molochronik
Samstag, 24. Juni 2006

Klagenfurter Portraitskibbels

(Bachmannwettlesen) — Mein Zahn schmerzt, ich schweb auf Schmerzblockern durch die Wohnung und sehne mich nach Schlaf. Stellt mich also schwer augenberingt vor. Nebenbei läuft das Klagenfurter Wettlesen, das Jubiläums- weil dreissigste -Jahr. Andreas Berichtkonzentrat sei allen empfohlen, die wissen wollen, worum es denn bei diesem Literatur-und-Diskurs-Ringelrei geht.

Heinrich Detering ist mitnichten einer meiner liebsten bezahlten Literaturmeinungs-Replikatoren, aber einer, der in diesem Jahr den brauchbarsten Begriff geprägt hat (bezüglich des maultrommelzupfenden Alptenschamanen Bodo Hell): Avantgardistische Trivialliteratur.

Ich bin nicht sicher, ob Heinrich Detering diesen Begriff bös, ironisch oder sonstwie mäkelnd meinte, aber ich nehm ›Avantgardistische Trivialliteratur‹ gerne in mein Repertoir auf.

Bachmannjuror Heinrich Detering

Und weil die so flott von der Bleistiftspitze ging, hier noch die Gewinnerin des Bachmannpreises: Kathrin Passig.

Bachmanngewinnerin 2006: Kathrin Passig
Dienstag, 20. Juni 2006

Wer hat die Arbeitslosigkeit erfunden?

(Woanders, Gesellschaft, Großraumphantastik) — Bas-Lag-Haberer Lomax ist einer von diesen mir so teuren Phantastik-Freunden, die erfreulich oft und intensiv über den Tellerrand der geliebten Genres gucken, und der dabei die den helleren Phantasten eigene Weitwinkelperspektive des Denkens auch beim Blick auf Kleinigkeiten nicht aufgibt.

Heut fand ich einen sehr schönen Beitrag von Lomax, in dem er nachvollziehbar und eingängig darlegt, wer denn die Arbeitslosigkeit erfunden hat. Irgendwelche platten Massenmedienwurschtler schickten nämlich einen Interviewer in 'ne Fußgängerzone mit der Frage: »Wer hat die Arbeitslosigkeit erfunden?«, wohl mit der vermeintlich gewitzt-vorausgesetzten Pointe, daß dies eine ›dumme‹ und nicht beantwortbare Frage ist.

Danke Lomax, für Deine nüchterne Antwort, die gerade deshalb für viele wohl so empörend ist.

Sonntag, 11. Juni 2006

Religion als natürliche Sache
Daniel C. Dennett: »Breaking the Spell«
PLUS: Erste Molochronik-Umfrage

Eintrag No. 275{Hiermitz beginne ich mal, mehr von meinen Sachbuchausflügen zu berichten. Immerhin pendel ich mit Vorliebe zwischen allen möglichen Textsorten bzgl Phantastik herum.}

Kennengelernt habe ich Daniel C. Dennett als Mitherausheber (neben Douglas R. Hofstadter) von »Einsicht ins Ich«, einer munteren Esaay- und Kurzgeschichten-Antho über Fragen & Spekulationen zum menschlichen Bewußtsein.

Gefreut hat mich, daß Dennett als respektabler Wissenschafts-Philosoph seine Sympathie für Phantastik und dessen Genre zeigt, z.B. indem er zu den Dokumentationen über Philosophie und technisch-gesellschaftliche Wurzeln der »Matrix Experience«-DVD beitrug.

Aus Daniel C. Dennett »Breaking the Spell – Religion as a Natural Phenomenon« (448 Seiten incl. Anhang, Fußnoten, Bibliographie & {ordentlicher!} Index; Viking, 2006, ISBN gebunden: 0-670-03472-X):

Fünf Thesen über den gegewärtigen Stand und die kommenden Entwicklung von Religion/Wissenschaft. Hemdsärmelig (aber hoffentlich nicht unkorrekt) von mir übersetzt (Seite 35 f). — Freilich gibt es noch mehr Annahmen über die möglichen Entwicklungen von Religion, aber Dennett meint, daß die folgenden fünf Szenarios die extremsten Positionen gut umreißen.

RELIGIÖSE WENDE Die Aufklärung {Enlightenment} ist lang vorbei: die schleichende ›Sekularisierung‹ der modernen Gesellschaften verpufft vor unseren Augen. Szenario: Gezeitenwechsel. Religion wird wieder wichtiger denn je. Religion nimmt bald wieder die herrschende gesellschaftliche und moralische Rolle ein, die sie inne hatte, vor dem Aufstieg der Wissenschaften seit dem 17. Jhd. Während die Leute sich von Technologie und materiellen Komfort erholen, steigt die spirituelle Identität zur meistgeschätzten Eigenschaft einer Person auf. Gesellschaften teilen sich schärfer gemäß der Zugehörigkeit in Christen, Moslems, Juden, Hindus usw. Schließlich wird — erst in vielleicht 1000 Jahren, oder durch große Katasthrophen schon früher — eine einzige Religion den Planeten umspannen.

ABSTERBEN DER RELIGION Religion liegt in den Todeszuckungen; die gegenwärtigen Ausbrüche an Inbrunst und Fanatismus sind Symptome des Übergangs zu einer wirklich modernen Gesellschaft, in der Religion höchstens noch eine zeremonielle Rolle spielt. Szenario: Obwohl es zeitliche und örtliche Wiederbelebungen und gewaltätige Katasthrophen geben mag, werden die großen Religionen genauso aussterben, wie heute hunderte von Religionen schneller verschwinden, als Anthropologen sie verzeichnen können. In der Lebenszeit unserer Enkel wird aus dem Vatikan das Europäische Museum für Römisch-Katholisches Christentum, und Mekka wandelt sich zu Disneys Magisches Königreich Allahs.

