molochronik
Freitag, 21. April 2006

»Blumengarten vor der Seele« — Zitate von Jean Paul … und Uffreschung über ›Christen‹-Schmarrn

Eintrag No. 267 — Vor einiger Zeit hab ich mir die Hanser-Box mit den Werken Jean Pauls billig aus dem Ramsch gezogen. Jean Paul ist sicherlich ein geistvoller Autor, aber er ist auch ein großer gewundener Schwätzer vor dem Herren. Dennoch, lohnt sich bei ihm reinzulesen. Schöner alter Stil, mit Strichpunkt und Bandwumsätzen, die ganz fein und lebendig das echte ›Vor sich hin Denken‹ abbilden.

Was mich nervt an Jean Pauls Schreibe, ist, daß der Mann nicht zu Potte kommt. Da gibts Einleitungen und Vorwörter bis zum Abwinken, so richtig auf Handlung bin ich noch nicht gestoßen. Ist aber vielleicht auch egal, denn ich genieße die muntere Sprache und Gedankenspielerei, wenn ich beim Querblättern darüber stolpere, auch ohne daß sich 'ne Story bietet.

Gestern abend bin ich über das ›Jus de Tablette für Mannspersonen‹ Nummero Eins gestolpert, daß mich als Phantast freilich brennend interessiert, da es darin »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft« geht. In der dritten Abteilung des »Quintus Fixlein«, Hanser 1975, Band 7, S. 195ff.

Da der Spielraum der Sinne enger ist als der Phantasie: so entsteht die Täuschung, daß wir uns jene nur in den Ketten des Körpers und diese nur in den Zügeln des Willens denken, da wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen.
{…} So zieht das Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, um das gelobte Land der Zukunft.
{…} Noch größer ist die phantasierende Kraft, wenn sie auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht.
{…} Im Rausche dringen die Wolken der innen brennenden Räucherkerzen hinaus und legen sich außen an den Gegenständen an und geben ihnen eine vergrößerte, abgeründete, zitternde Gestalt.
{…} In der Liebe ist das Amalgama der Gegenwart mit der Phantasie noch inniger. … eine geliebte Person hat den Nimbus einer abwesenden — einer gestorbenen — einer dramatischen. —
{…} Leute, deren Kopf voll poetischer Kreaturen ist, finden auch außerhalb desselben keine geringern. Dem echten Dichter ist das ganze Leben dramatisch, alle Nachbarn sind ihm Charaktere, alle fremde Schmerzen sind ihm süße der Illusion, alles erscheint ihm beweglich, erhoben, arkadisch, fliehend und froh, und er kommt nie darhinter, wie bürgerlich-eng einem armen Archivsekretär mit sechs Kindern — gesetzt er wäre das selber — zumute ist.
{…} Wir denken das ganze Jahr weniger mit Bildern als mit Zeichen, d. h. zwar mit Bildern, aber nur mit dunklern kleinern, mit Klängen und Lettern: der Dichter aber rücket nicht nur in unserem Kopfe alle Bilder und Farben zu einem einzigen Altarblatte zusammen, sondern er frischet uns auch jedes einzelne Bild und Farbenkorn durch folgenden Kunstgriff auf. Indem er durch die Metapher einen Körper zur Hülle von etwas Geistigen macht (z. B. Blüte einer Wissenschaft): so zwingt er uns, dieses Körperliche, also hier »Blüte«, heller zu sehen, als in einer Botanik geschähe.
{…} der dramatische Dichter überwältigt uns durch die Verwandlung der Wochen in Minuten und erweckt, indem er die tragische, vielleicht über Jahre hingesponnene Geschichte in wenige Stunden zusammenzieht, unsere Leidenschaften bloß darum, weil er ihnen gleicht, da sie auch wie Taschenspieler und Heerführer uns durch Geschwindigkeit berücken.

Weiter bin ich gestern abend beim Zu-Bett-gehen-Lesen nicht gekommen. Komisch. Warum hat dieser Jean Paul vor 200 Jahren (genauer: 1796 ist Quintus Fixlein erschienen) klüger, unverkrampfter und anregender über Phantastik schreiben können, als die ärgsten Fantasy-, SF- und Horror-Liebhaber heute (von den ›Literatur‹-Experten und bezahlten Meinungsschiebern mal ganz abgesehen)? Oder bin ich nur mal wieder schlecht drauf ohne es zu merken?

— Kann sein, die gegenreformatorische De-Sekularisierung durch unsere Grinse-Familien-Ministerin und der Posse vom geheuchelten C, und die »Popetown«-Hysterie von Menschen die nie MTV schaun, und die Überlegungen zur Verschärfung des Blasphemieparagraphen, mich nicht gerade ›happy‹ machen dieser Tage. Zu letzterem, der Blasphemie, hätt ich aber 'nen Büschel Gedanken anzubieten.

So eine Verschärfung der Blasphemieahndung könnt' ich akzeptieren, wenn dabei neutral ALLEN Glaubensrichtungen eine entsprechende Kartätsche gegen ALLE ANDEREN Glaubensrichtungen zugestanden wird, also: • Rückwirkende Verhandlung der Zerstörung religiöser Symbole, Orte und Einrichtungen der Heiden durch die Christen (Entschädigung für gefällte Eichen, zerstörte Heiligtümer, Rückgabe heiliger Orte an ihre ursprünglichen Religionsgemeinschaften); • Rückwirkende Verhandlung des Bauernlegens durch die Zisterzienser usw; • Zudem: Wenn Christen gegen andere klagen können sollen, wenn sie ihren Glauben ungebührlich arg in den Dreck gezogen wähnen, warum sollten dann nicht auch Nicht-Religiöse dieses Recht erhalten. Dann könnte ich als an die Evolution ›Glaubender‹ wegen Blasphemie gegen jeden Christenphantasten klagen, der mit seinen Wahnwitzmärchen vom Intelligent Design oder Kreationismus über ›meine geheiligte Naturwissenschaft‹ abketzert.

