molochronik

Gaiman, Neil: »Anansi Boys«, oder: ›Die spinnen, die Götter‹ (für MAGIRA 2006).

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2006 – Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter.}

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Eintrag No. 356 — Dieses Jahr habe ich einen Tagesabstecher auf die Leipziger Buchmesse gemacht, hauptsächlich um mal als Fan dabeizusein, wie der Engländer Neil Gaiman (1960) sein neuestes Buch bei uns vorstellt (mehr über den Leipzig-Besuch von Gaiman in meinem Gedächtnisprotokoll mit Skribbel). Wer Gaiman schon kennt, kann sich als entsprechend Informierter den nächsten Absatz sparen.

Gaiman gehört zu den britischen Aufsteigern der Neunziger, und hat seine Laufbahn mit Büchern über Duran Duran und Douglas Adams’ »Per Anhalter durch die Galaxis«-Reihe begonnen. Mit Graphic Novels wie »Violent Cases« und »Black Orchid« erlangte er Ansehen als Comic-Autor, was ihm die Gelegenheit verschaffte, die große Geschichte »The Sandman« in 75 (fast immer) monatlichen Heften von 1988 bis 1995 zu erzählen. Die Saga über den Abstieg und die Wiedergeburt des Herrschers der Traumlande machte Gaiman zum Star einer Phantastik-Gemeinde, die es zu schätzen weiß, wenn Religionen und Mythen aller möglichen Epochen und Weltgegenden vermischt werden und mit einer gewitzten Sensibilität für moderne Fantasy- bzw. urbane Horrorgeschichten, gewürzt mit einer kräftigen Prise guter alter Familien-Soap, erzählt werden. »The Sandman« gilt vielen Lesern immer noch als Gaimans bisher bester Brocken. Mit ein bisschen Übertreibung kann man behaupten, dass seitdem Gaiman sozusagen in den Kult-Rang eines zeitgenössischen Ovids aufgestiegen ist, sein Publikum gebannt seinen Variationen über die Metamorphosen von Wesen, Zeitläuften und Welt lauscht. So kennen ihn Terry Pratchett-Leser als Co-Autor apokalyptischer Komik (»Good Omens«), Art-Book-Fans als Wiederbeleber der Tradition des (in diesem Fall von Charles Vess) aufwändigst illustrierten Märchenbuches für Erwachsene (»Stardust«). Gaiman hat im Fernsehen z.B. in der SF-Serie Babylon 5 (»Day of the Dead«) und als Schöpfer einer BBC-London-Fantasia (»Neverwhere«) seine Geschichten erzählt. Als Mit-Entdecker und Übersetzer von »Prinzessin Mononoke« für den englischsprachigen Markt glänzte er als Vermittler. Derzeit steigt Gaiman in die narrativ-industrielle A-Liga auf, nachdem er jahrelang den Titel innehatte, die meisten nichtverfilmten Drehbücher in Hollywood verkauft zu haben: innerhalb der nächsten 18 Monate laufen »Beowulf« (der nächsten starbepackten CGI-Flick von Robert Zemeckis), »Stardust« (mit der Pfeiffer und dem de Niro) und »Coraline« (von Meister Selnik, dem »Nightmare Before Christmas«-Puppentrickser) an. Getrost kann man auch alle Früchte der Zusammenarbeit Gaimans mit seinem bildnerischen Kumpel und »The Sandman«-Covermagier Dave McKean als echte Phantastik-Gemmen werten. Dazu zählen neben den oben erwähnten frühen Graphic Novels auch die ›graphischen Erzählungen‹ für Erwachsene »Signal To Noise«, »Mr. Punch«, die Kinderbücher »The Day I Swapped My Dad For Two Goldfish« und »Coraline«, sowie jüngst das extravagante Film-/Bildband-Projekt »Mirrormask«.

Laut Autorenbio des Klappentextes hat Neil Gaiman »Anansi Boys« ganz speziell ›für dich‹ geschrieben, was ja schon mal ein nette Geste ist. Respektvoll verneigt sich der Autor dann im Postskriptum seiner Danksagungen vor vier Autorengeistern, und zeichnet damit erste Konturen der Ambitionen und Themen des Romans (kursiv sind die entsprechenden Narrations-Harmonien markiert, die sich in Anansi Boys vernehmen lassen):

  • P.G. Wodehouse mit seinen Geschichten vom wohlhabenden aber planlosen Junggesellen Bertie Wooster und dessen fähigem aber trockenen Butler Jeeves[1] ist ein Klassiker der britischen Gesellschaftskomödie, und sein Einfluss liefert Konversations- und Peinlichkeits-Humor;
  • ›Tex‹ Avery war ein Genie des höheren Zeichentrick-Blödsinns und hat z.B. Bugs Bunny und Duffy Duck erfunden, ewiges Vorbild für wilden Slapstick mit phantastischen Unmöglichkeiten;
  • von Thorne Smith stammt die Vorlage für den Filmklassiker »I Married a Witch« und auch bei Gaiman geht’s um Ehen bzw. städtisch-moderne Romanzen zwischen normalen Sterblichen und magischen Überwesen;
  • Zora Neale Hurston veröffentlichte eine Reihe Bücher über afro-karibische Mythologie, und der titelgebende Spinnengott Anansi stammt aus Westafrika.[2]

Zur allgemeinen Werks-Orientierung: »Anansi Boys« führt den Weltenentwurf von »American Gods« (2001) fort, aber die Bücher bilden keine Serie und sind sich in Tonfall und Färbung eher unähnlich. Man kann beide je für sich genießen. Miteinander verglichen, kommt der dickere »Amercian Gods« düsterer und dreckiger, »Anansi Boys« fröhlicher und komischer daher.

