Jürgen Lodemann: »Siegfried und Krimhild« oder: Aus der Mitte Europas
Eintrag No. 259
Zuerst erschienen in »
MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. —
EDIT: Um Autorenportrait ergänzt und Formatierung verbessert am 31. Mai 2008.
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Die älteste Geschichte aus der Mitte Europas
im 5. Jahrhundert notiert, teils lateinisch, teils in der Volkssprache,
ins irische Keltisch übertragen
von Kilian Hilarus von Kilmacduagh
im 19. Jahrhundert von John Schazman ins Englische,
ins Deutsche übersetzt, mit den wahrscheinlichen Quellen
verglichen und mit Erläuterungen versehen
von Jürgen Lodemann
So lautet der komplette Nebentitel dieser großartigen Neufassung der Geschichte des Nibelungenlieds. Kilian und Schazman sind dabei ebenso fiktiv, wie die durch sie auf Lodemann gekommene Urfassung der Nibelungen.
Zwanzig Jahre Recherchen und Schreibarbeit hat Jürgen Lodemann (1936) in den Roman »Siegfried und Krimhild« investiert. Er ist sonst eher bekannt als Gründer der SWF-Bestenliste, einer meinungsgeben Plattform im deutschen Literaturbetrieb.
Da freu ich mich freilich, wenn ein solch repektabler Autor noch dazu mit den nötigen Schreibmuskeln gesegnet geduldig der Forderung Goethes nachkommt, aus den Nibelungen ein spannendes Volksbuch zu machen. Früh schon erkannten damals begeisterte Leser, daß man diese »älteste Geschichte aus der Mitte Europas« in einer Liga mit den großen Stoffen der Antike anzusiedeln kann.
Jedoch: Krasse Verdrehung wie der Mär von der Nibelungentreue der Nazis oder völlige Entleerung wie bei der Wormser Festspiel-Wurschtigkeit läßt bis heute für viele eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Epos anrüchig und suspekt erscheinen. Obwohl ihm das von einigen Kritikern attestiert wird, stellt Lodemanns Buch aber keine simple Gegenüberstellung von widersprechenden Weltauffassungen dar.
Das seit Umberto Ecos »Der Name der Rose« bewährte (postmoderne) Verfahren der Vermengung von Fakten mit fiktiven Quellen nutzt Lodemann, um seine politischen und dramatischen Spekulation enger am Ideal historischer Authenzität entlang zu gestalten.
Die Szenenfolge der Geschichte stehen ja fest: Siegfrieds Heldentaten im Dienste des Wormser Hofes; seine Liebe zu Krimhild und die Beihilfe, die er ihrem Bruders Gunther bei der Brautwerbung um Brünhilde leistet; die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Bräuten Krimhild und Brünhild; der Verrat an Siegfried und seine Ermordung durch den Wormser Heermeister Hagen; der Wahnsinn der trauernden Krimhild und ihre Heirat mit Etzel; Krimhilds Rache an den Mördern Siegfrieds und das Blutbadfinale im Saalbrand. So klar die Taten beschrieben sind, so unklar bleiben größtenteils bis heute die Beweggründe der Figuren, die Hintergründe der Geschehnisse. Eine (eindeutige) Urfassung aus der Zeit der Ereignisse wird zwar von der seriösen Forschung inzwischen als sehr wahrscheinlich angenommen, aber (noch) ist sie nicht gefunden worden. So schildern die drei bedeutendsten der uns bekannten Quellen aus der Zeit um 1200 bereits zeitgeschichtlich gefärbte Versionen der Geschichte, z.B. lassen sie Siegfried mal als naiven Gutmenschen, mal als heidnischen Tölpel erscheinen.
Die Deutung der Ereignisse, die Lodemann anbietet, ist so unerhört und abwegig nicht. Auf der einen Seite stehen die lateinisch-christlichen Herren, auf der anderen die Heiden von jenseits der Reste des römischen Reiches. Das Machtstreben der heiligen Mutter Kirche und die Nulltoleranz gegenüber naturreligiösen Freidenkern bietet eine Schnur, auf der Lodemann die einzelnen Stationen des Nibelungenliedes überzeugend aufzufädeln weiß. Die politische These und Tendenz des Buches manifestiert sich vielleicht am klarsten in der einzigen großen Hinzudichtung von Lodemann, Bischof Ringwolf, dem eigentlichen Machthaber zu Worms.
Der zweifarbige Schriftsatz (wie eine Simultanübersetzerstimme folgen in Rot die Übersetzungen etwa lateinischer Begriffe, sowie geographische, geschichtliche, mythologische und ethymologische Erläuterungen) ist gewöhnungsbedürftig, macht das Buch aber nebenbei zu einer unterhaltsamen gegenwartsbezogenen Gesellschaftskritik. Zumindest ich kann nicht sagen, daß Lodemann sich ein endgültiges, einseitiges Urteil gönnt sich , vielmehr hütet er sich aus den geschilderten Gegensätzen einen manichäischen Konflikt zu machen und läßt das Heldentaten-Buch, die Megatragödie melancholisch und ehrfürchtig ausklingen.
Diese Nibelungen sind mehr als eine willkürliche Vermengung von wilden Helden- und blutrünstigen Rachegeschichten. Bemerkenswert ist zudem, mit welch großer Sprachfreude und atemberaubender Vorstellungskraft »Siegfried und Krimhild« geschrieben ist. Hier wird spannend und kenntnisreich sichtbar gemacht — und nichts anderes bedeutet das Wort ›phantastisch‹.
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Siegfried und Krimhild: Zweifarbige Typographie; 886 Seiten.
Gebunden mit Lesebändchen; Klett-Cotta, Stuttgart 2002; ISBN: 978-3-608-93548-6
Taschenbuch bei DTV, München 2005; ISBN: 978-3-423-13359-3
Molosovsky ist unterwegs in Ambra
Eintrag No. 249 — Ein Hoch auf den Klett-Cotta Verlag, der mich in dieser Saison mit zwei wundervollen neuen Phantastik-Büchern beglückt: einmal Ian R. McLeods »Aether« (einem wunderschönen Bildungs- Karriereroman in einer viktorianischen Alternativwelt mit Klassenkampf & Zeitenwende, Magie, ›Gothik Novel‹- & ›Steampunk‹-Elementen), und Jeff VanderMeers »Die Stadt der Heiligen und Verrückten« (fürderhin: »SHV«).
Wenn man ›Fantasy‹ in Traditionen zu teilen gewillt, bemüßigt oder geneigt ist, dann disputiert man früher oder später über solche Gegensätze wie ›J.R.R. Tolkien vs. China Miéville‹ (wie ich vor Kurzem bei Bibliotheka Phantastika) — da bin ich nun sehr froh, daß sich VanderMeers kapitalen Phantastik-Werk (das in vielerlei Hinsicht meinen ›feuchten Träumen‹ von richtig feiner Phantastik entspricht) bisher mit außergewöhnlicher Begeisterung gewidmet wird.
