Susanna Clarke: »Jonathan Strange & Mr. Norrell« / »Die Damen von Grace Adieu«, oder: Ein edles Tröpfchen des berauschenden Weins der Magie
Eintrag No. 434
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Das gute Stöffche der Susanna Clarke’schen Phantastik wurde mir zum ersten Mal in der von Neil Gaiman herausgebenen Anthologie mit Kurzgeschichten aus dem Universum seiner »Sandman«-Comics kredenzt, und später lag einer Gallery-Mappe zu Gaimans und Charles Vess »Stardust« eine weitere Kurzgeschichte von Clarke bei[01]. In der Autorenbio der »Sandman«-Antho von 1996 heißt es (Übersetztung von Molo):
Derzeit arbeitet sie an einem Roman, der im England des 19. Jahrhunderts spielt, in dem Zauberei eine mehr oder minder angesehene Profession ist.
Gute zehn Jahre hat Clarke an »Jonathan Strange & Mr. Norrell« (= JS&MN) gefeilt, bis der Roman 2004 erschien.
Welch eine Freude! Was für eine Wohltat, wie JS&MN mittlerweile aufgenommen wurde, sowohl bei den Genre-Lesern, als auch von der Zunft der berufsmäßigen Literaturmeinungsverbreiter in Großmedien und Feuilletons. So jubelt beispielswiese Denis Scheck für die TV-Sendung »Druckfrisch«:
Susanna Clarke hat eines jener raren Bücher geschrieben, die uns daran erinnern, dass die Realität nur der Ort des Eskapismus derjenigen ist, die für das Reich der Magie nicht stark genug sind
und Nina May für »Die Zeit«:
Mit einer wunderschönen Bildersprache hat Susanna Clarke ein Buch für lange Herbstschmökerabende geschrieben, ein Buch, auf dessen honigfarbene Seiten einfach Schokoladen- und Kaffeeflecke gehören.
Aber, in beiden Lagern (bei Fantasylesern und Literatuuurverköstern) äußerte man verschiedentlich auch Befremden oder Unwohlsein über einige Eigenschaften von Clarkes Roman. Befremdet zeigte sich auch eine angesehene englische Literatin[02], die Clarke im Vorfeld der Veröffentlichung von JS&MN zwar begeistert bescheinigte, einen außergewöhnlich guten Roman vorgelegt zu haben, aber Clarke solle das Buch doch besser nicht selbst freimütig als ›Fantasy‹ bezeichnen, dass würde ja die anspruchsvolle oder ernste Leserschaft auf falsche Fährten locken und verschrecken. Diese Denkfigur ist ja bekannt: wenn ein Buch gute Literatur ist, dann kann es keine Genre-Fantasy sein. (Und ergänzend das andere in meinen Augen genauso dumme Vorurteil: Fantasyleser können eigentlich niemals wirklich ›ernsthafte‹ oder ›anspruchsvolle‹ Leser sein.)
Natürlich sind Einwände gegen die prägnanten Eigenschaften solch guter Literatur wie JS&MN nicht immer gänzlich kraftlos. Wer auf einen zügigen Fortlauf und klaren Bezug von Ereignissen wert legt, wer positive, leicht zu handhabende Rollenverteilung bevorzugt, wer mehr eine Schwäche (oder grad eben eher Gelegenheit) für ›Auf Sie mit Getöse‹-Äktschn und verlässliche Achterbahn-Thrill- und/oder Gefühlskissen-Einlagen hegt, wird hart und wohl weitestgehend freudlos an JS&MN zu knabbern haben, und nach einigen hundert Seiten beiseit legen. Wem es so ergeht, ist nicht automatisch ein schlechter oder dummer Leser. Man outet sich halt nur, ein ungeduldigerer Leser[03] in Sachen ›Worum geht’s denn nu?‹-Haltung zu sein.
Da ist es bequem, dass sich mittlerweile die nicht oft bietende Gelegenheit auftut, und man sich wie bei einem guten alten Rollenspiel-Buch[04] auf, in diesem Fall, zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen in eine Fantasywelt begeben kann:
- »Möchtest Du lieber in einem munter ausufernden dicken Roman versinken, dann greife zu ›JS&MN‹;
- Wenn Du elegant geschnürte Kurzgeschichten vorziehst, dann gib Dich den ›Die Damen von Grace Adieu‹ hin.«
Da JS&MN bereits mit einiger Aufmerksamkeit bedacht wurde, stelle ich im Folgenden »Die Damen von Grace Adieu« (= DVGA) ausführlicher vor[05].
DIE KURZGESCHICHTEN
Leider wurde für die deutsche Ausgabe nur das ornamentale Blumenmotiv des Umschlags übernommen, die restlichen, entzückend anmutigen Illustrationen von Charles Vess[06] der hiesigen Leserschaft aber traurigerweise vorenthalten. Da blühen Prunkwinden, Sterne und Vollmond kehren mehrmals wieder, Eulen im Flug; zwei der drei Damen von Grace Adieu halten sich beschwörend an den Händen, die dritte betet, alle tragen typische Regency-›Elfenkleidchen‹ mit Kaschmirschultertuch, Puffärmeln und gesogten Bündchen; aus einem Buch klettern kleine Kobolde und ranken sich belaubte Ästchen; ein kleiner Junge steht auf der Mauer einer Turmruine umflattert von einem Rabenschwarm; nächtliche Hügel mit Hirsch, Hundemeute und rufenden Gestalten im Nebel; eine junge Frau mit Haube und Korb guckt in einem dichten Wald durch einen schmalen Ausblick auf einen Weg der zu Steinkreisen und einem ummauerten Turm führt; an einem Kirchturm fliegt ein kleines Schiffchen mit drei fröhlich musizierenden Engelsmännekens vorbei; Mary of Scottland sitzt vor einem Gobelin und stickt mit finsterem Blick; drei Heilige schauen ehrfurchtsgebietend auf den Betrachter herab.