TRANSFORMATION DER RELIGION Aus Religion werden Institutionen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat: größtenteils uneigennützige Zusammenschlüsse die Selbsthilfe anbieten und moralische Gemeinschaftsarbeit ermöglichen. Zeremonien und Tradition dienen um Beziehungen zu festigen und ›Langzeit-Fan-Treue‹ zu schaffen. Szenario: Mitglied einer Religion zu sein, wird immer mehr dem ähnlich, heute ein Bayern München- oder HSV-Fan zu sein. Es gibt dann verschiedene Farben, Lieder und Jubelrufe {cheers}, unterschiedliche Symbole und lebhafter Wettbewerb — würden Sie Ihre Tochter einen Frankfurter Eintracht-Fan heiraten lassen? — doch von ein paar renitenten Wenigen abgesehen, weiß jeder die Wichtigkeit von freidlicher Koexistenz in der Globalen Liga der Religionen wertzuschätzen. Religiöse Kunst und Musik blüht auf, und freundliche Rivalität führt zu abgestuften Spezialisierungen. Eine Religion mag wegen ihrer Anwaltschaft für die Umwelt {enviromental stewardship} berühmt sein, und Millionen mit sauberem Wasser versorgen. Eine andere Religion mag für die Verteidigung von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Ausgeglichenheit bekannt sein.

MARGINALISIERUNG DER RELIGION Das Ansehen und die Sichtbarkeit von Religion schwinden. Wie Rauchen wird es zwar toleriert, da es immer welche gibt die behaupten nicht ohne leben zu können. Doch man ermuntert nicht dazu. Kindern, die leicht beeindruckbar sind, Religion zu lehren wird in den meisten Gesellschaften scheel beäugt, in einigen wird es sogar verboten. Szenario: Politiker die immer noch praktizierend religiös sind, müssen ihre Ämtertauglichkeit durch andere als religiöse Verdienste um die Gemeinschaft beweisen; nur wenige Politiker würden mit ihren religiösen Überzeugungen hausieren gehen. Die Aufmerksamkeit auf die Religion eines Menschen zu lenken, wird als ungehobelt betrachtet, wie auch öffentliche Kommentare über das Geschlechtsleben, oder Fragen danach, ob jemand geschieden ist oder nicht.

WELTENDÄMMERUNG Das Jüngste Gericht ist da. Die Gesegneten steigen leibhaftig gen Himmel auf, alle anderen bleiben zurück und erleiden die Qualen der Verdammnis, wenn der Antichrist unterliegt. Szenario: Wie die Prophezeiungen der Bibel weissagen, sind die Geburt des Staates Israel im Jahre 1948 und der fortwährende Konflikt um Palestina deutliche Zeichen für das Weltenende, wenn wie Wiederkehr von Christus alle anderen Hypthesen vom Tisch wischt.

•••• Und weils so schön ist …

Was meint der Molochronik-Leser: Welche der beschriebenen Entwicklungsmöglichkeiten in Sachen Religion wird wohl am meisten die Zukunft prägen?

Religiöse Kehrtwende
37,5% (3 Stimmen)
Absterben der Religion
0% (0 Stimmen)
Transformation der Religion
50% (4 Stimmen)
Marginalisierung der Religion
0% (0 Stimmen)
Weltendämmerung
12,5% (1 Stimme)
Summe: 8 Stimmen

Die erste Stimme {Transformation} entspricht meiner bescheidenen Pi-mal-Daumen-Wahl.

Mittwoch, 31. Mai 2006

Lovecrafts Träumereien

Eintrag No. 274 — Und wieder blüht ein neues, lesenswertes Phantastik-Blog auf, denn Hannes Riffel (Übersetzer, Phantastikbuchladen-Inhaber, Mitbetreuer der Hobbit-Presse bei Klett Cotta und Shayol e.V-Vorsitzender) ist mit »Blumen für Algernon« unter die Blogger gegangen. Jemand wie er, der »Moby Dick«, Arno Schmidt, Lovecraft und Vandermeer hoch schätzt, der Lanzen für die Kurzgeschichte bricht und lustige Fantasy/SF/Horror-Phantastik Top 100-Listen veranstaltet, über die Imho-itis stöhnt, kann mir nur sympathisch sein.