Die F.A.Z. fährt bei mir fett Goodie-Points ein, da dort der geschätzte Dietmar Dath »SHV« bejubelt (09. Dez. 2005, S. 34:)
»Man darf dieses vielstimmig erzählte, auf durchaus unheimliche Weise luxuriöse Buch ruhig dem Fantasy-Genre zuschlagen. Man sollte sich aber nicht darüber täuschen, was das in diesem Fall bedeutet: Die vielen Fakten über Ambras Straßen und Türme, Plätze und Auswegslosigkeiten dienen ganz und gar nicht demselben Zweck, wie etwa die Exkurse, die J.R.R. Tolkien im Gewebe seines ›Herren der Ringe‹ über die Herkunft von Pfeifen oder die Dialekte erfundener Sprachen einflicht. Wo nämlich bei den Schöpfungen der Neomythologen vom tolkienschen Schlag die Sachtext-Splitter immer eine Vertiefung und Festigung der Illusion bezwecken, man befände sich in einer runden, geschlossenen anderen Welt, frißt das Morbide, ›nach stockfleckigem Papier‹ riechende, von ›extremer Gicht‹ und Wahnsinn Angekränkelte in den Dokumenten aus VanderMeers magischer Stadt gerade den Traumbildcharakter des Ganze an. Dieser Dichter will eben nicht das Stimmige und Runde, sonders Ausgefranste und ontologisch Dubiose darstellen.« {…} »Wie immer bei den bestechensten phantastischen Texten ist es vielmehr gerade nicht die blühende Ausgedachtheit des Erzählten, was beeindruckt, sondern die Vielzahl der erstaunlichen Momente, an denen sich das Vermögen der Phantastik enthüllt, den sturen alten Konkurrenten ›Realismus‹ auf seiner Bahn am Rand der Tatsachen sozusagen links zu überholen und ein Bild von der Wirklichkeit zu entwerfern, das man als stimmiger und wahrer erlebt als das bloß brav abgemalte.«
Wobei ich hier einen kleinen Einspruch anbringen muß, denn ›abgemalter (schaler) Realismus‹ und ›erstaunliche (stimmige) Phantastik‹ erscheint mir eine zu vage Umschreibung, für die Gegensätzlichkeit der beiden erwähnten Fiktions-Praktiken. Egal ob eine Fiktionswelt die Gesetze und Bedingungen unserer ›Echtwelt‹ nicht überschreitet, oder darüber hinaus phantastische Unmöglichkeiten erfindet, beide Arten von ausgedachten Geschichten gehen von unserer ›normalen‹ Echtwelt aus. Sonst ließe sich kein verständlicher Text schreiben oder lesen. Für mich sind z. B. »Finnegans Wake« oder der »Codex Serafinianus« Extremwerke, die sehr anschaulich und spannend größtmögliche Argheit an Devianz vom ›normalen Realismus‹ oder auch ›verständlichen Fiktionen‹ anstreben.
Und in der neuesten Ausgabe von Alien Contact gibt im Interview mit Peter Wild der Dichter selbst noch Zunder für ein amœnokratisches Auffackeln von Phantastik:
»Im Hintergrund all meiner Geschichten steht die Subjektivität der Welt. Die Geschichte an sich ist subjektiv — alles außer Namen, Daten und anderen grundlegenden Elementen wird aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet und vorsortiert, jedem Bericht liegt ein bestimmter Standpunkt zugrunde, und damit ist er subjektiv. Daraus entstehen fiktive Texte, die wir als Sachtexte behandeln. Das ist jetzt nicht sonderlich neu, aber dieses Wissen auf eigentliche Erzähltexte anzuwenden — das könnte sehr wohl etwas Neues sein ... ich glaube, in der Welt herrscht eine Art natürliche Spannung, die von dieser Vielzahl unterschiedlicher Standpunkte verursacht wird, von denen aus jeder angeblich objektive Vorfall betrachtet werden kann. Wenn ich den Blickwinkel wechsle, dann deswegen, weil man, um in fiktiven Texten zu irgendeiner Form von »Wahrheit« zu gelangen, jede allein gültige Wahrheit scheuen muss. Um ›Realität‹ und ›Phantasie‹ miteinander zu verschmelzen, muss man mehrere Spezialisten nach ihrer Meinung fragen und sie dann aufeinander loslassen.«
Ach, bei solchen Gedanken blüht mein Herz auf. Auch wenn Schlingel Jeff durchaus ein bischen arg so tut, als ob er der Erste währe, der sich humorvoll und unterhaltend solcher Metatext-Inversionen und -Verwieise in ›Genre‹-Phantastik-Sphären bedient. Ich mein, wer heutzutage um die Dreissig ist, muß schon am Arsch der Welt dahinvegiert haben oder weitetstgehend unverspielt sein, wenn er noch nie was von kommerziellen Unterhaltungs-Rollenspielen mitbekommen hat. In Spiel-Charaktere schlüpft man nicht erst, seit es Konsolen- und PC-Games gibt. In Zeiten, als die digitalen Welten noch superprimitiv durch ASCI-Zeichen dargestellt wurden, hat man analog mit Charakterblättern, Lageplänen und Zinnfiguren (sowie einem beliebig monströs erweiterbaren Fundus an Ereignis-Tabellen, Hintergrundinfos, Hand-Outs* bis hin zu Mukke, Raumathmo und verbundenen Augen) das gemeinsame (sic!) Fabulieren in narrativen VRs betrieben. Rollenspieler kennen das In- und Nebeneinander von ›narrativer Fiktion‹ (Story) und ›Sachtext-Fiktion‹ (Enzy) entsprechend aus ihren Regel- und Kultur-, Monster-, Charakter-, Abenteuer-, Ausrüstungs-Handbüchern. Vor allem seit einer kleinen Kulturrevolution auf dem Gebiet der Rollenspiele, die sich in so ohngefähr in den Grundge-Zeiten Anfangs der Neunziger abspielte; White Wolf fuhr Erfolge mit seinen dezidiert als ›Storytelling Game‹ titulierten »World of Darness«-Reihen ein. Da gibts dann schon mal das ein oder andere besondere Buch, das keine spieltechnischen Regeln enthält, als vielmehr als Enzy-Artefakt auftritt (»Book of Nod« aus dem »Vampire: The Masquerade«-System ist mir noch in Erinnerung). Auf dem Gebiet der Comics fällt mir die wunderbaren und äußerst schönen Werke von Francois Schuiten und Benoit Peeters ein, den besten Überblick (oder die tiefste Verwirrung) bietet deren »Reiseführer zu den Geheimnisvollen Städten«. — Ich knie nieder vor VanderMeer, weil er als Prosaist selbst Gefallen an Buch-Artefakten bekundet, und auch den Mut hat, so ein aus der Phantasie-Welt übergreifendes Artefakt anzubieten.
* siehe Borges: »Tlön, Uqbar, Orbis, Tertius«, z.B. in »Fiktionen«, Fischer TB 1992.
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Mehr zu Jeff VanderMeer:
• Einführung von Jeffrey Ford;
• Jeff VanderMeer: Making Of »Die Stadt der Heiligen & Verrückten« Teil Eins und Teil Zwei;
• dito : »Exponat H«;
• dito: »Die Geschichte der Knochenschnitzer«;
• Rezi von SF-Leszikel-Kammeraden Jakob Schmidt.
• Wunderbare Leseprobe des Beginns von »Hoegbottons Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra von Duncan Shriek«
EDIT: Kleine Ergänzungen und Satzbügelein.
Lesende Weltenwanderer
(Gesellschaft, Phantastik) — Bücher SIND (buchstäblich) magische Gegenstände: sie ermöglichen uns Kontakte mit entfernten und verstorbenen Menschen. Allein beim Lesen, und doch zusammen mit einem kleinen Fruchtprodukt eines anderen Menschen, egal, wo der im Augenblick als Person sein mag. Schriftzeichen reihen sich aneinander, sprechen zum Leser, erzählen, beschreiben, argumentieren — und graphische Elemente erhellen als optische Ideen- und Zeitkapseln die Bleiwüste der Lettern.
Ganz schnell der Hinweis, daß ich mich seit kurzem auch bei Bibliotheka Phantastika herumtreibe. BibPhant ist eine der besten deutschsprachigen Seiten zu phatastischer Literatur, spezieller zur Fantasy. Viele Rezensionen, interessante Theorie-Texte und ein sehr munteres und angenehmes Forum bietet die Seite.
Neben meiner Vorstellung im Forum hab ich mich zuerst der Klassiker-Problematik gewidmet und meine (recht grobe und willkürliche) Top Ten an Phantastik BIS J. R. R. Tolkien (also bis zum Ende der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts) geliefert. Aus einer Bemerkung von mir über meine Tolkien-Skepsis, die ich fauler Sack anhand eines Links auf China Miévilles Text »MITTELERDE TRIFFT AUF MITTELENGLAND — Eine sozialistische Tolkienbetrachtung« verdeutlichen wollte, entstand dann der mittlerweile über 50 Seiten lange Thread »China Miéville vs JRR Tolkien«. Auf diesen langen ›Über Gott und die Welt‹-Thread folgten nun weitere Threads, und meine letzte Antwort in »Welchen Nerv trifft Tolkien/Fantasy?« möcht ich hier auch den Molochronik-Lesern anbieten, da ich dabei auf zwei aktuelle Magazine verweisen kann.
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Stichpunktartig meine Zusammenfassung von Norbert Bolz seinem Beitrag im »Cicero« 12/2005.