Zuerst spricht ein gewisser Prof. James Sutherland (im Jahre 2006 Direktor für Sidhe-Studien[07] an der Uni Aberdeen) zu uns, als Autor des Vorwortes und Herausgeber der Kollektion, später noch mal als Erzähler/Bearbeiter einer der Geschichten. Die magisch-historische Alternativwelt von Clarke umfasst sich nicht nur die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vergangenheit bis zum Regency. Laut Sutherland soll DVGA zum einen helfen, die Entwicklung der Zauberei auf den Britischen Inseln zu verstehen, zum zweiten dem Leser einige Einblicke und Rat liefern betreffs des Umgangs mit Elfen sowie deren schwer durchschaubaren Manipulationen menschlicher Angelegenheiten.
In dem Roman JS&MN ist Zauberei ja zuvörderst eine Männer-, genauer gesagt eine Gentleman-Angelegenheit, und der Erzählungsreigen ergänzt vorzüglich, da uns (nicht nur) durch die titelgebende Eröffnungsgeschichte »Die Damen von Grace Adieu« (1996) etwas von den weiblichen Zauberkünsten gezeigt wird. Hier lernt man die vielleicht drei fähigsten Zauberinnen des Regency-Englands zur Zeit von JS&MN kennen, die in dem kleinen (fiktiven) Kaff Grace Adieu leben, und sich bei ihren abendlichen Unterhaltungen über ihre männlichen ›Kollegen‹ Norrell und Strange uffregen, ansonsten sie als Kindermädchen auf Weisen aufpassen (Miss Tobias), als Witwe ein angenehmes Dasein pflegen (Mrs Field) oder mit Unbehagen über Heiratsfragen grübeln (Cassandra Parbringer). Der illustre, jüngere Meisterzauberer im Dienste Englands, Jonathan Strange, besucht zusammen mit seiner etwas überdrehten Frau Arabella deren Bruder Henry, von dem es heißt, er wolle die junge Cassandra ehelichen (die dazu lieber nix sagt). Wie überall, wo Jonathan weilt, ist er die Attraktion des Ortes, und er begegnet nächtens den drei zauberhaften Damen zwischen Wald und Hügel. Zugleich werden die Damen von unangenehmen Zeitgenossen heimgesucht, und ›Eulen sind nicht das, was sie zu sein scheinen!‹
In »On Lickerish Hill« (1997) lesen wir die dialektgefärbten Aufzeichnungen von Miranda, einer schlauen jungen Dame aus einfachen Verhältnissen, die mit dem wenig umgänglichen Sir John Sowreston verheiratet ist. Zum einen schildert die Geschichte eine Variante des Rumpelstilzchen-Märchens, und wie Miranda sowohl ihren Gatten als auch den spinnenden Elfen austrickst. Andererseits ist Miranda auch Gastgeberin eines wuseligen Gelehrtengrüppchens (die Royal Society ist noch in ihren Kindertagen), zu denen auch John Aubrey gehört[08]. Die Herren Gelehrten tummeln sich als Elfenkundler im moorigen Umland, entwerfen Fragenkataloge, für den Fall, dass sie mal einen Elfen erwischen, streiten natürlich immerfort leidenschaftlich und versuchen sich im Beschwören von Elfen.
Venetia, die Heldin der Geschichte »Mrs. Mabb« (1998) ringt mit dem Wahnsinn, denn ihr Geliebter weilt mit seinem Regiment in der Ferne im Kampf gegen Napoleon, oder doch nicht? Fiel er nicht vielmehr der Becircung der geheimnisvollen Mrs. Mabb anheim? Insekten spielen eine wichtige Rolle[09] und Venetia verbreitet bei ihren Versuchen die Schliche von Mrs. Mabb zu ergründen Unruhe unter deren Gästen und Familienangehörigen. Ins Irrenhaus eingeliefert zu werden dräut der Verzweifelten als Schicksal.
»Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig« (1999) ist der kürzeste Beitrag der Sammlung und lässt den große Helden (eine Art Rockstar seiner Epoche) Lord Wellington triumphieren, indem er es versteht, mit Nadel, Faden und Schere um sein Leben zu kämpfen.
»Mr. Simonelli und Der Elfen-Witwer« (2000) kommt in Form von Tagebuchauszügen der Titelfigur daher. Mr. Simonelli, ein junger Protestant italienischer Abstammung, nimmt, um den unaufhörlichen Intrigen Cambridges zu entkommen, eine Stelle als Landpfarrer an. Dort lernt er John Hollyshoes kennen, einen ihm bisher unbekannten Verwandten, der in dem heruntergekommenen Anwesen Allhope lebt. Hier treibt Clarke das Scharadenspiel zwischen Elfenprunk und tatsächlichem Verfall am weitesten, und Simonelli findet sich zu seiner Überraschung in der Rolle es beherzten Frauenretters wieder.
»Tom Brightwind oder Wie die Brücke in Thoresby gebaut wurde« (2001) ist die munterste Geschichte, mit den tollsten Zaubereikunststückchen. Herausgeber James Sutherland erzählt auktorial (mit Fußnoten) von einem im Jahre 1780 spielenden Abenteuer der Freunde David Montefiore, einem betont vernünftigen jüdischen Arzt, und Tom Brightwind, einem wohlhabenden Elfen, geschlagen mit einer quirligen Rasselbande junger Prinzessinstöchter.
»Antickes & Frets« (2004) handelt von der Konkurrenz zwischen Elizabeth I. und Mary von Schottland. Mary sinnt auf Rache und Thronübernahme und gibt sich zu diesem Zwecke alle Mühe, von der Heiratskarrieristin Bess Hardwick zu lernen, wie man mittels Stickereien Leute killt.
