molochronik

Über Anspruch

Eintrag No 324 — SF-Netzwerk-Haberer Michael Schmidt hat im Buchform die Frage »Besser kompliziert oder einfach genial?, Qualität und ihre Stilmittel« gestellt.

Zusammengefasst eröffnet Michael wie folgt: Bei Auseinandersetzung über die Qualität von Medienwerken (Buch, Film, Musik ect) wird oftmals der ›Anspruch‹ ins Feld geführt. Andererseits aber sind die meisten großen Hits, Bestseller eher simpel.

»Ist also weniger mehr? Das einfache Konzept die wahre Geistesleistung? Oder sind doch die komplexen Romane das Maß aller Dinge?«

… fragt Michael also.

Ich hab meine Re-Aktion noch etwas überarbeitet, um es im Folgenden den Molochronik-Lesern als weiteren Beitag meiner losen Reihe »Material zum Kapieren« anzubieten.

Zuerstmal: Was für eine Frage! Ich bin mir gar nicht sicher, wie und ob ich die verstehe. Deshalb formuliere ich mal sachte an die Frage heran. Ein Gegensatz soll angenommen werden. Zwischen ›einfach genial‹ und ›anspruchsvoll kompliziert‹.

Am wichtigsten erscheint mir, dass eine Sortierung in diese beiden Schubladen sehr heikel ist. — Um für sich entscheiden zu können, ob etwas ›mit Anspruch‹ daherkommt oder nicht, muss man diesen Anspruch ja erkennen können. Jeder Text konstruiert einen ›idealen Leser‹ (oder setzt einen solchen voraus). Für gewöhnlich sollen solche Dinge wie Genreschubladen, Aufmachung (Cover), Klappentext usw dabei helfen, sich mit entsprechend fruchtbarer Einstellung eines Werkes anzunehmen. Und in einem z.B. Buch gehts so weiter: Vorwort, Motto und der Einstieg sollten (idealerweise) dem Leser markante Signale dazu vermitteln, worauf er sich einlässt, damit er sich darauf einstellen kann. — (Ganz nebenbei: man beachte diesbezüglich die Landkarten- und Glossar-Begeisterung der Fantasy-Phantastik! Wobei: auch die SF kennt Glossare!)

Wink mit dem Zaunpfahl

Beispiel zweier klassischer Romane: Sowohl »Krieg und Frieden« als auch die »Buddenbrocks« haben zu Beginn einiges an wörtlicher Rede auf Französisch. Wer also so ungebildet ist und das nicht versteht, hat also eine böse Hürde, bzw. Leerstellen vor sich. — Man kennt sowas ja auch von z.B. philosophischen Büchern. Da gibts solche Autoren, welche dem Leser die fremdsprachigen Stellen in Anmerkungen oder Fußnoten aufdröseln, und andere, die meinen, wer das Latein, Griechisch, Englisch usw nicht versteht, ists eh nicht wert das Buch zu lesen (weil eben ein ›Barbar‹, und die sollen lieber Erdlöcher buddeln oder in Schlammgruben herummatschen, statt mit ihren Pranken Gelehrtenwerke anzurühren).

Hier eines meiner Lieblingsbeispiele für einen solchen leserorientierenden Zaunpfahl:

»Nichts geht über ein wenig wohlgedachten Leichtsinn«, sagt Michael Finsbury in der Geschichte; und es gibt auch keine bessere Entschuldigung für das Buch, das der Leser nun in Händen hält. Die Verfasser können dazu lediglich noch bemerken, daß der eine von ihnen alt genug ist, um sich zu schämen, und der andere jung genug, sich zu bessern.

— R. L. Stevenson & L. Osbourne, »Die Falsche Kiste« (1889).

Exemplarisch ›unverschämt‹ ist da auch Mark Twains Klausel zu Beginn von »Huckelberry Finn«:

ZUR BEACHTUNG: Personen, die versuchen, ein Motiv in dieser Erzählung zu finden, werden gerichtlich verfolgt; Personen, die versuchen, eine Moral darin zu finden, werden verbannt; Personen, die versuchen, eine Fabel darin zu finden, werden erschossen.

Auf Befehl des Autors für G.G., Kommandant der Artillerie

… oder Anro Schmidts Variation darauf in »Das Steinerne Herz«:

… Infolgedessen wird, im Auftrag des Autors, wie folgt verfügt:
  • a) Wer in diesem Buch ›Ähnlichkeiten mit Personen und Ortschaften‹ aufzuspüren versucht, wird mit Gefängnis, nicht unter 18 Monaten bestraft.
  • b) Wer ›Beleidigungen, Lästerunen, o.ä.‹ hineinzukonstruieren unternimmt, wird des Landes verwiesen.
  • c) Wer nach ›Handlung‹ und ›tieferem Sinn‹ schnüffeln, oder gar ein ›Kunstwerk‹ darin zu erblicken versuchen sollte, wird erschossen.

Bargfeld, den 10. März 1960 das Individuumsschutzamt (gez. D. Martin Ochs)

Später können sich sich dann z.B. Literaturwissenschaftler (aber auch normale Leser) daranmachen, anhand solcher Eigenheiten Rückschlüsse zu ziehen auf z.B. den Zeitgeist, oder den ›idealen Leser‹ wie er dem Autor vorschwebte.

Kamasutra-, ähh Gebets-, hrm Lese-Haltungen

Wiegesagt: ob man etwas als ›kompliziert anspruchsvoll‹ oder ›simple Unterhaltung‹ nimmt, hängt mindestens so sehr von der Einstellung des Lesers beim Konsum ab, wie von der Einstellung des Autoren beim Produzieren (und die dazwischenfunkenden/vermittelnden Instanzen sorgen für das nette Durcheinander, das wir ›den Medienmarkt‹ nennen). — Da gibt es diese unerhörte Möglichkeit des ›Gegen den Strich lesens‹. Persönliches Beispiel dazu: Im Großen und Ganzen bin ich gegenüber Adornos Zeug sehr skeptisch, aber ich erlaube mir, sein »Minima Moralia« als ein humoristisches Buch zu lesen; sprich: ich bin der Meinung, dass Adorno in diesem Buch mehr Humor an den Tag legt, als man gemeinhin diesem Autor zuschreibt.

Somit ist es also von großer Bedeutung, welche Lesehaltungs-Kenntnisse und Begriffs-Vielfalt dem Konsumenten zuhanden sind. »Was der Bauer net kennt, frista net.« — Oder auch: Wer den Mitteilungs-Modus nicht entschlüsseln kann, wird ein Werk entweder falsch aufnehmen, und/oder nur spärlich bis gar kein erbauliches Leseerlebnis damit haben können.

Hier spielt nun der Gegensatz zwischen ›Konvention‹ und ›Originalität‹ hinein. Konventionen sind wohlbekannte, allgemein akzeptierte Eigenschaften von Werken (Bilder mit Rahmen, Bücher die man von vorne nach hinten ließt, Filme mit Main Titles). Nur vor dem Hintergrund der Konventionen hebt sich das Originelle ab. Aber auch hier gibts keine endgültig verbindlichen Orientierungs-Marken, denn das Verhältnis von Konvention/Originalität (also von ›bestehenden Regeln‹ und ›Regelüberschreitungen‹) wandelt sich mit dem Lauf der Moden, und hängt wiederum sehr vom kulturell-geschmacklichem Gepäck des Konsumenten ab.

Östlich-Westlicher Begriffsrahmen-Diwan

So kennt die europäische Ästhetik solche bis heute einflussreichen Begriffe wie ›das Erhabene‹, ›das Groteske‹ und ›das Pittoreske‹. Die japanische Ästhetik aber ist von Begriffen geprägt wie ›Sabi‹ (›Patina‹, Reife & stille Würde des Alterns & Gerbauchtseins, unaufdringliche Schlichtheit), ›Wabi‹ (mit Bedacht gewählte ›Armut‹, Kargheit, Einfachheit) und ›Yûgen‹ (schwebende Stimmung geheimnisvoller Weite & Tiefe).