Und wie sieht es aus mit einem Blubberblasenstatement der Frau Ursula von der Leyen (›C‹DU)

»Auf christlichen Werten basiert unsere gesamte Kultur.«

Das kann, ja das muß man als Blasphemie deuten. Christen haben das Feuer und das Rad erfunden, ja ja. Wie naiv muß man eigentlich sein, um so ein Leyen-Geschwätz zu glauben? Arrg, mein Pessimismus raunt mir, daß allzuviele Leut gern bereit sind an so eine Vereinfachung zu glauben. Mein innerer Schelm tröstet mich, und erinnert mich daran, daß diese christlich-politischen Propagandaschlümpfe auf ihre Art lustig sind. —Forward christian soldiers…

Mittwoch, 12. April 2006

Gedankenspiel zur ›Inhalt‹- und ›Form‹-Problematik

Eintrag No. 266 — Den Unterschied zwischen der Oberfläche und Fruchtfleisch sollte man halt im Auge haben.

Oberfläche: Worum gehts grob? Wie schauts aus? Wie kommts daher? Sprich: Sind Style und Design von Kulissen, Kostümen, Requisiten usw. modular als Rendering auf einer Monomythosstruktur aufgetragen? — Mein Bild dafür: Wenn der Leser Instrument und Buch der Musiker ist, was für Musik wird gespielt?

Fruchtfleisch: Worum gehts genau? Aus welcher Sicht, mit welcher Haltung wird geschildert? Welche Prämissen, Allgemeinplätze, werden vorausgesetzt? Wie wird erzählt? Wie ist es gemacht? Zum Beispiel bezüglich der strukturellen, dramaturgischen, argumentativen, faszinatorischen Merkmale des Textes? — Hier ist das Bild: Wieder Leser das Instrument, Buch ist Musiker; wie wird man als Instrument behandelt?

Dienstag, 4. April 2006

Literatur- und Fantasy-Diskurse

(Literatur, Fantasy, Landeskunde) — Wenn ich all meine Beitrage die ich in den verschiedenen (rechts in der Linkliste aufgeführten) Phantastik-Foren hier in der Molochronik verlinken würde, hättet Ihr — liebe Molochronikleser — bald zu jammern, was für einen Haufen Geblah ich in die Tasten klapper.

Bin nun mal einer, der (frei nach Nietzsche) ›von Wahrheitsspannungen lustvoll erregt wird‹. Therapheuten kann ich mir nicht leisten. So schlimm, daß ich einen aufgedrückt bekomme, führ ich mich als materieller Echtweltmensch nicht auf, also molo ich halt die Comment-, Forum- und Blogosphäre zu. Ich hab das Informationszeitalter nicht auf den Weg geschickt, schuld ist also wer anderes.

Diskurse sind was feines. Schon als Kind hab ich mich verwundert gefragt, warum die Menschheit ihre Konflikte nicht nur mit unblutigen ›Wettbewerben‹ und ›Gottesentscheidungen‹ bewältigt. — Immer schön in meinen Augen, wenn hochvirulente Dissonanzen leidenschaftlich und klug durch kontrahierende Duell-(oder Pluri-)lanten zum klingen gebracht werden.

Heute also dazu drei Links zum Thema Diskurse, Konflikte, Streiterein, der erste in eigener Sache.

• Mit meiner launischen Besprechung von Tad Williams »Der Blumenkrieg« hab ich vermutlich einige Fantasy-Leser vor den Kopf gestoßen. Eine längere Kritik ließ mir Thomas Harbach bei SF-Radio angedeihen, worauf ich im comment hier reagiert habe. — Weil das nun so unaufgelößt dasteht, möchte ich allen, die sich fragen, wie der Thomas Harbach nun auf meine Erwiderung reagiert hat mitteilen, daß in den letzten Wochen ein anregendes kollegiales Privat-eMail-Ping-Pong zwischen Thomas und mir stattgefunden hat. Wir zwei haben über Rezischreiben, Genre und die Welt geplauscht und fanden das interessanter, als uns zu Grollen, NUR weil wir unterschiedlicher Meinung sind. — An dieser Stelle nochmal Dank an Thomas Harbach. Gattung: Fruchtbarer Diskurs.

Andrea hat brilliant die derzeitigen Hick-Hacks des hiesigen Literaturbiotops zusammengefaßt und den Kinnners ausgedeutet, wie sie ihren Krampf entknäuln sollten. Bei all meinem Amüsement über dieses Gnostiker-Emphatiker-Gewirks, muß ich ganz leise gestehen, daß ich diesen UNTERSCHIED einfach nicht ins Hirn oder Herz kriege. Also abstrakt schon, aber nachvollziehen … hmmm. Ich kann mir das nur damit erklären, daß ich noch nie wirklich dazu gezwungen wurde (oder willens war) ein mir nicht gefallendes Buch zu lesen, und also frei nach eigener Schnauze meine Fühlerchen in alle erdenklichen Literaturen gesteckt hab. (Wo sie immer noch stecken und weiterumhertasten.)— Unterm Strich fasse ich den bangen Restrinnsel meiner wegrationalierten Spiritualität damit zusammen, daß der große basso continuo der mich an Literatur (und Kunst und Kultur ect pp ff) so fesselt, eben die Phantastik ist. Diskurs-Gattung: obskurer aber spaßiger Langzeitfrontenkrieg, von dem man nur ab und an solche Gaswolken in den Massenmedien mitbekommt. Um was gehts nochmal? Die deutsche Gegenwartsliteratur. Ach so, dacht schon, s'wär was wichtiges.