Zuletzt widmet sich Clarke/Sutherland mit »John Uskglass und der Cumbrische Kohlenbrenner« (2006) dem legendären Rabenkönig, dem mittelalterlichen Champion der englischen Zauberei, der schon in JS&MN eine wichtige und verrufene Rolle inne hat. Der junge Rabenkönig Uskglass verbreitet leichtfertig Chaos auf einer Waldlichtung, dem Zuhause eines einfachen Kohlenbrenners und seines Schweins. Der Kohlenbrenner will Vergeltung und klappert dazu die nächstgelegenenen Kirchen ab, wo die Heiligen (St. Kentigern, St. Barbara & St. Oswald) aus ihren Glasmalereihimmeln herabsteigen, um mit perfiden Zauberein dem aus Leichtsinn rücksichtslosen Uskglass erzieherische Lektionen zu erteilen.
Letztes Jahr habe ich gemosert wegen zu schnell und unbedacht gezogener ›Typisch Englisch, halt so wie bei Charles Dickens‹-Vergleiche. Bei Clarke kann aber auch ich solchen Vergleichen mit den üblichen Verdächtigen zustimmen: Clarkes alternativgeschichlich-magischer Weltenwurf verdankt nicht wenig den Romanen von Dickens und Jane Austen, denn Charakterzeichnung und die Schilderungen komplexer Standes- und Gesellschaftsregeln ist mehr Raum gewidmet, als knalliger Äktschn, und sind auf anregend durchdachte Art mit den magischen Vorgängen verbandelt. Clarke zeigt sich in ihrer Kurzgeschichtensammlung als meisterhafte Stimmenimmitatorin, die scheinbar mühelos die manchmal formelhaften Schematas von Märchen zu überraschend zu varieren und neuzubeleben versteht, mit dem für Kleinigkeiten aufmerksamen Alltags-, Konversations- und Sehnsuchtshin- und her, durch das eben die Romane von z.B. Thackery, Austen oder der Brontegeschwister zur Weltliteratur aufstiegen. Zwischen diesen beiden Erzählkonventionen pendelnd (Märchenfantasy hie, realistische Gesellschaftsprosa da), gelingt es Clarke spielerisch, ihre Leser und Protagonisten amüsant an der Nase herumzuführen und zu überraschen.
DER ROMAN
Spätestens seit Shakespeare ist ja bekannt, dass die Welt eine Bühne, und wie wichtig es deshalb ist, sich gemäß des eigenen Platzes in der Gesellschaft zu verhalten. Doch wer verteilt die Rollen und wie ergeht es Personen, die sich partout danach sehnen, von ihrem zugedachten ›Text‹ abzuweichen? Eine ganz ähnliche Frage, nur von ungleich größerem Format, eröffnet Clarkes dicken Roman JS&MN[10]. »Warum gibt es keine Zauberei mehr in England?«, will eine Versammlung von Gentleman-Zauberern zu Beginn ergründen, und einige unter ihnen sind nicht Willens, dieses Schicksal länger hinzunehmen. Diese Herren studieren zwar (allerweil streitend) die Geschichte der Zauberei, sind aber selbst zu keinerlei magischen Taten im Stande. Wegen des Rufes seiner exzellenten Bibliothek, treten die Gentlemen-Zauberer brieflich in Kontakt mit dem schrulligen und dauerschlechtgelaunten Bücherwurm Mr. Gilbert Norrell auf, der laut eigener Auskunft der einzige wahrhafte lebende Zauberer Englands ist. Nach einigem Zögern entschließt sich Norrell die Provinz zu verlassen und siedelt nach London über, um sich in den dortigen Salons darum zu bemühen, der englischen Zauberei zu neuem Glanz zu verhelfen., und mit ihr England im Krieg gegen Napoleon beizustehen. Mit seinen ersten magischen Kabinettstückchen überwindet Norrell das anfängliche Misstrauen der Entscheidungsträger aus Politik und Militär. Doch, ›Oh je!‹, der scheue Misanthrop findet sich dann, sehr zu seinem Missfallen, bedrängt von der aufgeregten Neugierde und den mannigfachen Begehrlichkeiten der besseren Gesellschaft, und begeht einen großen Fehler, als er eine junge Dame vor dem Tod errettet. Norrell sichert sich eifersüchtig und despotisch die Stellung des exklusiven Staatszauberers, ringt sich aber schließlich durch, seine Kenntnisse und Fertigkeiten mit einem Schüler zu teilen. Als solcher kommt verhältnismäßig spät, am Ende des erstens Drittels, Jonathan Strange in die Geschichte.
Der Kontrast der beiden Titelfiguren erinnert mich im besten Sinne an das Couplet, das Walter Matthau und Jack Lemmon in ihrer Laufbahn mehr als einmal grandios geboten haben: der Ältere ein emotionell harter und zerknautschter Griesgram, der Jüngere ein verplapperter und naiv-hochmütiger Hupfdibupfdi. Während Norrell in England bleibt um stets gereizt, verkrampft und paranoid das seine zum Krieg und der Magie-Renaissance beizutragen, begibt sich Strange ins Ausland zu den Truppen auf der iberischen Halbinsel[11]. Im diesem zweiten Drittel des Romans kommen nun auch Äktschn-Fans vermehrt auf ihre Kosten. — Überhaupt: Clarke steigert (für meinen Geschmack wunderbar) altmodisch sachte und subtil die Spannungs- und Spektakel-Dosis. Nicht selten schlendert der Romanfortgang scheinbar planlos herum, lässt sich athmosphärisch hie und da ein klein wenig treiben, schildert aber sonst mit der gewitzten Präzision die scharfer Beobachtung eigen ist, und die hier zudem gut Hand in Hand mit der (typisch) britischen Sitte einhergeht, Gemeinheiten und Tiefschläge zwischen feinen Ranken von spitzen Unterschneidungen zu platzieren. Zudem, und hier bedient Susanna Clarke ganz besonders meine speziefischen Phantastik-Gelüste, lässt sie gern auch mal kecke Büschel kleiner Groteskerien sprießen, oder balanciert souverän ganze Szenen auf einem schmalen Grad zwischen augenöffnender Plausibilität und prickelnder Abstrusität.