Ich meinte ja, das dies Teichs Frage vielleicht beantwortet:
Welchen Nerv trifft Tolkien/Fantasy allgemein und welche Umstände in unserer Gesellschaft führen dazu, das scheinbar immer mehr Fantasy gelesen/geschaut wird?
»Warum Brown und Potter?« soll wohl dem Cicero-Leser eine Draufsicht-Erklärung bieten, warum (eine gewisse) Phantastik so populär ist. In einem Kasten hats die 10 erfolgreichsten Bücher des 2005er-Jahres: Sechs Titel sind Genre-Kernbereich (Brown mit »Sakrileg« und »Diabolus«, Rowling mit HP6, Schätzing mit »Schwarm«, Funke mit »Tintenblut«, Colfer mit »Artemis Foul«), drei weitere rechne ich zum Randgebiet der Phantastik (Coelho mit »Zahir«, Lelord mit »Hectors Reise« und Leon mit einem Brunetti-Krimi†) und nur ein Titel der kaum phantastisch ist (Fröhlich mit »Familienpackung«).
† Warum Donna Leon für mich sehr Phantastik-ähnlich ist: weil Krimi als Genre viele Gemeinsamkeiten mit anderen U-Genres hat; und Venedig ist für viele Leser sicherlich genauso gut als Exotik vergnüglich, wie erfundene Welten. — Zudem ist Brunetti eine Serie, also auch bessere Soap. Viel Genre-Phantastik kommt als Serie mit mehr oder minderen Soap-Charakter daher.
Der Nebentitel des Bolz-Beitrages lautet »Die Konjunktur der Deutungsmächtigen in einer entzauberten Welt«. — Auch Bolz umschreibt also die Moderne und Aufklärung als Entzauberung. Er schreibt:
»Im Zeitalter der Informationsüberlastung wird Bedeutsamkeit zum ultimativen Luxus.« … »Wir erinnern uns: Aufklärung bedeutet Enttäuschung††. Der Prozess der Wissenschaft beraubte uns der Einfachheiten und Naivitäten.«
†† Man beachte den Doppelsinn: ›Enttäuschung‹ als was trauriges, weil sich etwas nicht erfüllt, vertrauen gebrochen wurde und ›Ent-täuschung‹ als etwas Befreiendes, Klärendes, Durchschauendes.
Die Welt ist also im Fortgang der Moderne gehörig komplizierter geworden, das Leben wurde zwar durch allerlei ›Schnickschnack‹ erleichtert, aber insgesammt alles andere als einfacher. Überall wimmelt es von Zeichen, Symbolen und Bedeutungen, alles mögliche will gewartet, programmiert, mit persönlichen Einstellungen versehen werden.
Bolz führt — wie ich finde sehr richtig — den Detektiv und Spion als die neue Archetypen der Moderne an, denn sie…
»üben die neue Optik des Dechifrierens ein. Nun erscheint uns die Welt nicht mehr als vertrauter Horiziont, sondern als unverstandener Text. Und der Kryptologe, der Code-Brecher wird zum Helden der modernen Welt. Wo wir nur sinnlose Daten und Zeichen sehen, zaubert er Bedeutung hervor.«
Das gilt auch für Genre-Leser oder Phantastik-Leser. Jeder Leser entschlüsselt beim Lesen. Und Fantasy-Welten verlangen einiges Geschick vom Leser, wenn er sich mit all den exotischen und fremdartigen Dingen was Sinnvolles vorstellen will.
Dieser Zugang zu Bedeutung, Wahrheit fasziniert. Symbole zuordnen zu können, die Kompliziertheiten der Welt aufgedröselt zu bekommen, wie dies eben Brown-Held ›Symbologe‹ Robert Langdon macht, oder die Gut-Böse-Milieus von Fantasywelten a la Potter (oder Tolkien) vorführen.
Bolz wertet diese Angebote als
»›Heilmittel‹ gegen das Chaos, gegen die Regellosigkeit und Unübersichtlichkeit unserer Welt«
und meint zum Ende:
»Uns fehlt heute die Horizontbegrenzung, die früher der Mythos leistete; also das was Nietzsche als ›umhüllenden Wahn‹ bezeichnet hat. Und wir spühren heute, das uns ein funktionales Äquivalent für die Mythen fehlt, die Wache an der Grenze zum Unvertrautem hielten. Gegen die Entzauberung der modernen Welt durch Wissenschaft und Technik setzt ein Marketing heute auf Strategien der ästhetischen Wiederberzeuberung. {…} Das religiöse Bedürfniss siedelt sich auf dem Ulterhaltungsmarkt an — in einer Welt der Magie, des Totemismus und Fetischismus.«
Da ballt sich einiges, und mag ein bischen schwurbelig klingen. Je nachdem, wie man ›Religion‹ und ›Mythos‹, ›Fetischismus‹ usw versteht, kann man diese Bolz-Sätze ganz schon respektlos deuten oder quer in den Hals kriegen. Ich les so was meist mit großer Gutmütigkeit.
Ergänzend dazu ein weiterer aktueller Lese-Tip:
Die aktuelle Ausgabe von »Literaturen« widmet sich dem Glauben, und bietet Herrn Safranskis knappe Unterscheidung zu ›heißer‹ und ›kalter‹ Religiösität an:
»In der christlichen Überlieferung kommt alles darauf an, dass Gott ein transmundanes, weltjenseitiges Etwas ist: eine Größe, die es mir erlaubt, im Akt des Glaubens in der Welt zu sein, aber ganau diesen Schritt des Transzendierens vollziehen zu können. Und es gibt eine ganz andere Art von Religiosität, die ehr monistisch verfasst ist. Ihr geht es darum, eine Vertiefung der Erfahrung zu ermöglichen, die uns an den Weltengrund bringt, der in uns selbst als Spiritualität enthalten ist.«
Entsprechend denkt Safranski nicht, daß das neue Interesse an Religion den Offenbahrungsreligionen gilt, sondern
»ehr einer psychotechnischen Religiosität. {…} Jeder bastelt im Hobbykeller seine eigene Religiosität mit esoterischen Einschlägen.«
Unterm Strich: als Hobby-Semiotiker interssieren mich schon läger diese Übergänge aus Zeichendeutungs-Freude und Sinnmach-Systemen. Phantastik-Literatur und ihre Genres bieten wunderbare Übungs- und Unterhaltungsparkours zum Deuten und Sinn-Ausprobieren an. Ich stimme hierbei Eco zu, daß
»Indem wir Romane lesen, entrinnen wir der Angst, die uns überfällt, wenn wir etwas Wahres über die Welt sagen wollen.«
Entsprechend möchte ich auch Bolz widersprechen, wenn er sagt, daß es heute so gar keine funktionalen Mythen gibt. Ich sage: sie machen sich schon seit seit einiger Zeit immer mehr im Mainstream breit (indikatorisch für mich die ersten Generationen, die mit Blockbuster-, Serialien-Stories, RPG-Welten, Computer-Spielen aufgewachsen sind). Auch geforscht wird dazu, z.B. bezüglich Subkulturen und Urbanen Legenden.
Die Genres selbst zeigen grobe Bereichsumgrenzungen der modernen Mythen: Agenten, Spione, Piloten, Prospektoren, Wissenschaftler aller Art (vor allem solche, die mit Seltsamkeiten in Kontakt kommen, wie Zoologen, Geologen, Ethnologen, Quantenschieber usw). Räuber und Gendarm treiben sich verwandelt ebenfalls noch im Mainstreambereich herum, ebenso die Reichen und Schönen sowie die Ausgestoßenen und Verdammten.
Safranskis Religiositäts-Unterscheidung kommentier ich im Geiste u.a. so: ›kalt‹ ist individualisierte Spiritualität nicht nur, weil ›wir Konsumenten und Hobbysinnmachmaschinen-Bossler‹ zwischen der eigenen Spiritualität und der rational-sekular formatierten Gesellschaftverfassung unterscheiden, und uns vom Absolutheitsanspruch (auch Ausrichtung des Lebens, der Gesellschaft nach spirituellen Richtlinien) distanzieren; ›kalt‹ ist diese auf dem Markt und in Fan-Kreisen gehandelte Spiritualität auch deshalb, weil an ihr Firmen als unterhaltungsindustrielle Teilnehmer mitgestalten.