• Jeff Vandermeer, mein Liebling der postmodernen, traditionsbewußten und doch avantgardistischen, literarisch vielklingigen ›Magischen Realismus‹-Fantasy hat für Emerald City einen Essay über Fantasy und Politik geschrieben. Jeff schildert in seinem Essay ungefähr diesen Gedankenbogen: »Früher als wilder Teen und Twen dachte ich, ›Kunst der Kunst wegen‹ reicht voll als Quell und Rechtfertigung für z.B. Literatur. Dann im Laufe der Jahre, vor allem in diesen chaotischen Zeiten, beschlich mich immer mehr der Verdacht, daß Literatur in der sich die Gegenwart aus der sie stammt wiederspiegelt, erkennen läßt, schon relevanter ist, als nur für sich und auf sich selbst bezogene poetische Höhenflüge. Nun ja, BEIDES hat seinen Reiz und Wert.« — Der vielgepriesene Vertreter neuer ›Epic‹-Fantasy Scott Bakker war entsetzt, und hat entsprechend (ebenfalls bei Emerald City) mit Redux erwidert. Akademiker und sicherlich konturierter politisiert als Jeff, hat er die alte »Alles ist politisch!«-Kiste aufgemacht und unterschiedet krass zwischen ›richtig‹ (Kunst muß politisch sein, sich gesellschaftlich positionieren ectppff) und ›falsch‹ (Kunst die sich um die Echtwelt einen feuchten Kehricht schert). — So zumindest meine Interpretation dieses lustigen Hin und Hers, daß erst im Blog von Jeff Vandermeer so richtig abgeht, wenn Jeffs Evil Monkey und einige Leser mitbabbeln. Gattung: aufgrund der schriftlichen e-Kommunikation verfahrener Diskurs, der am Thresen mit’m Bier sicherlich als angenehmer Gedankenaustausch verlaufen wäre (wie Jeff und Scott selber vermuten).

Sonntag, 26. März 2006

Umsonstlektüre de Luxe: Phantastik, Punch, Botanik, Fu Manchu, Steinhütten und Kinderbuchklassiker

(Woanders) — Jedesmal, kaum daß ich meine Schleusenkammer erweitert habe, stolpere ich ein Büschel neuer, feiner Links. Fast alles führt in englische Netzbereiche, ich beginne also mit dem einen deutschsprachigen Link, der noch dazu hier aus der Stadt-Nachbarschaft Frankfurts kommt.

Frankfurter Arbeitskeit für Phantastik der Goethe-Uni hat sich nicht wenig vorgenommen in seiner Lesezirkel- und Theorieabklopfungs-Arbeit. Das Projekt ist frisch aus dem Ei, das dargebotene eigene Material noch entsprechend skizzenhaft, doch ich bin sicher, daß dieser Zirkel im Lauf der Zeit eine spannende und anregende Site zustande bringen wird. Derweil ›übt‹ man mit ehrwürdigeren aber unbekannteren Klassikern, sowie den Theorie-Lektionen von Todorov und Durst. Ich drück die Daumen was das Institutionalisieren betrifft, und wünsch fruchtbare Kontakte. — Bin gespannt, ob, wenn das Forum mal eröffnet wird, ich als Nicht-Akademiker mitreden derfert. Das Manifest und die Skizze zu den anstehenden Aufgaben lassen hoffen.

Nun ins Ausland. Da sind zum ersten zwei historische Magazin-Projekte. • Erstens die bisherigen Nummern des »Punch, or the London Charivari« (Vol. 152 ff), herausgegeben von Owen Seaman. Gaiman-Leser kennen die britische Variante vom Kasperle, den jähzornigeren Proto-Anarchisten Mr. Punch aus der gleichnamigen Graphic Novell mit Dave McKean.

• Dann eine Gemme für alle Pflanzennarren. Wunderbar die eText-Version von William Curtis (1746-1799) »The Botanical Magazine«.

• Zweitverwertungsrechtlich‡ herrscht ja blockierte Stimmung in Sachen Dr. Fu Manchu, aber nun hab ich die Originalromane Sax Rohmer (1883-1959) für umme entdeckt. ‡ Unter anderem deshalb hatte z.B. der kurios-wirre Filmflop »League of Extraodinary Gentlemen« so kläglich wenig mit den ezxellenten Comics von Alan Moore gemein. Als Literatur darf man Fu Manchu weiterspinnen, als Film muß man so Lizenzinhaber zufriedenstellen, damit die ihr okey geben, was sie im Fall des »LXG«-Films nicht taten. Beim Filmstudio setzte man dann auf die fatale Lösung, sich zum größrenteils Selbstgesponnenes aus der Nase zu ziehen, immer schon nach der Maxime: »Zu haarsträubend, zu viel Platz für Logikloch-Öltanker? Ist doch nicht so wild, denn es ist ja ›nur‹ ein Popcorn-Fantasy-Steampunk-Abenteuer-Film.«. — So konnte die ›Rechnung‹ ja nicht aufgehen, und Sean Connerys Chance auf einen tollen Blockbuster-›Abschied‹ von seiner grummeligen Haudegen-Rolle war perdü.

»Fians, Fairies & Picts« von David MacRitchie (1861-1925). Könnte ne Niete sein, aber auf den ersten schnellen Drüberflieg-Blick machts einen brauchbar kuriosen Eindruck.

• Auf die Frage, in welchen Grund die Wurzeln des Fantasy-Genre reichen, verweise ich gerne auf alle möglichen obskuren Bereiche der Litertaur, Spiritualität und Philosophie, aber folgendes ist ein Link zu einem Kernhumusbereich: klassisch-bürgerliche Kinder- und Jugendbücher, die von den großen Geschichten der Bibel, der Mythen (vor allem der griechischen und nordischen), Helden und Heiligen aus den Legenden, der Historie und des ›Fortschritts‹ (bzw. des eigenen Imperiums) erzählen, oder einfach nur Kollektionen mit Fabeln, Berichten über ferne, exotische Länder, sowie Fairie-, Natur- und Pferdegeschichten reichen. — Wie bei so vielem, ist auf Englisch das kostenlose Angebot einschüchternd umfangreich. Lesestoff satt. Im Titelverzeichnis der Best Online Classic Childrend's Books-Site finden sich genug Titel, die so vor 80 bis 150 Jahren im anglo-amerikanischen Klassiker waren. Zum Teil mit Illustrationen.

