»Phantasia«, Begriffsumzirkelung
(Eintrag 395; Gesellschaft, Medien, Seelenkunde) — Hab mich gestern sehr schlampig in Sachen ›Was bedeutet Phantasie‹ geäußert.
Wiederum, um nicht die Hauptseite hier vollzumüllen, hab ich mal die 19 Spalten zum Begriff ›Phantasia‹ aus dem »Historischen Wörterbuch der Philosophie« (Hrsg. Joachim Ritter & Karlfried Gründer; Bd. 7, Spalten 516ff; Schwab & Co AG Verlag, Basel 1987) zusammengefasst und als ersten Kommentar zu diesem Beitrag eingepflegt.
Angriff des Generalverdachts
(Eintrag 393; Gesellschaft, Dünkel, Holzhackeraktion) — Bei der deutschen Wikipedia mitzumachen ist ziemlich anstrengend, weshalb ich mittlerwele auch so gut wie gar nicht mitmach, sondern als Beobachter versuche, die schlimmsten Schnitzer zu verhindern. Als ich (noch mit völig naiven Anfägerungeschick) bei High- und Low-Fantasy anfing herumzubosseln, trat ich gleich mit Schmackes in Fettnäpfchen der Wikipedia-Ettikette. Deshalb bin ich seitdem sehr vorsichtig und pfriemle nur kleine Ergänzungen (meist zu Bibliographien) ein.
Jetzt aber schaukelt sich in den letzten Tagen das Versehen eines um Relevanz und Spam-Sauberkeit besorgen Wikipedianers auf zu einem unseeligen Hick-Hack darüber, welche Online-Renzionen in einem Wiki-Artikel verlinkt werden dürfen und welche nicht. »Meinungsbilder / Richtlinien für Rezensionen« wurde ins Leben gerufen, und ich trau mich wiedermal in einen Wiki-Diskurs einzugreifen, denn hier wurde aus einer Ungeschicklichkeits-Mücke nun wirklich ratzfatz ein Bürokraten-Elephant.
Woher kommt dieser Hang, gleich in abstakten Höhen globale Entscheidunen anzustreben zu wollen, anstatt sich auf die Detailarbeit am Objekt einzulassen? Ich kratze mich ratlos am Kopf.
Sid Jacobson und Ernie Colón: »The 9/11 Report« — Das Comic
Eintrag No. 382 — Verwirrung erstmal. Zuviel Ungeheuerliches ist auf einmal geschehen. Wie der Fuß eines Riesen stampfte das ›Schicksal‹ einmal in den USAmeisenhaufen. Wie immer, wenn z.B. Präsidenten erschossen wurden, Schiffe sanken, Atomkraftwerke hochgingen, Raumfähren explodierten, Sekten in U-Bahnen die Apokalypse einläuten wollten oder Einzelgänger im Amokrausch einen Haufen Mitmenschen killten, sicher ist: Jedes spektakuläre Unglück zieht investigative Anstrengungen nach sich. Die Betroffenen und Hinterbliebenen möchten verzeifelt verstehen: »Wie es dazu/soweit kommen konnte?«.
Wie wohl so manch anderer auch, habe ich noch einen Stapel Berichte, kopierte Zeitungsartikel und Sonderausgaben verschiedener Magazine über IX.XI angesammelt. Da kommt mir nun dieses Sachcomic, das auf dem gleichnamigen, sehr dicken Report der 9/11-Untersuchungskommission beruht, gerade recht.
Immerhin führt gleich der Beginn eindringlich vor, welche großartigen Darstellungsmöglichkeiten die graphische Erzählform bietet. Statt die Unglückschronologie der vier entführten Flugzeuge nacheinander aufzubereiten, stellt das Comic auf den etwa ersten 30 Seiten in vier waagrechten Schichten die zeitliche Folge der Ereignisse gleichzeitig dar. Der Umstand, daß das letzte der vier Flugzeuge noch gar nicht gestartet war, als der erste Flieger in den Nordturm des World Trade Centers einschlug, wirkt auf diese Weise besonders verstörend.
An besagten September-Dienstag vor sechs Jahren kramte ich doch mal wieder (nach einigen Monaten der Vernachlässigung) damalige Kladde heraus und schrieb:
11. September 2001: Anschlag auf USA. Nicht überrascht. Habe ein solches mit dem zunehmenden Chaos seit Regierungsantritt von Bush jr. mehr oder minder erwartet. Inzwischen, nach 6 St. Infosucking breche ich (emotional & konzentrationsmäßig) a weng zusammen. Dies ist für die Meisten wohl der Beginn eines neuen Zeitalters. Die ›Moderne‹ ist vorbei, wobei die Chance ist, daß Amerika (und der Westen) zum Erwachsensein und Beenden ihrer Heuchelei ›geprügelt‹ werden. In SF-Welten wird manchmal etwas vorgestellt, daß im frühen 21. Jhd. anhebt: The New Dark Ages.