Schon zum dritten Mal seit Blogjungferneintrag berichtet Hannes mit »Aus der Pestzone« von seiner derzeitigen Lovecraft-Wiederlesephase (hier zu Teil 1 »Immer wieder« und Teil 2 »Das Grauen«). Da ich mir die ganzen tollen englischen Editionen z.B. wie »From the Pest Zone. The New York Stories« und »Letters from New York« von S. T. Joshi nicht leisten kann, les ich die Leseeindrücke von Hannes um so interessierter. Hannes erwähnt dabei erfeulicherweise Lovecrafts rassistisch-›faschistoide‹ Verirrungen, die eben durch Joshis Ausgaben deutlich werden. Ich staune nicht schlecht, wenn Hannes dann raunt: Natürlich folgt daraus nicht, dass es irgendwie verwerflich sein könnte, Lovecraft zu lesen und zu schätzen. Aber es ergeben sich doch einige interessante Gedanken über den einflussreichsten Horrorautor des 20. Jahrhundert und den Ursprung seines "kosmischen Schreckens" in äußerst banalen Alltagsängsten. Nicht umsonst hat Suhrkamp vor Jahren die -- bereits fertig übersetzte! -- Lovecraft-Biographie von de Camp nicht veröffentlicht; zu unangenehm erhellend waren die darin enthaltenen Lovecraft-Zitate (nachzulesen in der 2002 bei Festa erschienenen Ausgabe). Wenn das stimmt, dann frag ich mich, für WEN aus Suhrkamps Sicht die de Camp-Bio zu ›unangenehm‹ gewesen wäre. Für ›naive‹ Phantastik-Kunden vielleicht, die Lovecraft als Kultautoren bussi-butzi-mäßig verehren und von etwaigen Beschmutzungen bewahrt sehen möchten? Was auch immer Suhrkamps Gründe gewesen sein mögen, stimme ich Hannes Riffel auf jeden Fall zu, {daß} es keinen Grund {gibt}, Lovecraft auch nur entfernt in Schutz zu nehmen. — Zweifelsfrei war Lovecraft ein großartiger Phantast, ein moderner Vertreter außenseiterischer Gnostik, dessen Leben und Werk als verqueres Ineinander von Selbstkultivierung und Umweltentfremdung daherkommt, mit eben einer Vielzahl an verschieden hellen und düsteren Facetten.

Hier nun ein paar exemplarische ›unangenehme‹ Stellen aus de Camps-Bio (EA Originalausgabe 1975), von der ich eine Taschenbuchausgabe aus Ullsteins Reihe »Populäre Kultur« aus dem 1989er Jahr hab (und in der steht nix von Kürzung. NACHTRAG: Hannes Riffel hat mich in seinem Blog darüber informiert, daß die Ullstein-Ausgabe doch gekürzt ist. Nun, daß die Abbildungen fehlen wußte ich, doch dachte ich, damit wär's das {und Abbildungen weglassen ist ja auch eine Kostenfrage}. Eine ungekürzte Fassung liegt seit 2002 bei Festa vor). Kapitel 17. Verquere Gedanken mag für unbedarfte jedoch quitesch-innige Lovecraft-Beschöniger problematisch sein, denn da finden sich Absätze:

(S. 265): Lovecrafts Rasissmus, der nachgelassen hatte, kam wieder voll zum Ausbruch. In seinen Briefen aus den Jahren 1933 finden sich zahllose Beispiele für seine anti-ethnischen Triaden. Er zog gegen den »fremartigen und emotional abstoßenden Kulturstrom« der Juden und ihr »rücksichtsloses Unternehmertum« zu Felde und auch gegen ihre angebliche Beherrschung der amerikanischen Presse mittels Anzeigen, die dazu führe, daß der »Geschmack in hinterhältiger Weise in nichtarischen Geleisen geformt« werde. Er tobte gegen die Einwanderer: »kriechende Bauern«, »stinkende Mischlinge«, »Ghetto-Bastarde«, »Abschaum und Bodensatz in ihrer Heimat … die Schwächlinge, die sich in ihrem eigenen Volk nicht oben halten können.«

L. Sprague de Camp schildert weiter, wie sich Lovecraft von Amerika aus auf Europa und die Weltpolitik blickend, für die deutschen Nazis und ihren Gröfaz erwärmt: (S. 265): Hitler sei {so Lovecraft in seinen Briefen aus dem 1934 Jahr} »extrem, grotesk und gelegenlich auch barbarisch«, aber auch »zutiefst aufrichtig und patriotisch«. Obgleich er eine Gefahr darstelle, »kann uns dies nicht blind machen für die ehrliche Aufrichtigkeit im grundliegenden Drange dieses Mannes … Ich weiß, er ist ein Clown, aber bei Gott, der Junge gefällt mir!« {Hervorhebung so bei de Camp und entsprechend wohl dann auch schon bei H.P.L.}

De Camps Bio wäre ein schlechtes Werk, würde er nicht facettenreich und genauer auf die Widersprüche von Lovecrafts Meinen und Sinnen eingehen. Neben Hitler fand Lovecraft auch Roosevelt toll. Zurecht fragt sich de Camp (auf S. 266): Wie konnte ein Mann {H.P.L} Roosevelt unterstützen, sich als liberalen Demokraten bezeichnen, von der Unvermeidbarkeit des Sozialismus reden und gleichzeitig Hitler entschuldigen und schreiben: »Ich glaube, daß irgendeine Variante des Faschismus die einzige Form der zivilisierten Regierung ist, die unter der industriellen Ökonomie des Maschinenzeitalters möglich ist?«

De Camp zeigt, daß Lovecrafts Seelen- und Meinungsleben nicht in einfache klare Backformen pressen läßt — wie auch, wenn der Meister selbst losgelößt von politischen Realitäten sich im Grunde als (eben dunkel-)romantischer Schwärmer für ein radikales Künstlerutopia entpuppt (S. 266), und von sich behauptet: »Ich werde mich als eine Art Kreuzung zwischen einem Faschisten und einem nichtbolschewistischen Sozialisten der alten Art bezeichnen müssen«; und de Camp zitiert, wie für Lovecrafts eine Ideal-Vorstellung des sozialen Faschismus aussah (S. 266): Er {H.P.L. } war dafür, daß die »Staatsgeschäfte von Kommissaren geführt werden, die ein Diktator ernennt, welcher wiederum durch ein intelligentes und bildungsmäßig erlesenes Wahlmännergremium erkoren wird. … Das Wahlrecht sollten nur solche haben, die sowohl eine unparteiische Intelligenzprüfung als auch eine Prüfung ihrer ökonomischen, sozialen, politischen und allgemeinen kulturellen Kenntnisse bestanden haben; wobei selbstverständlich die Möglichkeit der Bildung für jedermann stets gleich sein müssen.« Er rief nach einer Diktatur, die »vollständige intellektuelle und künstlerische Freiheit garantierten.« – was eine absolut widersprüchliche und groteske Vorstellung ohne Aussicht auf Verwirklichung war.