Die Geschichte beginnt mit einer Eröffnung über die Macht der Lieder und die Song-haftigkeit der Welt. Schon mal sehr schön, dieses klassische Fantasy-Motiv von der Welt oder dem individuellen Leben als Musik hier neu verhandelt zu finden.[3] Ein willkommenes Gegengewicht in einer Zeit, da die visuellen Medien ja vielbeklagterweise dominieren.

Der Rest des ersten Kapitels dreht sich um Verwandtschaft und Spitznamen. Die Hauptfigur Charlie Nancy ist ein schüchterner ›Jedermann der Moderne‹. Leicht nervös zu machen und deshalb ungeschickt, zurückhaltend und sich schnell mal schämend. Nicht gerade die klassischen Eigenschaften eines tatkräftigen Helden oder eines düsteren Antihelden. Obwohl er schon lange kein Dickerchen mehr ist, blieb der von Papa verliehene Spitz-name ›Fat‹ an Charlie hängen. Mit seiner schalkhaften und fidelen Art und Weise bescherte der Vater Fat Charlies Kindheit und Jugend so manches blamable Fettnäpfchenbad. Nach dem Tod der Mutter zerfällt die Familie und später siedelt Fat Charlie von Amerika nach London. Da sitzt er nun mit seiner Verlobten Rosie – die mit dem Sex erst nach der Trauung loslegen möchte – und plant die Hochzeit. Rosie und ihre verwitwete Mutter sind dabei die entscheidenden Planer, und so will Fat Charlie auf Rosies Vorschlag hin nach langer Zeit wieder Kontakt mit seinem Vater aufnehmen. Doch statt eine Hochzeiteinladung aussprechen zu können, erfährt Charlie telephonisch von seiner alten Nachbarin vom plötzlichen Tod des Vaters. Wie ein Gedankenspiel Gaimans für den Beginn einer »Six Feet Under«-Folge nimmt sich das aus[4]: Papa Anansi purzelt bei einem Karoke-Abend mit Hetzattacke von der Bühne. Fat Charlie fliegt also nach Florida, um seinen Vater unter die Erde zu bringen und lernt dabei von drei ›netten‹ Voodoo-Damen aus der ehemaligen Nachbarschaft, dass Papa Nancy der Spinnengott Anansi war, und dass Fat Charlie einen Bruder namens Spider hat.

Alles Humbug, denkt sich Fat Charlie, kann aber der Versuchung, seinen unbekannten Bruder kennenzulernen, nicht wiederstehen, und so bittet er – wie es ihm die ›Nornen‹ gesagt haben – eine kleine Spinne, seinem Bruder Bescheid zu geben. Mit Spiders Auftauchen in London beginnt der Roman, seine wilden Slapstick-Unmöglichkeiten gekonnt auszuspielen. Spider hat im Gegensatz zu Fat Charlie die übernatürlichen Fähigkeiten von Papa Anansi geerbt und übernimmt mit ihnen Stück für Stück Fat Charlies Leben. Zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt: Grahame Coats, Charlies Boss in einer Promi-Agentur, will seinen gutmütigen Angestellten als Sündenbock missbrauchen. Coats hat nämlich jahrelang Geld seiner Klienten abgezweigt und in ein karibisches Insel-Steuerparadies verschoben, dann im Affekt auch noch die Kundin Meave ermordet und ihre Leiche im Geheimsafe seines Büros zurückgelassen. Das ruft die perfektionistisch-zielstrebige Ermittlerin Daisy von Scotland Yards Betrugsabteilung auf die Erzählbühne. Fat Charlie und die Geschichte pendeln nun zwischen London und Florida, bevor sie nach vielen überraschenden Wendungen in ein ungewöhnliches Gesangsfinale auf der Insel St. Andrews mündet.

Fat Charlie hat heftig zu ringen: mit seinen grollenden beschämten Gefühlen gegenüber dem Hallodri-Vater und dessen ›Erbe‹; mit Spider um die Souveränität über sein Leben; mit Rosie um die Beziehung; mit Daisy um seine juristische Unschuld; aber vor allem auf der großen Metaphernebene mit Grahame Coats selbst. Wie so oft bei Gaiman, garnieren auch diesmal wieder kleine in sich abgerundete Geschichten den großen Bogen des Romanverlaufs. Zum Beispiel die Episode, in der Anansi einmal seine tote Großmutter verhökern wollte, oder die von Anansis Tod im Bohnenfeld. Mit von der Partie sind dabei auch andere Tiergottheiten, und Grahame Coats entpuppt sich als ein Avatar-Gefäß von Tiger, dem ewigen Gegenspieler von Anansi. Es ist ein archetypischer Kampf zwischen Schläger und Trickser, zwischen den rigiden Kriegerüberlebensmythen der Jäger und Sammler und den geselligkeits- und kulturfördernden Leichtsinnskräften von Wein, Weib und Gesang, den, wie Spider mal zu Fat Charlie sagt, einzigen drei Dingen, die den Schmerz der Sterblichkeit und die Wirrheiten des Lebens mildern können.