Ich bringe diese Gegenüberstellung europäischer und fernöstlicher Grundbegriffe der Ästhetik nicht von ohngefähr an. Immerhin erfährt mit dem Manga/Anime-Boom insbesonders die Science Fiction eine ›Fortbildung in Sachen Weltästhetik‹. — Es ging sicherlich nicht nur mir so, daß Animes anfangs (und teilweise immer noch) meine Erwartungshaltungen ganz schon ins Trudeln bringen. Da gibt es viele Konventionen, die mir erstmal seltsam anmuten. — Einige typische Anime-Merkmale, an die ich mich erst gewöhnen musste:

  • deren Mischung aus Realismus (Technik-Oberflächen) und Cartoon (Rehaugen);
  • die Inszenierung von stillen Momenten (Konvention: Stille und Verharren vor dem Moment der Gewalt, aus der sich die ›Bullet Time‹ entwickelt hat);
  • die für mich als Westler oftmals ›unbekümmert‹ (oder mutig?) anmutende Vermischung von Hard-SF (z.B. gesellschaftlich vergleichsweise harter Cyberpunk) und religiöser Mystik (Lebensstromkräfte und transzendente Essenzen).

So kann, was für einen japanischen SF-Fan beste Konfektionswahre ist, die sich locker-flockig genießen lässt, für mich als Europäer als ungemein radikal-originelles Werk daherkommen, dass sich originell vom bekannten abhebt (und umgekehrt: für einen Europäer Konventionelles mag einem Japaner ungewöhnlich und neuartig erscheinen).

Glatte und Rauhe Konventionen

Lange Rede kurzer Sinn: {SF-Netzwerk-Kollege} Simifilm bringt es auf den Punkt, wenn er davon schreibt, daß Werke ›in sich koheränt‹ sein müssen. Wobei natürlich wiederum alles davon abhängt, was einem als ›koheränt‹ gilt; denn es gibt z.B. die Möglichkeit, eben die Nichtkoheränz (oder zumindest: eine gehörige Verwirrung) zur prägenden Eigenschaft eines Werkes zu machen (Maximalbeispiel: »Finnegans Wake« oder auch Werke der Dadaisten, des Non-Sense). — Etwas sanfter als solch eine Totalverweigerung von ›Sinn‹ und klarer Entschlüsselbarkeit ist die Möglichkeit der gewollten Mehrdeutigkeit und Offenheit eines Werkes (Paradebeispiel: Kubricks »2001«).

Man denke auch an den Unterschied zwischen Konsumenten-Beruhigung (›Wellness‹-Dienstleisung) und Konsumenten-Verstörung (Provokations-Dienstleistung). Beide Vorgehensweisen haben jeweils ihre Konventionen. Wer sich z.B. mit Horrorsachen wohlfühlt, wird Ekelszenen und Gemetzel kaum als die Provokation nehmen, die solche genre-eigenen Extreme für jemanden darstellen, der mit Horrorkram nicht so gut kann.

Obwohl diese modernen Ästhetiken der Verstörung, Provokation, Mehrdeutigkeit und des gewollten ›Irrationalismus‹ mittlerweile auf eine eigene Tradition zurückblicken können, ist es nicht liederlich, wenn man sie im Gegensatz zu den ›klassischen Formen‹ als anspruchsvoller oder wenigstens als ungewöhnlicher einstuft.

Form und Inhalt

Zuletzt nur noch eine kurze Erwähnung eines weiteren Spannungsfeldes, in dem sich die begriffliche Gegensätzlichkeit zwischen ›anspruchsvoll‹ und ›einfach‹ aufziehen lässt. — Es gibt ›Ansprüche‹ des Inhalts und solche der Form.

Inhaltliche Ansprüche haben mit Themen zu tun. Hier greifen Fragen nach der Zeitgenossenschaft, oder der gesellschaftlichen Relevanz. Themen wie Serienmörder, Verschwörungstheorien, Esokram fallen mir ein, die oftmals als heikel eingestuft werden, und deren bloßes Vorhandensein bald mal Ablehnung für ein Werk zeitigt. — Aber das Thema Serienmörder kann man eher locker anpacken (Jacksons »The Frighteners«) oder auch mit ›ernsthaftem Anspruch‹ (»Der Todmacher«). Komplexität tritt hier zutage mittels der Art und Weise mit der ein Weltenbau, das Geflecht der handelnden Figuren, die Kleinteiligkeit der Vorgänge (die Kausalitäten) entworfen und entwickelt und aufgelöst werden.

Ansprüche der Form lassen sich vielleicht leichter mittels der Pole Komplixät und Schlichheit betrachten. Hier gibt es z.B. solche Konventionen wie sie z.B. durch die ›aristotelische Forderung nach der Einheit von Raum, Zeit und Thematik‹ postuliert werden. Lustigerweise fällt es heutzutage zumeist als origineller Kniff auf, wenn man sich an dieses Programm hält (»Cocktail für eine Leiche«, »Nick of Time«, »Phone Booth«, »24«).

Beispiele einiger Form-Konventionen: Üblicherweise erwartet man, daß eine Geschichte von A nach Z erzählt wird. Stellt man das auf den Kopf (z.B. »Memento«), gilt das dann eher als ungewöhnlich. — Das Publikum will zuvörderst dem Erzähler oder der Erzählperspektive vertrauen. Erzählerfiguren (oder Erzählerstimmen), die den Leser auf eine falsche Fährten lockt gelten eher als kecker Griff in die Trickkiste (»The Usual Suspects«). — Dann: wir leben in den hohen Modetagen des ›Reinspringens in die Handlung‹. Vorspiele (Prologe) oder z.B. panoramische Einstiegssequenzen sind heute eher die Ausnahmen (wenn auch nicht grad super-selten; bei Historienfilmen sind z.B. einleitende Texttafeln etwas durchaus Übliches; so wie bei Märchen zu Beginn noch das große illustrierte Buch aufgeschlagen wird und ein »Es war einmal…« aus dem Off anhebt).

Um Simifilms Argument aufzugreifen: Inhalt und Form eines Werkes sollten soweit zueinander passen (miteinander harmonieren), dass man als Konsument eine faire Chance hat, den Entcodierungs-Schlüssel zu finden. — Alles andere hängt dann wohl eher vom Betachter ab, und ob man eben z.B. eher danach trachtet sich zu ›entspannen‹ oder zu ›bilden‹. Ich setzt ›entspannen‹ und ›bilden‹ deshalb in einfache franz. Anführungszeichen, weil auch hier keine eindeutige Ordnung besteht. — ›Bilden‹ kann Info-Aufsaugen (Fakten, Daten, Zusammenhänge), aber auch Seelen-Bildung (Erweiterung des Empfindungsspektrums, Zornformung, Vorstellungskraft-Training) bedeuten. — Und ›Entspannung‹ mag daherkommen als süß (›Kitsch‹, das Niedliche, Tröstliche, streichelnder Humor) oder scharf (Äktschn, Explosionen, zwickender Humor) oder bitter-sauer (Grauen, Ekel, Tollschocks, ätzender Humor) … usw.

Glückwunsch: Ihr habt das Ende dieses Stegreif-Vortrags erreicht.

»Der Eiserne Rat«: Das Blog-Seminar von Crooked Timber über und mit China Miéville. Deutsche Fassung

Eintrag No. 319 — Nach meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Strange un Mr. Norrell«, kann ich heute meine deutschsprachige Fassung der sechs Essays über China Miévilles »Der Eiserne Rat«, sowie Chinas Reaktion darauf anbieten. Das PDF hat 72 Seiten und ist 1,4 MB groß, und gedacht für alle, die lieber in Ruhe soviel Text aufm Papier lesen. — (Tausend Dank von Herzem dem phantastischen TeichDrachen für seine Servergastfreundschaft.)

