molochronik

Philip Pullman: »The Good Man Jesus & the Scoundrel Christ«, oder: Nur ‘ne Geschichte

Eintrag No. 620 — Ich kann mich noch erinnern, dass ich zu Pullmans »His Dark Materials«-Trio gegriffen habe, weil sie mir als feine Fantasy empfohlen wurde, und wie ich dann zweimal überrascht wurde.

  • Erstens, weil ich nicht damit gerechnet hatte, das Pullman ein erfreulich streitbarer Kämpe im Kampf gegen religiösen (eben vor allem christlichen) Schmarrn und Machtanspruch ist, der in seiner Jugendfantasy Philosophie, Kosmophysik, Fantasy-Äktschn keck mit einem Krieg gegen den Himmel verquickt.
  • Zweitens überraschte mich dann unangenehm, dass Pullman bei Band drei von »His Dark Materials« mich irgendwie verfehlt hat, denn »The Amber Spyglass« war nicht so rund, süffig und spannend wie die ersten beiden Teile (trotz des – ooops … hoppala – Nebenbeitdruffgehen von GOtt). Ich hab den Band bis heute nicht fertig gelesen.

Da kam es mir durchaus zupass, dass Pullman mit »The Good Man Jesus & the Scoundrel Christ« was Neues in einem abgeschlossenen Band vorlegt. Im Rahmen der ›Mythen‹-Reihe, die international von einigen Verlagen herausgebracht wird, darf Pullman seine Fassung der Geschichte von Jesus Christus darbieten. Schon die Cover-Rückseite sagt es deutlich:

This is a story.
Das ist eine Erzählung.

…und ich Schelm denk mir freilich, dass genau diese Aussage natürlich auch auf die ›Origialversion‹ zutrifft.

Als Kind bin ich gequält worden mit bravgebügelten Bibel- und Jesusgeschichten. Ich geb zu: in einer Welt, in der es Zorro, Fantomas, den Roten Korsar und Lawrence von Arabien gibt, hat es der Sandalenheld Jesus nicht mehr leicht, die Kinder (genauer: Kleinbubenherzen) für sich zu gewinnen. Da nimmt es wohl nicht wunder, dass mir instinktiv immer schon der wütende Jesus am besten gefallen hat, wenn er Händler aus dem Tempel scheucht. Als junger Teen hatte ich meinen Spaß mit Michael Korths »Der Junior Chef«-Version des NT; habe eine aus der Stadtbücherei geliehene Neue Jerusalemer Bibel kompletto durchgeackert und später, als Twen, auch Luthers Bibel intensiver quergelesen. — Ach ja: Haderers Jesus-Satire habe ich einst für Literaturkritik rezensiert. — Kurz: ich bin totaaal der Dscheeses- und Bibel-Experte (immerhin sind die ersten beiden ›seriösen‹ Berufswünsche (also nach Pirat, Superheld und Robin Hood), an die ich mich erinnern kann, Inquisitor und Papst).

Doch zu Pullman.

Er hat den typischen Bibelgeschichtensound gut getroffen. Nachteil: Entsprechend fad. Vorteil: Flott lesbar. Von den 54 Kapiteln sind eine Handvoll allerdings sehr fein, denn in ihnen bündeln sich (a) eine milde vorgetragende und doch grundlegende Kritik an organisierter/koorperationistischer Religion, sowie (b) Meditationen über das Weben und Wirken von Geschichten und wie man ›die gewöhnlichen Menschen‹ motiviert; mitunter auch darüber, ob eine kontemplative oder aktionistische Haltung geeigneter ist, um Utopien zu verbreiten.

Der Clou von Pullmans Version des Evangeliums ist, dass er aus der Figur des Erlösers ein ungleiches Zwillingsbruderpaar gemacht hat. Da ist einerseits der Impulsmensch Jesus, Drop-Out und Sozialrevoluzzer der gegen die bestehende Menschenordnung anpredigt und Kraft seiner charismatischen Ausstrahlung so manchen Leidenden und Siechen ›wunderheilt‹; zum anderen der mamatreue, introvertierte Bücherwurm Christ, der mit neidischer Liebe die Umtriebe seines Bruders beobachtet und von einem irdischen Himmelreich träumt.

Der antimaterialistische Jesus und der kalkulierende Idealist Christus geben ein feines Antagonistenpärchen ab, ohne sich jemals wirklich in die Haare zu kriegen. Ein Höhepunkt war für mich ihre Diskussion in der Wüste. In der Bibel ist das die berühmte Versuchung des Erlösers durch den Teufel, der mit weltlicher Macht, Lustbefriedigung und haste nich gesehen lockt. Bei Pullman wird daraus ein Gespräch zwischen Zweien, die auf unterschiedliche Art Gottes Willen erfüllen wollen: Jesus als apokalyptischer Seelenhygienigker misstraut Christus Vorstellungen von einer organisierten Form des himmlichen Reiches auf Erden. Der Faden von Jesus Skepsis gegenüber organisierter Religion wird wirkungsvoll weitergesponnen in der Neu-Fassung der berühmt-ergreifenden Szene des Gebetes im Garten von Gethsemane, sicherlich der Höhepunkt des Buches.