Wichtig scheint mir jedoch, Lovecraft hier nun nicht als vollkommenen Fascho-Depp dastehen zu lassen (Juden Assimilieren, nicht Eliminieren, says H.P.L.), denn de Camp berichtet in diesem dunklen Kapitel der Biographie ausdrücklich auch davon, daß Lovecrafts Abwenung vom Antisemitismus eine der auffälligsten Veränderungen der letzten drei Lebensjahre von Lovecraft darstellt. In der Tat heißt es bei de Camp auf S. 267: 1935 war er {H.P.L.} von seinen faschistischen Neigungen kuriert. — Ich persönlich deute es grob so, daß Lovecraft als konsequenter Durchdenker und -Empfinder schlicht sich selbst gegenüber eingestehen mußte, daß eine zu einseitige Parteinahme für eine Rasse, Kultur oder Nation im Angesicht der chaotisch-cthonischen Kräfte des Universums schlicht kurzsichtiger Kinderkram ist. Lovecrafts Hass aufs Leben ließ deshalb entsprechende Schwingungen beim Klage- und Schauergesang über die Schlechthinigkeit der Welt und Menschheit wieder mehr und mehr beiseit. Für Freunde der Kulturgeschichte der Phantastik aber bleibt Lovecrafts Ausflug in den Stadtmoloch von New York eine der tragisch-gruseligen Episoden der modernen Literaturgeschichte.

Sonntag, 28. Mai 2006

Vorschau auf Molos Rezis in MAGIRA 2006 (mit Portraits)

Eintrag No. 273

EDIT 23. Aug. 2006:: Um Links zu Portaitgroßansichten und den einzelnen Rezis ergänzt. Fehlerchen gemerzt, um Links zu Büchern ergänzt.

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Mittlerweile ist »Magira – Jahrbuch zur Fantasy 2006« erschienen und die einzelnen Rezis (mit Anstandsverzögerung) auch in die Molochronik eingepflegt worden.
Nach meiner ›bösen‹ Rezi zu Tad Williams »Der Blumenkrieg« wollte ich (schon vor dem verständlichen Diss bei SF-Radio) diesmal auf gar keinen Fall von unangenehmen Lektüren berichten. Meckern kann ich zwar, aber es ist so öde. So gibts dieses Mal einen launischen Reisebericht über die seltsamen aber empfehlenswerten Bücher der Saison 2005/2006.
Die ganzen ca. 11.000 Worte sind wieder von Michael Scheuch und Herrman Ritter lektoriert worden (und Krischan Seipp durfte sich mit meinen Portrait-Illus herumschlagen). Hier findet der geneigte Leser das Introdubilo, die Überleitungs-Absätze.
Ich kann mich gar nicht genug bei den Genre-Kollegen und Genre-Freaks in den verschiedenen Foren die ich heimsuche bedanken. So manche Idee, Signatur, Ansichtssache hat mir beim Schreiben dieser launischen Empfehlungen geholfen.

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LAUNISCHE ABER AUFRICHTIGE EMPFEHLUBNGEN VON SELTSAMEN & VERWIRRENDEN FANTASYBÜCHERN DER PHANTASTIKSAISAON 2005/2006

»Ich sehe die Rezension als eine Art von Kinderkrankheiten an, die die neugeborenen Bücher mehr oder weniger befällt. Man hat Exempel, dass die gesündesten daran sterben, und die schwächlichen oft durch-kommen. Manche bekommen sie gar nicht. Man hat häufig versucht, ihnen durch Amulette von Vorrede und Dedikation vorzubeugen, oder sie gar durch eigene Urteile zu inokulieren, es hilft aber nicht immer.«

—Georg Christoph Lichtenberg, »Sudelheft J« (1718–1732)

—Was macht gute oder schlechte Phantastik aus? Wann sprießen wirklich neuartige Blüten im Garten der Fantasy und wann ist ›Fantasy‹ lediglich ’ne Karotte zum Erwartungsdirigieren und Treuekonditionieren von Konsumenteneseln? Wann wird an bestehende Traditionen erfrischend angeknüpft, und wann werden nur altbewährte Verführungstricks aufgefahren?

—Mensch Molo, lass doch den verkopften Quark und gib’ einfach Bescheid: ist ein Buch die Lappen, die ich dafür hinblätter wert, oder eben nich’? Überversimpelt gesagt, besteht im Beantworten solcher Fragen der Job eines Kritikers. Doch schaut man dazu am besten von einem fixen Standpunkt, z.B. als Torwächter auf die durchkommenden Bücherkarren aus den fraglichen Genregebieten, und lässt die Guten in die Stadtgemeinschaft passieren und weist die Unwürdigen ab; oder soll man versuchen, als Leuchtturmwärter den potentiellen Lesern Orientierungslicht zu spenden? Sicherlich sind solche statischeren Perspektiven auf Literatur und damit auch auf Teilgebiete wie Fantasy berechtigt und nützlich. Aber ich muss gestehen, dass ich mich dafür als zu skeptisch und sprunghaft einschätze, um auf brauchbare Art und Weise als Wache oder Leuchte zu dienen[01]. Ich will also im Folgenden versuchen, eine in ihrer Unaufgeräumtheit dennoch kurzweil-ige Sammelrezension anzubieten[02].