Auch heute noch empfinde ich die IX.XI.-Anschläg auf World Trade Center, Pentagon und Weißes Haus größtenteils als etwas Beruhigendes, Klärendes. Die Welt hat sich mal unumwunden als das entblößt, wofür ich sie (kleiner Katasthophikus der ich bin) schon lange halte; als chaotisches Jammer- und Jubeltal, als Arena der Rangelein um Verwöhnungsresourcen aller Parteien die auf dicke Hose machen. Jedes Kollektiv will halt erstmal für sich und seine Leute ein schickes Paradies abgrenzen. Zugegeben: seit den Anschlägen wurde deutlich, wie sehr ›dem Westen‹ — sprich: den Ex-Kolonialmächten der Globalierungstäter — das von ihren Aufbruchsdynamiken verursachte Ungleichgewicht und Elend der Globalisierungsopfer Wurscht war.
New York ist also entsetzt, die westliche Welt fällt auch allen Wolken vor geschockter Verdutztheit; im Orient aber werfen viele begeistert und freudig die Arme in die Höhe und heben zu gern den Aktions- und Konzeptkünstler Bin Laden als Robin Hood unserer Tag auf den Schild. »Kampf der Kulturen« nennen das dann jene, die beim Interpretieren von Politik und Geschichte über (zivilisierte) Cowboys und (bestialische) Indianer nicht hinauskommen. Groß ist die Verführung, den Hexenkessel der menschlichen Konflikte auf das Niveau eines Schachspiels zwischen zwei Parteien zu versimpeln.
Kein anderes Land der westlichen Moderne versteht es so glänzend wie die USA, seine Wahloligarchie (vulgo: Demokratie) zugleich sakral und pragmatisch zu inszenieren. Das Sakrale liefert dabei den Drive und die Aura für das mediale Auftreten, als erwählte Nation, als Heim der Mutigen, als Gottes ureigenes Land. Dass dieses gelobte Land dabei zutiefst durch die Offenbahrungswahrheiten fundamentalistischer Evangelikaler und die Chauvenismen z.B. der WASP-Minderheit pervertiert wurde, wird mittlerweile auch von den US-Amerikanern selbst kritisch verhandelt. Da kamen Topf und passender Deckel zusammen, als selbsternennte Heilige Krieger im Namen eines anderen montheistischen Obermännchens ein buchstäbliches Mordsecho als Erwiderung auf diese Machtarroganz verlauten ließen.
Mittlerweile sprechen ja die US-Amerikaner selbst über die auffälligen Ungerechtigkeiten ihres mehr oder minder unverhüllten Feudalismus, der krassen asymmetrischen Macht- und Wohlstandshierarchie, die die ganze westliche Welt mehr oder weniger prägt (und ja: auch ich halte diese westliche Schieflage noch immer für ›besser‹, als die traditionellen, vormodernen Stammesformate der Zweit- und Drittwelt-Gesellschaften).
Von all dem ist in der Comic-Adaption nicht ausdrücklich die Rede, bildet aber für mich den Hintergrund, vor dem die Anstrengung des Verstehens sich lohnend lesen lassen. Zu komplex und undurchschaubar ist das ganze Geflecht aus Politik und Medialität.
Was das Comic aber schön herausgarbeitet, ist die seltsame Untätigkeit und ›Selbst im Weg Steherei‹ der Geheimdienste und Sicherheitsinstitutionen vor und während der Anschläge. Dass sich in den radikalisierten Kreisen des mittleren Ostens etwas zusammenbraut zeichnete sich lange vor IX.XI ab, wie der Kommissionsbericht rügt. Man hätte schon zu Clintons Zeit etwas unternehmen können. Was nicht im Comic steht abr für mich ebenfals zum wichtigen Hintergrund gehört, ist die peinliche Tatsache, daß die amerikanische-westliche Öffentlichkeit u.a. mit hysterischen Voyeurismus lieber der Ausbreitung der intimen Fehltritte ihres Präsis Clinton Aufmerksamkeit schenkte; auch das Pahö um den Hickhack der gefinkelte Wahlen und des umstrittenen Sieges der Bush jr.-Regierung trug nicht dazu bei, daß Amerika und der Westen aus ihrer notorischen Baunabelpuhlerei bei Zeiten heraufand. So schlug dann scheinbar völlig aus dem Nichts kommend überraschend die Große Geschichte vier Mal auf die größte Bushtrommel der Welt.