Bemerkenswert finde ich eine Besonderheit der britischen Originalausgabe von Headline Review: einen Anhang mit Exclusive Material, das leider nicht in der deutschen Ausgabe zu finden ist. Da wird 21 Seiten lang Faksimile-Einsicht in die handschriftliche Erstfassung gewährt.[5] Zudem erfährt der Leser in einem Interview etwas über Neils Lieblingsgötter, seine Meinung zu Spinnen, Karaoke, Spitznamen und peinliche Familientreffen. Glanzstück ist aber der Abdruck einer gestrichenen Szene, die aus Tempogründen entfiel, aber dermaßen feine ›spinnerte‹ Abenteuer von Spider bietet, dass es wahrlich eine Schande gewesen ist, sie dem deutschen Publikum vorzuenthalten. Als letztes gibt es acht Fragen für Lesezirkel, und ich kann nicht anders, als über das Niveau an Textbeschäftigung, dass diese Fragen postulieren, zu staunen.

Ich freue mich besonders, dass der Übersetzer Karsten Singelmann diesmal den trocken-witzig-poetischen Grundton Gaimans besser getroffen hat, nachdem ihm dies bei »American Gods« und dritten bei »Neverwhere« nicht unbedingt zufriedenstellend gelungen ist[6]. Immerhin gehört zur unverwechselbaren Kunst Gaimans, weitestgehend mühe- und schartenlos zwischen poetischerer Sprache bei den mythisch-magischen Passagen und schnörkel-losen Erzählen bei den Ereignissen der Gegenwartshandlung zu wechseln.

»Anansi Boys« ist Gaimans bisher flottester Roman, gradlinig und abwechslungsreich. Viele Fantasy-Phantastik-Leser, die anspruchsvolle und dennoch ›leicht zugängliche‹ Unterhaltung mögen, wissen Gaimans Romane (und Comics) sowieso zu schätzen. »Anansi Boys« sei deshalb speziell allen, die noch nichts von Neil Gaiman kennen, als guter Einstieg in die Welten dieses inspirierenden Mythenmixers empfohlen.

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[1] Nebenbei: Als phantastische (›Low Fantasy‹) Neuauflage dieser sehr englischen Herr/Diener-Konstel-lation läßt sich der plappernde Wallace und sein Retter aus allen Notlagen-Hund Gromit lesen.
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[2] Fast möcht ich meinen, daß Gaiman mit seinem neuesten Buch auf das Debüt »King Rat« von China Miéville reagiert, in dem Anansi neben dem König der Ratten und einem Vogelgott gegen den verführerischen Flötenspieler der Hamel-Legende kämpfen. Auf Deutsch finden sich Anansi-Geschichten z.B. in »Westarfikanische Märchen«, Hrsg. von Kurt Schier und Felix Karlinger (Diederichs, 1975) und in »Afrikanische Märchen«, Hrsg. von Friedrich Becker (Fischer Taschenbuch, 1969).
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[3] Mythologisch z.B. anzufinden von den antiken Welt- oder Sphärenharmonien über vedische Weltschöpfungslieder bis hin zu vom Weg abbringenden Sirenengesängen. Gaiman selbst greift schon in »The Sandman« mit einem Handlungsstrang um Orpheus dieses ›Sein als Musik‹-Motiv auf, das sich auch bei Meistersängerkriegen und Rattenfängern findet. Für Fantasy-Leser ›klassisch‹ ist der musiklaische Schöpfungsmythos Mittelerdes bei J. R. R. Tolkien; Alan Dean Forsters »Bannsänger«-Reihe trägt die magische Musik bereits im Titel; in Tad Williams »Der Blumenkrieg« soll im Finale ein irdischer Sänger als melodische Bombe scharfgemacht werden; China Miéville variiert die Figur des verführenden Musikers in »King Rat« mit einer originellen Kulmination aus Flötenspiel und Drum & Base; umfassend und vielschichtig wird das Motiv der zauberhaften Musik und der Rangeleien um ihre Geheimnisse in Helmut Kraussers historisch-phantastischem Roman »Melodien« aufbereitet.
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[4] Jede Folge dieser seit 2002 laufenden HBO-Serie beginnt mit einem Todesfall, mal tragisch, mal friedlich, mal grotesk, oder wie auch hier bei Gaiman fröhlich-komisch. In dieser Serie über ein familiäres Bestattungsunternehmen werden ansatzlos die Träume, Angst- und Wunschvorstellungen der handelnden Figuren visualisiert. ›Leider‹ sind diese individuellen Welten in die materielle Echtweltwirklichkeit einge-bettet. Dabei nutzt »Six Feet Under« durchaus phantastische Erzählmittel, überschreitet jedoch nie die Grenze zur ›reinen‹ (High) Fantasy. Dennoch: schön wird hier gezeigt, wie jeder Mensch eigentlich in seiner eigenen Phantasiewelt lebt, und wie die Hinterbliebenen mit den Verstorbenen Zwiesprache galten.
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[5] Harmloser Stoff für kuriosen und harmlosen Lokalpatriotismus: Das Blankobuch der Erstniederschrift hat Gaiman während seines Aufenthalts beim Göttinger Literaturfestival gekauft.
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[6]Ich danke dem BibPhant-Haberer Gero für den Hinweis, daß Karsten Singelmann schon »American Gods« übersetzt hat. Der Mann hat sich seitdem verbessert.
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Neil Gaiman (& Co): »Marvel 1602«

