel, und mir entfleucht eine schmissige Melodie auf dieses literaturwissenschaftliche Prosagedicht.

Molosovskys Beute: Klassiker der Phantastik als eText

Eintrag No. 187 – Also gut. Es kann ja nicht sein, daß ich hier nur schlechte Stimmung kundtue. Ist ja nicht so, daß ich am Boden kreuche und bleierne Depri-Eisenkugeln an meinen Fesseln hinter mir herschleife.

Die bisherigen Bücher des Lesezirkels bei SF-Netzwerk treffen ganz meinen Geschmack. Nach »Set This House In Order« (»Ich und die anderen«) von Matt Ruff gings im Februar weiter mit einem Klassiker: H. G. Wells mit seinem »Men Like Gods« (»Menschen, Göttern gleich«) aus dem Jahre 1923.

Nach einen Blick in die Wells-dtv-Ausgabe wurde ich soweit neugierig, mal im Netz nach dem Roman zu suchen. Ich wurde nicht nur fündig, ich verlohr mich geradezu in einer Flut verfügbarer Titel. Vor allem auf Englisch kann man reichlich Klassiker als eText kostenlos bekommen.

Da dacht ich mir: Was soll ich in diesem Jahr groß Geld für Bücher ausgeben? Will ich mich mal um einige Wurzeln der modernen phantastischen Literatur kümmern und sie als PDF zum Copyshop tragen, um sie nicht am Bildschirm lesen zu müssen. Entsprechend habe ich die letzten Tage mit PDF-Aufbereitung von reinen Textdatein verbracht.

Hier eine (verlinkte) Autorenübersicht, und die (unverlinkten) Titel dieser Autoren, nebst einer kurzen Begründung, warum mich das Zeug interessiert. Ich Link mir sonst die Finger krumm.

Klassiker der phantastischen Literatur (sowie einige andere Titel, die Molosovsky interessieren)

Bellamy, Edward (1850 - 1898): Looking Backward ••• Frühe SF, in der ein Mann aus dem Jahre 2000-ebbes eine Reise in die ausgehende Viktorianische Epoche macht.

Blackwood, Algernon (1869 - 1951): Prisoner in Fairyland ••• Der Titel machte mich neugierig und ich kennte bisher nur die unheimlichen Kurzgeschichten in der Übersetzung bei Suhrkamp. Blackwood war ein Vorbild vom Kult-Pessimisten H. P. Lovecraft.

Cabell, James Branch (1879 - 1958): Figures of Earth / Jurgen ••• Neil Gaiman empfiehlt immer wieder mal Cabells »Jurgen« als lesenswertern Klassiker des Genres empfohlen.

Chesterton, Gilbert Keith (1874 - 1936): Ball and Cross / Club of Queer Trades / Tales of the Long Bow / The Man Who Was Thursday / The Trees of Pride / Orhodoxy ••• Ich bin ein großer Fan von »Der Mann der Donnerstag war« und gespannt, was der Mann sonst noch herrlich Wirres schrieb. Wie J. R. R. Tolkien ebenfalls einer der durchgeknallen Katholen der Insel. Bei uns kennt man Chesterton eigentlich nur für seine Pater Brown-Geschichten (bekannt durch Ottfried Fischer und Heinz Rühmann).

Doyle, Arthur Conan, Sir (1859 - 1930): The Lost World / The Poisen Belt / The Land of Mist / The White Company ••• Durch meine Teenagerjahre habe ich alle Sherlock-Holmes-Geschichten abgegrast, und auch die ein oder andere Kurzgeschichte von Doyle. Bei Gelegenheit will ich nun die drei Jules Verne-artigen Prof. Challenger-Romane mal im Original lesen, sowie den historischen Roman »The White Company«, den Doyle selbst für sein bedeutenstes Erzählwerk hielt (und der meines Wissens nie auf Deutsch erschien).