Donnerstag, 16. März 2006

Aussterben — Eine edle Kunst

(Gesellschaft) — Die Deutschen sterben aus, werden zur Seltenheit. Darüber sind einige Programmatiker und Placebopolitiker entsetzt. Das Volk vögelt, aber es ist dabei zu unchristlich und will nur Spaß & Erholung. Ein ›guter Fick‹, so die verbreitete Meinung, ist ein solcher, bei dem man sein Weibchen nicht befruchtet.

Persönlich fand ich es bereits als junger Teen grotesk, was für ein sorgfältiges Gewese z.B. um Moped- und Autoführerschein gemacht wird, sich aber jeder Dolm und jede Dolmin ungeprüft reproduzieren dürfen. Winkel von Dachschrägen (selbst von Hundehütten) bei Neubauten werden hierzulande genauer in Augenschein genommen, als die Fortspflanzungstauglichkeit und pädagogische Befähigung von Theo Mustermann und Ließchen Müller.

Warum haben so viele keine Lust mehr das deutsche Volk zu vermehren? Vielleicht aus dem selben Grund (nur invertiert), warum so viele Deutsche unegwillt sind, dunkelhäute und exotische Menschen aus dem Ausland schnell und unkompliziert als Deutsche anzuerkennen. Da funken der Masse bei uns halt diese ›Kulturnation‹-Mythen durchs Blut und Hirn.

Ich denk mir, zum einen vielleicht, weil als Volk freiwillig auszusterben wohl eines der edelsten Großunternehmen ist, dessen sich ein kulturell als zusammengehörig deklariertes Gemensche hingeben kann. Die wohl wahrscheinlichere tragisch-praktische Ursache aber dürfte sein, daß Kinder Verantwortung mit sich bringen. Kurz und deutlich (wird aber in den Medien nie so vbeim Namen genannt): Kinder machen enorm erpressbar. Und zudem gehts ja alles andere als sozial gerecht zu bei uns. Schulen sortieren immer noch mehr die Bälger gemäß des Status und Wohlstandes. Wer kann sich schon seinen Optimismus bewahren, wenn er ein enges Leben führt um seine Kinder groß zu ziehen, nur um zu erleben, wie Bälger der ›Vitamin B‹-Schichten bevorzugt werden. — Tja, da klopf ich allen Generationsgenossen und -Genossinnen die wie ich an der Fortpflanzungsfront streiken kammeradschaftlich auf die Schulter. Sollen doch die Reichen und Schönen wieder Orgelpfeifensippen generieren, wenn sie die deutsche Kulturnation erhalten wollen. Vielleicht sind bald die Entscheidungsmächtigen verzweifelt genug und stellen für ein Dutzend selbstgeugter Kinder die Verleihung der Adelswürde in Aussicht. So gäbe es dann neben dem soldatischen und dem Beamten dann die Sparte des Kinderadels, was ja eine nette Aussicht ist. — Leider die einzige optimistische, die ich diesem Thema abgewinnen kann.

Dienstag, 14. März 2006

China Miéville: »Perdido Street Station« (»Die Falter«, »Der Weber«) oder: Thrillerhafte Monsterhatz in einer urbanen Weird-Fiction-Fantasia

Eintrag No. 261 — Ich bin ja bekennender Bas-Lag und China Miéville-Fan. Meine größte Sorge ist da freilich, ob ich als ›Fan‹ überhaupt nichtpeinlich über das von mir bewunderte Werk schreiben kann. Folgende Besprechung erschien zuerst in »MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert.

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China Miéville (1972) bietet in »Perdido Street Station« Phantastik, die zwar mit dem Genre der Fantasy kokettiert, aber die Mode a la Tolkien meidet. So erzählt der Roman weder von mystischen Questen noch von Kämpfen des Guten gegen das Böse, sondern die fatalen Folgen des Zufalls sind der Ausgangspunkt der Handlung. Originaltaschebuchausgabe in einem Band; 867 Seiten mit Karte; Pan Books; London, 2001 — Entweder: Für die deutsche Ausgabe in zwei Bücher aufgeteilt als: 1. »Die Falter«; 2. »Der Weber«; aus dem Englischen übersetzt von Eva Bauche-Eppers; je 557 Seiten; Bastei-Verlag; Bergisch Gladbach, 2002. — Oder: Einbändige Sonderausgabe von Amazon.

Es beginnt mit zwei Aufträgen.

Erstens: Der Universalgelehrte und Erfinder Isaac Dan der Grimnebulin soll einen Weg finden, daß der flügellose Vogelmensch Yagharek wieder nach Belieben fliegen kann.

Zweitens: Isaacs Geliebte Lynn ist Künstlerin. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit soll sie eine lebensgroße Skulptur des Verbrecherfürsten Vielgestalt (englisch: Mr. Motley) anfertigen.

Isaacs Recherchen führen zur Freisetzung von extrem gefährlichen, exotischen Labortieren. Nicht nur, daß diese Lebewesen auf ausgeklügelt schauderhafte Weise jagen und sich laben, sie sind zudem nur umständlichst überwindbar. Hilfsmittel gegen die Monster zu finden und die Viecher zu erlegen sind nun die Ziele einer kleinen verzweifelten Gruppe um Isaac.

Großartig versteht es Miéville, die Millionenstadt New Crobuzon zum Beispiel eben als Speisetafel für die gefährlichen Monster-Falter darzustellen. Überhaupt geht viel Verführungskraft des Buches von der höchst originell ausgestalteten Welt Bas-Lag, bzw. der Stadt New Crobuzon aus. Mit viel Liebe zum Detail wird uns eine kapitalistisch-industrielle Metropole geschildert, in der alles möglich ist, die brummt und schafft, ständig verdaut und gebiert, Sehnsüchte der Mächtigen erfüllt und Hoffnungen der Unmächtugen zernichtet.

Für mich ist New Crobuzon dabei durchaus verwandt mit Ankh-Morpork aus Terry Pratchetts Scheibenwelt, nur ungleich härter und grimmiger. Wo die Phantasie bei Pratchett der komödiantischen Verspieltheit frönt, gibt sich Miéville lieber dem Grotesken hin. Beide führen die Klischees der Fantasy vor, der eine um damit Satire zu betreiben, der andere, um dem Genre eine erfreuliche Frischzellenkurz zu verpassen.