Ich will die Comic-Adaption nicht als Poragandawerk abtun, auch wenn ich ab und an genau diesen Eindruck bei der Lekütre hatte. Jedoch: Die ehrliche Anstrengung der Kommission, die eigenen Versäumnisse zu ergründen erscheint mir zutiefst aufrichtig. Mir, als ›kritischen Europäer‹, ist aber dennoch mulmig. Zwar finden sich viele der sprechensten Ikonographien die seit 9/11 in den Bildermythos des Informationszeitalters eingingen im Comic wieder. Es fehlt aber z.B. das dumme Geschau von Bush jr. bei seinem Besuch einer Grundschule, als ihm die Meldung vom Anschlag in New York zugeflüstert wurde; es fehlen die schrillen Töne von Bush jr., als er sich verbal auf die Brust trommelte:
»We will hunt them down and smoke them out« (»Wir werden sie {die Terroristen und ihre Hinterleute} zur Strecke bringen und ausräuchern«).
Später im Comic, bei den zwei Seiten über den Vergeltungkrieg der Amerikaner gegen das Talibanregime in Afghanistan lese ich zwar, daß diese Aktion von »Symphatiebekundungen für die USA« begleitet wurden. Kein Wort aber über jubelnde Sympathisanten der Anschläge, kein Wort über die politischen Einsprüche der westlichen Nationen und der bis heute anhaltenden weltpolitischen Verstimmungen (»Old Europe«), die der Krieg gegen den Terrormismus zeitigte.
Gerechterweise aber kann ich die Adaption loben, wenn es darum geht, wie nüchtern und dennoch ergreifend die Anschläge als schockierendes Unglück darstellt werden. So sehr man die US-amerikanische Hegemonialpolitik, dieses breitbeinige Gebahren als Möchtegern-Rom verachtet, die Erschütterung und Verunsicherung der amerikanischen Seele welche die Terroranschläge bewirkten, kommt glaubwürdig rüber. Sind halt auch nur Menschen, die Amis.
Das beginnt schon beim Umschlag: ganz unten ein Panoramabild der Manhattenskyline mit WTC und einem nahenden Flieger; darüber das monströse Räucherwerk der brennenden Türme; und darüber ein Feuerwehrmann, der aus Fassungslosigkeit sein Gesicht mit der Hand bedeckt.
Die unheimlichste Passage aber ist für mich als Maximalphantast der Ausklang des Buches, wenn die 9/11-Kommission Überlegungen anstellt, welche Lehre man aus dem Unglück ziehen kann, was man in Zukunft besser machen kann. Neunzehn Terroristen waren in der Lage, der letzten Supermacht deshalb gehörig ins Gemüth treten, weil die entsprechenden Organe der Supermacht zu wenig Phantasie zeigten. Es ist mehr als bittere Ironie, daß die Wohlstandszonen bis heute von paranoiden Zuckungen und Verschörungshysterien gelähmt werden.
(Das markanteste Beispiel, daß Fabulatoren der Unterhaltungsindustrie diesbezüglich den strategischen Analysten und Planern aus Politik und Armee ›überlegen‹ sind: ein halbes vor dem 11. September bot der Pilotfilm des »Akte X«-Ablegers »The Lone Gunmen« genau den Terroranschlag-Plot, nur mit der Wendung, daß es finstere Klüngler des militärisch-industriellen Komplexes der USA sind, die mittels Fernsteuerung ein Flugzeuganschlag auf das WTC durchführen wollen, um sich ein sattes Budget zu sichern.)
Im 9/11-Report und seiner Comicumsetzung heißt es entsprechend mahnend:
»Es muß eine Möglichkeit gefunden werden, wie Fantasie auch von Amts wegen routinemäßig eingesetzt werden kann.«
Man kann das von Donald Rummsfeld ins Leben gerufene ›Des-Informationskader‹ als eine Anstrengung dieser Routinisierung von Phantasie im War on Terror, im Rennen um das 21. Jahrhundert, im Dominanzgerangel des Informationszeitalters mit seinem Kampf um die besten Köpfe usw. sehen. Und dies ist vielleicht der unheimlichste Eindruck, den dieses spannend zu lesende Sach-Comic bei mir hinterlassen hat.
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Link-Service: Hier zu einer kleinen Sammlung Quicktime-Filmchens bei Bookwarp mit Selbstauskunft der Comicmacher Jacobson und Colón über ihre Adaption.