Dunsany, Lord {Edward J. M. D. Plunkett} (1878 - 1957): Don Rodriguez / Gods of Pegana / Time and the Gods / A Dreamer's Tales / Sword of Welleran & Other Tales / Tales of Three Hemispheres / Tales of Wonder / The Book of Wonder / The Food of Death ••• Von ihm haben alle abgeschrieben, die Nachkriegsfantasy-Autoren, die neueren Comic-Schreiber a la Gaiman und Co. Alle! Lovecrafts Kosmogonie oder seine Traumwelt wäre nicht denkbar ohne Dunsany als H.P.s großes Vorbild. In den Siebzigern gabs bei Diogenes eine ganze Reihe mit Krimi-Stories von Dunsany. Heutzutage sieht es ganz finster aus um eingedeutschte Werke von Dunsany.

Hearn, Lafcadio (1850 - 1904): Glimpses of Unfamiliar Japan 1 & 2 / In Ghostly Japan / Kwaidan: Stories and Studies of Strange Things ••• Über ihn bin ich gestolpert, weil ich für Andrea über frühe Bonsai-Berichte in der westlichen Hemisphäre recherchiert habe. Die Wichtigkeit von (wahren oder erfundenen) Berichten aus fremden Weltgegenden für die entstehende moderne Phantastik wird von den heutigen Lesern zumeist grob übersehen. Hearn ist ein gutes und vor allem exellent zu lesendes Beispiel für einen Wanderer zwischen den Kulturen.

Kipling, Rudyard (1865 - 1936): Plain Tales from the Hills / Traffics and Discoveries / Puck of Pook's Hill / Actions and Reaktions / Rewards and Fairies ••• Sehr dankbar bin ich Gisbert Haefs, daß er damals im Haffmans-Verlag begonnen hat, die Werke von Kipling endlich mal unverstümmelt herauszubringen. Leider erscheinen schon seit Jahren keine weiteren Bände dieser Werksausgabe mehr (Hallo Zweitausendeins, Herr Haffmans und Herr Haefs! Was geht?). Und bitte keine unnötige Scheu vor dem Geheimagenten und Kolonial-Praktiker Kipling, der vor hundert Jahren dabei war, als die Region Afghanistan zum Desaster für die Britten wurde (siehe Veteran Dr. Watson in den Holmes-Geschichten von Kollege Doyle), und das heute noch andauernde ›Great Game‹ um diese Weltgegend anhob. Und: Kipling gilt als der erste Autor, der Filmschnitt-Techniken in Prosa nachahmte.

Lytton, Edward Bulwer Lytton, Baron (1803 - 1873): The Coming Race ••• Neben Charles Dickens und Wilkie Collins einer der einflußreichsten viktorianischen Genre- und Erfolgsautoren. »Coming Race« ist ein Klassiker der abseitigen Hohlwelt-Literatur. Am bekanntesten ist wohl sein »Die letzten Tage von Pompeii«, und Arno Schmidt-Leser kennen seinen Namen vielleicht (»Was wird er damit machen?«). Und Bulwer Lytton saß als Politiker im englischen House of Lords!

MacDonald, George (1824 - 1905): Lilith / Phantastes / The Princess and the Goblin / There and Back ••• Ein schottischer Landpfarrer der Märchen für Gläubige schrieb. Neben William Morris ein wichtiges stilistisches und ideologisches Vorbild für Tolkien. Mal schaun, vielleicht heißt der Nebentitel von »The Hobbit« nicht von ohngefähr »There and Back Again«.

Morris, William (1834 - 1896): News from Nowhere / The Well at the World's End / The Wood Beyond the World ••• Morris war ebenfalls ein wichtiges Vorbild für Tolkien. Lustig find ich die sprachliche Nähe der Prosa von Morris, MacDonald und Tolkien. Ansonsten war Morris ein Phänomen in der englischen Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Künstler, Idealist, Sozialist, Handwerker, Dichter. Ein Mann mit einer Mission. Seine Tapetenmuster sind heute noch top.

Orwell, George (1903 - 1950): Fifty Essays ••• Ich weiß ja nicht, warum es so schwer ist, mal alle Essays von Orwell ins Deutsche zu übersetzten. Les ich die halt auf Englisch.