Falls der PDF-Link Probleme bereitet, schicke ich es auf Anfrage gern per eMail zu. Zwecks Kontakt: siehe Ende dieses Eintrages (oder auch mein Impressum).

Damals, im Januar 2005 bin durch das Seminar zu »Der Eiserne Rat« auf Crooked Timber aufmerksam geworden und seitdem von diesem wunderbaren Akademiker-Gruppenblog hellauf begeistert. Ich will nicht am Niveau der deutschsprachigen Beschäftigung mit Genre-Werken herumnörgeln (denn soooo seicht ist das gar nicht; man klicke sich entsprechend durch meine Linkliste), hoffe aber doch, daß allen, die sich gerne ausführlicher und ›tiefer‹ mit Phantastik, Literatur und der Beziehungen zwischen Ästheteik und Engagement beschäftigen, hiermit ein weiteres sattes Bonbon geboten wird. — Auch wenn es vermessen klingen mag: Ich fände es superb, wenn dieses Format eines Blog-Seminars mit Beteiligung des Autoren vielleicht auch bei uns Schule macht. Ich würde mir dafür gern einen Haxen ausreißen (mit dem Zaunpfahl wink).

Hier Henry Farrells einleitende Worte vom Januar 2005.

Die Namen-Links der einzelnen Autoren und Autorinnen führen zu den englischen Originalfassungen bei Crooked Timber, die Essay-Titel-Links zu den hier in den Kommentaren gelieferten deutschen Fassungen.

Einleitung

China Miéville ist einer der interessantesten Autoren auf den Gebieten der Science Fiction und Fantasy. Sein erster Roman König Ratte[1] greift Drum'n'Bass, Max Ernst[2], Robert Irwin[3] auf und ist im zeitgenössischen London angesiedelt. Sein zweites Buch Perdido Street Station[4], ein von Kraft, Witz und grimmiger Wildheit erfüllter urbaner Phantastikroman, hat das Genre im Sturm erobert, und wurde mit dem Arthur C. Clarke Award[5] ausgezeichnet. Wie Michael Swanwick[6] 2002 in der Washington Post schrieb, ist es »ein bischen frech von mir, ein Buch das erst vor zwei Jahren erschienen ist, als Klassiker zu bezeichnen. Doch ich denke, ich befinde mich mit dieser Behauptung auf sicherem Boden.« Sein dritter Roman Die Narbe[7] erhielt vergleichbares Lob. China Miéville gehört zur offiziellen Auswahl Beste Junge Britische Autoren 2003 von Grantas salon de refusés. Zudem engagiert sich China für sozialistische Politik — er kandidierte für das Parlament bei den letzten Wahlen. Das auf seiner Ph.D.-These basierende Buch Between Equal Right: A Marxist Theory Of International Law[8] wird diesen Monat bei Brill Publishers verlegt.

Im August 2004 erschien Der Eiserne Rat[9], Chinas jüngster Roman. Michael Dirda[10] von der Washington Post beschreibt ihn »als ein Werk, daß sich sowohl durch leidenschaftliche Überzeugung als auch höchste Künstlerschaft auszeichnet.« Vor ein par Monaten hat die Miéville-Fraktion von Crooked Timber beschlossen, daß es Spaß machen könnte ein kleines Mini-Seminar über Der Eiserne Rat zusammenzustellen und China zu fragen, ob er darauf reagieren möchte. Äußerst entgegenkommend sagte er zu und das Ergebnis liegt Ihnen hiermit vor. Wir haben zwei regelmäßige Gastautoren eingeladen an diesem Mini-Seminar teilzunehmen. Matt Cheney blogt über Literatur und Science Fiction bei The Mumpsimus und schreibt darüber hinaus für das Locus Magazin[11] und die SFSite[12]. Miriam Elizabeth Burstein blogt unter The Little Professor, unterrichtet über Viktorianische Literatur an der Suny Brockport Universität von New York. Miriam hat im fortgeschrittenen Verlauf dieser Unternehmung freundlicherweise zugestimmt, sich anzuschließen und eine bereits geschriebene lange Besprechung (auf die China sich unabhängig bereits bezogen hat) zu überarbeiten.

Die Essays hier sind in der Reihenfolge angeordnet, in der China auf sie in seiner Antwort eingeht (wer Der Eiserne Rat noch nicht gelesen hat, sollte wissen, daß vom Inhalt einiges verraten wird).

John Holbo beginnt in seinem Aufsatz Für ein einziges Wort… mit Anmerkungen zur Beziehung zwischen Miéville und Tolkien; dann greift er die Auseinandersetzung von Bruno Schulz über Eskapismus und die Fruchbarkeit unbelebter Materie auf, um dargzulegen, daß China sich bei seinem Mitteilungsmodus nicht zwischen politischer Ökonomie und expressionistischen Puppentheater entscheiden kann.

Belle Waring beschwert sich in New Crobuzon: Wenn du es hier um-modeln kannst…, daß die unerbittliche Grimmigkeit von Miévilles urbanen Schauplätzen und das Schicksal seiner Figuren etwas formelhaft sind; er sollte seine Charaktere vorankommen und vielleicht sogar Erfolg haben lassen.

Matt Cheney hat mit Ausgleichende Traditionen… teilweise eine alte Besprechung überarbeitet, in der er meinte, daß Miéville seine Bösewichter etwas realistischer darstellen sollte; er legt seine Gründe dar, warum Miéville das hätte tun sollen, und beschreibt, wie Miéville Pulp- und Avantgarde-Literatur in seinen Werken miteinander versöhnt.

Mein Essay Ein Argument in der Zeit vergleicht Miévilles Neubearbeitung von Historie, Mythos un Revolution mit Walter Benjamins Thesen zur Philosophie des Geschichsbegriffes.

Miriam Elizabeth Burstein untersucht in Aufhebung von Messiasfiguren, wie Miéville Ideen des Märtyrertums und des Messianismus mit der Figur des Judah Low umarbeitet.

Schließlich schreibt John Quiggin mit Vergangenheit (und Zukunft) um-modeln über Der Eiserne Rat im historischen Zusammenhang, und legt dar, wie der titelgebene Zug des Romans sich zu einem Mythos entwickelt der wiederkehrt um uns zu ›retten‹, so wie auch die revolutionären Traditionen des neunzehnten Jahrhunderts die in Der Eiserne Rat gefeiert werden, weiterhin als Quellen der Inspiration dienen.

Auf all das Vorgebrachte und mehr antwortet China mit seiner Erwiderung Mit einem Sprung sind wir frei….

Dieses Seminar wird unter den Bedingungen einer Creative Common Lizenz 2.0 zugänglich gemacht, wobei gemäß der Gepflogenheiten der angemessenen Verwendung von zitierten Material, die jeweiligen Urheberrechte von Der Eiserne Rat und anderer Werke, nicht verletzt werden.

Dieses Seminar ist auf englisch als PDF verfügbar, für alle, die Texte lieber ausdrucken und auf Papier lesen.

— Henry Farrell, Januar 2005.

Zur Übersetzung des Seminars

Wie schon bei meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Srange & Mr. Norrell«, finden sich die Quellenangaben der angeführten Zitate in den Fußnoten dieser Übersetzung. Zudem habe mir erlaubt, in den Fußnoten diese Übersetzung um hilfreiche Handreiche für deutsche Leser zu ergänzen. Ich hoffe, daß die wenigen Fußnoten der Autoren sich leicht von den Quellenangaben und meinen Handreichungen unterscheiden lassen.

Alle ursprünglichen Fußnoten der Autoren sind wie der Haupttext in normaler Größe wiedergegeben, meine Anmerkungen dagegen wie diese Anmerkung zur Übersetzung in kleinerer Schrift formatiert.