Einen Ausblick, was das auch bedeutet, bietet der Artikel »Der Mensch als Tourist« von Krystian Woznicki bei Telepolis.
Von Bolz und Safranski (oder anderen öffentlichen Deutern) kann man halten was man will. Safranski schätz ich schon (gute Schopenhauer-Bio von ihm gelesen), Bolz kenn ich nur von kurzen Texten. Beide dünken mir aber ganz interessante, moderne Köpfe in einem sonst doch mMn recht biederen intellektuellen Medien-Milieu.
»Ich mach mir die Welt, wiediwidi-wie sie mir gefällt.« — Ganz so einfach ist das zwar nicht, aber es ist eine gute Praxiseinstellung.
Molosovsky ist wohl ein Geek…
… und ›Geek‹ ist umgangssprachliches Englisch für ›Streber, Stubenhocker‹ (erwachsene Geeks werden oft irre Wissenschaftler u.ä.. Die meisten Bond-Bösewichter von Dr. No über Goldfinger bis zu Bloomfeld sind Geeks auf Abwegen).
Eintrag No. 241 — Was lesen Geeks so? Das hat eine Umfrage des GuardianTechnologyBlog herauszubekommen versucht, wie ich über das SF-Netzwerk erfahren habe. Naja, ungefähr hundert Hanseln haben beim Guardian abgestimmt. So wahnsinnig Wirklichkeitsabbildend ist die Umfrage also nicht. Aber ich war (mal wieder) überrascht, daß ich offenbar mehr mit dem anglo-amerikanischen Geek-Kanon anfangen kann, als mit dem deutschsprachigen der hiesigen Gegenwart (wenn ich da an entsprechende Umfragen denke, deren Gewinner dieses LOTR-Werk vom ollen Tolkien war usw ect pp.).
Hier die vom Guardian ermittelten Top 20 der Geek-Literatur:
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»The HitchHiker's Guide to the Galaxy« von Douglas Adams — Klassiker; sollte weltweit Schullektüre ab der 4. Klasse sein.
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»Nineteen Eighty-Four« von George Orwell — Klassiker; eines meiner Lieblingsbücher. Vor allem die Ideen über Newspeech fand ich als Teen anregend.
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»Brave New World« von Aldous Huxley — Klassiker, wenn auch nicht unbedingt meiner. Ich habs als Frühtwenn auf Deutsch gelesen und fands etwas zäh.
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»Do Androids Dream of Electric Sheep?« von Philip Dick — War die Vorlage für den Film »Blade Runner«.
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»Neuromancer« von William Gibson — Gilt als Klassiker, zumindest wichtiger Titel des Cyberpunk-Genres. Die politischen, wirtschaftlichen Aspekte fand auch ich erfrischend, aber die Sprache (zumindest der Übersetzung) gefiel mir so gar nicht.
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»Dune« von Frank Herbert — Wüstenplanet-Reihe bis Band 3 oder 4 gelesen. Nicht meins; zuviel Militär- und Religionszeug, noch dazu mit lauter Aristokraten-Fuzzis. Band eins läßt sich als Space-Fantasy noch ganz nett an. Find den Film von David Lynch besser als das Buch.
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»I, Robot« von Isaac Asimov — Soweit ich mich erinnern kann eine Kurzgeschichtensammlung. Ist mir als fad in Erinnerung geblieben.
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»Foundation« von Isaac Asimov — Oberfad. Einmal Gibbons »Aufstieg & Untergang des Römischen Reiches« ins Weltall versetzt.
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»The Colour of Magic« von Terry Pratchett — Eines der (noch) schwachen Scheibenweltbücher; nette Parodie auf 08/15-Fantasy.
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»Microserfs« von Douglas Coupland — Klassiker; wunderbares Buch über Programmierer-WGs, den Microsoft-Campus und die Schnittstelle Mensch-Technik.
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»Snow Crash« von Neal Stephenson — Äktschnreiches Aufeinanderprallen von babylonischer Mythologie und Virtueller Wirklichkeit.
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»Watchmen« von Alan Moore & Dave Gibbons — Klassiker; eines der besten Werke über die grundlegenden Stimmungslagen des Übergangs vom Industrie- zum Informationszeitalter.
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»Cryptonomicon« von Neal Stephenson — Bin ich noch am Lesen und mach derzeit ca. in der Mitte des Buches eine Pause. Sehr fein, wie Stephenson den Leser an der Gedankenwelt einen Mathematik-Geeks teilhaben läßt.
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»Consider Phlebas« von Iain M Banks — (Noch nicht) gelesen.
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»Stranger in a Strange Land« von Robert Heinlein — Interessiert mich nicht.
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»The Man in the High Castle« von Philip K Dick — Als Teen mal bei einem Kumpel reingeblättert. Les ich irgendwann mal, wenn ich alle Kurzgeschichten von Dick durch hab.
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»American Gods« von Neil Gaiman — Schönes Buch über das Ringen von alten und neuen Götterbanden im heutigen Amerika.
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»The Diamond Age« von Neal Stephenson — Für mich ein Klassiker. Stephenson ist so gut, daß man seine Bücher kaum im deutschen Literaturblätterwald besprochen findet.
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»The Illuminatus! Trilogy« von Robert Shea & Robert Anton Wilson — Lustiges Durcheinander aus ›Sex, Drugs & Rock'n Roll‹, Weltverschwörung, Eso-Kram, Agentenschnmu und manch anderem Deviantem. Soweit ich weiß, haben Bücher wie dieses im anglo-amerikanischen die ›Pop-Literatur‹ geprägt. Wenn ich das mal mit dem langweiligen ›Bälger aus besserem Haus-Ödkram‹ vergleiche, den man bei uns als Pop-Literatur handelt, wird mir flau.
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»Trouble with Lichen« von John Wyndham — Kenn ich nicht.
Molosovsky und der Science Fiction-Lesezirkel
Eintrag No. 236 — Seit 2005 schreib ich beim SF-Lesezirkel von SF-Netzwerk mit. Abwechselnd nimmt man sich dort mal eine Neuerscheinung, mal einen Klassiker des (schon auch mal im weiteren Sinne so verstandenen) Science Fiction-Genres zur Brust. Allein das ist aufregend und ermuntert mich, monatlich das SF-Angebot zu durchforsten und über Kauflust-Fragen zu reflektieren, wenn die kommenden Lesezirkel-Titel gemeinsam vorgeschlagen und gewählt werden.
Soweit ich das beurteilen kann, nehme ich dort zumeist die Rolle des überspannten, launischen und devianten Lesers ein. Ich kann halt nicht verleugnen, daß mich sowohl sogenannte ›ernste und anspruchsvolle Kunst‹ als auch und sogenannter ›Plup-, Trash- und Kult-Kram‹ geprägt hat.
Als jemand, der sich für das Phantasieren der Menschen aller Zeiten und Kulturen interessiert, muß ich zugeben, daß ich mich in einem SF-Lesezirkel ein wenig fühle wie ein U-Boot fühle, denn meine ästhetischen Vorlieben gelten eben nicht vornehmlich der Science Fiction. Die angenehme Athmosphäre bei SF-Netzwerk mit den freundlich-gewitzten Lesezirkel-Mitlesern (einige von ihnen haben nun auch ein Blog-Zuhause bei SF-Netzwerk), haben mich dazu bewogen, mich nun schon seit zehn Monaten näher dem Strang der SF des endlos geflochtenen Phantastik-Geflechts aus Science Fiction, Horror & Fantasy zu widmen.
Zu den häufig gestellten Fragen (FAQ) des SF-Lesezirkels.
Die Zahl nach dem Titel entspricht meiner Wertung auf einer Skala von Null bis Neun. Eine Erklärung der Werteskala findet sich bei der Übersicht meiner Bewertungen von SF- und Phantastik-Filmen in der Film-Datenbank von SF-Netzwerk.