Zum Beispiel Rassen: Miéville bietet unter anderem Vogel- Wasser- und Kaktusmenschen (sic!) und Insekenfrauen. Wie Miéville zurecht kritisiert, werden Rassen in der Fantasy oftmals nur als Kürzel benutzt (Zwerge gieren immer nach Gold, Elfen sind immer arrogant und Trolle dumpf), und er unterläuft diese langweilige Mechanik von phantasieloser Fantasy, indem er Allgemeinplätze über Rassen als genau das vorführt: als gedankenlose oder rassistische Vorurteile.

Auch der Umgang von Wissenschaft und Thaumaturgie (die X-Kunst) ist wohltuend innovativ. Magie ist ein Wissenschaftszweig von vielen und selten habe ich so schöne Spekulationen in der Fantasy gelesen, wie bei Isaacs Bemühungen um eine einheitliche Feldtheorie und Krisis-Energie, mit der er Yaghareks Problem zu lösen hofft. Zu den vielen Fäden und Themen der Monsterhatz wurden u.a. die Folgen von bedenkenlos eingesetzten ›Atomwaffen‹, der Verselbstständigung einer kypernetischen (= konstruierten) Intelligenz, blutig niedergerungenen Arbeiterstreiks, politischer Untergrundaktivisten, rassenübergreifer Geschlechtsbeziehungen verwoben. Dabei ist »Perdido Street Station« trotz flotter Ereignisfolge und bunter Schilderung nicht durchwegs aalglatt zu konsumieren, sondern spielt ganz bewußt mit punktuell ungestümer Wortwahl (siehe ›Hä?‹-Refelx), lyrischem Sprachfluß, Perspektivenwechseln und haarsträubenden Kulminationen.

China Miéville hat zwei große Interessen: Zum einen ist er in England als Sozialist politisch aktiv und hat sein Studium an der London School of Economics mit »Between Eqaul Rights« abgeschlossen. Zum anderen ist er ein echter Trash- und Monsterfan, der Rollenspielenzys als Unterhaltungslektüre verschlingt. Miéville nennt sich selbst einen Autor von ›Weird Fiction‹ und ihm ist nicht daran gelegen dem Leser tröstende Fantasy-Träume zu liefern, sondern er nutzt lieber die verstörenden, befremdenden Fähigkeiten des Genres. Mit traumwandlerischem Gefühl für Spannung, gute Dialoge und unterschiedlichste Athmosphären geschrieben, ist »Perdido Street Station« etwas, an das man fast nicht mehr glauben mochte: spekulative, provozierende Fantasy, schwindelerrend in seiner Erfindungswut und alles andere als tröstlich.

Sehr zu dessen Wohl und zum verblüfftem Vergnügen des Rezensenten.

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Hier zu einer Liste der Molochronik-Einträge, die sich mit Miéville (mehr oder weniger) und seiner Art von Phantastik befassen.

Ricardo Pinto: »Der Steinkreis des Chamäleons«, Band 1 & 2 oder: Vertriebene im ummaurten Garten der Götter

Eintrag No. 262

Zuerst erschienen in »MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. — EDIT: Um Autorenportrait ergänzt und Formatierung verbessert am 31. Mai 2008.

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Ricardo Pinto — Die Gebieter herrschen schon seit langer Zeit über die ›Drei Lande‹. Laut ihren Legenden stammen sie von den Sternen. Ihre Macht gründet sich auf den Fleischtribut den die Bevölkerung entrichtet und auf eine erbarmungslose Justiz, die nicht knauserig mit Verstümmelungs-, Blendungs- und Kreuzigungsurteilen ist. Nur unter ihresgleichen dürfen die Gebieter, die Auserwählten, ihre Gold- und Schmuckmasken ablegen. Erblicken Untergebene ihre unverhüllten Gesichter — … siehe Justiz. Reinheit und Makellosigkeit der Abstammung ist für die Gebieter von zentraler Bedeutung, so tragen sie die Blutwerte ihrer Eltern (Seriennummer läßt grüßen) als Narben auf dem Rücken, was auch zur rituellen Indentifizierung dient.

Soweit empfiehlt sich »Der Steinkreis des Chamäleons« schon mal als Lektüre für alle, die in der Fantasy gerne und ausführlich die Schattenseiten menschlicher Kultur durchgespielt bekommen (und denen z.B. die Kulturbeschreibung in Michael Moorcocks »Elric von Melniboné« zu flüchtig war).

Angesiedelt in einer vorgeschichtlichen Zeit (mit Dinosauriern), begleitet der Leser die Bildungsreise des jugendlichen Karneol aus dem Hause Suth. Mit einem Teil seines Gefolges hat sich Karneols Vater auf eine Insel im Eismeer ins Exil begeben, fern vom paradiesischen Machtzentrum des Vulkankraterpalastes von Osrakum. Doch andere Gebieter kommen über das Meer und bewegen den Vater, eine wichtige Rolle bei der anstehenden Wahl des neuen Gottkaisers einzunehmen. Mit dem Verlassen der Insel endet Karneols behütete Kindheits- und Jugendwelt abrupt. In schmerzlichen Lektionen lernt er auf dem Weg nach Osrakum halbwegs, was seine Stellung als Gebieter eigentlich bedeutet; was dieser ›Job‹ an Distanziertheit, Selbstkontrolle und grausamen Kalkül verlangt. In Osrakum schließlich setzt er unwissentlich eine alte Prophezeiung in Gang.