Eintrag No. 320 — Als Marvel-Banause stehe ich ein bischen dumm, wie der redensartliche Ochs vorm Berg, vor »Marvel 1602« des Autors Neil Gaiman und der Zeichner Kubert & Isanove. Die allermeisten (bestimmt) geistreichen Dinge die, wie ich annehme, Gaiman & Co in dieses Comic eingewoben haben, gehen mir durch die Lappen. Ich merk, daß mir ein Handicap anhaftet, denn meine bisherigen Einblicke in die Welt(en) der verschiedenen Marvel-Helden & Heldinnen & Heldencliquen, reichen eben kaum über den Einblickshorizont hinaus, den die entsprechenden prallen (»Hulk«, »X-Men 1 & 2«, »Spiderman 1& 2«), labbeligen (»Daredevil«, »X-Men 3«) oder kurios-›lächerlichen‹ (»Fantastic Four«, »Elektra«) Spezialeffekte-Vehikel der diversen Marvel-Franchisefilme mir bisher ermöglichten. Ich habe kaum Kenntnis von den ganz alten, den nicht ganz so alten, den jüngeren und aktuellen legendären, umstrittenen oder kultverehrten kürzeren & längeren Erzählsträngen und Saga-Abschnitten des Marvel-Universums (nur vom Hörensagen weiß ich z.B. vom vielseits gelobten »Dark Phœnix«-Epos, das ja im 3. »X-Men«-Film verwurstet wurde). — Alle sich auf Marvel-tümliches beziehenden Anspielungen und Verweise (und davon hat's in diesem Band, wie ich vermute, eine wuselig-wimmelnde Menge) bleiben also, solange ich nicht Gelegenheit habe ein umfassendes Marvel-Comicstudium zu absolvieren, derweil für mich dunkel. Deshalb muß ich wohl ›gestehen‹, daß ich den Eindruck habe, als ob mein großer Mythenmixer-Held Gaiman es sich diesmal ein wenig zu einfach gemacht hat. So richtig spannende, oder lustige oder zünftige (usw) Stimmung will bei mir nicht aufkommen. Obwohl ich sonst Gaimans Sachen schnell mal toll finde, bin ich unterm Strich erstaunt, wie sehr mich die Story, der inhaltliche Gehalt diesmal kalt läßt. Naja: wenn der Marvel-Fan seit Kindeheitstagen Gaiman sich mit seinem bewunderten Gegenstand vergnügt, kann's eben sein, daß ein Marvel-Nichtfan (sondern eben ›nur‹ Ätschn-Phantastik-Leser) wie ich vorm Gatter bleibt.

Aber jetzt ist's genug über das Gezwacke und Gezwicke meiner persönlichen Lese-Position; worum geht's denn in dem Teil?

Sozusagen von Außen nach Innen aufgezwiebelt, finde ich wiedermal verschiedene Genre miteinander vermengt. Marvel: das ist einer der großen, alteingesessenen US-Comicverlagshäuser. Selbst wenn man Comics (oder US-Comics, oder US-Superheldencomics) sonst scheut, sollte zu den Allgemeingrundkenntnissen eines jeden literaturinteressierten Phantasten gehören, daß es in Amiland diese beiden Titanic-Pötte des Superhelden-Genres gibt: DC (Superman, Batman, Justice League, Watchmen) und Marvel gibt.

»Marvel 1602« ist zuersteinmal ein Marvel-Superheldencomic; genauer: ein abgeschlossener Sonderband, der in 8 Einzelheftchen (= Kapiteln) 2003/2004 erschien, und dessen sogenanntes ›Tradepaperback‹ (= Sammelband) ich letzten Monat günstig für 16 Euronen erstanden hab. — Wie, rümpfen Sie etwa die Nase über's Superhelden-Genre?!? Also, da will aber mal ganz bildungshuberisch an Siegfried, Münchhausen, Dr. Mabuse (auch wenn der ein Anti-Held ist), Nick Knatterton, und da ich ein Schelm (und Spider Jerusalem-Fan bin) auch an Schweijk und Baby Schimmerlos erinnern! Womit ich hoffentlich, wenn auch nur fragmentarisch, klar genug andeute, daß die deutschsprachige Literatur und Kultur durchaus über manigliche superheldentaugliche Traditionen, Figuren und Stoffe verfügt. Schande und Schade, daß hierzuland so gar nix zu diesem Genre beigetragen wird. Wenn Sie also noch niemals nie ein Superheldencomic in die Hand genommen haben, ist »Marvel 1602« ein ganz gutes aktuelles Anschauungsobjekt, grad weil's so typisch und zugleich nicht-typisch ist.

Wie schon der Titel zudem verkündet, ist die Story im Jahre 1602 angesiedelt, also haben wir es mit einem Historienstoff zu tun, und weil hier durch ein großes Durcheinander des Raum-Zeit-Multiversums das Marvel-Superhelden-Univerum sich in die historische Mantel- & Degen-Epoche des Spätelisabethanischen Englands ergießt, handelt es sich also zweitens um ein Werk des Alternativwelt-Genres.