Da ich kein ausgebildeter, professioneller, sondern nur ein (hoffentlich im positiven Sinne des Wortes) ›dilettantischer‹ Hobbyübersetzer und ›Edel-Phantastik-Fachdepp‹ bin, bitte ich etwaige Fehler und Ungereimtheiten, die Ihnen auffallen mögen nicht allzu Übel zu nehmen.

Über entsprechende Korrekturmeldungen würde ich mich freuen und bin im Voraus dankbar dafür.

— Alex Müller / molosovsky, Dezember 2006. Korrekturmeldungen bitte per eMail an *molosovsky*@*yahoo*.de richten (Sternchen weglassen)

Beginn der Arbeit an dieser Übersetzung: 17. November 2006.

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1 King Rat (1998): König Ratte, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2003. ••• Zurück
2 Max Ernst (1891-1976): Deutscher Maler und Bildhauer, Surrealist und Dadaist. ••• Zurück
3 Robert Irwin (1928): Amerikanischer Insterlationskünstler. ••• Zurück
4 Perdido Street Station (2000): dt. in zwei Bänden als Die Falter und Der Weber, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2002; sowie als einbändige Sonderausgabe bei Amazon, 2004. ••• Zurück
5 Arthur C. Clarke Award: Seit 1987 verliehener, nach dem Autor von 2001 – Odysse im Weltraum benannter, Preis für den den besten in England erschienenen Science Fiction-Roman des jeweiligen Vorjahres. ••• Zurück
6 Michael Swanwick (1950): Amerikanischer SF-Autor. Miéville hat desöfteren Swanwicks ungewöhnlichen Fantasyroman Die Tochter des stählernen Drachens gelobt (The Iron Dragon’s Daughter, 1993; dt. Heyne 1996). ••• Zurück
7 The Scar (2002): dt. in zwei Bänden als Die Narbe und Leviathan, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2004. ••• Zurück
8 Between Equal Right: A Marxist Theory Of International Law (2005). Liegt (noch) nicht auf Deutsch vor. ••• Zurück
9 Iron Council, 2004: Der Eiserne Rat, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2005. Desweiteren dER. ••• Zurück
10 Michael Dirda (1948): Amerikanischer Literaturkritiker. ••• Zurück
11 Locus – The Magazine Of The Science Fiction & Fantasy Field: Seit 1968 monatlich erscheinendes Fachblatt der SF & Fantasy-Literatur mit Sitz in Kalifornien. ••• Zurück
12 SFSite: Angesehene Kanadische Website die sich seit 1996 der Genre-Phanatstik widmet. ••• Zurück

»Jonathan Strange & Mr. Norrell«: Das Blog-Seminar von Crooked Timber über und mit Susanna Clarke. Deutsche Fassung

Eintrag No. 309 — Was macht Molo der Phantast in seiner Freizeit? Dicke Bücher zweigleisig auf Englisch und Deutsch lesen, und vor lauter Begeisterung für die Materie dazu passende Sachtexte übersetzten. Nun konnte ich endlich wieder einmal eine bei meinem Vormichhinbosseln für die Sache der Phantastik gezüchtete größere Frucht ernten, und gönne mir also, mit ein wenig Stolz und der für einen (und erst recht Möchtergern)-›Privatgelehrten‹ angebrachten Bescheidenheit, eine anregende Sammlung mit fünf Essays über den exzellenten Fantasy-Roman »Jonathan Strange und Mr. Norrell« (2004) von Susanna Clarke, sowie die Antwort der Autorin darauf, dem deutschen Literaturpublikum anbieten zu können.

Klick auf das Bild, um PDF-Version herunterzuladen.Vielend Dank an den Malzan'schen Freund und Retter, den TeichDragon aus dem BibPhant-Forum. (Ich bin im Augenblick ganz feierlich vor lauter Phantastik-Internet-Kammeraderie).

Ich hoffe, die gegebenen PDF-Links zur deutschen Fassung funktionieren. Falls es Probleme gibt, schick ich das ca. 1MB größe Dokument auch gern per eMail. Zwecks Kontakt, siehe unten. — Die einzelnen Seminarbeiträge habe ich auch als Kommentare zu diesem Molochronik-Eintrag hier eingepflegt, für die ganz Harten, die so viel Text am Bildschirm lesen mögen. Es sind 53 PDF-Seiten mit 103 Fußnoten. Falls also Ihr Browser mit diesem Molochronikeintrag inkl. seiner Kommentare etwas lahmen sollte, wundern sie sich nicht.

Auf das hervorragende englische Gruppenblog Crooked Timber habe ich in der Molochronik schon einige Male verwiesen. Ein Jahr ist's her, daß die akademischen Freunde der Phantastik dort ein Seminar zu dem voluminösen Roman von Susanna Clarka veranstaltet haben.

Hier Henry Farrells einleitende Worte vom November 2005.

Die Namen-Links der einzelnen Autoren und Autorinnen führen zu den englischen Originalfassungen bei Crooked Timber, die Essay-Titel-Links zu den hier in den Kommentaren gelieferten deutschen Fassungen.

Einleitung Susanna Clarkes Roman Jonathan Strange und Mr. Norrell ist mit außerordentlich großem Erfolg angenommen worden, mit gutem Grund. Der Roman wurde mit dem Hugo und dem World Fantasy Award[1] ausgezeichnet, hat aber auch viele Leser für sich gewinnen können, die sich gewöhnlicherweise nicht für Fantasy interessieren. Einserseits meint Neil Gaiman[2] über das Buch, es sei »ohne Zweifel der gelungenste Roman englischer Phantastik, der in den letzten siebzig Jahren geschrieben wurde« (zu dem betonenden Adjektiv ›englisch‹ folgt später noch mehr), auf der anderen Seite beschreibt Charles Palliser, Autor des wunderbaren Historienromans Quincunx. Das Geheimnis der fünf Rosen, es als »völlig fesselnd« und als »eine erstaunliche Leistung.« Wir hier von Crooked Timber sind seit dem das Buch erschienen ist Fans — nicht zuletzt wegen seiner lustigen, umfangreichen und abschweifenden Fußnoten, die den Eindruck erwecken mit nahezu vollkommenen Kalkül dafür gemacht worden zu sein, um einem gewissen akademischen Typus zu gefallen.
{…}
John Quiggin behauptet in Die Magisch-Industrielle Revolution, daß der Roman zu den Ursprüngen der Science Fiction zurückkehrt, weil er sich mit den Auswirkungen der Industriellen Revolution auseinandersetzt.
Maria Farrell legt in Die Schürfgründe der Historie dar, wie der Roman geprägt ist vom Aufeinanderprallen zweier Welten: auf der einen Seite ein Regency England wie man es sich entsprechend der Romane von Jane Austen und anderen ›romance novels‹ vorstellt, und dem tatsächlichen Regency Engand auf der anderen Seite.
Belle Waring fragt in sich Wer erzählt Jonathan Strage & Mr. Norrell, und sind die Zauberinnen geblieben?, wer die Erzählstimme des Buches ist, und wo die Zauberinnen geblieben sind (und sie mutmaßt, daß beide Frage zur selben Antwort führen).
John Holbo richtet in Zwei Geddanken (Über christliche Zauberer und Zwei Städte) seine Aufmerksamkeit auf Zauberei, Ironie und die Darstellung von Dienern durch Clarke.
Henry Farrell ist in Rückkehr des Königs der Ansicht, daß eine Kritik an der englischen Gesellschaft die versteckte Geschichte von Jonathan Strange und Mr. Norrell ist.
Auf all das antwortet zuletzt Susanna Clarke mit Frauen und Männer; Diener und Herren; England und die Engländer.
Wie schon frühere CT-Seminare wird dieses hier unter den Creative Commons Lizenz-Bedingungen veröffentlicht (Namensnennung-NichtKommerziell 2.5). Das Copyright der zitierten Passagen aus Jonathan Stange und Mr Norrell oder anderer Texte wird gemäß der Gepflogenheiten redlicher Verwendung nicht beeinträchtigt.
Die Kommentarfunktion zu den einzelnen englischen Seminarbeirägen sind im Crooked Timber-Blog freigeschaltet. Wir möchten dazu ermuntern, allgemeine Kommentare bei Susannas Beitrag zu platzieren, denn dort wird die Hauptdiskussion geführt; wer spezielle Anmerkungen zu einem der Seminarbeitäge anbringen möchte, kann das in den Kommentaren zum jeweiligen Beitrag machen.
Dieses Seminar ist auf englisch als PDF verfügbar, für alle, die Texte lieber ausdrucken und auf Papier lesen.