Amokläufer mit Knarren sind harmloser als Verkehrsanfänger mit Autos
(Eintrag No. 365; Gesellschaft) — Da ich heute eh schon schlechte Laune hab, kann ich gleich mal ein paar Illusionen treten.
Viele Menschen regen sich wegen Ballerspielen auf und paniken herum wegen Amokläufern. Grad eben schnapp ich bei der »Die Welt« ne Zahl zu den Straßenverkehrstoten 2005 in Deutschland auf.
5361 Tote geteilt durch 365 Tage = durchschnittlich 14,68 (aufgerundet also 15) Tote im Straßenverkehr pro Tag.
Es müßte also alle zwei Tage ein Amokläufer 30 Leut umnieten, damit Amokläufer mit Autobarbaren mithalten können.
Wie groß ist das Geschrei wegen Killerspielen? Groß. Wie groß ist das Geschrei wegen Rennfahrsimulationen? Welches Geschrei?
Der Herr Pofalla bringt mich auf was…
… das ich schon lange mal loswerden will.
(Eintrag No.358; Gesellschaft, Woanders) — Heute hat’s in der »TAZ« ein Interview mit dem CDU-Generalsekretär Pofalla. Es geht um’s Leitbild und das Konservative. Erstmal: zu konservieren ist ja nichts per se schlechtes. Nur: was lohnt sich bewahrt zu werden, und was nicht? Wie sagte Gustav Mahler mal so schön:
»Tradition soll das Weiterreichen der Fackel sein, nicht die Anbetung der Asche.«
Aber ich will mal nicht so pessimistisch sein und also gutmütig annehmen, daß auch der Herr Pofalla sich in seinen Musestunden solches vielleicht schon gedacht hat.
Nehmen ich mal die Moderne, den Aufbruch der Neuzeit samt ihrem Sich-Befreien von traditionellen, ständischen un hierarchischen Vormoderne-Gesellschaftformaten. In allen möglichen Geschichtsbüchern findet sich in etwa die Ansicht wieder, daß in Deutschland das Erblühen der Demokratie und der ›offenen Gesellschaft‹ von herben Rohrkrepierzwischenfällen verhunzt wurde (gescheiterte Revolutionen, Bismark … auch der unseelige Umstand gehört hierzu, daß Deutschland vom Selbstverständnis ein ›Kulturstaat‹ und kein ›Verfassungsstaat‹ ist).
Nehmen wir die Katholen in Deutschland: Sind Privilegien (wie Konkordatslehrstühle) für diese (patriarchalische) Parallelgesellschaft, die sich nicht selbst fortpflanzt, sondern ihren Nachwuchs parasitär aus aller Herren Länder rekrutiert eine bewahrenswerte Tradition? Oder sind deren Privilegien nicht vielmehr hartnäckige Restposten aus vormodernen Zeiten, die man gemäß einer eigentlich anzustrebenden Trennung von Staat und Kirche hinter sich lassen sollte?
Ist das Militär nicht eine Parallelgesellschaft? Der Geheimdienst? Ich sage: immer wenn Deutungs- und Gestaltungsmächtige hinter verschlossenen Türen entscheiden, greift eine kleine Parallelgesellschaft unbotmäßig in das Leben der Vielen ein.
Folgendes nun gehört für Herrn Pofalla zur Leitkultur (ein wie ich übrigens finde gar nicht so unpraktisches Wort; siehe Leitplanke) :
Das klingt ja ganz nett.
Nun aber, was mir schon seit einiger Zeit auf der Zunge liegt. Die beiden ersten Parallelgesellschaften, die sich in jeder Menschengroßgruppe bilden sind:
- die Herrschenden (nebenbei: der edelste Euphemismus für ›Parallelgesellschaft‹ lautet ›Elite‹)
- und die Außenseiter (nebenbei: das hässlichste Synonym für ›Parallelgesellschaft‹ lautet ›Abschaum‹)
Dazwichen befindet sich die sogenannte ›normale Gesellschaft‹, die Masse in der Mitte, die nach unten die Freaks abdrängt, und von denen sich von oben her die Mächtigen abgrenzen.
Politiker bilden eine solche Paralellgesellschaft, VIPs (Very Important People, also Promis) ebenfalls. In einer Parallelgesellschaft leben also alle, die mit der Gesellschaft nur indirekt über viele dienstbare Helferlein Kontakt pflegen, die mehr mit z.B. Presse- und Lobbymenschen als Normalbürgern zu tun haben, die schützend von Leibwächtern umringt werden, die mit Selbstverständlichkeit an Orten mit erhöhter Immunolgie ein- und ausgehen.