Drittens, viertens und so weiter ergibt dann grob gesagt ein munterer Abenteuer-Monomythusreigen den weiteren Inhalt des Comics: In der einen Ecke die Helden, in der anderen die Bösen. Seit dem saftigen »Elizabeth«-Biopic mit Cate Blanchet (dessen Fortsetzung »The Golden Age« ansteht) ist ja klar: The Virgin Queen, auch wenn sie hier schon eine sehr alte Königin ist, und ihre Leut sind die Guten. Berühmt-berüchtigt ist ja Elisabeths I. Geheimdienst gewesen, und so bekomme ich entsprechend das Agenten- und Spione-Genre geboten (Bond & Bourne), sogar in der Ausformung des Staats- & Reichskonflikt-Abenteuers (Tom Clancy & Co.). Der grimmige Soldaten-Stratege, eben Oberagent Sir Nicholas Fury (Hulk?) ist der Chef dieses Geheimdienstes, und er soll auf königliche Order zusammen mit dem Universalgelehrten (Alchemisten, Zauberer) Stephen Strange (Doctor Srange?) herausbekommen, was all die beunruhigend wilden Wetter- und Naturphänomene verursacht, die seit einiger Zeit immer schlimmer werdend auf der ganzen Welt für zunehmende Verstörung sorgen (Also Teilgenre: Weltuntergangs-Szenario bzw. Gloablisierungsreflektion).

Im Schatten ihrer finsteren Burgen bosseln die Bösen derweil an ihren üblichen Welteroberungs-Unternehmen. Da ist einmal der fanatische Große Inquisitor (Magneto), der in Spanien Hexenbrut verbrennt. Mit ›Hexenbrut‹ sind die z.B. aus X-Men bekannten ›Mutanten‹ gemeint. Superhelden funktionieren ja meistens so: Da ist ein normaler Mensch (irgendwer, mit dem oder der sich eine bestimmte Zielgruppe gut idendifizieren kann, deshalb eben auch meist mit gewissen ›menschelnden Verliehrereigenschaften‹ und Achillesfersen ausgestattet), der durch einen schicksalsträchtigen Zwischenfall (Freakstrahlung, Experiment, Unfall) oder eben sogar schlicht evolutionären Mutations-Quantensprung, übermenschliche Fähigkeiten erlangt hat. Dabei kann einiges variiert und mit metaphorischer Spannung aufgeladen werden: sind die Superkräfte dauerhaft zuhanden, oder ›schaltet‹ der Held zwischen einem Normalo- und einem Übermenschen-Modus hin und her (siehe Jeckyll & Hyde)? Und wenn ge-switcht wird, welche Umstände, Emotionen, Reize sorgen für einen kontrollierten bzw. unkonrollierten Wechsel?

Die eigentliche Schirmherrschaft über die gute Hexenbrut hat natürlich Prof. X inne, der Obermentor aller gutgesinnten Mutanten, die keine Pest für die Menschheit sein, sondern ihre Hexenbrutkräfte halt für’s ›Gute Wahre Schöne‹ einsetzten wollen. ›Master Carolus Javier’s Select College for the Sons- of Gentlefolk‹ heißt sein Mutantenstadel allerdings in der Renaissance. Zum ersten Mal bekomme ich den feinen Mottospruch von Xaviers Schule mit:

Omnia mutantur, nos est mutamur in illis.
Die Dinge ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen.

Es sind solche klaren, erhebenen Meme, weshalb ich das Superheldengenre für im Grunde ziemlich wertvoll halte. Zu den großen echten Mutationen, die wir alle durchmachen, gehört nun mal das Älterwerden, der Pupertäts-Übergangsritus vom Kind zum Erwachsenen. Ich denke, daß wer immer auch aus dem Tritt kommt durch erblühende Körperteile, sprießende Härchen und Hormentsunamis, kann sich spielerisch mit Fabelmenschen trösten. Das ist dann der wertvollste und schönste Aspekt der Superhelden: ihre einfachen aber kräftigen Maximen und Parabeln, über solche Dinge wie Verantwortung und Hoffnung.

Noch ein paar Einblicke in den Inhalt, damits nicht heißt, ich fasel hier nur deviant am Thema vorbei. — Ein bischen gegähnt hab ich, als wieder mal die Untergrund-Tempelritter einen Gegenstand von großer Macht aus Jerusalem nach Europa schmuggeln. Ein gutgelaunter blinder Barde (Daredevil) soll sich darum kümmern, daß diese goldene Kugel (siehe Platons Sonnengleichnis) nicht in falsche Hände gerät. — Aus der neuen Welt komm derweil Virigina Dare, die erste dort geborene Untertatin der Königin, zusammen mit ihrem Indianerbeschützer nach England. Virginia will um Hilfe für die Kolonie bitten; außerdem hat sie ein kleines Verwandlungsproblem. — Und es gibt fliegende Segelschiffe; Beobachter des Universums die sich verrenken, um nicht zu direkt in die Geschehnisse einzugreifen; in der Luft schwebende Mœbiusbänder die einen Raum-Zeit-Riss markieren; und vier ganz besonders ›fantastic‹ Helden, die aber erstmal einem Felsgefängnis entkommen müssen.

»Marvel 1602« würde ich am ehesten mit den mir bekannten »League of Extraodinary Gentleman« vergleichen, auch wenn »LGX« — die Comics! — um einiges wilder, bitterer, brutaler, sprich: was für ab 16 sind, wohingegen Gaimans Superhelden/Alternativhistorie definitiv ab 12 (wenn nicht sogar ab 6) ist. Damit will ich nicht sagen, daß »Marvel 1602« lasch und lahm ist. — Kinderkram kann sogar ziemlich ›hart‹ sein. Ich finde z.B. das die beiden »Schweinchen Babe«-Filme (nebenbei: ex-zel-len-te Phantastik) mit zu den härtesten Filmen der letzten 20 Jahren gehören (vor allem Teil 2 mit dem ›Hitlerhund‹; sowas wie »Rambo« oder jüngst »Poseidon« sind im Vergleich dazu harmlose Märchen), und die »Babe«-Filme haben, soweit ich weiß, gar keine Altersbeschränkung. (Bildungsbürgerappell: — Denkt darüber mal nach!)