Henry Farrell, November 2005.

Zur Übersetzung des Seminars

Anders als in der englischen Originalfassung, habe ich die Quellenangaben der Zitate in dieser Übersetzung als Fußnoten formatiert. Zudem habe mir erlaubt, die Fußnoten um hilfreiche Fußnoten für die deutschen Leser zu ergänzen. Da ich kein ausgebildeter, professioneller, sondern nur ein (hoffentlich im positiven Sinne des Wortes) ›dilettantischer‹ Hobbyübersetzer und ›Edel-Phantastik-Fachdepp‹ bin, bitte ich etwaige Fehler und Ungereimtheiten, die Ihnen auffallen mögen nicht allzu Übel zu nehmen.

Über entsprechende Korrekturmeldungen würde ich mich freuen und bin im Voraus dankbar dafür. Auch den Damen und Herren der JvG-Universitätsbibliothek, sowie der Deutschen Bibliothek zu Frankfurt/M bin ich für ihr freundliches Entgegenkommen zu Dank verpflichtet.

— Alex Müller / molosovsky, November 2006.

Korrekturmeldungen bitte per eMail an molosovsky@yahoo.de richten (Sternchen weglassen)

Beginn der Arbeit an dieser Übersetzung: 16. Oktober '06.

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1 Hugo Award: Ein seit 1953 jährlich durch die Teilnehmer der SF-World-Con verliehener SF-Preis; benannt nach dem SF-Pionier Hugo Greensback. –/– World Fantasy Award: Wird jährlich auf der World Fantasy Convention seit 1975 verliehen. ••• Zurück
2 Neil Gaiman (1960): Englischer Phantastik-, Jugendbuch- und Drehbuchautor. Bekannt geworden in den Neunzigerjahren mit dem Comic-Epos The Sandman, sowie einer Biographie über den Per Anhalter durch die Galaxis-Schöpfer Douglas Adams; Autor der Romane Niemalsland, American Gods und Anansi Boys. ••• Zurück

Gedankenspiel zur ›Inhalt‹- und ›Form‹-Problematik

Eintrag No. 266 — Den Unterschied zwischen der Oberfläche und Fruchtfleisch sollte man halt im Auge haben.

Oberfläche: Worum gehts grob? Wie schauts aus? Wie kommts daher? Sprich: Sind Style und Design von Kulissen, Kostümen, Requisiten usw. modular als Rendering auf einer Monomythosstruktur aufgetragen? — Mein Bild dafür: Wenn der Leser Instrument und Buch der Musiker ist, was für Musik wird gespielt?

Fruchtfleisch: Worum gehts genau? Aus welcher Sicht, mit welcher Haltung wird geschildert? Welche Prämissen, Allgemeinplätze, werden vorausgesetzt? Wie wird erzählt? Wie ist es gemacht? Zum Beispiel bezüglich der strukturellen, dramaturgischen, argumentativen, faszinatorischen Merkmale des Textes? — Hier ist das Bild: Wieder Leser das Instrument, Buch ist Musiker; wie wird man als Instrument behandelt?

»Her mit dem Schwert, ich muß die Welt retten!«, oder: Diana Wynne Jones und ihr »Tough Guide to Fantasyland«

Eintrag No. 230Diana Wynne Jones wird in England seit vielen Jahren als Fantasy-Autorin geschätzt. Mit der diesertage in unseren Kinos laufenden Verfilmung von »Das wandelnde Schloß« durch die japanischen Ghibli-Animationsstudios von Meister Miyazaki wird Diana Wynne Jones nun wohl auch bei uns mehr zu einem geläufigen Geheimtip unter Jugendbuch- und Fantasy-Kennern (wer immer das sein mag). Sie hat selbst noch Vorlesungen von J. R. R. Tolkien und C. S. Lewis besucht, und gibt dennoch (oder gerade deshalb) mit »The Tough Guide to Fantasyland« (etwa: »Der herbe Reiseführer nach Fantasyland«) ein humorgeballtes Kontra auf all die zu liebgewonnenen Versatzstücke des Fantasy-Genres.

Lob und Jubel von mir nachträglich für den Bastei-Verlag, der das Buch 2000 unter dem Titel »Einmal zaubern, Touristenklasse« verlegte.

Wir erinnern uns: In den Fünfizigerjahren des letzten Jahrhunderts erschienen die drei Bände der »Herr der Ringe«-Trilogie von Tolkien. Erwartet hatte man eine Fortsetzung des erfolgreichen Kinderbuches »Der Kleine Hobbit« und bekommen hatte man eine überbordende Super-Queste nach einem Ausweg, um der sich alles unterwerfenden Macht der Moderne zu entkommen. Nicht viel geschah, bis die Hippies in den Sechzigern den zum Großmärchen aufgeblasenen Kriegs-Epos des Kampfes zwischen Gut und Böse für sich entdeckten. Der Meister von Mittelerde selbst war entsetzt über seine neue Leserschaft, die er als ›langhaarige Irre‹ bezeichnete.

Wer jemals den Disco-Song »Where there is a whip, there is a will« aus der Zeichentrickfassung des »Herren der Ringe« gehört hat, wird Tolkien verstehen können. Hier in Deutschland ist dieses Lied aus der TV-Fortsetzung von Ralph Bashkis Kino-Fassung kaum bekannt.

Wie man's auch nimmt, hat Tolkiens Mittelerde einen enormen Einfluß auf die populäre Kultur. Dieser exzentrische Linguist hat das Erfinden einer eigenen Welt mit einer Ernsthaftigkeit durchgezogen, die es bis dahin nicht gab. Frühere Phantasie-Welten sind im Vergleich zu Tolkien ehr oberflächlich und unverästelt. Niemals zuvor hat ein Autor in diesem Umfang zuerst Kosmologien, Landkarten, Genealogien, Geschichts-Chroniken, Legenden, Lieder, Verse und verschiedene Sprachen erstellt, um erst dann seine Geschichte in dieser Welt zu erzählen. Vor Tolkien blieb entsprechend veranlagten Lesern nur, die Felder der echten Geschichte, der Religionen, Großideologien und der Esoterik zu besuchen, wenn sie sich einer umfassenden literarischen ›Wirklichkeit‹ zwecks Selbstergänzung hingeben wollten.

Bis heute wird diese mächtige Sinnmachmaschinen-Qualität der ›Fantasy‹ von den Hardcore-Verfechtern der sogenannten ›richtigen und ernsthaften‹ Literatur scheel beäugt. Kein Wunder: Haben doch mit dem Fortschreiten des von Tolkien selbst so verachteten Moloch Moderne — der alles in kleine Konsumier-Portionen für Club-Urlaube abpackt — mehr oder weniger geschickte Pauschal-Reiseveranstalter Routen ins Tolkien'sche Terrain etabliert, auf denen die Touristen immer-tröstliche Helden- und Märchengeschichten genießen können.