Aus den lebendigeren Gegenden des großen Kontinentes KONVENTIONA berichte ich, wie der geschickte Mythenimpressario Neil Gaiman, ein Konzert veranstaltet, indem er Spinnen Schöpfungslieder singen lässt, und wie Ian R. MacLeod mit Könnerschaft an gute alte europäische Prosatradition anknüpft, um vom ›Unbehagen in der beschleunigten Moderne‹ zu erzählen. Im verstreuten Inselreich AVANTGARDIEN wollte ich nicht versäumen zu erleben, wie China Miéville sein dreiteiliges ›gegen den Genre-Strich‹-Manöver mit rahmensprengender Vehemenz abschließt; und ich bin verblüfft vom artistischen Feinsinn Jeff Vandermeers, nachdem ich mich in seinem verführerischen, kompliziert-verspielten Narrationslabyrinth genüsslich verirrt habe.

Wenn man die üblichen Grenzen zwischen ›Trash‹ und ›Literatuuur‹ mal vergisst, ist es erstaunlich festzustellen, dass hierzulande gescheiter und lustvoller Genre-Fantasy betrieben wird, als man bei übler Laune schlecht reden kann. Da ›geb‹ ich lieber ›Zeitung‹ von einer mir neuen heimischen Fantasy-Hoffnung, und freue mich denn ‘nu auch besonders, wenn Lorenz Jäger für die noble FAZ den ›Schwert aber Nix-Magie‹-Fantasyroman eines jungen Berliner Buch- und Comicautors lobt. Der immer nach neuen Krassheiten gierende Äktschn-Freak in mir nimmt Jägers ›Warnung‹[03], dass

»Niemand dies Buch ohne Verstörung lesen können (wird)«,

hoffnungsvoll als Kauf- und Leseanreiz.

Tobias O Meißner: »DAS PARADIES DER SCHWERTER« –oder: Wenn der Autor auch mit dem Würfel schreibt.

Zur Rezi.

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Nach soviel wilden Blutstrudeln, Sprachbrechern und Metaphernriffen entlang der zerfledderten Küsten AVANTGARDISCHER Inseln, nun zu einem Autor, den ich seit Jahren als ›sicheren Hafen‹ zu schätzen weiß, weshalb er in meiner Lektüregeographie an den Gestaden KONVENTIONIAS gelegen ist.

Neil Gaiman: »ANANSI BOYS« –oder: »Die spinnen, die Götter«.

Zur Rezi.

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Wie überraschend und erfrischend der Einfluss von älterer oder auch neuerer Mainstreamschreibe für heutige Fantasy bzw. Phantastik sein kann, hat ja auch die vielgelobte Susanna Clarke mit ihrem voluminösen »Jonathan Strange & Mr. Norrell« vorgeführt[04]. Jetzt wäre es natürlich Blödsinn, wenn ich hier in einem Jahrbuch zur Fantasy Werke dafür lobte, dass sie Lesern von ›kanonischer Literatur‹ feine Fantasy-Ausflüge bereiten. Umgekehrt wird aber ein Schuh draus: Fantasy-Leser, die ihre Nase bisher gar nicht oder seltenst in alte Bücher gesteckt haben, können sich z.B. vom folgenden Titel anfixen lassen, öfter mal vermeintlich ›angestaubter‹ Literatur ‘ne Chance zu geben.

Ian R MacLeod: »AETHER« –oder: Vom melancholischen Leben im Takt der Maschinen.

Zur Rezi.

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Ian R. MacLeod macht keinen Hehl daraus, als junger Mensch von linken Hoffnungen erfüllt gewesen zu sein. Es sei ihm gegönnt, dass er sich als gereifter und desillusionierterer Mensch einer eleganten Verquickung aus Zorn und Melancholie hingibt. Vom ältesten zum jüngsten Autor dieser Sammelrezi: Was kommt dabei heraus, wenn ein Geek mit heftigst lodernder ›Sozi-Inbrunst‹ auf diesen bedrückten Gemütslagen eine kräftige Portion handgreiflicher und spekulativer Äktschn aussäht?

China Miéville: »DER EISERNE RAT« und Bas-Lag –oder: Wenn die ›Weird Fiction‹ revoluzzt.

Zur Rezi.

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Nach dem bombastischen Ausflug in die konfliktreiche Globalisierungsgeschichte einer phantastischen Zweitschöpfungswelt schließe ich meinen Reisebericht nun mit einem thematisch nicht minder gegenwartsbezüglichen, bis auf Einschübsel meist indirekter Art gänzlich urbanem Erzählungspuzzle. Der nächste Autor ist auch so einer, der meint, dass man als Künstler sowohl seine art pour art-Haltung pflegen, und zugleich trotzdem zeitgenössisch auf der Höhe sein, und politisch-gesellschaftlich relevante Fiktionen von vergnüglicher Reife zustande bringen kann. Aber schon der Titel dürfte anklingen lassen, dass ›gnostischere‹ Fantasy auf einen zukommt.

Jeff Vandermeer: »STADT DER HEILIGEN & VERRÜCKTEN« –oder: Kalmartentakel und Pilzsporen.

Zur Rezi.