Stevenson, Robert Louis (1850 - 1894): The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde / Essays in the Art of Writing / Fables ••• Hab bisher viel zu wenig Stevenson gelesen.

Irving, Washington (1783 - 1859): The History of New York / Scetch Book of Geoffrey Crayon ••• Irving ist so ein gewichtiger Klassiker der burlesken Phantastik, der auf Deutsch so gut wie unübersetzt und deshalb unbekannt ist. Das »Scetch Book« enthält neben anderen die einflußreichen Geschichten »Rip von Winkle« und »The Legend of Sleepy Hollow«. Und die »History of New York« ist ein frühes Beispiel für eine komplett aus der Nase gezogene Enzy.

Wells, Herbert George (1866 - 1946): The Time Machine / The Island of Dr. Moreau / The Invisible Man / The War of the Worlds / When the Sleeper Awakes ••• Vielleicht immer noch der einflußreichste SF-Autor bisher. Hab ich wie Doyle als Teen schon einiges auf Deutsch gelesen.

Woolf, Virginia (1882- 1941): Common Reader / Essays / Short Stories / The Waves ••• »Orlando« auf Deutsch fand ich vor ca. zehn Jahren ziemlich öde, den Film aber schlicht brilliant. Letztes Jahr hab ich das Buch englisch aufm Klo gelesen und war begeistert. Derzeit hab ich »Mrs. Dalloway« immer in der Manteltasche dabei und freu mich schon auf weitere Lektüre ihrer Texte.

Abschluß-Zuckerl: Runciman, John F. (1866 - 1916): Purcell ••• Wenigstens ein kleiner Text über einen meiner absoluten Lieblingskomponisten.

Klassiker über Römische Geschichte für umme? Bitte schön. Gibbon, Edward (1737 - 1794): History Of The Decline And Fall Of The Roman Empire Mommsen, Theodor (1817 - 1903): Römische Geschichte ••• Gibts alle Bände als eText, den Mommsen sogar auf Deutsch. Gut, es ist etwas mühselig, das Zeug so unaufbereitet zu lesen, so wie die Fußnoten versteckt sind, aber immerhin: so kommt man als arme Sau, für die auch die Taschenbuchausgaben dieser Werke zu teuer sind, wenigstens zu seinem Stoff. Und: der Gibbons war immer wieder mal Steinbruch für die Macher von großen galaktischen Imperien. Prominentester Verwurschter: Isaac Asimov mit seinem Psychohistoriker-Zyklus.

LiteraturBlogging de Luxe:
Crooked Timer-Seminar über China Miéville

Eintrag No. 179 – Erst vor Kurzem entdeckt: das aufregende Gemeinschafts-Blog Crooked Timber. Es kommt selten vor, daß Schriftsteller sich auf ein öffentliches Ping-Pong mit Kritikern einlassen (egal ob die Kritiker nun loben oder mäkeln). Der Name des Blogs wurde von Immanueal Kant inspiriert:

Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz gerades gezimmert werden.
aus: »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, (1784).

Es gibt dort nun sechs Essays von akademischen Freunden der linken Phantastik, vor allem den dritten Bas Lag-Roman »Iron Council« betreffend:

• von John Holbo: We Shall Rise to the Challenge of Their Appointment to Life for That Single Moment – Ein Vergleich zwischen dem literarischen Weltbauten von Tolkien und Miéville unter Zuhilfename eines Arguments von Bruno Schulz.

• von Belle Waring: New Crobuzon: If You Can Make Re-Make It There! (You’ll Make It Anywhere) – Raunzt über zuviel Grimmigkeit in New Crobuzon.

• von Matt Cheney: Balancing Traditions: The Pulp Origins, Muddled Moralities, and Anxious Audiences of China Miéville’s Aesthetic Revolution – Über die Bösewichter bei Miéville, sowie die Einarbeitung von Pulp- (Schund) und Avantgarde-Literatur in die Bas Lag-Bücher.

• von Henry Farrell: An Argument in Time – Über Geschichte und Mythos bei Miéville unter Zuhilfenahme von Walter Benjamin.