Als einer, dem mittlerweile einfach gestrickte Macho-, Strahle- oder Antihelden abhold sind, fand ich mein exquisitestes Vergnügen bei Clarkes feinem Amüsement über den Hang von Männchen zur geheimniskrämerischen Wichtigtuerei bzw. flamboyanter Prahlerei[12]. Keine Zweifel habe ich, dass sich Susanna Clarke mit ihren beiden Büchern jetzt schon in die Riege der ganz großen Vertreter der Phantastik geschrieben hat. Sie versteht vorzüglich, ihre Figuren als leicht übertriebene Karikaturen zu gestalten, und sie dennoch mit Würde und Einfühlungsvermögen zu behandeln — ein leider nur ziemlich selten zu findendes Lektürevernügen. All diese Qualitäten von Clarkes Schreibe, lassen mich der in Arbeit befindlichen (für sich stehenden) Fortsetzung von JS&MN entgegenfiebern. Immerhin: nach der feinen Salongesellschaft und ihrer Handlanger, will sie sich diesmal vermehrt mit den unteren Schichten der Gesellschaft auseinandersetzten. Ich hoffe nur, dass sie nicht nochmals 10 Jahre braucht.
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»Die Damen von Grace Adieu« (engl. »The Ladies of Grace Adieu«, mit Illus von Charles Vess, Bloomsbury 2006), übersetzt von Anette Grube, 300 Seiten;
Gebunden Bloomsbury Berlin (2006) ISBN-13: 9783827006882;
Taschenbuch bei Berlinverlag (2008) ISBN-13: 9783827006882.
»Jonathan Strange & Mr. Norrell« (engl. mit Illustrationen von Portia Rosenberg, Bloomsbury 2004), übersetzt von Anette Grube & Rebekka Göpfert, 1021 Seiten;
Gebunden Bloomsbury Berlin (2004) ISBN-13: 9783827005229;
Taschenbuch bei Berlinverlag (2005) ISBN-13: 9783833303333
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ANMERKUNGEN
[01] »Stoppe’d Clock Yard« in
»Book of Dreams«, Hrsg. von Neil Gaiman & Ed Kramer, Harper-Prism 1996 (HC), 1997 (SC).
»A Fall of Stardust« von Neil Gaiman & Charles Vess, enthält
»Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig«. Diese Geschichte wird als Umsonst-Bonbon auf der wunderschönen Promowebsite zu Clarke angeboten:
www.jonathanstrange.com
Leider —
ach Menno! — ist derzeit die deutsche Version dieser Promoseite derzeit kaputt.
Bleibt zu hoffen, daß die »Sandman«-Antho nu’ irgendwann mal übersetzt wird (immerhin sind da u.a. Beiträge solcher Fantasy-Kapazunder wie Gene Wolfe, Steven Brust, und Clarkes Lebensgefährten Colin Greenland versammelt), jetzt da der Panini-Verlag seit dem ersten Quartal 2007 damit begonnen hat, eine »richtige« deutsche Ausgabe von
»Sandman« zu publizieren. Panini bringt mich zudem zum Jubeln, denn dort erschien nun auch endlich die mit 400 Zeichnungen von Charles Vess illustrierte Prachtversion von
»Stardust« (dt. »Sternenwanderer«).
Ach ja: da ich
Tad Williams’ Romane in der Vergangenheit
›mit Wonne‹ gedisst habe, hier ein vielleicht versöhnender Tipp: in der Debüt-Nummer des neuen Phantastikmagazins
»Pandora« aus dem Hause Shayol/Otherland-Buchhandlung findet sich eine schöne Übersetzung des Williams-Beitrags der »Sandman«-Antho:
»Das Schriftstellerkind«. Auf kurzer Strecke bereitet auch mir Williams Vergnügen. •••
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[02] Eine launische Spekuation: Ich habe die vorzügliche und streitbare Dame A.S. Byatt im Verdacht. •••
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[03] Der hier auch besprochene
Neal Stephenson hat das in seinem Roman
»Diamond Age« schön umschrieben:
Hackworth hatte sich die Mühe gemacht, einige chinesische Schriftzeichen zu lernen und sich mit den Grundprinzipien der fremden Denkweise vertraut zu machen, aber im großen und ganzen hatte er seine Transzendenz lieber unverhohlen und bloßliegend, so daß er sie im Auge behalten konnte — beispielsweise in einem hübschen Schaukasten aus Glas —, und nicht in den Stoff des Lebens eingewoben wie Goldfäden in Brokat.