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[01] —Vorsicht, nicht die Küste rempeln. ••• Zurück
[02] Darum wissend, dass ich selbst eine Virenschleuder für oben genannte ›Kinderkrankheiten‹ aus dem Reich der Meinungsschieberei bin. ••• Zurück
[04] Gwenda Bond stellt in ihrem Artikel für »Fantasy Goes Literary«
(»Novels with supernatural elements are finding a new readership«)

für Publishers Weekly Einschätzungen von Verlagen und Agenten zu diesem Phänomen vor. ••• Zurück

Mittwoch, 24. Mai 2006

Vorbildliche Buchgestaltung

(Schöne Phantastik-Cover) — Ausnahmsweise ein Gafimente-Eintrag ohne eigene Zeichnungen oder Photos (immerhin: alles selber gescant).

Bei Bibliotheka Phantastika zeigt und linkt man sich gegenseitig bemerkenswerte Umschlagsbilder zu Fantasybüchern. Regte mich an, mal durch meine Regale zu stöbern, Bände herauszuziehen und zu vergleichen und darauf zu achten, wo mich am meisten Betrachter-Freude überkommt.

Nun trag ich wiedermal nur teilweise zum Kerngebiet der Fantasy bei und bemühe wenig zeitnahe und überwiegend ältere Werke (wenn auch in modernen Ausgaben). — Vorweg gestehe ich, daß ich als Teen dem Zauber von Pergament- und Schriftrollen-Simulacren genauso erlegen bin, wie wohl viele Fantasy-Leser. Immer schön fand ich damals, wenn ornamentales oder bratziges Rankenwerk das Bildmotiv rahmte, wenn kuriose Schmuckschriften Pinsel- oder Kerbzeichen nachahmen. Auch hab ich in meinen ersten Lesejahren als Fantasy- (Horror- und SF-)Fan schnell mal ein Buch an Land gezogen, weil reizvolle Signale der Art ›Monster‹, ›Waffen‹, ›Titten‹, ›Fresseschläg‹, ›Magie-FX‹, ›magische Orte‹ ectppff mich verführten.

Nun, fast zwanzig Jahre später ist mein Geschmack ein ganz anderer. Für all die oben genannten Dinge bin ich heute noch zu gewinnen, aber was Lay-Out und Buchgestaltungstradition angeht, bin ich im Lauf der Zeit deutlich ›altmodischer‹ und ›konservativer‹ geworden. So hab ich eine Schwäche entwickelt, für einfache und klassische Schriften; bevorzuge Zeichnungen und altmeisterliche Techniken den neueren Airbrushwerkzeugen und digitalen Bildbearbeitungsmethoden.

Nach diesen überheblichen Einleitungsworten will ich mit einem wusel-munteren waschechten Fantasy-Cover beginnen. 1992 beglückte die Edition Kunst der Comics uns mit »Die Große Enzyklopädie der Kleinen Leute« von Pierre Dubois, illustriert von Claudine & Roland Sabatier. Selten und deshalb von mir besonders geschätzt ist viel Schrift einer umständlich aufführlichen Titulierung Cover. (Leider keinen brauchbaren Link zu den Künstlern gefunden).

Klassiker eins: Mary Shellys »Frankenstein« mag Fantasy-Lesern hier vielleicht Fehl am Platz erscheinen, aber ich zähle mich zu denen, die diesen Roman als einen der wichtigsten Keimtexte der ganzen modernen Phantastik-Trias (Horror, SF, Fantasy) betrachten. Stark geprägt hat mich die reichlich und unglaublich stimmungsstark von Bernie Wrightson illustrierte Ausgabe des Marvel-Verlages von 1983 (mit einem Vorwort von Stephen King — ja auch sowas macht{e} dieser ansonsten mit Comics aufwartende Verlag) Tut mir leid, daß man bei meinem Scan nicht wirklich erkennen kann, wie überragend das Pinseltuschegemälde von Wirghtson ist, aber so ist wenigstens das ganze sich über Vorder- und Rückseite erstreckende Breitwandmotiv zu sehen.

Klassiker zwei: Bei meiner Begeisterung für die durch Michael Mathias Prechtl illustrierte Ausgabe von E. T. W. {dann A.} Hoffmanns »Lebensansichten des Katers Murr« bei C.H. Beck (bzw. der Büchergilde Gutenberg) von 1997, schlägt nun meine Liebe fürs klassische, elegante, dem marktschreierischen abholde Lay-Out durch.

Neo-Gothic: Das einzige Beispiel meiner Bibliothek für Schnörkelschmuckschrift, welche die Covergestaltung nicht albern wirken läßt, liefert die Haffmans-Ausgabe von Kim Newmans »Anno Dracula« (1994) mit einem Gemälde von Stephen Player. Erinnert mich an einige der Arbeiten von Paul Kidby für Terry Pratchetts Scheibenwelt. Kein Wunder, hat Player doch bei einigen Discwolrd-Karten mitgewerkelt. Der Herren Engländer halt.