• von Miriam Elizabeth Burstein: Undoing Messiahs – Über Märtyrertum und Messianismus in »Iron Council«.

• von John Quiggin: Remaking the Past (and Future) – Über Revolution und Geschichte.

• Und eben die die ausführliche und kritisch/selbst-kritische Erwiderung von China Miéville auf diese Essays: With One Bound We Are Free: Pulp, Fantasy and Revolution.

Angenehmer Service der Posse des krummen Holzes: Hier all das zum Ausdrucken als PDF.

Überblick Baroque-Cycle

Eintrag No. 156 – Inhaltsverzeichniswahnsinn.

Hat ein Buch kein Inhaltsverzeichnis, mach ich eins. Das erste Buch, zu dem ich ein Inhaltsverzeichnis anfertigte, war »Ulysses« … natürlich mit Stichworten zu den Kapiteln, wegen Ort, Tageszeit, mythologisches Motiv, Farbe, Organ und so weiter … der ganze hermeneutische Trash halt.

Gestern bin ich mit einem besonders großen Inhaltsverzeichnis-Brocken fertiggeworden … dem bisher längsten Inhaltsverzeichnis in meinem Hause: den dreibändigen, achtbuchigen historischen Großroman »Baroque-Cycle« von Neal Stephenson.

Mein Inhaltsverzeichnis des »Baroque-Cycle« ist 160 cm lang. Lesend bin ich derzeit ca. bei Zentimeter 80 des Inhaltsverzeichnis … »The Confusion«, Kapitel 47. {Angaben basieren auf den großen Softcover-Ausgaben bei William Heinemann/Randomhouse.}

Band Eins: »Quicksilver«; 917 Seiten; 67 Kapitel. • Buch 1: Quicksilver – Daniel Waterhouse 1713 in Massachusetts … und 1655 bis 1673 in England. • Buch 2: King of the Vagabonds – Jack Shaftoe und Eliza 1665 bis 1685 in Europa • Buch 3: Odalisque – Eliza 1685 bis 1689 in Europa

Band Zwei: »The Confusion«; 815 Seiten; 64 Kapitel. • Buch 4: Bonanza – Jack Shaftoe 1689 bis 1702 vom Mittelmeer ostwärts um den Globus • Buch 5: The Juncto – Eliza 1689 bis 1702 in Europa

Band Drei: »The System of the World«; 887 Seiten; 99 Kapitel. • Buch 6: Solomon's Gold – Daniel Waterhouse & Co. in London von Januar bis April 1714 • Buch 7: Currency – Daniel & Co. in London von Juni bis Juli 1714 • Buch 8: The System of the World – Daniel & Co. London von August bis Oktober 1714

Popliteratur und Blogs

(Gesellschaft, Literatur) – Wiedermal wird die Frage verhandelt: Sind Blogs die Nachfolger der Popliteratur? (bei DonDahlmann, und bei Lotman mit großartigem Comment von Andrea.) …… ich denke, die Antwort darf allgemein ruhig erstmal »Nein« lauten. Immerhin werden – im Gegensatz zu Popliteraturbüchern – wirklich sehr viele Bogs von Leuten geführt, die NICHT aus Familien der oberen Mittelschicht oder Oberschicht stammen (Mama und/oder Papa sind: Provinzredakteure, Parteigründer, Adelige, Fabrikanten … es ist wirklich erstaunlich, wie wenige Abkömmlinge des Proletariats oder der unteren, mittleren Mittelschicht sich auf dem Feld der deutschen Poplitertur finden).

Sozialneid beiseite.

Die Frage ist ein Problem der Genre-Zuteilung. Dinge in Schubladen (Genre) zu ordnen ist eine formale Angelegenheit und der liebe (wenn auch schwerdepressive) Kurt Gödel hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß alle formalen Systeme Sätze zeitigen können, die nicht entscheidbar sind. Die Frage »Sind Blogs Popliteratur?« objektiv beantworten zu wollen zeugt (aus meiner Sicht) von Zagheit und Naivität, denn mit »Ja« ließe sich diese Frage nur beantworten, wenn man mit dem Hammer sowohl DIE Popliteratur als auch DIE Blogs zurechtdengelt.