Heyne 2001, S. 87, übers. von Joachim Körber. ••• Zurück
[05] In heller Begeisterung entbrannt habe ich eine (wie ich finde) Gemme in Sachen Genre-Beschäftigung der anglo-amerikanischen Blogosphäre ins Deutsche übersetzt: das Seminar des akademischen Gruppenblogs
»Crooked Timber« über und mit Susanna Clarke zu JS&MN, nachzulesen oder als PDF ausdruckbar unter:
http://molochronik.antville.org/stories/1511971/
und nachgereicht dazu eine kleine deutschsprachige Rundschau (zu Feuilleton-, Forums- und Blog-Rezis) unter:
http://molochronik.antville.org/stories/1513801/
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[06] Einen willkommenen Werkstattbericht mit einigen Vergleichen zwischen Bleistiftentwurf und Tuschefederreinzeichnung kann man in
Vess’ Blog genießen:
http://greenmanpress.com/news/archives/59#
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[07] Sidhe: Keltisches Wort für Elfen, das sich von
›Hügel‹ ableitet. •••
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[08] John Aubrey (*1625, †1697): Autor des kuriosen Buches
»Brief Lives« (
»Lebensentwürfe«, Buch 114 der Reihe
»Die Andere Bibliothek«, Eichborn 1994), von dem sich auch schon Gaiman den Titel für einen seiner »Sandman«-Sammelbände (Band 7 wird deutsch als »Kurze Leben« erscheinen) entliehen hat. •••
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[09] Geglückte Insekten/Elfen-Darstellung sah ich zuletzt im grandiosen
del Toro-Film »Pans Labyrinth«. Ebenfalls in »Magira 2007« enthalten ist eine ausführliche Würdigung dieses exzellenten Fantasy-Märchen-Films von
Uwe Kraus unter dem Titel
»Goyas Erben«. •••
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[10] Mit 1021 Seiten, 69 Kapitel
(abgepackt in drei Teile mit 22, 22, und 25 Kap.) und 184 Fußnoten wird dem Leser eine Menge Holz vor’n Latz geknallt. Laßt Euch nicht von den z.T. ausführlichen Fußnoten verwirren und ablenken, in denen Clarke meistens Erzählungspralinen aus der englischen Zauberei-Vergangenheit zum Besten gibt. Ich empfehle, immer zuerst dem Faden eines Kapitels unterbrechungslos zu folgen, und die Fußnoten nach dem Lesen eines Kapitals zu goutieren. Andere Möglichkeit: Man verdirbt sich keine Überraschung, wenn man nach Lust und Laune vorblätternd die kleinen Fußnotenerzählungen als Zwischendurchkonfekt genießt. •••
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[12] Wobei Clarke nicht den langweiligen Fehler begeht, nur die Männer als belächelnswerte Figuren zu präsentieren. •••
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Neil Gaiman & Charles Vess: »Sternenwanderer«, oder: Geh’ und fang eine Sternschnuppe
Eintrag No. 385 — Ich wage mal zu prophezeien, daß innerhalb des nächsten Jahres der Name Neil Gaiman endlich auch bei und zu einer endgültig strahlenden Größe der Mainstream-Phantastik wird (freilich nicht so ein gewichtiger Magnet wie Tolkien oder Rowling, aber deutlich bekannter als bisher).
Immerhin: er war 2006 (und davor auch schon) auf Lesetour im Deutschsprachigen unterwegs; sein großes Hauptwerk, das 10-bändige Comicepos »Sandman« erscheint in neukolorierter und neuübersetzter Fassung endlich in einer schönen Ausgabe; und — last but not least — drei Filme nach Gaimans Stoffen stehen ins Haus (mehr darüber in meinem Bericht der Buchmesse-Leibzig-Lesungen von Gaiman). Als erstes kommt am 18. Oktober 2007 »Stardust« zu uns.
Die Berichte von Testvorführungen in den englischsprachigen Webgefilden lassen mich hoffen, daß ›Besser-Fantasy-Freunde‹ gehörig auf ihre Kosten kommen. Die Verfilmung fährt mit einem Reigen z.T. länger nicht mehr gesehener Stars auf (neben Claire Danes, Jeremy Irons und Robert de Niro u.a. Michelle Pfeiffer und Peter O’Toole). Auch der wohlwollende Vergleich den begeisterte Testgucker zwischen der »Stardust«- und der »Die Braut des Prinzen«-Verfilmung ziehen, läßt zumindest mich hoffnungsvoll fibbern. Handelt es sich doch bei Williams Goldmans Klassiker »Die Braut des Prinzen« doch um einen modernen Klassiker der leichtfüßigen, munter fabulierfreudigen Fantasy, in der das Genre zwar nicht so bierernst und ›äpisch‹ daherkommt wie bei den geliebten Schlachtenpanoramen, die (zumindest meiner Meinung nach) unseeligerweise das Bild von dem was Fantasy leisten kann dominieren. Aber dafür brilliert »Stardust« wie auch schon Goldmans Meisterwerk mit lebendigen, lebensechteren Figuren, die im Gegensatz zu Heilgeschichtenfantasy nicht »sprechen und agieren, als ob sie Marmor scheißen würden« (um in etwa einem Ausspruch den fiktiven Herrn Mozart aus dem Drama/Film »Amadeus« zu zitieren). Dabei nehm ich die »Der Herr der Ringe«-Romane & Verfilmung mal in Schutz, denn diese überragen, trotz aller Epik-typischen Schwächen & Eigenheiten, solch oberöde und peinlich anzuschauende Abklatschwahre wie »Eragon« und »Narnia« bei weitem.
Und dennoch: auch Gaiman fühlt sich aufgerufen, sich abzugrenzen vom übergroßen Einfluß Tolkiens und seines Mittelerde-Ringkrieges auf das, was man im englischen Raum heute ›Fantasy‹ nennt. So erzählt er Quint von »Aint It Cool News« seine Ambition zu »Stardust« (Übersetzung von Molo):
GAIMAN: Tolkien ist wundervoll. Ich bin ein großer Fan von
»Der Herr der Ringe«, aber trotzdem: es hat etwas auf sich damit, wie sich das Fantasy-Verständis aller hinsichtlich von »Der Herr der Ringe« seit dessen Erscheinen gewandelt hat. Mich fasziniert nun mal diese Zeit vor 1930, wenn ab und an Menschen Fantasy, also Märchen- und Elfen-Geschichten schrieben. Man schrieb damals magische Erzählungen und das waren einfach nur ganz normale Romane. Es gab da nicht etwa eigene Regale für Fantasy. Man schrieb Romane, die halt in Form von Märchen auftraten.
So war auch meine Einstellung als ich »Stardust« schrieb. Ich wollte etwas machen, daß ganz für sich stehen kann, das anders war und sich doch wie Fantasy, wie ein Märchen anfühlen sollte. Dabei war mir von Beginn an klar, daß es eine ›Romanze‹
{engl. ›romance‹; die Übersetzung mach daraus nict ungeschickt ›zauberhaftes Abenteuer‹ — Anmerk. Molo} werden sollte. Auch beim Schreiben selbst hatte ich die Liebesgeschichten alter Screwball-Komödien als Vorbild im Sinn. Sachen wie
»Es geschah in einer Nacht« {Dem Frank Capra-Klassiker von 1934 mit einem jungen Clake Gable und der bezaubernden Claudette Colbert in den Hauptrollen — Anmerk. Molo}: da sind Heldin und Held gemeinsam unterwegs, und die beiden können sich zuerst gar nicht ausstehen, verlieben sich aber aber schließlich ineinander und werden ein romantisches Pärchen.