Alle Menschen die dank ihrer Verbindungen und Mittel die Möglichkeit für Konten in Steueroasen haben, kann man als Angehörige einer fiesen Parallelgesellschaft bezeichnen (vulgo: Solidaritätsdeserteure). Es sind die Parallelgesellschaften des Klüngels, des Dünkels und der ›besseren Gesellschaft‹, in denen Korruption und Vorteilsnahme am wildesten grassieren. Kurz: Buissnes-Class, Premiummitgliedschaften und Privatkunden von Banken, Priviatschulen, Rotarier, Scientology, Fußballfansclubs … all das sind ›strenggenommen‹ Parallelgesellschaften, nur eben solche, die unter einer Art Wahrnehmungschutz stehen. Die vulgäre Selbstabgrenzung von Parallelgesellschaftsangehörigen lautet: »Leck mich am Arsch«; die vornehme aber geht so: »Kein Kommentar«.
Was die deutsche Sprache betrifft: z.B. in den Werbe-, PR- und Power Point-Vortragsmilieus soll ja dem Vernehmen nach teilweise ein so arges denglisches Geschäftsspeak verbreitet sein, daß man zweifeln möchte, ob die entsprechenden Maker & Shaker noch der Leitkultur unserer lieben Muttersprache fröhnen. Auch wenn ich Stellenanzeigen lese und Berufsbezeichnungen stöbere, muß ich annehmen, daß Deutsch in der Berufsbegriffswelt (auch an deutschen Unis) nicht mehr Leitkultur ist.
Aber in die Richtung, GEGEN das ›Establishment‹ hört man Politiker der C-Partein seltenst anwettern. Mit Parallelgesellschaft ist also immer erstmal der Moslem, der Ausländer, der Nazi-Ork-Proll usw gemeint. Nicht jene Kreise, die vor lauter Komfort und Exklusivität schon lange nicht mehr wissen, wie das ›normale Volk‹ lebt und empfindet. Insofern: Buisness as usual bei der CDU.
Exzellente Telepolis-Woche!
Sippenhaft (Eintrag No. 347; Woanders, Gesellschaft, Diskurshickhack) — Diese Woche war eine gute Telepolis-Woche.
Unter dem Pseudonym Bastian Engelke hat ein Telepolis-Autor sich die nicht gerade angenehme Fizzelarbeit angetan, mal exemplarische Röhrer aus dem Lager der prowestlichen Jubelperser zusammenzutragen. »Von der aufgeklärten Intoleranz zum pauschalen Hass« hieß die am 05. März vorgestellte, ausführliche Collage aus redaktioneller Anti-Islam-Erregung und vollbrustigen ›Iss doch wahr‹-Ottotnormal-Nazi-Schwurbel. Wer sich die von Engelke unter die Lupe genommene Website anschauen will, muß den entsprechenden Links im Telepolis-Artikel folgen. Ich finde die politisch ach so chick unkorrekte Site zu widerlich, um sie hier zu verlinken.
Worum gehts eigentlich? Um gallopierende Vorurteile und In-einen-Topf-Werferei, ganz dem Sprichwort folgend: »Steck den Haufen in einen Sack schlag mit einem Knüppel drein; einen falschen kann’ste nicht treffen.« — Ich pflege ja auch so meine Vorurteile, Hasszielscheiben und Ressentimentabladehalden, aber mir wird ist unwohl, wenn ich mich selbst bei solch pauschalem Verteufeln erwische. Andere Menschen aber reiben ihre Selbstbeschämungs-Reserven bereits mit anderen Sich-Selbst-Peinlichfinden auf.