<a href=""www.amazon.de"">Bereits 1996 hat Diana Wynne Jones ihren »Tough Guide to Fantasyland« in England veröffentlicht, der in fast 500 alphabethischen Einträgen von ›Adept‹ bis ›Zombies‹ die typischen Eigenheiten dieser Literatur kenntnisreich aufzählt, und spöttisch analysiert.

So ist keine ›Tour‹ vollständig ohne eine ›Karte‹. Touristen gelangen oft mittels eines ›Portals‹ an ihren ›Ausgangsort‹, zum Beispiel der kleinen Stadt Gna'ash.

Tja, mancher Leser wird bereits von derartig exotischen Ortsnamen wie Gna'ash verwirrt. Von solchen Irritationen rührt viel des schlechten Rufes der Fantasy und Phantastik. Wie gut, daß bereits zu solch grundlegenden Dingen wie ›Apostophen‹ und ›Namen‹ der »Tough Guide« den Fantasy-Unkundigen Verständnishilfe reicht. So gibt es drei Theorien zur Aussprache eines Ortsnamens wie Gna'ash.

1. Man ignoriert den Apostroph und einfach nur das Wort aus. (Dann Gna'ash = Gnash.) 2. Man läßt eine Pause oder Lücke an der Stelle des Apostrophen. (Dann Gna'ash = Gna-ash.) 3. Man macht eine Art Gluckslaut für den Apostrophen. (Dann Gna'ash = Gnaglunkash.) Personen mit unsicher sitzenden Mandeln sollten mit einer der ersten beiden Theorien vorlieb nehmen.

Hat man in Gna'ash das örtliche ›Wirtshaus‹ gefunden, sucht man dort seine Tour-›Gefährten‹ zusammen, ißt seinen ›Eintopf‹, mietet eine ›Kammer‹ für die Nacht und nimmt (wers braucht) an einer ›Kneipenschlägerei‹ teil. Am nächsten Tag kauft man auf dem ›Marktplatz‹ seine ›Kleidung‹ — zu der unbedingt ein ›Kapuzenumhang‹ gehört —, sein ›Schwert‹, ›Pferd‹ und den ganzen anderen Krempel für eine ›Queste‹. Bevor man aufbricht, sollte man noch den ansäßigen ›Magier‹ wegen des Schwertes konsultieren. Immerhin ist der längste Einträg des »Tough Guide« diesen Erz-Gadgets der Fantasy gewidmet.

Nun gehts auf zur großformatigen von ›Mystischen Meistern‹ moderierten Schnitzeljagd durch alle Gebiete die auf der ›Karte‹ zu finden sind. Gewürzt wird diese Schatzsuche nach einem ›Quest-Gegenstand‹ durch schwieriges Terrain und den ›Finsteren Herrscher‹. Hat man nach verschiedenen ›Zwischenfällen‹, ›Konfrontationen‹ und ›Kämpfen‹ das ›Quest-Objekt‹ gefunden, geht man daran, den ›Finsteren Herrscher‹ zu besiegen und/oder packt die ›Weltrettung‹ an. Wie auch immer: im dritten (oder auch fünften) Teil der Trilogie kommt es zum ›Abschluß‹ der Geschichte, siehe ›Geburtsrecht‹, siehe ›Verschollener Thronfolger‹.

Diana Wynne Jones kratzt mit ihren Einträgen zu ›Wirtschaft‹ (Ökonomie, siehe auch ›Stickereiarbeiten‹), ›Umwelt‹ (Ökologie, siehe auch ›Läuse‹) und ›Import/Export‹ an der oberflächlichen Daumenlutscher-Komplexität vieler Fantasy. Die zusammenkonstruierten Handlungen nimmt sie auseinander, indem sie darlegt, daß in ›Fantasyland‹ eben ›Legenden‹, ›Prophezeiungen‹ und ›Träume‹ als Informationsquelle für die ›Helden‹ weitaus zuverläßiger sind als ›Geschichtsschreibung‹. Sprach- und Stilkritik übt sie, wenn sie uns das ›Management‹ der Tour, sowie deren ›Formelle Bezeichnungen der Reiseveranstalter‹ (Official Management Terms) vorstellt. Eine Pest sucht eine Gegegend eben heim und hat Städte im Griff.

Kenner und Liebhaber von Genre-Fantasy können sich über die vielen geistreichen Beobachtungen und trockenen Kommentare abhärten oder aufregen, lachen oder grollen. Allen, die sich selbst in der Kunst der Fantasy-Schriftstellerei und Weltenerfinderei versuchen, empfehle ich den »Tough Guide« zur inniglichen Beherzigung. Jones legt umfangreich die verbreitesten Handgriffe (Fehler) für öd-gewöhnlichste Fantasy-Topffrisuren dar. Der »Tough Guide« ist eine praktische Bürste, mit der man seine eigenen Fantasy-Entwürfe gegen den Strich bürsten kann.

Ein Zuckerl des Buches sind die das Alphabet unterteilenden ›Gnomenworte‹ (nebst einem Barbarenlied). Die gebundene Auflage des Jahres 2004 des englischen Gollancz-Verlages (ISBN 0-575-07592-9) wird neben einer ›Karte‹ von Dave Senior durch acht feine Bleistiftzeichnungen (und Umschlagszier) von Douglas Carrel geschmückt.

Wenn du deine eigene Tocher an Banditen verkaufst, und dafür selbst mit deiner Tocher freigelassen wirst, das ist dann Politik. Ka'a Orto'o, Gnomenworte, XXXI ii

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Dieser Artikel ist zugleich mein erster Beitrag für das Phantastik-Portal FictionFantasy.

1999, ein bitteres Phantastik-Sachbuch-Jahr

Eintrag No. 191 – Heute ist mir das Buch »Deutsche Phantastik – Die phantastische deutschsprachige Literatur von Goethe bis zur Gegenwart« von Winfried Freund aus dem hammerseriösen UTB/Wilhelm Fink-Verlag untergekommen. Inzwischen sechs Jahre alt, gehört es in der Stadtbücherei Frankfurt immer noch zu den aktuellsten Sachbüchern zur Phantastik. Dennoch: weder Niebelschütz noch Krausser finden sich darin. Traurig, traurig. Dafür stolperte ich in der Einleitung über dieses eloquente Gedankenunterholz. (Hegel und Adrono, ick hör Euch trapsen).

Seite 13: Die folgende, an den zentralen Gattungen literarischer Phantastik orientierte Darstellung versteht sich als exemplarisch und representativ zugleich. Herausgehoben werden sollen in den einzelnen Genre-Portraits die Einzelwerke, in denen das Phantastische im fundamentalen Sinn Gestalt gewonnen hat und traditionsbildend gewirkt hat bzw. wirken könnte. …
Das »könnte« macht mich bangen.
… Literarische Phantastik wird dabei durchgängig als die Literatur verstanden, die in negativer Dialektik den Aufbruch durch das Ende und Entwicklung zum Höheren durch das Abgründige aller Existenz entwertet, die alle Sinnstiftungen in die Sinnlosigkeit, alle Hoffnungen in die Verzweiflung und jeden Fortschritt in die Katastrophe münden läßt, die das Ideal wie den Glauben desillusionieren und das Gestaltete ins Formlose, das Sein ins Nichts, die Fülle des Daseins in die Leere und die Ordnung in Chaos auflöst. Konstruktive Aspekte des destruktiv Entfesselten bleiben vereinzelt.
Fehlt nicht viel, und mir entfleucht eine schmissige Melodie auf dieses literaturwissenschaftliche Prosagedicht.

LiteraturBlogging de Luxe:
Crooked Timer-Seminar über China Miéville

Eintrag No. 179 – Erst vor Kurzem entdeckt: das aufregende Gemeinschafts-Blog Crooked Timber. Es kommt selten vor, daß Schriftsteller sich auf ein öffentliches Ping-Pong mit Kritikern einlassen (egal ob die Kritiker nun loben oder mäkeln). Der Name des Blogs wurde von Immanueal Kant inspiriert:

Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz gerades gezimmert werden.
aus: »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, (1784).