Für mich immer schön, wenn statt Epik weniger pathetiklastiges Zeug als Inspirationsquell herangezogen wird. Aber was bietet nun »Stardust« das Buch?
Der Phantastik-Weltenbau geht so: Seit mindestens sechshundert Jahren gibt es in England das Örtchen Wall, und dort befindet sich eine Mauer deren einzige Lücke von den Dorfbewohnern bewacht wird. Denn: diese Lücke ist ein permanenter Übergang in die Elfen-, Zauber-, Märchenwelt. Jenseits der Mauer befindet sich eine Wiese, an die grenzt ein Wald an und was dahinter kommt, kann man sich als Leser munter selbst ausmalen (Gaiman würzt zwar seine Erzählung munter mit Terrain-Namen der Elfenwelt, aber es gibt — mutiger- und für mich erfeulicherweise — keine Karte.)
Im ersten von zehn Kapiteln lernen wir noch nicht den eigentlichen Helden kennen, sondern bekommen erstmal die erotischen Jugendabenteuer seines Vaters Dunston Thorn geschildert. Alle neun Jahre im Mai findet nämlich ein Markt auf der Elfenwiese statt. Wir lernen Wall und einige Bewohner kennen, genauer: das Dorf Wall der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa um 1837-1839 (so mache Rezischreiber/innen haben das nicht gerafft und verorten die Geschichtlich zeitlich grob zu früh oder zu spät), als Königin Victoria regierte und Charles Dickens in Fortsetungen seinen »Oliver Twist« in »Bentley’s Miscellany« veröffentlichte. Am Ende des ersten Kapitels ›erntet‹ Papa Thorn neun Monate nach seiner Markt-Liebesnacht seinen Elfen/Menschen-Mischlings-Sohn Tristran.
Jahre vergehen, und wir begleiten Tristran als liebesblinden Verehrer der Dorfschönheit, der er eines Nachts verspricht, ihr eine Sternschnuppe als Beweis seiner ergebenen Liebe zu bringen. Das Dumme: die Sternschnuppe kam auf der Elfenseite der Mauer runter und entpuppt sich dort als junge, eigenwillige Frau. Auf seiner Queste steht Tristran diesem Stern in Menschengstalt bei, denn die Arme hat sich bei ihrem Sturz einen Fuß gebrochen. Zudem sind andere hinter der Gefallenen her. Die Anführerin eines Hexentrios, der Lilim, hat vor, der Sternenfrau das Herz rausschneiden, damit die Lilim weiteren Zauber zum Erhalt ihrer Jugendlichkeit wirken können. Und die lebenden (und toten) Söhne des verstorbenen Königs des Elfenlandes kabbeln und itrigieren darum, den gestürzten Stern in ihren Besitz zu bringen, denn damit wird die Thronfolge entschiedenen.
Mir gefällt vor allem das Neben- und Ineinander, mit dem der große Bogen des Romantik-Ping-Pongs und die episodenhaften Stationen der verschiedenen Questen miteinander verwoben sind. Und ich liebe wie immer die Kunstfertigkeit, mit der Gaiman kleine Geschichen in der Geschichte unterbringt und anschneidet. So erzählt die Lilim-Anführerin in einer Szene nächtens am Lagerfeuer (S. 116):
»Man hat die Lilim schon des Öfteren für tot erklärt, aber es war jedes Mal gelogen. Das Eichhörnchen hat die Eichel noch nicht gefunden, aus dem die Eiche wachsen wird, die das Holz für die Wiege des Kindes liefert, das mich erschlagen wird.«
Und eine Seite weiter endet dieser Abschnitt so:
Zögernd hoppelte ein Eichhörnchen in Licht des Feuers. Es nahm eine Eichel, hielt sie einen Moment in seinen handartigen Pfoten, als wollte es beten. Dann rannte es davon, um die Nuss zu vergraben und zu vergessen.
Diese Art von Phantastik-Tollerei begeistert mich ja auch bei Tolkien (ich denke an den über die lärmenden Hobbits grollenden Fuchs). Kurz: Derzeit kenne ich keinen Phantasten, der es so hervorragend versteht, zugleich gradlinig und auf Umwegen zu erzählen, wie Gaiman.
ACH, GEJAMMER
So. Nun will ich meine klagenderen Töne nicht länger zurückhalten, denn manchmal ist es eben zum Verzweifeln.
Da werden im anglo-amerikanischen liebevoll gestaltete Sachen vorgelegt, so richtig dolle altmodisch mit fetten Illustrationen und Vignetten, Federzeichnungen in schwarz-weiß, mal flüchtiger (150 Vignetten und Rahmen), mal aufwändiger (4 doppelseitige und 19 ganzseitige Bilder) gearbeitet, davon ganzseitige, Arbeitsskizzen. Einige schöne Beispiele kann man im Greenmanspress-Blog von Charles Vess bewundern. Aber die Lizenzheinis von Heyne haben sich bei der deutschen Erstausgabe die ›Nur Text‹-Version andrehen lassen. Ob Stephen Kings »Dunkler Turm«, Susanna Clarkes »Die Damen von Grace Adieu« oder eben Gaimans »Sternenwanderer«, für uns deutschsprachige Trottelkunden reichts billig und unzierlich. »Ist ja nur Fantasy und Genrequatsch«, scheint man in den Kalkulationsabteilungen zu denken. Das mag für einige Genre-Leser gelten, aber ich werde weiterhin nölen und mosern, wenn ich über solche Schwachmatik stolpere, und ich werde mich hüten solche schmucklosen Deutschausgaben zu kaufen (aber: als Unterwegslektüre ist die ›Nur Text‹-Ausgabe freilich besser geeignet).