Wie war das? Einige Jungs aus dem Orient wollen mit einigen Generationen Verspätung auch mal so richig national-religiöse Revoluzzer spielen und zünden als Einweihungskerzen für ihren Aneinanderklatscher der Kulturen in New York zwei Wolkenkratzer an. Der paranoid-authoritäre Okzident reagiert, wie man eben reagieren muss, mit so heldischen Versteifungs- und Zurückhaue-Reflexen, ganz gemäß der Beobachtung, daß zwischen einander Ähnlichen die Konkurrenzsituation und damit Konkurrenzgebahren immer besonders heftig sind. Fast möchte ich sagen: Was sich liebt, das neckt sich. Deutungs- & Gestaltungshoheitsgreangel unter großen Jungs halt. Wenn richtige Kerle sich so aufführen, will ich gern und stolz eine profillose Memme sein. — Nun ist ein asymmetrischer Konflikt zwischen dem westlichen Hegemonial-Bratz des entertain-miliär-industriellem Klüngel und den kleinen Bombenfest-Happenings-Terroristen der Minderwertigkeitskomplex-Aggros an sich ja schon zur Genüge ein besorgniserregendes Problem. Wie schön wäre es da, die durch Angst und Auch-Wichtigsein-Wollen nun reichlich quellenden Zornesströme sinnvoll zu bündeln, um dem fetten Westen zu mehr Demut, Umsicht und Tugendhaftigkeit zu ermahnen, oder um den als Globalisierungsverarschte verständlich Aufgerachten bei der Transformation zur ihrer Moderne zu helfen, statt dass Waffenhersteller sich freuen um die allseits steigende Nachfrage der seriösen und nicht ganz so seriösen ›Was soll’s? Geld stinkt nicht‹-Kundschaft.
Es kam, wie zu erwarten: die Moslems, die Orientalen als Ganzes kommen so manchem Denk- und Empathiescheuen grad recht als neues Feindkollektiv, an dem man sich abarbeiten, hochziehen kann. Oh, ich frage mich, in welchen altbackenen Fantasywelten muss man sich zuhause fühlen, um ernsthaft der Meinung zu sein, daß »die einen Zivilisation und Kultur {haben} und die anderen nicht«.
Das Problem wurde letztens auch im großen Bas-Lag-Forums-Interview mit dem englischen Phantasten China Miéville angesprochen:
BAS-LAG-FANSITE fragt: Viele erleben die heutige Zeit als eine sehr unsichere, fast gefährliche. Viele sprechen vom Clash der Kulturen, wo religiös-fundamentalistische Traditionalisten einem säkularisierten, individualistischen Westen gegenüberstehen. Einem Westen, der so saturiert scheint, dass er kaum noch Werte außer dem Geld kennt und sich deshalb umso unsicherer gegenüber den Fundamentalisten gebärdet. Was ist Deine Meinung dazu? Inwieweit werden sich solche Themen in Deinen nächsten Werken widerspiegeln? Hältst Du religiöse Überzeugungen für besonders schützenswert? Wenn ja, warum?
CHINA MIÉVILLE antwortet: Ich denke, die Idee, der Westen sei ›aufgeklärt‹ ist derzeit wenig überzeugend, und das ›Sekuläre‹ ziemlich fragwürdig. Denn der Massenmord, den der Westen angerichtet hat, bleibt meiner Meinung nach Massenmord, etwas zutiefst ›Unaufgeklärtes‹, das durch Rassismus und kulturelle Vorherrschaft gerechtfertig wurde, egal wie sehr man behauptet, dass es um die Verbreitung von ›Zivilisiertheit‹ geht. Ich glaube nicht, dass religiöse Glaubensvorstellungen besser als andere Meinungen in Schutz genommen werden sollten, aber ich denke auch, dass wir uns über die Art und Wiese klar sein sollten, wie Rassismus manchmal sowohl Religiosität wie auch Ethnie als etwas Verachtenswertes definiert und wie dementsprechend die Angriffe gegen ›Religion‹ von der Zeit und der angegriffenen Religion abhängen und so manchmal Teil eines bestimmten rassistischen Angriffes sind. In den 30ger Jahren des letzten Jahrhunderts verbreitete der Antisemitismus alle möglichen Vorwürfe über das Übel des jüdischen Glaubens — das war nicht nur eine abstrakte Kritik an der Religion, es war Teil einer Herabwürdigungskampagne. Ich glaube, wir können im Augenblick beobachten, wie man das mit dem Islam macht. Das soll natürlich nicht heißen, dass man Elementen der islamischen Glaubenslehre ›zustimmt‹ (obwohl, wie bei allen Religionen, die Mehrzahl der religiösen Verordnungen innerhalb der Glaubensgemeinschaft diskutiert werden), sondern bedeutet, dass man der Dämonisierung des Islams — oder anderer Gruppen — nicht zustimmt.
Zurück zu Telepolis. Bastian Engelke hat schon drei Tage nach seiner Rundumschau zum Trollgegrunze des gesunden pro-westlichen Volxämpfindns am 08. März eine Fortsetzung nachreichen können, über die armselige und beißreflexversabberte Re-Aktion auf den Artikel bei besagter, schwer-modisch politisch unkorrekter Website. In »Argumentation, Schlammschlacht, Gewalt« kann man nachlesen, wie Engelke exemplarisch die Gentleman-Diskrus-Stellung gegen die nicht eigentlich auf die Kritik eingehende Erwiderung der supermutig politisch unkorrekten Website reagiert. Schlicht köstlich.