Reihentitel eins: Viel Fantasy und Phantastik kommt ja als Serie, Zyklus, Reihe daher. Zuletzt möchte ich also zwei Gemmen der Buchgestaltung vorstellen, die Werkgruppen vorbildlich einheitlich gestaltet präsentieren. Zuerst die beeindruckende Aufmachung der Taschenbuchausgabe der kompletten »History of Middle-Earth« (Hrsg. von Christopher Tolkien) aus dem Hause Harper Collins, 2002 durch John Howe. Es ist zwar irgendwie aberwitzig, daß man die ganzen Illustrationen von Howe auf dem Buchrücken kaum richtig genießen kann, und auf der Vorderseite nur Detailausschnitte dieser großen Bilder zu sehen bekommt. Dafür macht dieses Laporello über 13 Büchrücken im Regal einen ausgesprochen edlen und veführerischen Eindruck. {Wenn man auf das Bild klickt, sollte sich ein neues Fenster mit einem mordslangen Detailausschnitt öffnen.} Die zwölf Bilder stellen dar (von links nach rechts): 1) Die Schlacht um Gondolin; 2) Die Pforten der Nacht; 3) Fingolfin vs. Melkor; 4) Die Belagerung von Angband; 5) Der Weiße Turm von Elwing; 6) Gandalf Rückkehr nach Beutelsend; 7) Edoras; 8) Die Mûmaks der Harad; 9) Der Untergang von Anadùnê; 10) Die Tötung der Bäume; 11) Nienor und Glaurung; 12) Das Schiff der Dunklen; 13) Die Grauen Furten.

Reihentitel zwei: Zuletzt wirds wieder eher ›altmodisch‹ spartanisch und für die heutige Zeit schon kurios deviant; einmal weil ich mit Ambrose Bierce einen Altmeister der Phantastik bemühe, dann, weil wiederum mit einfachsten Schrift- und Zeichenfeder-Mitteln gearbeitet wurde. Die Haffmans-Ausgabe der Werke von Bierce (1986-89) bedient sich lediglich schrill gefärbten Mamorpapiermusters, um den Blick zu fangen, und verläßt sich sonst auf die lebendigen, frechen Zeichnungen von F. W. Bernstein. Neue Fenster öffnen sich für die anderen Cover dieser Reihe {Nicht von den img-Dateinamen verwirren lassen}:

  1. Des Teufels Wörterbuch;
  2. Bürgerkriegsgeschichten;
  3. Horrorgeschichten;
  4. Lügengeschichten und Fabeln.
Dienstag, 16. Mai 2006

eText-Beute: Alciatos Embleme, der komplette Lukian, Satire von Seneca, Lyrik & Schriften von Swift, George Tuckers Mondreise

(Literatur, Klassiker der Phantastik) — Schnell und dreckig in alphabathischer Reihung meine neuesten Funde aus der Welt der wunderbaren Umsonstlektüren.

Alciatos »Emblemata« von 1550 ist ein guter Einstieg in die Welt der europäischen Proto-Comics. —— Große Freude über einen endlich mal komplett vorliegenden Lukian, meinem antik-griechischem Lieblingsphantasten, dessen »Lügenfreund«, »Wahre Geschichte«, »Luftreise«, »Göttergespräche« ectppff in der Wielandübersetzung zu meiner Lieblingskost gehören. Hier zur Übersicht der 4 Bände englischer Komplett-Ausgabe, sowie zu einem Text über die Syrische Göttin nebst Lukrian-Biographie. —— Politische Satire von Seneca, dem römischen Stoiker (bekannt aus Andreas Eschbachs »Der Letzte Seiner Art«), in der Vergöttlichung als ›Verkürbisierung‹ verballhornt wird, lateinisch (bzw. in englischer Übersetzung) eben zur »Apocolocyntosis«. —— Jonathan Swift ist einer meiner absoluten Lieblingsautoren. »Guillivers Reisen«, ist Dank seiner kräftigen Phantastik in die Weltliteratur eingegangen; ungekürzt und nicht verharmlost immer noch einer bissigsten, kritischsten, abenteuerlichsten und witzigsten Texte über die Irrungen und Widrigkeiten der menschlichen Zivilistationen. Schön langsam wird die englische Werksausgabe fertig, in der vieles, was ich nie auf Deutsch gesehen habe enthalten ist. Entsprechend umfangreich gibts: Band eins und zwei der Gedichte; Band eins und zwei kirchlicher Schriften (Predigten und so); sowie je einen Band mit Briefen an und Beiträgen für Zeitungen (wie den Spectator und den Inquirerer); mit Texten zur Geschichte (mit großem Blickwinkel), bzw mit Texten zur Geschichte und (Lokal-)Politik. —— Ein weiteres, diesmal sozusagen Frühwildwest-Zeugnis über ›die Geburt der SF aus dem Ei der Satire‹ liefert der Ex-Politiker George Tucker mit seinem US-Pionier-SF-Flick »A Voyage to the Moon« von 1827. Siehe auch hier (wie bei Swift) die Querverbindung: Parodie auf abenteuerliche, utopische und exotische Reiseberichte. Überhaupt komme ich immer mehr zu dem Schluß, daß die moderne Phantastik einschließlich ihrer Spielarten Fantasy, Science Fiction, Horror sehr innig mit der faktischen, wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierungsgeschichte (bzw. jetztige Gloablität) verbunden ist.

Donnerstag, 4. Mai 2006

Jetzt lief die ›Blasphemie‹ und kein Blitz, kein Heuschreckenschwarm, keine Schrift an der Wand

(Gesellschaft) — Christenmenschen haben einen Glauben. Das ist an sich weder was grausliges, noch ist es etwas edles, denn es kommt auf den jeweiligen religiösen Menschen an, was er aus seiner Religiösität macht.

Schlimm aber gestern abend die Sicherheits-&-Diskursvorführung der kleinen, harmlosen und alberenen (und nicht kritischen) Pilotfolge von »Popetown«.