Insofern also: Lob und Jubel über Vertigo/Panini! Vertigo hat in den letzten 15 Jahren seines Bestehens die Genre-Phantastik in Comicform ordentlich reloaded. Ich bin von Beginn an ein richtiggehender Fan dieses Labels und werde in Zukunft sicherlich noch mehr gelungene neue Phantastik dieses Verlags hier vorstellen.
Dann aber leider: Die Übersetzung von Christine Strüh schwächelt z.B. was den Umgang mit kursiven Stellen betrifft. Was ist so schwer daran, im Deutschen konsequent kursiv zu formatieren, was auch im Englischen kursiv ist?
Auch sind (wohl wegen Stress, Hektik, Fußpilz) veloren gegangene Stellen zu beklagen. Einmal habe ich sogar einen ganzen fehlenden Absatz erspäht (S. 61 sowohl in dt. wie angl. Ausgabe):
A small, yellow bird in a cage sat on its perch outside the house. It did not sing, but sat, mournfully upon its perch, feathers ruffled and wan. There was a door to the cottage, from which the once-white paint was peeling away.
Ein kleiner, gelber Vogel saß auf seinem Ast vor dem Haus. Er sang nicht, sondern hockte auf seinem Ast, die Federn zerrauft und blass. Eine Tür führte in das Häuschen, von der die einstmals weiße Farbe abbröckelte.
Bei anderen Gelegnheiten stelle ich fest, daß die deutsche Ausgabe deutlich ausführlicher als meine englische Edelausgabe von Titan Books. (Das kann aber auch Gaimans eigenem Durcheinander liegen, denn es gibt im englischsprachigen eben auch Nur-Text-Ausgaben — und auf dieser beruht die Übersetzung von Christine Strüh — für die Gaiman hie und da den Text bearbeitet hat. Schönes Durcheinander wieder mal. Immer diese Kreativen!)
Aber aus, weg ihr Nörgelgedanken, denn immerhin ist nun was »Stardust« angeht der Not-/Mißstand behoben, noch dazu, weil die schmuckvolle Ausgabe einen bemerkenswert günstigen Preis hat (Neupreis ca. 20 Euro).
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SERVICE: LINKSAMMLUNG
- Michael Drewnik für Phantastik-Couch (›nur Text‹-Ausgabe): »Ein modernes Märchen mit scharfen Zähnen.« — Genau! Und Krallen, die sowohl zu kratzen wie zu streicheln vermögen.
- Götz Piesbergen für Splashbooks (›nur Text‹-Ausgabe): »Neil Gaiman hat nämlich ein paar Szenen eingestreut, die, sagen wir mal, nicht für Leute mit schwachem Magen geeignet sind. In diesen Szenen wird ziemlich detailliert gestorben und geschlachtet, was dann eher unpassend wirkt.
Das heißt nicht, dass das Buch bierernst ist. Einige Figuren und Szenen haben einen schönen schwarzen Humor, den sie mit sich tragen.«
— Woher kommt diese refelxhafte Pfui-Bäh-Abneigung von Fantasy-Fans gegen Härten? Warum sollte in Fantasygeschichten irgendwie lieber und süßer gestorben werden als in anderen Genres? Da kann ich ja gleich Teletubbies gucken und den lieben langen Tag mit der Sonne lachen. NeNe, lieber Götz: richig gute Phantastik wie die von Gaiman bietet eben neben dem Bezaubernden, Romantischen, Lustigem auch das Unheimliche, Brutale und Gemeine.
- Mistkäferl für Bibliotheka Phantastika (›nur Text‹-Ausgabe): »Der Autor benutzt die genreübliche, leicht anachronistische Sprache äußerst virtous und versteht es, komische Szenen gekonnt einzubauen … enormer Ideenreichtum.« — Auch hier werden Gaimans »typisch(e) abgedrehte Horrorelemente« besorgt vermerkt. Ja sind denn die Grimm-Geschichten nur Friede, Freude, Eierkuchen. Unheimliches und blutiges gehören nun mal zu einem richtigen Märchen.
- Michael Matzer für carpe librum (›nur Text‹-Ausgabe): »Dies ist ein wirklich zauberhaftes und ironisch erzähltes Garn, das uns Gaiman da vorsetzt. Und man unterhält sich auch wunderbar dabei, wartet doch an jeder Ecke eine neue Überraschung.«
- Arielen (Christel Scheja) für Rotern Dorn (illustrierte Ausgabe): »Der Roman ist jedoch kein Märchen für Kinder, dazu sind die angesprochenen Themen zu komplex und die Figuren zu bösartig. »Der Sternenwanderer« richtet sich eher an Erwachsene, die die kleinen Anspielungen und leisen Zwischentöne in den Zeilen herauslesen können und sich voll und ganz auf dem magisch mythischen Text einlassen wollen.« — Nichts für Kinder! Also ich mochte als ›Noch Nicht‹-Teen und Frühteen solche blutigen, facettenreichen Sachen.
Abschließend also meine Leseempfehlung: »Sternenwanderer« ist was für aufgeweckte Jungleser (so ab 10 bis 12 würd ich sagen), und die illustrierte Ausgabe kann man meiner Meinung schon gewitzten Noch-Jüngeren in die Hand drücken.
Buchmesse 2006 (6): Mit oder ohne Buchschmuck: das neue Buch von Susanna Clarke bereitet Molosovsky…
… Freude!
Eintrag No. 303 — Schon in ein paar Tagen (am 06. Oktober) erscheint »Die Damen von Grace Adieu« von Susanna Clarke bei Bloomsbury Berlin.