Zur Erinnerung: Der Begriff (Web-)Blog bezeichnet erstmal auf technischer Ebene eine Schreib- & Veröffentlichungsform … so wie die Begriffe Holzstich, Collage und Readymade in der bildenden Kunst zuvörderst das Augenmerk auf Material und Verarbeitungsverfahren bei Graphiken richtet. Solange also beispielsweise der akademische Dschungel Theologie, Philosophie und Literatur (alles fiktive Dichtungen) in getrennten Wannen badet, ist es Heuchelei, beetete man mit großer Toleranzgeste Blogs im Ziergarten der Literatur ein.

Bei Klosprüchen und Grafitties kann ich verstehen, wenn die schon mal als neuzeitliche literarische Kleinstformen angesehen werden. Bei vielen Blogs allerdings bin ich mißtrauisch und spreche ihnen jedwede Literarizität ab, wenn sie eben nichts bis kaum erzählen, sondern ehr als Link-Baum woandershin dienen … wobei die Links kurz kommentiert werden, so mit einem Satz. Beispiel:

»Selten so geweint« und dazu ein Link zum US-Wahlergebnis.

Und gerne wird ja auch verbreitet, daß z.B. mit der Kommentarfunktion ratzfatz interaktive Literatur entsteht … nun aber habe ich bisher noch kaum erlebt, daß auch Internet-Chats als Literatur bezeichnen würden … und den Begriff Literatur noch weiter ausdehnend, ließen sich ja gleich Telefonsex-Ansagen als Literatur – im Sinne von Hörspiel – neben beispielsweise Bölls und ASchmidts Radioarbeiten einreihen.

Abgrenzungsfragen also. Das Problem ist, daß es neben diesen unliterarischen Aspekten des Internetschreibens auch eben solche Blogs gibt, deren Betreiber erzählen und berichten (wollen), die ihren eigenen Stil haben (oder suchen) und die sich durchaus als Literatur, Journalismus und Alternative zu Feuillitontexten lesen lassen. So gesehen: Ein Blog ist eine für jeden Internetbenutzer verfügbare Form der früher nur wenigen zugänglichen Veröffentlichungsnische einer Glosse oder Kolumne. Wenn man die Möglichkeit zur Selbstentfaltung ökonomisch betrachtet, dann kommt nun zum knappen Publikationsprivileg in gedruckten und gesendeten Massenmedien nun die pluralistische, leicht zugängliche Internetplattform der Bolgs über uns … was einiges durcheinander bringt.

Nun, dies ist eine Zeit des Wandels, in der wir leben.

••• Nachtrag: Inzwischen hat lotman auf den Comment von Andrea geantwortet. Es lohnt sich am Ball zu bleiben.

Schreiben, Genre und das romantische Ideal von der Einzigartigkeit

Eintrag No. 152 – Im Forum von SF-Netzwerk wird ein exemplarischer Text (von Mofou bei leselupe.de), der den romantischen Verklärungen vom Schreiben als Suche nach Einzigartigkeit anhängt, diskutiert. Das stehen solche schwammigen Sätze drinn wie:

Schreiben wäre der Zirkelschlag vom vergessenen zum gegenwärtigen Augenblick, ein von innen nach außen gekehrter Moment: Die durch Sprache transportierte Innerlichkeit gewinnt Konturen.

… Wer Wegweiser sucht, glaubt, der Wind ließe sich die Richtung weisen. Das Paradox der notwendigen Regel besteht darin, dass der, der aus der Flut des Geplappers auftaucht, sie bricht. Erzählen gewinnt im Regelbruch seine Nachdrücklichkeit. Sagen wir ruhig: seine Magie.

…Literatur verweigert Plausibilität …

Und so weiter. Hier zu meiner Erwiderung.

Und hier eine wirklich gute Einführung zur Genre-Theorie von Daniel Chandler (walisischer Semiotiker), den ich für wertvoller halte.

Sie sind nicht angemeldet