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Januar — Novität: Matt Ruff: »Ich und die anderen« (Set This House In Order — A romance of souls) 9
Zu Molosovskys Rezension ••• Zum Lesezirkel ••• Zum DB-Eintrag
Februar — Klassiker: H. G. Wells: »Menschen, Göttern gleich« (Men Like Gods) 6
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
März — Novität: Charles Stross: »Singularität« (Singularity) 4
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
April — Klassiker: Gebrüder Strugatzi: »Picknick am Wegesrand« 7
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
Mai — Novität: Justina Robson: »Der Verschmelzung« (Natural History) 7
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
Juni — Klassiker: Ian Banks: »Das Spiel Azad« (A Player of Games) 8
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
Juli — Novität: Michael Marrak: »Morphogenesis« 6
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
August — Klassiker: Theodore Sturgeon: »Die Ersten ihrer Art« (More Than Human) 7
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
September — Novität: Dan Simmons: »Illium« (Illium)
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
Diesen Titel habe ich ausgelassen. Grund eins: ich scheue Mehrteiler, noch dazu wenn er sich aus dicken Schinken zusammensetzten. Nur selten habe ich das Bedürfnis mich einer bereits vertrauten Fiktionswelt hinzugeben, und für diese raren Stimmungen stehen mir schon mehr als genug liebe Reihen parat (Terry Pratchetts Scheibenwelt, Stephen Kings Dunkler Turm, Harry Potter um die mainstreamigeren zu nennen). — Grund zwei: »Illium« bildet zusammen mit »Olympus« einen von Homers »Illias« inspirierten und darauf basierenden Zweiteiler. Grundsätzlich habe nichts dagegen, wenn man vorhandene Stoffe aufgreift, ich mag das bisweilen sogar sehr (bin zum Beispiel fast durchgehend begeistert von Disneys Verwurschtungen klassischer Fiktionen zu unterhaltsamer Animationskunst, von »The Sword in the Stone« bis heute), nur im Fall von ›Troja in Space‹ interessiert es mich so gar nicht.
Oktober — Klassiker: Ken Grimwood: »Replay — Das zweite Spiel« (Replay) 5
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
»Her mit dem Schwert, ich muß die Welt retten!«, oder: Diana Wynne Jones und ihr »Tough Guide to Fantasyland«
Eintrag No. 230 — Diana Wynne Jones wird in England seit vielen Jahren als Fantasy-Autorin geschätzt. Mit der diesertage in unseren Kinos laufenden Verfilmung von »Das wandelnde Schloß« durch die japanischen Ghibli-Animationsstudios von Meister Miyazaki wird Diana Wynne Jones nun wohl auch bei uns mehr zu einem geläufigen Geheimtip unter Jugendbuch- und Fantasy-Kennern (wer immer das sein mag). Sie hat selbst noch Vorlesungen von J. R. R. Tolkien und C. S. Lewis besucht, und gibt dennoch (oder gerade deshalb) mit »The Tough Guide to Fantasyland« (etwa: »Der herbe Reiseführer nach Fantasyland«) ein humorgeballtes Kontra auf all die zu liebgewonnenen Versatzstücke des Fantasy-Genres.
Lob und Jubel von mir nachträglich für den Bastei-Verlag, der das Buch 2000 unter dem Titel »Einmal zaubern, Touristenklasse« verlegte.
Wir erinnern uns: In den Fünfizigerjahren des letzten Jahrhunderts erschienen die drei Bände der »Herr der Ringe«-Trilogie von Tolkien. Erwartet hatte man eine Fortsetzung des erfolgreichen Kinderbuches »Der Kleine Hobbit« und bekommen hatte man eine überbordende Super-Queste nach einem Ausweg, um der sich alles unterwerfenden Macht der Moderne zu entkommen. Nicht viel geschah, bis die Hippies in den Sechzigern den zum Großmärchen aufgeblasenen Kriegs-Epos des Kampfes zwischen Gut und Böse für sich entdeckten. Der Meister von Mittelerde selbst war entsetzt über seine neue Leserschaft, die er als ›langhaarige Irre‹ bezeichnete.
Wer jemals den Disco-Song »Where there is a whip, there is a will« aus der Zeichentrickfassung des »Herren der Ringe« gehört hat, wird Tolkien verstehen können. Hier in Deutschland ist dieses Lied aus der TV-Fortsetzung von Ralph Bashkis Kino-Fassung kaum bekannt.
Wie man's auch nimmt, hat Tolkiens Mittelerde einen enormen Einfluß auf die populäre Kultur. Dieser exzentrische Linguist hat das Erfinden einer eigenen Welt mit einer Ernsthaftigkeit durchgezogen, die es bis dahin nicht gab. Frühere Phantasie-Welten sind im Vergleich zu Tolkien ehr oberflächlich und unverästelt. Niemals zuvor hat ein Autor in diesem Umfang zuerst Kosmologien, Landkarten, Genealogien, Geschichts-Chroniken, Legenden, Lieder, Verse und verschiedene Sprachen erstellt, um erst dann seine Geschichte in dieser Welt zu erzählen. Vor Tolkien blieb entsprechend veranlagten Lesern nur, die Felder der echten Geschichte, der Religionen, Großideologien und der Esoterik zu besuchen, wenn sie sich einer umfassenden literarischen ›Wirklichkeit‹ zwecks Selbstergänzung hingeben wollten.
Bis heute wird diese mächtige Sinnmachmaschinen-Qualität der ›Fantasy‹ von den Hardcore-Verfechtern der sogenannten ›richtigen und ernsthaften‹ Literatur scheel beäugt. Kein Wunder: Haben doch mit dem Fortschreiten des von Tolkien selbst so verachteten Moloch Moderne — der alles in kleine Konsumier-Portionen für Club-Urlaube abpackt — mehr oder weniger geschickte Pauschal-Reiseveranstalter Routen ins Tolkien'sche Terrain etabliert, auf denen die Touristen immer-tröstliche Helden- und Märchengeschichten genießen können.
<a href=""www.amazon.de"">Bereits 1996 hat Diana Wynne Jones ihren »Tough Guide to Fantasyland« in England veröffentlicht, der in fast 500 alphabethischen Einträgen von ›Adept‹ bis ›Zombies‹ die typischen Eigenheiten dieser Literatur kenntnisreich aufzählt, und spöttisch analysiert.
So ist keine ›Tour‹ vollständig ohne eine ›Karte‹. Touristen gelangen oft mittels eines ›Portals‹ an ihren ›Ausgangsort‹, zum Beispiel der kleinen Stadt Gna'ash.
Tja, mancher Leser wird bereits von derartig exotischen Ortsnamen wie Gna'ash verwirrt. Von solchen Irritationen rührt viel des schlechten Rufes der Fantasy und Phantastik. Wie gut, daß bereits zu solch grundlegenden Dingen wie ›Apostophen‹ und ›Namen‹ der »Tough Guide« den Fantasy-Unkundigen Verständnishilfe reicht. So gibt es drei Theorien zur Aussprache eines Ortsnamens wie Gna'ash.
1. Man ignoriert den Apostroph und einfach nur das Wort aus. (Dann Gna'ash = Gnash.)
2. Man läßt eine Pause oder Lücke an der Stelle des Apostrophen. (Dann Gna'ash = Gna-ash.)
3. Man macht eine Art Gluckslaut für den Apostrophen. (Dann Gna'ash = Gnaglunkash.) Personen mit unsicher sitzenden Mandeln sollten mit einer der ersten beiden Theorien vorlieb nehmen.
Hat man in Gna'ash das örtliche ›Wirtshaus‹ gefunden, sucht man dort seine Tour-›Gefährten‹ zusammen, ißt seinen ›Eintopf‹, mietet eine ›Kammer‹ für die Nacht und nimmt (wers braucht) an einer ›Kneipenschlägerei‹ teil. Am nächsten Tag kauft man auf dem ›Marktplatz‹ seine ›Kleidung‹ — zu der unbedingt ein ›Kapuzenumhang‹ gehört —, sein ›Schwert‹, ›Pferd‹ und den ganzen anderen Krempel für eine ›Queste‹. Bevor man aufbricht, sollte man noch den ansäßigen ›Magier‹ wegen des Schwertes konsultieren. Immerhin ist der längste Einträg des »Tough Guide« diesen Erz-Gadgets der Fantasy gewidmet.
Nun gehts auf zur großformatigen von ›Mystischen Meistern‹ moderierten Schnitzeljagd durch alle Gebiete die auf der ›Karte‹ zu finden sind. Gewürzt wird diese Schatzsuche nach einem ›Quest-Gegenstand‹ durch schwieriges Terrain und den ›Finsteren Herrscher‹. Hat man nach verschiedenen ›Zwischenfällen‹, ›Konfrontationen‹ und ›Kämpfen‹ das ›Quest-Objekt‹ gefunden, geht man daran, den ›Finsteren Herrscher‹ zu besiegen und/oder packt die ›Weltrettung‹ an. Wie auch immer: im dritten (oder auch fünften) Teil der Trilogie kommt es zum ›Abschluß‹ der Geschichte, siehe ›Geburtsrecht‹, siehe ›Verschollener Thronfolger‹.