Bleibt: das Comic ist zum Niederknien schön; die Zusamenarbeit von Andy Kubert (Bleistift) & R. Isanove (digitale Kolorierung) haut mich schlicht vom Hocker: der kunsthandwerkliche ›Vorsprung‹ der (grob vereinfacht gesagt:) Amis verblüfft mich immer wieder. — Aber besonders zum Fingerschlecken find ich die Einzelheft/Kapitelcovers von Scott McKowen, einem Kerl, der sonst eigentlich für z.B. Theaterplakate in New York bekannt ist. Für mich ist er der Star dieses Comics. Genial, dieses Plakat Romeo & Julia oder diese Kinderbuchgestaltungen (cooler Holmes, coole Alice!, und sogar eine gutgelaunte Heidi in den Alpen!!!).

Kleiner Gang durchs Comic:

  • 2 Seiten vorwortliche Einleitung von Kritiker und Comic-Akademiker Peter Sanderson (lehr »Comics als Literatur« and einer Uni in New York City);
  • 210 Seiten Comic in 8 Kapiteln (inkl. der Einzelheft-Covers);
  • 2 Seiten Nachwort von Master Gaiman (u.a. über das Vergnügen, an einem schönen Junitag Comics auf einem Boot in der Mitte eines Park-Sees zu lesen);
  • 14 Seiten mit dem Originalmanuspript von Gaiman von Heft/Kapitel No. 1;
  • 12 Seiten mit s/w-Bleistiftskizzen von Kubert;
  • 3 Seiten Erläuterungen von Master McKowen über die Covergestaltung;
  • 1 Seite farbiger Promo-Trailer mit teasernden Dramatis Personae (zumindest der Figuren, deren Auftauchen im Comic nicht als mittleres oder höheres Pa-Hö! und Ah-Ha! inszeniert wird).

Vorschau auf Molos Rezis in MAGIRA 2006 (mit Portraits)

Eintrag No. 273

EDIT 23. Aug. 2006:: Um Links zu Portaitgroßansichten und den einzelnen Rezis ergänzt. Fehlerchen gemerzt, um Links zu Büchern ergänzt.

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Mittlerweile ist »Magira – Jahrbuch zur Fantasy 2006« erschienen und die einzelnen Rezis (mit Anstandsverzögerung) auch in die Molochronik eingepflegt worden.
Nach meiner ›bösen‹ Rezi zu Tad Williams »Der Blumenkrieg« wollte ich (schon vor dem verständlichen Diss bei SF-Radio) diesmal auf gar keinen Fall von unangenehmen Lektüren berichten. Meckern kann ich zwar, aber es ist so öde. So gibts dieses Mal einen launischen Reisebericht über die seltsamen aber empfehlenswerten Bücher der Saison 2005/2006.
Die ganzen ca. 11.000 Worte sind wieder von Michael Scheuch und Herrman Ritter lektoriert worden (und Krischan Seipp durfte sich mit meinen Portrait-Illus herumschlagen). Hier findet der geneigte Leser das Introdubilo, die Überleitungs-Absätze.
Ich kann mich gar nicht genug bei den Genre-Kollegen und Genre-Freaks in den verschiedenen Foren die ich heimsuche bedanken. So manche Idee, Signatur, Ansichtssache hat mir beim Schreiben dieser launischen Empfehlungen geholfen.

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LAUNISCHE ABER AUFRICHTIGE EMPFEHLUBNGEN VON SELTSAMEN & VERWIRRENDEN FANTASYBÜCHERN DER PHANTASTIKSAISAON 2005/2006

»Ich sehe die Rezension als eine Art von Kinderkrankheiten an, die die neugeborenen Bücher mehr oder weniger befällt. Man hat Exempel, dass die gesündesten daran sterben, und die schwächlichen oft durch-kommen. Manche bekommen sie gar nicht. Man hat häufig versucht, ihnen durch Amulette von Vorrede und Dedikation vorzubeugen, oder sie gar durch eigene Urteile zu inokulieren, es hilft aber nicht immer.«

—Georg Christoph Lichtenberg, »Sudelheft J« (1718–1732)

—Was macht gute oder schlechte Phantastik aus? Wann sprießen wirklich neuartige Blüten im Garten der Fantasy und wann ist ›Fantasy‹ lediglich ’ne Karotte zum Erwartungsdirigieren und Treuekonditionieren von Konsumenteneseln? Wann wird an bestehende Traditionen erfrischend angeknüpft, und wann werden nur altbewährte Verführungstricks aufgefahren?

—Mensch Molo, lass doch den verkopften Quark und gib’ einfach Bescheid: ist ein Buch die Lappen, die ich dafür hinblätter wert, oder eben nich’? Überversimpelt gesagt, besteht im Beantworten solcher Fragen der Job eines Kritikers. Doch schaut man dazu am besten von einem fixen Standpunkt, z.B. als Torwächter auf die durchkommenden Bücherkarren aus den fraglichen Genregebieten, und lässt die Guten in die Stadtgemeinschaft passieren und weist die Unwürdigen ab; oder soll man versuchen, als Leuchtturmwärter den potentiellen Lesern Orientierungslicht zu spenden? Sicherlich sind solche statischeren Perspektiven auf Literatur und damit auch auf Teilgebiete wie Fantasy berechtigt und nützlich. Aber ich muss gestehen, dass ich mich dafür als zu skeptisch und sprunghaft einschätze, um auf brauchbare Art und Weise als Wache oder Leuchte zu dienen[01]. Ich will also im Folgenden versuchen, eine in ihrer Unaufgeräumtheit dennoch kurzweil-ige Sammelrezension anzubieten[02].