Ricardo Pinto war lange Zeit ein Designer für Computerspiele (unter anderem des Klassikers »Carrier Command«), und das ist den aberwitzigen Landschaften, bombastischen Architekturen und der perfide ausgeklügelten Gesellschaftshierarchie von »Der Steinkreis des Chamäleons« anzumerken. Pinto verfügt über viele originelle Ideen für seine Welt; weniger innovativ ist der Aufbau und Stil des Buches. So gerät manche Wegstrecke der beschwerlichen Reise(n) etwas langatmig und auch Karneols beständige Weigerung, sich gemäß seiner Stellung als Gebieter zu verhalten, zeitigt Längen. Da bin ich nun mal durch klassische Reiseberichte und alte Meister anspruchsvoll geworden im Lauf der Zeit. Doch werden diese etwaigen Längen durch intensive Abschnitte vollends ausgewogen, wenn Karneol neue Bauten und Stätten der Drei Lande ›besichtigt‹ (Panoramen!) oder anderen Gebietern begegnet (Mischung aus Duell und Konversation!).

Zwei Beispiele für wuchtige Phantastik-Bilder: So wird das Ausmaß der grausamen Gebieterkultur Karneols bei seiner Ankunft in Osrakum deutlich, wenn er erkennt, daß der Kieselstrand am Eingang des Hauses seiner Familie aus Abermillionen kleiner handgeschnitzten Figuren besteht. Oder die Bibliothek der Weisen — einer bis auf den Tastsinn verstümmelten Priesterkaste — in Osakum. Fenster und lichtlos (die Weisen orientieren sich in der Bibliothek anhand von Markierungen auf dem Steinboden), bewahrt sie das Wissen hunderter Generationen auf Perlschnüren; Größe, Form, Gewicht, Oberflächenstruktur und Temperatur (Koralle ist wärmer als Metall) einer aufgeschnührten Perle bestimmen dabei die Bedeutung des ›Schrift‹-Zeichens.

Bemerkenswert aber ist noch etwas ganz anderes. Ricardo Pinto selbst bekennt sich offen zu seiner Homosexualität und scheut sich nicht, sie zu einem bedeutenden Thema seiner Trilogie zu machen. Bei seinen Erkundigungen in Osakrum trifft Karneol auf Osidian, einen der beiden Gottkaiseranwärter. Zusammen tollen sie vergnügt durch die verbotenen Gärten von Osrakum, bis üble Intriganten sie aus der Machsphäre des Hofes entfernen und mit diesem Cliffhanger endet der erste Band »Die Auserwählten«.

In »Die Ausgestoßenen« finden sich der milde und mitfühlende Karneol und sein hochmütiger und grausamer Geliebter Osidian unter Wilden in dem von gigantischen Maueranlagen umspannten und unterteilen Bewachten Land wieder. Mit der Verschleppung aus dem Garten Eden endet die unbeschwerte Liebe der beiden. Osidian ist nicht wie Karneol gewillt, sich den Sitten des sie aufnehmenden Stammes anzupassen. Der verhinderte Gottkaiser sinnt vermehrt auf Rache gegen seinen nun inthronierten Bruder und macht sich nur insofern Gedanken um die Menschen des Stammes, wie er sie für seine Zwecke einsetzten kann.

Auch wenn Pinto als Stilist und Dramaturg mehr hergeben könnt, als Weltenbauer überzeugt er mich. Auf seiner Homepage bietet er interessante Einblicke in seine Notizen und Skizzen zur Welt der Drei Lande. Ob die Geschichte den ganzen Aufwand und die ca. 1800 Seiten wert sein wird, wird sich erst mit dem Erscheinen des dritten Bandes zeigen. Mit vielen kenntnissreichen Anlehnungen an alte und (sogenannte) primitive Kulturen schafft es Pinto, eine magische Vorwelt (ohne Magie) zu erschaffen, die sich nicht hinter klassischen Phantasien von vergessenen vorgeschichtlichen Reichen verstecken muß.

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Der Steinkreis des Chamäleons (The Stonedance of the Chameleon); aus dem Englischen von Wolfgang Kerge; jeweils drei Karten, gebunden mit Lesebändchen.
  1. »Die Auserwählten« (The Choosen, 1999): 603 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2001; ISBN: 978-3-608-93241-6
  2. »Die Ausgestoßenen« (The Standing Dead, 2002): 624 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2002; ISBN: 978-3-608-93242-3

Baltasar Gracian: »Das Kritikon« oder: Ein Monsterschmöcker aus der spanischen Barocke

Eintrag No. 260

Zuerst erschienen in »MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. — EDIT: Um Autorenportrait ergänzt und Formatierung verbessert am 31. Mai 2008.

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Balthasar Gracian — Tausendeinundvierzig Seiten, sechsundzwanzig s/w-Abbildungen, viele hilfreiche Fußnoten, ein ausführliches und anregendes Nachwort inklusive einem Vergleich verschiedener bisheriger Übersetzungen, sowie eine sechszehnseitige ›sprechende‹ (also synopsierende) Inhaltsangabe. »Das Kritikon«: ein Monsterschmöker aus dem spanischen Barock (1651-1657). Klingt nicht nach einem mal so nebenbei und schnell wegzulesendem Buch, sondern nach einem das genug Reichhaltigkeit, Tiefe, Details und Gewitztheit bietet, um den Leser über eine längere Zeitdauer zu begleiten. Nichts weniger als eine überbordende Vorstellung eines Großen Weltentheaters, ein universalsatirisches Panorama breitet der Jesuit Baltasar Gracian (1601-1658) hier aus. Der Autor ist in Deutschland hauptsächlich für sein von Arthur Schopenhauer übersetztes »Handorakel oder Die Kunst der Weltklugheit« bekannt.

Die rote Faden der Handlung des »Kritikons« ist schnell zusammengefaßt: Auf eine Insel gespült, trifft Critilo (ein Mann aus den Ostindischen Kolonien) auf Andrenio, einem Findelkind der Wildnis, ein Vorläufer von Defoes Freitag oder Kiplings Mowgli. Andrenio macht sich als lernbegieriger Schüler und treuer Begleiter Critilos mit diesem auf die Suche nach dessen verschollener Geliebter Felisinda. Die Reise von Critilo und Andrenio führt im geographischem Sinn durch die europäischen Kernländer, im übertragenem Sinn durch verschiedene symbolhafte Distrikte. Zu Beginn beispielsweise begegnen sie einer vielköpfigen Kinderschar, die von einer großen Frau zu einem Gebirgszug geleitet wird. Die Frau gibt den Infanten (= ›die noch nicht sprechen können‹) in all deren Wünschen nach und verhätschelt sie und führt sie dennoch wissentlich den aus den Bergen stürzenden Ungeheuern und Bestien zu. Ein spöttisches Bild auf die Erziehungsbemühungen von Elterngenerationen.