Diana Wynne Jones kratzt mit ihren Einträgen zu ›Wirtschaft‹ (Ökonomie, siehe auch ›Stickereiarbeiten‹), ›Umwelt‹ (Ökologie, siehe auch ›Läuse‹) und ›Import/Export‹ an der oberflächlichen Daumenlutscher-Komplexität vieler Fantasy. Die zusammenkonstruierten Handlungen nimmt sie auseinander, indem sie darlegt, daß in ›Fantasyland‹ eben ›Legenden‹, ›Prophezeiungen‹ und ›Träume‹ als Informationsquelle für die ›Helden‹ weitaus zuverläßiger sind als ›Geschichtsschreibung‹. Sprach- und Stilkritik übt sie, wenn sie uns das ›Management‹ der Tour, sowie deren ›Formelle Bezeichnungen der Reiseveranstalter‹ (Official Management Terms) vorstellt. Eine Pest sucht eine Gegegend eben heim und hat Städte im Griff.
Kenner und Liebhaber von Genre-Fantasy können sich über die vielen geistreichen Beobachtungen und trockenen Kommentare abhärten oder aufregen, lachen oder grollen. Allen, die sich selbst in der Kunst der Fantasy-Schriftstellerei und Weltenerfinderei versuchen, empfehle ich den »Tough Guide« zur inniglichen Beherzigung. Jones legt umfangreich die verbreitesten Handgriffe (Fehler) für öd-gewöhnlichste Fantasy-Topffrisuren dar. Der »Tough Guide« ist eine praktische Bürste, mit der man seine eigenen Fantasy-Entwürfe gegen den Strich bürsten kann.
Ein Zuckerl des Buches sind die das Alphabet unterteilenden ›Gnomenworte‹ (nebst einem Barbarenlied). Die gebundene Auflage des Jahres 2004 des englischen Gollancz-Verlages (ISBN 0-575-07592-9) wird neben einer ›Karte‹ von Dave Senior durch acht feine Bleistiftzeichnungen (und Umschlagszier) von Douglas Carrel geschmückt.
Wenn du deine eigene Tocher an Banditen verkaufst, und dafür selbst mit deiner Tocher freigelassen wirst, das ist dann Politik.
Ka'a Orto'o, Gnomenworte, XXXI ii
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Dieser Artikel ist zugleich mein erster Beitrag für das Phantastik-Portal FictionFantasy.
Internetforum für China Miéville-Leser
Eintrag No. 224 — Zuerst wars nur eine Mailingliste, und schwupps wurde daraus ein Internetforum mit Mailinglisten-Option.
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Bisher machen dort noch ›nur‹ knapp eine Handvoll Leute mit, aber das kann (und wird sich hoffentlich) im Laufe der Zeit noch ändern.
Ich gebe zu: die Forumsoberfläche ist nicht die knackigste und die Werbeeinblendungen nerven gewaltig. Aber es geht immerhin um einen der interessantesten und phantasie- und wortmächtigsten ›Weird Fiction‹-Autoren den man heutzutage lesen kann.
Also, wer wie ich die auf der Welt Bas-Lag angesiedelten Romane »Perdido Street Station« (»Die Falter« & »Der Weber«), »The Scar« (»Die Narbe« & »Der Leviathan« und »Iron Council« (»Der Eiserne Rat«) mag, dem empfehle ich dort mal vorbeizuschaun. Würde mich freuen, wenn wir uns dort treffen.
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Weitere Beiträge zu China Miéville:
• Kapitelstruktur der Bas Lag-Romane von China Miéville;
• Tolkien als Bilbo;
• Hurrah, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da;
• Portrait.
»Kniet nieder vor Maria Magdalenas Gebeinen«, oder:Dan Brown: »The Da Vinci Code«
EDIT: Neu formatiert und 1x überarbeitet.
Eintrag No. 222 — Prolog: Im Louvre mordet nächtlings ein bleicher Schreckensmönch den Kurator. Der Mörder flüchtet, das Opfer stirbt mit zwanzigminütiger Verzögerung und hat noch die Fassung, sich selbst zum Anfangsrätsel einer Schnitzeljagd zu drapieren. Das Abenteuer eines amerikanischen Historikers Landon und einer (jüngeren) fränzösischen Polizeikryptologin Sophie — deren Großvater das Mordopfer war — kann beginnen. Die Hatz wird ca. 24 Stunden dauern, und nach 105 knappen Kapiteln (oder 487 Seiten†) im Epilog mit einem Kniefall enden.
Nach all dem Gewese über »The Da Vinci Code« bin ich als den gehypten Narrationen gegenüber skeptisch Veranlagter baff, wie vergnüglich sich der Roman in knapp zwei Tagen wegschlürfen ließ. Keine tiefsinnige Lektüre, aber eine kurzweilige.
Der ganze Spannungs-Aufbau folgt der Tradition der Schatzssuche mit Rätselspielen. Stark erinnert hat mich das Gegrübel über Verse die einen mit ›thee‹ anreden an Justus, Peter & Bob (»Die drei ???«, »The Three Investigators« im britischen Original) — in z.B. »Geheimnisvolle Erbschaft« oder »Schreiender Wecker«. Einige der Rätselantworten habe ich vor den Schatzsuchern erraten (z.B. das Isaac Newton-Rätsel); genervt hat mich lediglich, wieviel Gedöhns um das Erkennen von simpler Spiegelschrift gemacht wird. Wobei ich nichts dagegen habe, wenn Leser rätseln sollen und auf die Folter gespannt werden. Aber ich finde es lächerlich, wenn ein Autor dem Leser ermöglicht, besserwisserisch über den Figuren zu stehen.
Die Polizei folgt der falschen Spur, denn der ermittelnde Kommissar hält Langdon für den Kurator-Mörder und ist eine Bedrohung für die Helden, die wiederum wissen, daß ihre Schatzssuche ein Rennen gegen den wahren Mörder des Kurators ist. Konventionell aber gut gemacht, wie das Zusammenspiel von Schatzsuche und Flucht Spannung erzeugt. Allein bis der Historiker und die Kryptologin der Hochsicherheits-Mausefalle des Louvre entkommen, verstreichen 146 Seiten. Dann gehts aber auch schon zu den Gnomen von Gringots, ähh, Zürich, die einen Schatz freigeben: freilich nur ein weiterer codierter Puzzlestein.
Das Fruchtfleisch des Romanes und der Intrigen bilden nun christliche Wahrheits-Streitigkeiten und Geheimverschwörungen (es gibt auch ›öffentliche Verschwörungen‹, wie H. G. Wells-Kenner wissen): Das Christentum wurde von machtfixierten Männern — noch dazu römischen Heiden wie Kaiser Konstantin — verhunzt. Alles Allzu-Menschelnde wurde aus der Bio von Jesus getilgt. Nix da, von wegen, daß Jesus der Rabbi mit Maria Magdalena verheiratet war, und schon gar nicht hatte er Kinder (Sarah) mit ihr, also eine menschliche Familie, die nach der Kreuzigung in Südfrankreich untertauchten konnte. Die Messias-Familie als ›Heiliges Blut‹, vulgo: DER GRAL, gehütet von seinen Untergrund-Gralsritten. Soviel geschichtlicher Hintergrund ist für den armen Langdon aus den USA freilich zuviel, da ist es trefflich, daß nahe Paris Sir Teabing lebt, ein reicher, exzentrischer britischer Historiker und Experte in Sachen Gralslegende, bei dem Langdon und Sophie Unterstützung finden. Nun können die beiden akademischen Geheimnis-Nerds die verwirrte Sophie zutexten mit Infos. Das Mädel wird auch sowas von geplagt von visionsartigen Erinnerungen an ihre letzte Begegnung mit ihrem Großvater {SPOILER markieren: •••Kultsex auf subterranen Altar•••}.