Clarke hat ja mit ihrem voluminösen »Jonathan Strange & Mr. Norrell« (desweiteren: JS&MN) so richtig auf den Putz gehaun. Da finden sich die Realweltgeschichte vom beginnenden 19. Jahrhundert und alt-nordenglische Magiewelt-Mythen zu einer ganz verzüglichen Phantastik verzwribelt; zu edel (wie ich find), um das sprachlich wie auch begrifflich ungeschickt importierte Genre-Label ›Fantasy‹ draufzupappen; und doch wie keck von einer so vorzüglichen Autorin, es selbstbewußt dann doch zu tun!
Immerhin!: Leser ›richtiger‹ Romane, die sonst alle Gesichtsmuskeln verreißen wenn man ihnen mit ›Fäntäsy‹-Phantastik vor der Brille rumfuchtelt, entspannten sich willig anhand einer edelfederigsten Prosa, deren Haltung und Ton sich des ausgesprochen fruchtbaren Respekts & Insprisierenlassens von Frau Clarke für & von Klassikern der portraitierten Epoche, wie Jane Austen und Charles Dickens, verdankt. Und Lesern, welche sonst eher ziemlich Genre-Phantastik-lastig zu schmökern belieben (siehe ›die Markt-Marke Fantasy‹), wird eine feine Gelegenheit geboten, sich von eher altmodischen Prosa-Registern verführen (und hinreissen und bilden!) zu lassen.
Das ist eine gute Gelegenheit ein wenig über die Wonnen der englischsprachigen Literatur- und Geisteswissenschafts-Bloggerei zu jubilieren. Wenn sich z.B. 15 kommunikations- und diskrus-freudige Akademiker zusammengefinden, sich ihren Gruppen-Blog-Namen aus einem markigen Zitat vom großen Deutschen Immanuel Kant borgen, um fürderhin unter Crooked Timber mit anregenden Beiträgen großzügig die Blogosphäre zu bereichern… alles für umme zu lesen, wenn man sich nur des Englischen mächtig genug wähnt.
Grad den ›typischen‹ (mal polemisch imaginierten*) bezahlten deutschsprachigen 08/15-Literaturvermittlern möchte ich hiermit ganz besonders die Crooked Timer Seminare (unter ›book events‹ links weiter unten zu finden) zur inniglichen Orientierung nahelegen. — Nun sind die Geisteswusler vom krummen Holz von Beginn an Fans von JS&MN gewesen, und haben entsprechend eines ihrer Seminare diesem Roman gewidmet. Nur mal so als Beispiel, wie man intelligent, verständlich und verständnisvoll über ›Fantasy‹ schreiben kann hier eine kleine Übersicht: (jaja, schon richtig: bei Fantasy vom Qualitätskaliber eines JS&MN ists nicht so schwer, auch als in E-Gefilden konditionierter Literatur-Bespiegler was Gescheites zusammenzureflektieren):
• John Quiggin behauptet, daß der Roman an den eigentlichen Wurzeln der Science Fiction anknüpft, denn bei SF geht es im Grundbass um die Zeitenwende- und Wirkungen der Industrielle Revolution. • Maria Farrell meint, daß das buch ein Aufeinandertreffen zwischen dem von Jane Austen imaginierten Regency-England und ›romance novels‹ auf der einen Seite, und der tatsächlichen geschichtlichen Regency-Epoche auf der anderen Seite ist. • Belle Waring fragt sich, wer der/die Erzähler/in des Buches ist, und wohin die weiblichen Zauberer eigentlich sind (und mutmaßt, daß beide Fragen durch eine Antwort erhellt werden). • John Holbo untersucht Zauberei, Ironie und die Darstellung der Diener-Klasse. • Henry Farrell behauptet, daß die versteckte Handlung des Romans eine Kritik an der englischen Gesellschaft darstellt. • Und zuletzt antwortet Susanna Clarke (sehr aufschlußreicher Werkstatteinbick, sozusagen).
Und für jene, denen das zum am Bildschirm-, im Netz-Lesen viel zu viel Text ist, bietet Crooked Timber einen englischen PDF-Service-Link zum Ausdrucken. {15. Nov. ‘06: EDIT-NACHTRAG — Mittlerweile hab ich vor lauter »Ich Muß Was Nützliches In Meiner Zeit Tun« das ganze Seminar übersetzt. Hier geht’s zum entsprechenden Molochronikeintrag, und hier der Klick für ein deutsches PDF.}
Wieder zum neuen Buch mit Kurzgeschichten von Susanna Clarke.
Ungemein enttäuscht bin ich, daß Bloomsbury Berlin die durch höchste Kunstfertigkeit und Eleganz brillierenden 20 Illustrationen von Charles Vess NICHT dem deutschen Publikum von »Die Damen von Grace Adieu« offeriert. Nach dem guten Verkauf von JS&MN wär doch eine etwas aufwändigere Ausgabe drinn gewesen, oder? — Dass Heyne damals Neil Gaimans/Charles Vess »Stardust« ohne die Vess-Illus veröffentlichte, geht ja noch irgendwie in mein Produktions- & Gewinnmargenkalkül-verständiges Hirn. — Aber schluß jetzt mit Genöle.
Soweit ich bisher mitbekommen habe, sind die neuen Geschichten von Clarke in der selben (oder doch sehr ähnlichen) Welt wie JS&MN angesiedelt. Auch auf Deutsch gibts eine der Geschichten für umme auf der (sehr schönen!) Verlags-Site zu Clarke: »Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig«.
Viel Vergnügen mit all den Umsonstlektüren wünsch ich noch.
* — Und falls sich einige bezahlte Literaturvermittler und -bewerter arg auf den Schlips getreten fühlen: bitte nehmt dies schlimmstenfalls als meine anbiedernde Versuche, Euch alle anzuregen, mindestens so geschickt über Phantastik für's Feuillition zu schreiben, wie z.B. (um spontan einige willkürliche Namen zu nennen) Dietmar Dath, Marcus Hammerschitt, Denis Scheck, Thea Dorn und Georg Seeslen.