Und heute bin ich dann wegen Telepolis vom Stuhl gefallen. Abgestürzt beim Hardcore-Schenkelklopfen. Marcus Hammerschmitt kommt daher, blickt durch, wie nur ein SF-affiner Autor mit super-Röngtenblick durchblicken kann, und macht mich endlich mit der größten deutschen Punk-Combo bekannt, in: »Pogo im Heiligen Land — Deutsche Bischöfe in Israel: Punk ist nicht tot, er zieht sich nur komisch an«. Na da ruf ich dem DJ doch gleich zu: »Tanz den Flagellanten!«
Danke Marcus!
Deutschsprachige Leser frugen, China Miéville hat geantwortet
Eintrag Nr. 328 — Letztes Jahr im Oktober haben die Haberer von Seblons großartiger China Miéville-Bas Lag-Site Interviewfragen gesammelt. Mein großes Idol der zeitgenössischen Phantastik hat sich unserer 33 Fragen mit bewunderswerter Geduld angenommen.
Was gibt es Neues? Es geht…
- …um den springenden Punkt aller Phantastik;
- … um das Kreuz mit der Rezeption homosexueller Protagonisten;
- … um Chinas Begeisterung für Walter Moers »Die 131/2 Leben des Käpt’n Blaubär«;
- … um die derzeitigen Epochenspannungen zwischen sekularen und religiösen Weltbild-Facaden;
- … um den Wohlklang von ›Blitzbaum‹ und ›Luftgeist‹;
- …um die vermeintliche Radikali- & Originalität der Techniken literarischer Postmoderne…
… und vieles andere mehr. — Was mich besonders freut: China ließ sich von uns zu neuen Literaturempfehlungen ermuntern.
Alle, die sich ganz allgemein (es geht immerhin auch um Berthold Brecht!) oder besonders als Phantasten für relevant-engagierte und ideensprühende Literatur interessieren, und die Miévilles Werke noch nicht kennen, können sich also hier im »Großen Bas-Lag-Forum-Interview« einen ersten Eindruck über diesen erstklassigen Autoren verschaffen.
Großen Dank und ›Hut ab‹ für Seblon, daß Du trotz Roboti und Klausurenstress die Zeit und Kraft für all die Orga & Fizzelei aufbringst!
Blogger das Rollenspiel: Ungustiöse Charakterklassen
(Eintrag No. 326; Gesellschaft, Woanders) — Mal wieder drüben an der BlogBar rumgesenft. Der Don hat aber auch zu köstlich in »Die 5 beliebten Methoden für Blogawareness, die bei Bloganfängern genutzt werden, aber dennoch nichts bringen« die schlimmsten Gattungen der aufmerksamkeitsheischenden Blogger aufgelistet; als da wären:
- Trittbrettfahrer;
- Verschwörungstheoretiker;
- Ex-Irgendwasse;
- Geldgeile;
- kleine Schreihälse.
Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich 2 oder 5 bin. Mit diesem Eintrag bin ich aber definitiv 1.
Ach ja: kommentiert hab ich dort auch, und zwar einmal zwo Eintrags-Entwürfe für’s »Teufels-Wörterbuchs des Informationszeitalters«; und einmal was eher assoziativ-bemüht Relevantes.
Laßt uns doch über den Gröfaz lachen
(Eintrag No. 323; Geselschaft, Film, Dröttös Roich, Woanders) — Daniel Levy und Helge Schneider verhohnepiepeln Hitler und freilich wird sich schon im Vorfeld fett darüber echaufiert.
Nix lachen über Hitler! Böser Humor! usw.
Ich finde es sehr traurig, wie arg verklemmt bei uns der spielerisch-ästhetische Umgang mit der Nazivergangenheit ist. Was ist so schwer daran, die Nazis, deren Leithammel und ›die armen von denen verführten Mitläufer und willigen Helfer‹ als depperte Gestörte vorzuführen (oder auch als knackig-unheimliche Monster)? Für mich ergibt sich häufig prickelnde Schönheit (die ja nicht immer eindeutig sein muß um interessant zu sein), wenn man die glorreiche und meiner Meinung heilsame Tradition aufgreift, die durch Chaplin, Lubitsch und Co begründet wurde.
Andrea hat das hiesige Hickhack zum Thema in »die allerhöchstwahrste wahrheit über adolf hitler« bereits fruchtbar kommentiert.