Aus den lebendigeren Gegenden des großen Kontinentes KONVENTIONA berichte ich, wie der geschickte Mythenimpressario Neil Gaiman, ein Konzert veranstaltet, indem er Spinnen Schöpfungslieder singen lässt, und wie Ian R. MacLeod mit Könnerschaft an gute alte europäische Prosatradition anknüpft, um vom ›Unbehagen in der beschleunigten Moderne‹ zu erzählen. Im verstreuten Inselreich AVANTGARDIEN wollte ich nicht versäumen zu erleben, wie China Miéville sein dreiteiliges ›gegen den Genre-Strich‹-Manöver mit rahmensprengender Vehemenz abschließt; und ich bin verblüfft vom artistischen Feinsinn Jeff Vandermeers, nachdem ich mich in seinem verführerischen, kompliziert-verspielten Narrationslabyrinth genüsslich verirrt habe.

Wenn man die üblichen Grenzen zwischen ›Trash‹ und ›Literatuuur‹ mal vergisst, ist es erstaunlich festzustellen, dass hierzulande gescheiter und lustvoller Genre-Fantasy betrieben wird, als man bei übler Laune schlecht reden kann. Da ›geb‹ ich lieber ›Zeitung‹ von einer mir neuen heimischen Fantasy-Hoffnung, und freue mich denn ‘nu auch besonders, wenn Lorenz Jäger für die noble FAZ den ›Schwert aber Nix-Magie‹-Fantasyroman eines jungen Berliner Buch- und Comicautors lobt. Der immer nach neuen Krassheiten gierende Äktschn-Freak in mir nimmt Jägers ›Warnung‹[03], dass

»Niemand dies Buch ohne Verstörung lesen können (wird)«,

hoffnungsvoll als Kauf- und Leseanreiz.

Tobias O Meißner: »DAS PARADIES DER SCHWERTER« –oder: Wenn der Autor auch mit dem Würfel schreibt.

Zur Rezi.

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Nach soviel wilden Blutstrudeln, Sprachbrechern und Metaphernriffen entlang der zerfledderten Küsten AVANTGARDISCHER Inseln, nun zu einem Autor, den ich seit Jahren als ›sicheren Hafen‹ zu schätzen weiß, weshalb er in meiner Lektüregeographie an den Gestaden KONVENTIONIAS gelegen ist.

Neil Gaiman: »ANANSI BOYS« –oder: »Die spinnen, die Götter«.

Zur Rezi.

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Wie überraschend und erfrischend der Einfluss von älterer oder auch neuerer Mainstreamschreibe für heutige Fantasy bzw. Phantastik sein kann, hat ja auch die vielgelobte Susanna Clarke mit ihrem voluminösen »Jonathan Strange & Mr. Norrell« vorgeführt[04]. Jetzt wäre es natürlich Blödsinn, wenn ich hier in einem Jahrbuch zur Fantasy Werke dafür lobte, dass sie Lesern von ›kanonischer Literatur‹ feine Fantasy-Ausflüge bereiten. Umgekehrt wird aber ein Schuh draus: Fantasy-Leser, die ihre Nase bisher gar nicht oder seltenst in alte Bücher gesteckt haben, können sich z.B. vom folgenden Titel anfixen lassen, öfter mal vermeintlich ›angestaubter‹ Literatur ‘ne Chance zu geben.

Ian R MacLeod: »AETHER« –oder: Vom melancholischen Leben im Takt der Maschinen.

Zur Rezi.

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Ian R. MacLeod macht keinen Hehl daraus, als junger Mensch von linken Hoffnungen erfüllt gewesen zu sein. Es sei ihm gegönnt, dass er sich als gereifter und desillusionierterer Mensch einer eleganten Verquickung aus Zorn und Melancholie hingibt. Vom ältesten zum jüngsten Autor dieser Sammelrezi: Was kommt dabei heraus, wenn ein Geek mit heftigst lodernder ›Sozi-Inbrunst‹ auf diesen bedrückten Gemütslagen eine kräftige Portion handgreiflicher und spekulativer Äktschn aussäht?

China Miéville: »DER EISERNE RAT« und Bas-Lag –oder: Wenn die ›Weird Fiction‹ revoluzzt.

Zur Rezi.

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Nach dem bombastischen Ausflug in die konfliktreiche Globalisierungsgeschichte einer phantastischen Zweitschöpfungswelt schließe ich meinen Reisebericht nun mit einem thematisch nicht minder gegenwartsbezüglichen, bis auf Einschübsel meist indirekter Art gänzlich urbanem Erzählungspuzzle. Der nächste Autor ist auch so einer, der meint, dass man als Künstler sowohl seine art pour art-Haltung pflegen, und zugleich trotzdem zeitgenössisch auf der Höhe sein, und politisch-gesellschaftlich relevante Fiktionen von vergnüglicher Reife zustande bringen kann. Aber schon der Titel dürfte anklingen lassen, dass ›gnostischere‹ Fantasy auf einen zukommt.

Jeff Vandermeer: »STADT DER HEILIGEN & VERRÜCKTEN« –oder: Kalmartentakel und Pilzsporen.

Zur Rezi.