Es gibt dort nun sechs Essays von akademischen Freunden der linken Phantastik, vor allem den dritten Bas Lag-Roman »Iron Council« betreffend:

• von John Holbo: We Shall Rise to the Challenge of Their Appointment to Life for That Single Moment – Ein Vergleich zwischen dem literarischen Weltbauten von Tolkien und Miéville unter Zuhilfename eines Arguments von Bruno Schulz.

• von Belle Waring: New Crobuzon: If You Can Make Re-Make It There! (You’ll Make It Anywhere) – Raunzt über zuviel Grimmigkeit in New Crobuzon.

• von Matt Cheney: Balancing Traditions: The Pulp Origins, Muddled Moralities, and Anxious Audiences of China Miéville’s Aesthetic Revolution – Über die Bösewichter bei Miéville, sowie die Einarbeitung von Pulp- (Schund) und Avantgarde-Literatur in die Bas Lag-Bücher.

• von Henry Farrell: An Argument in Time – Über Geschichte und Mythos bei Miéville unter Zuhilfenahme von Walter Benjamin.

• von Miriam Elizabeth Burstein: Undoing Messiahs – Über Märtyrertum und Messianismus in »Iron Council«.

• von John Quiggin: Remaking the Past (and Future) – Über Revolution und Geschichte.

• Und eben die die ausführliche und kritisch/selbst-kritische Erwiderung von China Miéville auf diese Essays: With One Bound We Are Free: Pulp, Fantasy and Revolution.

Angenehmer Service der Posse des krummen Holzes: Hier all das zum Ausdrucken als PDF.

Schreiben, Genre und das romantische Ideal von der Einzigartigkeit

Eintrag No. 152 – Im Forum von SF-Netzwerk wird ein exemplarischer Text (von Mofou bei leselupe.de), der den romantischen Verklärungen vom Schreiben als Suche nach Einzigartigkeit anhängt, diskutiert. Das stehen solche schwammigen Sätze drinn wie:

Schreiben wäre der Zirkelschlag vom vergessenen zum gegenwärtigen Augenblick, ein von innen nach außen gekehrter Moment: Die durch Sprache transportierte Innerlichkeit gewinnt Konturen.

… Wer Wegweiser sucht, glaubt, der Wind ließe sich die Richtung weisen. Das Paradox der notwendigen Regel besteht darin, dass der, der aus der Flut des Geplappers auftaucht, sie bricht. Erzählen gewinnt im Regelbruch seine Nachdrücklichkeit. Sagen wir ruhig: seine Magie.

…Literatur verweigert Plausibilität …

Und so weiter. Hier zu meiner Erwiderung.

Und hier eine wirklich gute Einführung zur Genre-Theorie von Daniel Chandler (walisischer Semiotiker), den ich für wertvoller halte.

Doppler-Effekt und Phantastik

Eintrag No. 150 – 1842 hat der österreichische Physiker Christian Johann Doppler den Tonhöhenwechsel bewegter Schallquellen erklärt.

Dopplereffekt, akkustisch34

Der französische Physiker Armand Fizeau hat dann 1848 darauf hingewiesen, daß so eine Verschiebung auch bei den Spraktrallinien von Lichtwellen vorkommt. Stammen die Lichtwellen von einer sich vom Beobachter entfernenden Lichtquelle, werden sie gedehnt (Rotverschiedung), und entsprechend bei sich dem Beobachter nähernden Lichtquellen gestaucht (Violettverschiebung).

Solche harten wissenschaftlichen Erklärungen und Modelle von physikalischen Phänomenen übertrage ich gerne auf Gebiete der Kunst und Kultur. Zum Beispiel die fiktionale Literatur {also alle ausgedachte Geschichten, Romane, Erzählungen, Epen ect.} ist da erstmal der Schall, oder das Licht, und wirkt komprimiert oder ausgewalzt, je nachdem ob sie sich auf den Leser zubewegt oder sich von ihm entfernt. ––– Dabei gibt es immer noch genug Bestandteile von fiktionalen Texten, die man im Gedankenspiel durch die Doppler-Effekt-Brille betrachten kann …

  • sprachlich: harter oder fließender Rhythmus … harmonische oder disharmonische Melodik … einfacher oder erweiterter Wortschatz;
  • räumlich: Innenwelt oder Aussenwelt … verharrend oder reisend;
  • zeitlich: chronologisch oder durcheinander … Zeitlupe (ein Augenblick umfaßt zehn Seiten) oder Zeitraffer (zehn Jahre in zwei Absätzen);
  • psychohygienisch: herausfordernd oder entspannend … tröstend oder ängstigend … erziehend oder verführend; usw usf.

Mein liebstes Gedankenspiel ist derzeit folgender Übertragungsversuch des Doppler-Effektes:

Realistische Literatur ist vielleicht vergleichbar mit den ruhenden Licht- oder Schallquellen, deren jeweilige Wellen unverzerrt den Betrachter/Höhrer erreichen. Jede ausgedachte Geschichte ist ja in einer ausgedachten Welt angesiedelt und als realistisch bezeichnet man ausgedachte (fiktionale) Welten, die sich möglichst wenig von der faktischen Welt der Tatsachen unterscheiden.

Phantastische Literatur findet aber in ausgedachten Welten statt, die sich von der faktischen Wirklichkeit zum Teil erheblich unterscheiden. Wie aber soll hier ein Doppler-Effekt aussehen?

Eine Möglichkeiten skizziert Jürgen Mittelstrass in seinem Artikel »Sonderwelten und sonderbare Welten – Eine Kritik der virtuellen Vernunft« (NZZ vom 16. Oktober 2004) – Hervorgebungen von Molosovsky:

Alles Esoterische ist schliesslich Ausdruck von Weltflucht und des Unvermögens, sich mit dem, was ist, kritisch und produktiv auseinanderzusetzen. Die Flucht nach vorne, in Form von Science-Fiction, könnte dazu ebenso gehören wie die Flucht zurück, z. B. in die wiederentdeckten Mysterien des Mittelalters. Allerdings lässt sich hier auch ganz anders, nämlich gutwillig argumentieren: »Star Trek«, das ist die moderne Welt, wenn sie neugierig träumt, und Harry Potter, das ist der ewige Kampf des Guten gegen das Böse. Ausserdem bleibt die Welt, wie sie ist, immer die Folie, auf der sich andere Welten spiegeln: U.S.S. Enterprise hat ständig Probleme mit dem Antrieb, und in der Welt Harry Potters ist Fussball in der Muggelwelt ebenso beliebt wie Quidditch, der Sport der Zauberwelt, den man auf fliegenden Besen betreibt. Hier geht es nicht, wie in allem Esoterischen und Sektenhaften, um die Flucht aus der eigenen Identität, sondern um die spielerische, fabulierende Erweiterung einer Welt, in der sich neue Identitäten bilden. Das aber ist allemal die Leistung einer sehr weltlichen, diesseitigen Phantasie, einer Virtualität, die uns nicht vernichtet, sondern unsere Subjektivität atmet.

Ich gebe zu, daß ist alles ziemlich musenvolles Wischiwaschidenken, sowohl von Herrn Mittelstrass, als auch von mir. Mittelstrass versucht auf die Bedeutung von Vernunft auch für das Virtuelle hinzuweisen und schimpft ansonsten über Computerspinner und Modephilosophen, die von der Magie des Virtuellen faseln und dies offensichtlich nicht evangelisch-christlich genug tun für Mittelstrasses Geschmack.