Unterhaltung und hohe Kunst waren im Barock noch nicht auf heutige Weise getrennt, und so ist »Das Kritikon« vom Anspruch her ein sehr ernsthaftes, zugleich aber im Auftreten ein sehr burleskes Buch. Bei der Gestaltung des Romans folgte der Jesuitengelehrte Gracian unter anderem diesen drei Überlegungen:

  1. Der christlichen Vorstellung des Lebens als Pilgerreise zum Seelenheil; der Mensch als Fremdling in der trügerischen Welt. Ein wichtiges Thema auch der Fantasy, man denke nur an Frodos Reise nach Mordor. Durch die Landschaften des Frühlings der Kindheit, des Sommers der Jugend, des Herbstes des Mannesalters und des Winters des Alters geht die Reise des vollständigen Menschen, der durch das Wechselspiel der Figuren Critilo (der geistvolle, erfahrenere Mann) UND Andrenio (der naive Naturjüngling) dargestellt wird. Auf dieser Reise werden die beiden oftmals von kundigen Führern (z.B. dem Chentaur Chiron oder dem Wandler Proteus) geleitet.
  2. Der Gegensatz von Täuschung (Wahnbefangenheit) und Enttäuschung (Wahnzerstörung), umfassend visualisiert in (alp)traumhaften Bildwelten, halluzinogenen Landschaften und Allegorie-Montagen des innigen Hieronymus-Bosch-Verehrers Gracian. Der verdrehten, verkehrten Welt — als die Gracian seine tubulente Zeit (sprich: die sich in der ersten Euphorie der terrestischen Globalisierung aufmachende Moderne) erlebte —, will er mit ihren eigenen Mitteln zu Leibe rücken. So wohldurchdacht der große ›belehrende‹ oder ›seelenförderliche‹ Bogen des Buches ist, so wirbeln im Detail verschrobene Sichtbarmachungen, rätselhafte Verschlüsselungen, ausgefallene Gedankenspiele, Übertreibungen und frappierende Pointen drucheinander, die mit Sprachwitz und Tollheit aus vielerlei unterschiedlichsten Inspirationsquellen zusammengetragen wurden.
  3. Die Vermittlung von Lebensweisheit und Ein-Sicht, die die Grundlagen für die Entwicklung zur ganzen Person bilden. Gracian stimmt hier als einer der ersten das Thema vom kalt analysierenden, antiutopistisch gestimmten Helden an, der ganz dem ungeschriebenen elften Gebot ›Du sollst dich nicht täuschen‹ (bzw: ›täuschen lassen‹) zu folgen trachtet.

Oberstes Stilkriterium für einen guten Text war damals die Fähigkeit eines Autors zur scharfsinnigen Rede, und obwohl die Sinnes- und Erscheinungswelt für Gracian trügerisch und größtenteils von Übel ist, stellt er klar fest, daß ein schönes Geplauder in angenehmer Atmosphäre ein löbliches Vergnügen ist. Subversion ›schon‹ in dieser alten Zeit, wenn Gracian also weiß, daß ohne den Köder des gut Unterhaltenden man gar nicht erst anzufangen braucht, den Menschen Lebensweisheit und Kultiviertheit vermitteln zu wollen.

Man läßt sich hier also auf einen ziemlich skurrilen Text aus alter Zeit ein. Das größte Hindernis dürfte dem heutigen Leser dabei Gracians tiefe Verachtung der Frauen sein. Muß man nicht so ernst nehmen und an sich rannlassen, der Mann war immerhin Jesuit. Hochgläubige Monotheisten aller Coleur pflegen ja mitunter pekuliare Ansichtung & Praktiken Geschlechtliches und Körperliches betreffend. Dank der hervorragenden Übersetzung und den erhellenden Fußnoten von Hartmut Köhler findet man sich mit etwas Geduld bald in dem ausufernden und abschweifenden — Voltaire urteilte abschätzig ›harlekinhaften‹ — Text zurecht, und dann hat man auf lange Zeit gute Lektüre, denn …

… wer gerät nicht außer sich, wenn er ein so einmaliges Konzert vernimmt, einen Zusammenklang aus so viel Entgegengesetztem. (Seite 43)

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Das Kritikon (El Kritikon; erstmal erschienen 1651 bis 1657) aus dem Spanischen übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler, mit einem Nachwort von Hans-Rüdiger Schwab; Zeittafel, Personen- und Sachregister; 26 Abbildungen; 1041 Seiten.
Gebunden im Schuber & mit Lesebändchen, Ammann-Verlag, Zürich 2002; ISBN: 3-250-10437-x
Taschenbuch bei Fischer, Frankfurt 2004; ISBN: 978-3-596-15902-4

Jürgen Lodemann: »Siegfried und Krimhild« oder: Aus der Mitte Europas

Eintrag No. 259

Zuerst erschienen in »MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. — EDIT: Um Autorenportrait ergänzt und Formatierung verbessert am 31. Mai 2008.

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Die älteste Geschichte aus der Mitte Europas im 5. Jahrhundert notiert, teils lateinisch, teils in der Volkssprache, ins irische Keltisch übertragen von Kilian Hilarus von Kilmacduagh im 19. Jahrhundert von John Schazman ins Englische,
ins Deutsche übersetzt, mit den wahrscheinlichen Quellen verglichen und mit Erläuterungen versehen von Jürgen Lodemann

So lautet der komplette Nebentitel dieser großartigen Neufassung der Geschichte des Nibelungenlieds. Kilian und Schazman sind dabei ebenso fiktiv, wie die durch sie auf Lodemann gekommene Urfassung der Nibelungen.