Da wurde von allen Seiten, den Fürsprechern und Gegnern der Sendung viel Wind gemacht. Eine ältere Dame, die man auf der Straße befragt hat, bringt den ganzen Medienschwurbel am genauesten auf den Punkt: Mündige Bürger entscheiden selber, ob sie sich sowas anschaun. — Ich steh ja auch nicht jeden Sonntag vor der Kirche, und protestiere gegen den hahnebüchenden Wunderaberglauben, den Transzendenzjunkies verbreiten. Die sollen da in der Kirche unter sich bleiben.

Auf einer Skala von 1 (würg) bis 10 (jubel) würd ich der Folge eine 5 geben (taugt als einmal-Gucken-Unterhaltung).

Beste Figur: Schwester Maria, weil sie so wunderbar ›in die Luft starrt‹ und nicht weiß, daß der Zahlenstrang kein Ende hat.

Größter Interpretationsfehler in der MTV-Diskurssendung: Einige meinten, daß die Folge sich über Behinderte lustig mache, Rollstuhlfahrende ›in den Dreck ziehe‹. Was wird genau gezeigt?: Jugendliche gelähmte Waisen kommen aus Leeds zu Besuch nach Popetown. Die Popetown-PR-Nonne Penelope ist genervt, weil die Kinder nicht ›arm, traurig und verzweifelt‹ sind, sondern weil die kleinen Racker quicklebendig mit ihren Rollstühlen rumkajolen, sich fibbrig aufgregt auf die Begegnung mit dem Papst freuen. Der Höhepunkt der Nervigkeit dieser behinderten Kinder ist ihr Gesang: Gitarre und falscher Kinderchor eben — ALLE Kinderklassen singen eher schief, warum sollten Gehbehinderte da eine Ausnahme bilden? Ansonsten werden eben nicht diese Rollstuhlkiddies ›in den Dreck gezogen‹, sondern die Erwachsenen, und ihre Routinen, mit denen sie sich diesen Kindern nähern, um die Kinder medienwirksam auszubeuten. Das kennen wir von Politikern und Diktatoren, wenn sie sich kleine Kinder herzend und deren Müttern Kränze reichend den Massen zeigen.

Größter Nationalchauvinismus des Diskurses: Der Popetown-Papst (¿oder Pipst, oder Popst?) verirrt sich in die unterirdischen Hostienfabriken, in denen Zwangsarbeiter schuften. Sofort brabbeln einige Diskursteilnehmer von ›abgemagerten Gestalten, wie in den KZs‹, und daß (wenn sonst schon nix) dann dieser ›Gäg‹ zu weit gehe.

—Hey, liebe deutsche Gutmenschen! Nicht alle ausgemergelten Zwangsarbeiter sind ein Verweis auf die Arbeitslager und KZs des Dritten Reiches. Schon bei den Römern schufteten Kinder in Erzminen. Die Kulturgeschichte der Menschheit verzeichnet schon lange Zwangsanstrengungsgemeinschaften, und nicht alle Arbeiter haben (wie die Pyramidenbauer) ihr rituelles heiliges Bierchen zu Feierabend bekommen. Wie freiwillig und angenehm war das mit dem Eisenbahnbau in den Alpen im vorletzten Jahrhundert?.

Gerade die katholische Kirche hat eine zünftige Beziehung zu Sklavenhandel-Gewinnlern in der Vergangenheit gepflegt. Die mutigen Christen, die gegen die Macht- und Profit-Praxis ihrer ›Klientel‹ protestierten, waren und sind in der Minderheit. Statt sich über MTVs Programm könnten sich christliche Mahner hierzulande z.B. über HARTZ IV, die Aussaht von Gen-Mais und Getreide, Kinderarmut usw protestieren. Hört man da viel? Nö. Aber den Blasphemieparagraphen verschärfen und Sendern die Lizenz entziehen wollen.

Hey, führen wir doch gleich wieder den Pranger ein, entscheiden Korruptions- und Steuerhinterziehungsschuldigkeit wieder mit Gottesbeweisen und wiederbeleben die hochnotpeinliche Befragung! — Also bitte, das nächste Mal wenn Zwangsarbeiter in einem Cartoon oder sonstwo vorkommen, ruhig auch an südarfikanische Silberminen, Baumwollfelder in Lousiana, die Zuckerrohrplantagen der Karibik denken, von mir aus auch an Schwabenkinder, und nicht immer und exklusiv nur über Nazi-KZs lossirenen (das ist nämlich auf Dauer supereitel, alle Übel der Welt immer nur auf die eigene National-›Spitzenleistung‹-Leistung in Sachen Unmenschlichkeit zu beziehen!).

Dienstag, 2. Mai 2006

»Desto älter ich werde, umso weniger will ich wissen wo ich bin. Es darf nur nicht alles so weit weg liegen«

(Gesellschaft, Coverstory) — Hat der gute HDHüsch in einem seiner Programme mal gerumpelt.

Andrea aus dem Nachbarzimmer hat einen feinen Beitrag über den Unterschied zwischen Riesen und Tourismus für mindestenshaltbar geschrieben: »Generalstabsmäßig organisierter Kulissenwechsel: Warum Tourismus nichts mit Reisen zu tun hat«. —Danke Andrea.

Für Phantasten relevant?: Nun ja, auch in der Phantastik gibt es All-inclusive-Touristik. Amœnokraten lassen sich nicht wie Topfpflanzen von Konzernen durch Themeparks gondeln.

Und überhaupt: minestenshaltbar ist eine sehr feine Sache. Jede Nummer ist einem Thema gewidmet. Guten Einstieg bietet das Archiv.

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