Immerhin: Überraschend plausibel kann man die (entgegenkommende) auf den Leser zu- oder (ausweichende) vom Leser weg-Bewegung von Phantastik ganz platt beschreiben als triviale oder hermeneutische Verschiebung. Wobei ich trivial pfui und hermeneutisch huii nicht wertend verstanden haben möchte, sondern im Sinne von allgemein (allen Menschen im öffentlichen Raum) zugänglich und verschlüsselt, nur für Code-Initiierte verständlich. Hermeneutik ist in meiner Hau-Ruck-Ästheteik lediglich der antiquierte Ausdruck für Insider joke.

Fantasy aus der Kirchengeschichte: Warum dominiert das Kreuz den christlichen Altarraum?

(Gesellschaft) – Im Zuge eines Thread über Tolkien bei SF-Fan habe ich nicht nur versucht, ein wenig die katholischen Elemente im »Herr der Ringe« freizulegen, sondern war bemüßigt, der Frage nachzugehen, warum das Kreuz das dominierende Symbol der Christenheit darstellt. Dazu blätterte ich mich durch meine Kulturgeschichten und biete folgende respektlose-flockige Zusammenfassung.

Hatte Jesus Menschen- oder Gott-Natur, oder beides?

Wie das Pentagramm den Pythagoräern als »Hey Leute, hier befindet sich ein Info-Netz-Forum, wo was man über die Geheimnisse des Goldenen Schnitts klönen kann«-Zeichen an Türen und Hauswänden, und bei sich getragen zur gegenseitigen Idendifizierung diente, so war im Urchristentum der Fisch und das entsprechende griechische Wort ichthys , das sich aus den Anfangsbuchstaben für Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser zusammensetzt, viel beliebter als beispielsweise das Kreuz. DAS Kreuz gabs und gibts eh nicht, sondern unzählige Varianten, vom einfachen roten, übers katholische oder orthodoxe, bis zum templerischen, maltekischen ect. pp. ff. (und wer ganz übereifrig paranoid interpretiert, darf sogar die » X-Men« als Mutanten-Apostel deuten.)

Immerhin wurde erst 325 n.Chr. beim ersten Konzil von Nicäa die römische Todesstrafe der Kreuzigung aus Respekt vor Jesus Christus abgeschafft. Man denke an St. Andreas und andere, die als Märtyrerpioniere medial von der Ähnlichkeit ihrer Hinrichtung mit der des Originals profitierten. Man unterschätze die Propagandawucht der narrativen Märtyrerschuldscheine gegen das grausame heidnisch-imperiale Rom nicht, und welch wichtiger Aspekt dies beim Bilderstreit- und Menschennatur-Gekabbels war, mit dem sich das Christentum zwecks Aufstieg zum Weltbildhegemon zu beschäftigten hatte. ••• Nebenbei: Im Islam ist dieser Streit bekanntlich genau andersrum ausgegangen, als beim katholisch-orthodoxem Christentum, allerdings um den Preis linguistischer Exklusivität: »Übersetzungen des Prophetenwortes bleiben immer minderwertiger und des Arabischen nicht Mächtige haben im Islam kein Mandat.« •••

Bis heute mutet die katholische Kirche ja zwei den Verstand beleidigende »Ist echt und wirklich so gewesen«-Frechheiten als Kathechismus zu: die jungfräuliche Geburt und Jesus' Auferstehung von den Toten. Diese zwei Speziealeffektorigien des katholischen Films entfachten freilich ein heftiges Gerzerre um die Gegensätzlichkeit der Mensch- und/oder Gott-Natur von Jesus. Die unterschiedlichen Meinungen und widerstreitenden Phantasien dazu, entluden sich dann 431 n. Chr. beim dritten ökumenischen Konzil von Ephesos, auf dem der Bischof von Alexandria dem Bischof/Patriarchen von Konstantinopel eins auf die Mütze gab, und Maria vollends mit dem Titel »Gottesmutter« ausgezeichnet wurde (statt nur: »Erlösermutter«). Ganz abgefrühstückt war das Thema aber deshalb nicht für alle, Räubersynoden und Much Ado about Nothing folgten, und wenig Ruhe herrschte im Schoß von Mutter Kirche.

451 n. Chr. beim Konzil von Chalkedon kam man also wieder zusammen, diesmal, um die Lehre vom Leiden Christi am Kreuz zu verhandeln. Wie schon in bei der Mission-Impossible »Befruchtung Marias durch den Heiligen Geist«, wo man sich für die hygienisch-sexlose aber wunderträchtigere Formel »so rein wie Wasser durch ein makelloses Rohr« (und lieber via Ohr in den Uterus, als über die kürzere Pfui-Deifi-Route) entschieden hat, setzte sich wiederum die hierarcho-realo Fraktion der Psyagogie-Praktiker gegen die Bischöfe mit den un-wunderlicheren Ideen durch, die z.B. meinten, daß einer von Jesus Anhängern – möglicherweise Judas Ischariot oder Simon von Kyrene – statt Jesus am Kreuz gestorben sei. Andere klamüserten, daß Jesus die Kreuzigung überlebt hat, weil er nicht wie üblich mehrere Tage am Kreuz hängen musste, sondern bereits nach einigen Stunden abgenommen wurde. ••• Man denke auch an später noch virulentes Gemurmel, wie die Südfrankreich-Merowinger-Connection a la Templergeheimnisse, oder die Barnabas bzw. Thomas war Zwillingsbruder/schwester von Jesus-Theorie und dergleichen. •••

••• »Befruchtung durch den Heilien Geist« ist ja wieder Ideologie-Sprengstoff auch auf dem Gebiet der Science-Fiction geworden, wenn man Heiliger Geist als genetischen Programmcode und – wie zuerst schon die Kabbalisten – Gott als Onto-Informatiker begreift, und sich somit der geklonte Mensch unter zeugungstechnischen Gesichtspunkten als Jesus-analog entpuppt. •••

Endgültig zementiert wurde dann 787 n. Chr. auf dem siebten Konzil von Nicäa, durch eine Art byzentinischer Angela Merkal, als nämlich die oströmische Kaiserin Irene im Bilderstreit entschied, daß die Bilderverehrung erlaubt (erwünscht) sei. Erst mit dieser Genehmigung des Kreuzes, konnte es sich als zentraler Vereehrungsmagnet in den Kirchenräumen etablieren, und begann dessen Siegeszug als primäres christliches Firmensymbol. Wir leben also in gewisser Weise hier und heute auch im Jahre 1217 des Kreuzes.

Marienverehrung und Kreuzverehrung markieren also die Bereiche des abgedreht Wundersamen, die aber für entsprechend Strenggläubige als harte Fakten zu gelten haben. Damit tritt der kommunitaristische Aspekt der Gleichheit des menschlich-Seienden und des Respekts gegenüber der Schöpfung zurück – und z.B. der entsprechend konnotierte Fisch verschwindet für lange Zeit aus der Hitliste christlicher Symbole. Vollends infiziert von den Machtroutinen zentralistischer Ideologien, entschied man sich für eine grelle Superheldengeschichte mit Coverzeichnungen von »Wundergeburt, Blut, Tränen und Todesnichtung«. Damit kann man mehr Angst beschwören und bringt sich ohnmächtig Wähnende dazu, sich williger benasenringen zu lassen.

Eine zentrale Aussage, die entsprechend von Christenmacht-Ausübern gern verbreitet und bedient wird, ist die Absegnung zur Unmündigkeit und Verführung zur Verantwortungs-Befreiung: »… ihr müßt werden wie die Kinder«, im ursprünglichem Sinne von infantil, bedeutet: »kann (noch nicht) nicht sprechen«; siehe auch Thronfolger-Infanten als »noch nicht Macht sprechende«, und Infanterie als Befehle nur empfangende Einheiten, die selber nix »zu sagen haben«.

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Die Illus zu diesem Beitrag sind Details von der Zeichnung »Der Teufel hatte eine Idee«.

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