Das alles bleibt für mich größtenteils unspannend, denn populäre ›Sachbücher‹ zum Thema (z.B. »Der Tempel und die Loge«, wuhaa) kenne ich seit Teenagerzeiten, wie auch die von Dan Brown erwähnte Gral-Tarot-Connection. Um mir zu denken, daß mit der katholischen Kirche (oder dem Christentum) was nicht stimmt, brauche ich weder einen Krimi, noch den ganzen Eso-Schmonzes aus dem Verschwörungstheorienbegiet. (So kann die hiesige Literatur sich rühmen, einen seriöseren Historien-Bespiegler und Fabulatur wie Karlheinz Deschner zu haben, der mit seiner »Kriminalgeschichte des Christentums« weitaus profunder den kirchlichen Nimbus entzaubert.) Die Früh-Katholen wollten, daß Jesus mehr Gott als Mensch ist und entsprechend Superhelden-mäßig empfangen (durchs Ohr) wurde sowie von uns ging (Himmelfahrt). Die Gralsjünger aber wissen, daß es eine Jesus-Familie gab, mit Jesus-Familien-Stammbaum und Nachkommen, die bis heute als gut gehütete Exilanten im Verborgenen leben. Soll von mir aus beides stimmen — meine Privatspinnerei zu Jesus geht gaaaanz anders: mir bereitet es Vergnügen, einiges von »Ben Hur« mit der Bibel (inklusive den Apokryphen) zu vermengen.
FIKTION:
Jesus war womöglich der Sohn eines mächtigen Römers und einer adeligen Jüdin (oder umgekehrt: Vater mächtiger Jude und Mutter adelige Römerin), der es als Revoluzzer-Prediger schafft, die Menschengesetzte der New World-Order-Imperialen und der starr-konservativen Lokal-Theokraten zu einem tragischen Knoten um den eigenen Hals zu schlingen. Christus hatte eindeutig einen zu heftigen Todeswunsch als Brennkern seiner holistischen Weltliebe.
FIKTIONENDE
Aber ich komme vom Thema ab. Moment — hmm, wundert mich, daß die Katharer nicht erwähnt werden. Sei's drumm — immerhin: Templer (Freitag der 13.), Troubadure und die Merowinger finden sich alle ein in »The Da Vinci Code«.
Die stärkste Figur ist für mich Sir Teabing, und ich freue mich schon auf Ian McKellen in der Rolle, wenn er (hoffentlich) meint: (»My friends, I am far more influencial in the civilized world than here in France« — S. 309).
Die Abschnitte mit dem mordenden Albino-Mönch (komplett mit dornengespickten Kasteiungsgürtel; also ein Intimbereichs-St. Sebastian) mag im Roman manchen unheimlich und packend am Ende sogar »Das Parfüm«-artig tragisch anmuten — ich fands zu routiniert. Wer charakterlich gut entwickelte Fanatiker lesen mag, dem empfehle ich z.B. die ›H.E.I.N.Z.‹-Islam-Jungs in »Zähne zeigen« von Zadie Smith. — An sowas arbeiten wir noch, gell Mr. Brown.
Nett zu lesen ist der Roman auch noch als Touristik nach Paris und London, inklusive Bildbetrachtung von Leonardo-Gemälden, sowie Kirchen-und Louvre-Besichtigung. Die korrekte Genre-Bezeichnung lautet ungefähr: Krimi-Fantasy. (Nicht zu verwechseln mit einem Fantasy-Krimi wie den Lord Darcy-Geschichten von Randell Garrett.)
Dan Browns »The Da Vinci Code« ist ¿neben/vor? »Das Fouccaultsche Pendel« von Umberto Eco der wohl erfolgreichste Verschwörungs-Roman der letzten 20 Jahre. Darüberhinaus kann man beide Bücher kaum fair vergleichen, denn das Pendel ist für geduldigere Gemüther geschrieben, als der schnellgeschnittene Code. Das Pendel ist was für ›literarischere‹ Leser, wer zum Code neigt, bevorzugt schlicht ›'ne flotte Story‹. Wenn es Charakterklassen für Leser gäbe, würd ich sagen, daß Browns modernes Indiana Jones-Szenario für Erstlevel-PCs taugt, wohingegen Eco was fürs Experten-Set ist.
† Die Seitenangaben beziehen sich auf die amerikanische Taschenbuchausgabe.
1999, ein bitteres Phantastik-Sachbuch-Jahr
Eintrag No. 191 – Heute ist mir das Buch »Deutsche Phantastik – Die phantastische deutschsprachige Literatur von Goethe bis zur Gegenwart« von Winfried Freund aus dem hammerseriösen UTB/Wilhelm Fink-Verlag untergekommen. Inzwischen sechs Jahre alt, gehört es in der Stadtbücherei Frankfurt immer noch zu den aktuellsten Sachbüchern zur Phantastik. Dennoch: weder Niebelschütz noch Krausser finden sich darin. Traurig, traurig.
Dafür stolperte ich in der Einleitung über dieses eloquente Gedankenunterholz.
(Hegel und Adrono, ick hör Euch trapsen).
Seite 13: Die folgende, an den zentralen Gattungen literarischer Phantastik orientierte Darstellung versteht sich als exemplarisch und representativ zugleich. Herausgehoben werden sollen in den einzelnen Genre-Portraits die Einzelwerke, in denen das Phantastische im fundamentalen Sinn Gestalt gewonnen hat und traditionsbildend gewirkt hat bzw. wirken könnte. …
Das »könnte« macht mich bangen.
… Literarische Phantastik wird dabei durchgängig als die Literatur verstanden, die in negativer Dialektik den Aufbruch durch das Ende und Entwicklung zum Höheren durch das Abgründige aller Existenz entwertet, die alle Sinnstiftungen in die Sinnlosigkeit, alle Hoffnungen in die Verzweiflung und jeden Fortschritt in die Katastrophe münden läßt, die das Ideal wie den Glauben desillusionieren und das Gestaltete ins Formlose, das Sein ins Nichts, die Fülle des Daseins in die Leere und die Ordnung in Chaos auflöst. Konstruktive Aspekte des destruktiv Entfesselten bleiben vereinzelt.
Fehlt nicht viel, und mir entfleucht eine schmissige Melodie auf dieses literaturwissenschaftliche Prosagedicht.
Molosovskys Beute: Klassiker der Phantastik als eText
Eintrag No. 187 – Also gut. Es kann ja nicht sein, daß ich hier nur schlechte Stimmung kundtue. Ist ja nicht so, daß ich am Boden kreuche und bleierne Depri-Eisenkugeln an meinen Fesseln hinter mir herschleife.
Die bisherigen Bücher des Lesezirkels bei SF-Netzwerk treffen ganz meinen Geschmack. Nach »Set This House In Order« (»Ich und die anderen«) von Matt Ruff gings im Februar weiter mit einem Klassiker: H. G. Wells mit seinem »Men Like Gods« (»Menschen, Göttern gleich«) aus dem Jahre 1923.
Nach einen Blick in die Wells-dtv-Ausgabe wurde ich soweit neugierig, mal im Netz nach dem Roman zu suchen. Ich wurde nicht nur fündig, ich verlohr mich geradezu in einer Flut verfügbarer Titel. Vor allem auf Englisch kann man reichlich Klassiker als eText kostenlos bekommen.
Da dacht ich mir: Was soll ich in diesem Jahr groß Geld für Bücher ausgeben?
Will ich mich mal um einige Wurzeln der modernen phantastischen Literatur kümmern und sie als PDF zum Copyshop tragen, um sie nicht am Bildschirm lesen zu müssen. Entsprechend habe ich die letzten Tage mit PDF-Aufbereitung von reinen Textdatein verbracht.
Hier eine (verlinkte) Autorenübersicht, und die (unverlinkten) Titel dieser Autoren, nebst einer kurzen Begründung, warum mich das Zeug interessiert.
Ich Link mir sonst die Finger krumm.
Klassiker der phantastischen Literatur
(sowie einige andere Titel, die Molosovsky interessieren)
Bellamy, Edward (1850 - 1898):
Looking Backward
••• Frühe SF, in der ein Mann aus dem Jahre 2000-ebbes eine Reise in die ausgehende Viktorianische Epoche macht.