Jürgen LodemannZwanzig Jahre Recherchen und Schreibarbeit hat Jürgen Lodemann (1936) in den Roman »Siegfried und Krimhild« investiert. Er ist sonst eher bekannt als Gründer der SWF-Bestenliste, einer meinungsgeben Plattform im deutschen Literaturbetrieb.

Da freu ich mich freilich, wenn ein solch repektabler Autor noch dazu mit den nötigen Schreibmuskeln gesegnet geduldig der Forderung Goethes nachkommt, aus den Nibelungen ein spannendes Volksbuch zu machen. Früh schon erkannten damals begeisterte Leser, daß man diese »älteste Geschichte aus der Mitte Europas« in einer Liga mit den großen Stoffen der Antike anzusiedeln kann.

Jürgen Lodemann: »Siegfried & Krimhild« (gebundene Ausgabe)Jedoch: Krasse Verdrehung wie der Mär von der Nibelungentreue der Nazis oder völlige Entleerung wie bei der Wormser Festspiel-Wurschtigkeit läßt bis heute für viele eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Epos anrüchig und suspekt erscheinen. Obwohl ihm das von einigen Kritikern attestiert wird, stellt Lodemanns Buch aber keine simple Gegenüberstellung von widersprechenden Weltauffassungen dar.

Das seit Umberto Ecos »Der Name der Rose« bewährte (postmoderne) Verfahren der Vermengung von Fakten mit fiktiven Quellen nutzt Lodemann, um seine politischen und dramatischen Spekulation enger am Ideal historischer Authenzität entlang zu gestalten.

Die Szenenfolge der Geschichte stehen ja fest: Siegfrieds Heldentaten im Dienste des Wormser Hofes; seine Liebe zu Krimhild und die Beihilfe, die er ihrem Bruders Gunther bei der Brautwerbung um Brünhilde leistet; die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Bräuten Krimhild und Brünhild; der Verrat an Siegfried und seine Ermordung durch den Wormser Heermeister Hagen; der Wahnsinn der trauernden Krimhild und ihre Heirat mit Etzel; Krimhilds Rache an den Mördern Siegfrieds und das Blutbadfinale im Saalbrand. So klar die Taten beschrieben sind, so unklar bleiben größtenteils bis heute die Beweggründe der Figuren, die Hintergründe der Geschehnisse. Eine (eindeutige) Urfassung aus der Zeit der Ereignisse wird zwar von der seriösen Forschung inzwischen als sehr wahrscheinlich angenommen, aber (noch) ist sie nicht gefunden worden. So schildern die drei bedeutendsten der uns bekannten Quellen aus der Zeit um 1200 bereits zeitgeschichtlich gefärbte Versionen der Geschichte, z.B. lassen sie Siegfried mal als naiven Gutmenschen, mal als heidnischen Tölpel erscheinen.

Die Deutung der Ereignisse, die Lodemann anbietet, ist so unerhört und abwegig nicht. Auf der einen Seite stehen die lateinisch-christlichen Herren, auf der anderen die Heiden von jenseits der Reste des römischen Reiches. Das Machtstreben der heiligen Mutter Kirche und die Nulltoleranz gegenüber naturreligiösen Freidenkern bietet eine Schnur, auf der Lodemann die einzelnen Stationen des Nibelungenliedes überzeugend aufzufädeln weiß. Die politische These und Tendenz des Buches manifestiert sich vielleicht am klarsten in der einzigen großen Hinzudichtung von Lodemann, Bischof Ringwolf, dem eigentlichen Machthaber zu Worms.

Der zweifarbige Schriftsatz (wie eine Simultanübersetzerstimme folgen in Rot die Übersetzungen etwa lateinischer Begriffe, sowie geographische, geschichtliche, mythologische und ethymologische Erläuterungen) ist gewöhnungsbedürftig, macht das Buch aber nebenbei zu einer unterhaltsamen gegenwartsbezogenen Gesellschaftskritik. Zumindest ich kann nicht sagen, daß Lodemann sich ein endgültiges, einseitiges Urteil gönnt sich , vielmehr hütet er sich aus den geschilderten Gegensätzen einen manichäischen Konflikt zu machen und läßt das Heldentaten-Buch, die Megatragödie melancholisch und ehrfürchtig ausklingen.

Diese Nibelungen sind mehr als eine willkürliche Vermengung von wilden Helden- und blutrünstigen Rachegeschichten. Bemerkenswert ist zudem, mit welch großer Sprachfreude und atemberaubender Vorstellungskraft »Siegfried und Krimhild« geschrieben ist. Hier wird spannend und kenntnisreich sichtbar gemacht — und nichts anderes bedeutet das Wort ›phantastisch‹.

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Siegfried und Krimhild: Zweifarbige Typographie; 886 Seiten. Gebunden mit Lesebändchen; Klett-Cotta, Stuttgart 2002; ISBN: 978-3-608-93548-6 Taschenbuch bei DTV, München 2005; ISBN: 978-3-423-13359-3
Sonntag, 5. Februar 2006

Menükarte zu den »Zehn Etüden«

Willkommen zu den »Zehn Etüden«, einem kleinen Kurzprosapaket, in dem ich mich als Stilregisterhüpfer versucht habe. Entstanden in den Neunzigern, zweimal als Privatdruck zugänglich gemacht, zuletzt 1999.

eins: Der Organist

zwei: Das Geständnis

drei: Nachtspaziergang

vier: Acht und Acht Linge

fünf: Das DAtaliJe

sechs: Die Unsichtbaren

sieben: Eine Biographie

acht: Das Kind

neun: Auf den Klippen

zehn: Das letzte Mal

Ich möchte nicht versäumen zu warnen, daß die Etüden vereinzelt zotig, obzön und eklig, bzw. sentimental, verquast und kitschig erscheinen können. — Ich selbst lese sie als Dokumente jugendlicher Träumerei, oder ernstem Kurzweildilettantismus, und hoffe, sie können als solche auch genossen werden.

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