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[01] —Vorsicht, nicht die Küste rempeln. ••• Zurück
[02] Darum wissend, dass ich selbst eine Virenschleuder für oben genannte ›Kinderkrankheiten‹ aus dem Reich der Meinungsschieberei bin. ••• Zurück
[04] Gwenda Bond stellt in ihrem Artikel für »Fantasy Goes Literary«
(»Novels with supernatural elements are finding a new readership«)

für Publishers Weekly Einschätzungen von Verlagen und Agenten zu diesem Phänomen vor. ••• Zurück

Der schönste Schlußsatz eines Buches

Eintrag No. 34 — Über Kumpel David wurde ich aufmerksam auf den Fragebogen ex Langeweile von Kollege DonDahlmann. Alle meine Antworten gibt es bald, aber hier ein Vorgeschmack, meine längste Antwort auf die Frage nach dem schönsten Schlußsatz eines Buches.

Nu denn...

Prinzipiell weiß ich lange Schlußformeln zu schätzen, doch das Der Demiurg ist ein Zwitter als Ende von »Die Andere Seite« bei Alfred Kubin drängelt sich immer wieder aufs höchste Treppchen meiner persönlichen Schlußsatzpokalverleihung. Aber es gäbe soviele Preise zu verleihen, ich will keine Zeit verliehren...

• Im Namen der Hessischen Drogenwohlfahrt spreche ich (posthum) Arthur Conan Doyle die Auszeichnung für sein bedröhntes Ausklingenlassen in »Das Zeichen der Vier« zu: »Mir«, erwiderte Sherlock »bleibt immer noch die Kokainflasche«, und er streckte seine lange, weiße Hand nach ihr aus.

• Die Spiralmusterplakette der Katholischen Psychonauten geht an Keith Gilbert Chesterton für »Der Mann der Donnerstag war«: Und in der Schwärze, die auf sein Bewußtsein herniedersank, vernahm er nur noch eine ferne Stimme, die einen abgedroschenen, schon irgendeinmal gehörten Satz vor sich hinsagte: »Können Sie aus der Tasse trinken, aus der ich trinke?«

• Für den Schlußsatz: Das ist ein Anfang. aus »Erledigt in Paris und London« von George Orwell, erwartet die Gesellschaft für Humanitäre Paradoxie eine Überweisung des Preisgeldes vom Konto der Orwell-Rechteinhaber auf das Konto der GHP in Höhe von nicht weniger als 10 Euro.

• Der Preis des Klassikerlesezirkels der Deutschen Pathologen für ›Leiche mit Pathos am Buchende‹, geht an Victor Hugo für »Der Glöckner von Notre-Dame«: Als man sein Gerippe von demjenigen trennen wollte, das er umschlang, zerfiel es in Staub.

• Für »Thank goodness!« said Bilbo laughing, and handed him the tobacco-jar. bekommt »The Hobbit« von J. R. R. Tolkien die Auszeichnung Besonders Wertvoll des Pädagogischen Verbandes Europäischer Tabakwarenhersteller.

• Neil Gaiman erhält die Goldene Nadel der Arkadischen Guerilla (Zelle Frankfurt) für: And they walked away, together through the hole in the wall, back into the darkness, leaving nothing behind them; not even the doorway. aus »Neverwhere«.

• Die Stiftung der Erbengemeinschaft Molosovsky vergibt den Amœnokratische-Zukunft-Preis an François Marie Arout aka. Voltaire für: »Wohl gesprochen«, erwiderte Candide, »nun aber müssen wir unseren Garten bestellen.« aus »Candide oder Der Glaube an die Beste aller Welten«.

• Den dritten Platz für ein feines weitschweifiges Ende ergatterte Baltasar Gracian für seinen Schlußsatz aus »Das Kritikon«: Was sie dort zu Gesichte bekamen, welche Genüsse sie dort erwarteten, wer das wissen und erfahren möchte, der gehe selbst Richtung Tugend und Vortrefflichkeit, Richtung Tapferkeit und Heldentum, und er wird am Ende zum Schauplatz der FAMA gelangen, zum Thron der Hochschätzung und mitten hinein ins immer währende Leben.

• Auf dem zweiten Platz für ein geiles weitschweifiges Ende gelangte Arno Ethymhansel Schmidt mit seinem »Gadir oder Erkenne dich selbst«: So schreibt Abdichiba, der Knecht der Knechte vor den großen Suffeten, ich schlage die Stufen Deines Stuhles mit meiner niedrigen Stirn, mein Rücken sei Dein Schemel; gebiete über mich und mein Haus, meine Weiber, meine Töchter und Sklavinnen, meine Söhne, meine Knechte, mein Vieh, mein Vermögen, gebiete über alles, o Liebling des Moloch, o Wonne der Gerechten, Du mein Herr! -

• Hans Pleschinski erhält für das Ende von »Pest und Moor« den ersten Preis. Da klammerte sich in Felljacken und Pelzen Alt und Jung, Groß und Klein, da rieb es sich gaßauf, gaßab, daß der weiße Atem aus den Mündern quoll, ungestüm waren die Bäckersfrauen an den Rücken der Waschweiber zugange, scheuerten die Winterjoppen der Stellmacher über die bunten Joppen der Färber, die Pelzbäuche der Augustiner über die Ärsche der Stadtwache, da blitzen die Funkengarben so wild durch die Luft, daß der Tod geblendet davon die Augen schloß und es durch seinen Schädel tönen hörte: »Los, alles enger zusammen, ja, reib dich feste! Feste!«

••••• {EDIT: Neu formatiert und dabei einige Schlampereien gemerzt.}

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