Blackwood, Algernon (1869 - 1951):
Prisoner in Fairyland
••• Der Titel machte mich neugierig und ich kennte bisher nur die unheimlichen Kurzgeschichten in der Übersetzung bei Suhrkamp. Blackwood war ein Vorbild vom Kult-Pessimisten H. P. Lovecraft.
Cabell, James Branch (1879 - 1958):
Figures of Earth / Jurgen
••• Neil Gaiman empfiehlt immer wieder mal Cabells »Jurgen« als lesenswertern Klassiker des Genres empfohlen.
Chesterton, Gilbert Keith (1874 - 1936):
Ball and Cross / Club of Queer Trades / Tales of the Long Bow / The Man Who Was Thursday / The Trees of Pride / Orhodoxy
••• Ich bin ein großer Fan von »Der Mann der Donnerstag war« und gespannt, was der Mann sonst noch herrlich Wirres schrieb. Wie J. R. R. Tolkien ebenfalls einer der durchgeknallen Katholen der Insel. Bei uns kennt man Chesterton eigentlich nur für seine Pater Brown-Geschichten (bekannt durch Ottfried Fischer und Heinz Rühmann).
Doyle, Arthur Conan, Sir (1859 - 1930):
The Lost World / The Poisen Belt / The Land of Mist / The White Company
••• Durch meine Teenagerjahre habe ich alle Sherlock-Holmes-Geschichten abgegrast, und auch die ein oder andere Kurzgeschichte von Doyle. Bei Gelegenheit will ich nun die drei Jules Verne-artigen Prof. Challenger-Romane mal im Original lesen, sowie den historischen Roman »The White Company«, den Doyle selbst für sein bedeutenstes Erzählwerk hielt (und der meines Wissens nie auf Deutsch erschien).
Dunsany, Lord {Edward J. M. D. Plunkett} (1878 - 1957):
Don Rodriguez / Gods of Pegana / Time and the Gods / A Dreamer's Tales / Sword of Welleran & Other Tales / Tales of Three Hemispheres / Tales of Wonder / The Book of Wonder / The Food of Death
••• Von ihm haben alle abgeschrieben, die Nachkriegsfantasy-Autoren, die neueren Comic-Schreiber a la Gaiman und Co. Alle! Lovecrafts Kosmogonie oder seine Traumwelt wäre nicht denkbar ohne Dunsany als H.P.s großes Vorbild. In den Siebzigern gabs bei Diogenes eine ganze Reihe mit Krimi-Stories von Dunsany. Heutzutage sieht es ganz finster aus um eingedeutschte Werke von Dunsany.
Hearn, Lafcadio (1850 - 1904):
Glimpses of Unfamiliar Japan 1 & 2 / In Ghostly Japan / Kwaidan: Stories and Studies of Strange Things
••• Über ihn bin ich gestolpert, weil ich für Andrea über frühe Bonsai-Berichte in der westlichen Hemisphäre recherchiert habe. Die Wichtigkeit von (wahren oder erfundenen) Berichten aus fremden Weltgegenden für die entstehende moderne Phantastik wird von den heutigen Lesern zumeist grob übersehen. Hearn ist ein gutes und vor allem exellent zu lesendes Beispiel für einen Wanderer zwischen den Kulturen.
Kipling, Rudyard (1865 - 1936):
Plain Tales from the Hills / Traffics and Discoveries / Puck of Pook's Hill / Actions and Reaktions / Rewards and Fairies
••• Sehr dankbar bin ich Gisbert Haefs, daß er damals im Haffmans-Verlag begonnen hat, die Werke von Kipling endlich mal unverstümmelt herauszubringen. Leider erscheinen schon seit Jahren keine weiteren Bände dieser Werksausgabe mehr (Hallo Zweitausendeins, Herr Haffmans und Herr Haefs! Was geht?).
Und bitte keine unnötige Scheu vor dem Geheimagenten und Kolonial-Praktiker Kipling, der vor hundert Jahren dabei war, als die Region Afghanistan zum Desaster für die Britten wurde (siehe Veteran Dr. Watson in den Holmes-Geschichten von Kollege Doyle), und das heute noch andauernde ›Great Game‹ um diese Weltgegend anhob. Und: Kipling gilt als der erste Autor, der Filmschnitt-Techniken in Prosa nachahmte.
Lytton, Edward Bulwer Lytton, Baron (1803 - 1873):
The Coming Race
••• Neben Charles Dickens und Wilkie Collins einer der einflußreichsten viktorianischen Genre- und Erfolgsautoren. »Coming Race« ist ein Klassiker der abseitigen Hohlwelt-Literatur. Am bekanntesten ist wohl sein »Die letzten Tage von Pompeii«, und Arno Schmidt-Leser kennen seinen Namen vielleicht (»Was wird er damit machen?«). Und Bulwer Lytton saß als Politiker im englischen House of Lords!
MacDonald, George (1824 - 1905):
Lilith / Phantastes / The Princess and the Goblin / There and Back
••• Ein schottischer Landpfarrer der Märchen für Gläubige schrieb. Neben William Morris ein wichtiges stilistisches und ideologisches Vorbild für Tolkien. Mal schaun, vielleicht heißt der Nebentitel von »The Hobbit« nicht von ohngefähr »There and Back Again«.
Morris, William (1834 - 1896):
News from Nowhere / The Well at the World's End / The Wood Beyond the World
••• Morris war ebenfalls ein wichtiges Vorbild für Tolkien. Lustig find ich die sprachliche Nähe der Prosa von Morris, MacDonald und Tolkien. Ansonsten war Morris ein Phänomen in der englischen Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Künstler, Idealist, Sozialist, Handwerker, Dichter. Ein Mann mit einer Mission. Seine Tapetenmuster sind heute noch top.
Orwell, George (1903 - 1950):
Fifty Essays
••• Ich weiß ja nicht, warum es so schwer ist, mal alle Essays von Orwell ins Deutsche zu übersetzten. Les ich die halt auf Englisch.
Stevenson, Robert Louis (1850 - 1894):
The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde / Essays in the Art of Writing / Fables
••• Hab bisher viel zu wenig Stevenson gelesen.
Irving, Washington (1783 - 1859):
The History of New York / Scetch Book of Geoffrey Crayon
••• Irving ist so ein gewichtiger Klassiker der burlesken Phantastik, der auf Deutsch so gut wie unübersetzt und deshalb unbekannt ist. Das »Scetch Book« enthält neben anderen die einflußreichen Geschichten »Rip von Winkle« und »The Legend of Sleepy Hollow«. Und die »History of New York« ist ein frühes Beispiel für eine komplett aus der Nase gezogene Enzy.
Wells, Herbert George (1866 - 1946):
The Time Machine / The Island of Dr. Moreau / The Invisible Man / The War of the Worlds / When the Sleeper Awakes
••• Vielleicht immer noch der einflußreichste SF-Autor bisher. Hab ich wie Doyle als Teen schon einiges auf Deutsch gelesen.
Woolf, Virginia (1882- 1941):
Common Reader / Essays / Short Stories / The Waves
••• »Orlando« auf Deutsch fand ich vor ca. zehn Jahren ziemlich öde, den Film aber schlicht brilliant. Letztes Jahr hab ich das Buch englisch aufm Klo gelesen und war begeistert. Derzeit hab ich »Mrs. Dalloway« immer in der Manteltasche dabei und freu mich schon auf weitere Lektüre ihrer Texte.
Abschluß-Zuckerl:
Runciman, John F. (1866 - 1916):
Purcell
••• Wenigstens ein kleiner Text über einen meiner absoluten Lieblingskomponisten.
Klassiker über Römische Geschichte für umme? Bitte schön.
Gibbon, Edward (1737 - 1794):
History Of The Decline And Fall Of The Roman Empire
Mommsen, Theodor (1817 - 1903):
Römische Geschichte
••• Gibts alle Bände als eText, den Mommsen sogar auf Deutsch. Gut, es ist etwas mühselig, das Zeug so unaufbereitet zu lesen, so wie die Fußnoten versteckt sind, aber immerhin: so kommt man als arme Sau, für die auch die Taschenbuchausgaben dieser Werke zu teuer sind, wenigstens zu seinem Stoff. Und: der Gibbons war immer wieder mal Steinbruch für die Macher von großen galaktischen Imperien. Prominentester Verwurschter: Isaac Asimov mit seinem Psychohistoriker-Zyklus.