Ergänzend dazu noch ein Fund von mir. In »Sour Krauts, Not a Bit« verteidigt der Enländer Roger Boyes ›uns Deutsche‹ gegen den Vorwurf, daß wir so völlig humorfrei sind. Das ganze ist Teil eines Vorabberichts zum mittlerweile erscheinenen Buch »My Dear Krauts«, in dem der ehemalige Teutonenskeptiker Boyes schildert, wie er in seinen Jahren als Deutschland-Korrespondent der Times seine Vorurteile über z.B. die berüchtigte Humorfreiheit der Deutschen korrigierte. Hier ein Zitat aus dem seinem Artikel in der »Times2« zum Levy/Schneider-Film:
The big test will come in the new year in the form of the first German-made comedy about Hitler. The Führer is shown as an impotent bed-wetter who likes to play in the bath. Judging by the press preview, German audiences will be rolling in the aisles. My bet is that British audiences will not — we have laughed ourselves dry about the Nazis. But I don’t begrudge the Germans their chance to laugh at Hitler — because I trust them not to mock or forget Hitler’s victims. That is why I feel more relaxed with, and about, the Germans. They have been liberated not by Sherman tanks but by Benny Hill and Borat.
Desweiteren finde ich folgende Ansichten aus »Sour Krauts…« bemerkenswert:
What the Germans seem to object to is a sudden switch from slapstick to sarcasm or irony.
In Germany, humour is stockaded, kept apart from everyday life … they will fail to spot the inherent absurdities of their own office life.
The Germans really do laugh, loudly and with only a slight delay, at British humour.
Und ich stimme dieser tragischen Analyse zu:
I have a theory about this banter-less society, but when I tried to advance it in a radio show it was greeted with a glacial silence. It is simply this: the fast barrow-boy wit of the urban proletariat has its roots in Yiddish, arriving in the East End or the Bronx via a generation or two of East European immigration. It came to German cities too — and, for all the familiar reasons, disappeared. So we try not to mention that.
Im Dezember 06 hatte man auch im englischen SpOn über Boyes berichtet. Dort wird der Appell Boyes hervorgehoben, daß in Deutschland eine ›Entwicklungshilfe in Sachen Humor‹ von Nöthen ist. Knackig und erhellend:
…the Germans like to be mocked and criticized. It's the masochistic element in their mentality.
Besides, I don't think there's anything wrong with being fascinated with the Nazi period. It was a uniquely evil period and I don't think there's anything unhealthy about reflecting what the roots of evil are.
Letzteres sehe ich zwar durchaus heikler als Boyes, denn ich glaube durchaus, daß eine ›Faszination für das Böse‹ zur obsessiven Fixierung umkippen, und zu einer ungesunden ›Infektion des Bösen‹ führen kann. — Dennoch: es ist nun mal ein himmelweiter Unterschied, ob man den Nazis und Schickelgruber Apologien angedeihen läßt, oder man sich über diese Bagage und ihren Obermotz lustig macht. — So gar nicht verstehen kann ich die Argumentation, daß man die Opfer verhöhnt, wenn man die Täter verulkt. Ist mir schlicht zu hoch.
»Revolution für Jedermann« von Steven Harris und das »Globale Gehirn« von Howard Bloom
(Eintrag No. 309; Woanders, Wissenschaft, Bewußtseins-Philosophie, Medizin) — Der Amerikaner Steven Harris nutzt das Podcast-Format, um in Einheiten von 24 Minuten locker und ziemlich schlenderisch seine Vereinheitliche Theorie zum Nervensystem und Verhalten auszubreiten. Bisher gibts 57 Sendungen. Leider kam seit Julei 2006 keine neue mehr dazu, aber ich hab erst 9 Stück gehört und also noch genug Material für einige Muse- und Bildungsstunden vor mir. Ich bin auf Stevens Site gestoßen, weil ich mal wieder zum Thema Bewußtseinsforschung stöbern wollte, und nach Podcasts mit oder über Daniel C. Dennett gesucht hab.
Irgendwie kommen die Dinge ja oft im Doppelpack daher, da wundert es mich nicht, daß ich gestern abend auch über dieses Archiv bei Telepolis gestolpert bin, in dem 21 Artikel von Howard Bloom über das Globale Gehirn versammelt sind. — Die einzelnen Folgen gibt es auf Deutsch und Englisch, auch wenn irgendwie die deutsche Übersetzung von Folge XVIII fehlt, dafür aber die englische Folge XIX als deutsche Folge XVIII angeboten wird. Ich hab den Fehler, die fehlende Folge mal an Telepolis vermeldet. Bin gespannt ob sich was tut.
Viel Spaß beim Lernen.