Leichte Krimistimmung kommt auf, als Christ von einem geheimnisvollen Namenlosen (einem Engel?, einem Priester?) beauftragt wird, die Reden und von Taten von Jesus zu protokollieren, eben um daraus später den Initialtext der frohen Botschaft für die Massen zu machen. Pullman legt dabei seine Ansicht dar, dass, wenn es je eine wahrhaftige Messiasgeschichte gegeben hat, diese zum Zwecke der Seelenverführung im Sinne der keimenden Kirche aufgepeppt wurde.

Für ausgewachsene Religions- und Ideologiefresser ist dieses Buch sicherlich zu harmlos, aber vielleicht trotzdem amüsant zu lesen. Für aufrecht-kritische Christengläubige bietet sich der neue Pullman vielleicht sogar eine tröstlich-strärkende Lektüre an.

(Eine Deutsche Ausgabe ist bei uns offiziell noch nicht angekündigt. Auf der englischen Website zum Buch wird der Fischer Verlag als Herausgeber der deutschen Ausgabe genannt. Ein Termin steht noch nicht fest.)

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Philip Pullman: »The Good Man Jesus & the Scoundrel Christ«, 54 Kapitel auf 245 Seiten; Canongabe Myth Series, 2010; ISBN: 978-1-84767-826-3.

Molos Wochenrückblick No. 1

Eintrag No. 615 — Schon seit längerem grüble ich, was zu tun sei, um die Molochronik regelmäßiger mit Beiträgen zu bespeisen. Nun, zum sich nähernden 3000-Tage-Jubiläum habe ich mich entschlossen, einen wöchentlichen Rückblick zusammenzustellen. Hier die Debütnummer darüber, welche Netzfunde mir (im Guten wie Schlechten) bemerkenswert dünken, und wo ich mich zu Wort gemeldet habe.

Artikelfunde

  • Leistungsschutzrecht: Marshallplan für alte Träume: Netzpolitik fasste am 9. Mai 2010 kurz zusammen, was am 7. Mai 2010 ausführlich von »irights.info« bezüglich der im Stillen ausgebrüteten Leistungsschutzrecht-Vorstellungen von Presseverlagen und Gewerkschaften öffentlich gemacht wurde. — Und bisher schweigen sich die Publikumsmedien über diese Nachrichten aus! Ich appeliere deshalb an alle Molochronikleser, diese Infos weiterzuverbreiten und den ungeheuerlichen Absichten der Presseverleger und Gewerkschaften entgegenzuwirken.
  • »Tschiieep Tschieep Tschieep«: Ein sehr schöner Lokalnaturbericht über Nachtigallhähne in Berlin von Cord Reichelmann in »Der Freitag« vom 06. Mai 2010.
  • Bischof Mixa und Father Ted: Andreas Rosenfelder hat am 10. Mai 2010 im Zuge der Causa Mixa auf die irische TV-Serie »Father Ted« hingewiesen. — Natürlich traurig, dass diese Serie nie in Deutschland lief (immerhin gab es ja einst auch mal »Yes Minister« und »Yes Primeminister« bei uns).
  • Metaphern lügen nicht: Ein kurzer aber nützlicher Beitrag (für Phantastik-Forscher relevant) am 8. Mai 2010 von Klaus Jarchow in »Stilstand«. Ist eine Ergänzung zu seinem Beitrag »Die Ölprinzen«, in dem Klaus schon fein Aktuelles zum Thema Sprache und Hirnforschung zusammenfasste.

Wortmeldung

Zuckerl

  • Darth Maul likes Rainbows: »Super Punch« zeigt eine schöne Bilderstrecke der Werbemotive für das »Star Wars«-Weekend der Disney Hollywood Studios. Mein Liebling: der AT-AT beim Einparken. Man stelle sich dann die herauspurzelnden Stormtroopers vor, die in Richtung Achterbahn, Zuckerwatte und ›Bild mit Goofy machen‹ abzischen wollen, und ein Kommandant, der befiehlt, dass die Jungs sich bitte erstmal in einer ordentlichen Zweierreihe beim Eingang anstellen sollen.
  • Die Buchgestaltung des großartigen John Coulthart für »Into the Media Web« von Michael Moorcock: Natürlich will ich den Band mit Sachtexten und Essays des ›Great Old One‹ Moorcock haben, sobald er erscheint.

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Jesse Bullington: »The Sad Tale of the Brothers Grossbart«, oder: Hexenzauber, Pestdämonen, Nixengesang & zwei Grabräuber auf der Suche nach ganz viel Gold

Eintrag No. 603 — Auch wenn ich mittlerweile wegen meines Brotjobs weniger Zeit habe, versuche ich mindestens ein-, zweimal im Monat einige Stunden frei zu machen für Anlese-Sessions im großen örtlichen Buchkaufhaus. Da geraten mir empörend viele Romane in die Finger, die sich offenbar an den so genannten ›Durchschnittsleser‹ wenden. Romane, die ich nach 10 bis 20 Seiten zur Seite lege, weil sie eben, nun ja, zu zahm, zu charakterlos und zu konformistisch sind. Wenn ich mal ich Bock auf solchartig stromlinienförmig-narrative Stangenwahre habe, dann vertraue ich mich lieber Filmen, TV-Stoffen an (und auch Comics; ich sag nur: Schauwerte). Da kann ich es verstehen, wenn Geschichten vor Angepasstheit strotzen, wenn das Produkt nicht zuuuuu schräg und originell sein darf und kann, da hohe Herstellungskosten wieder reingeholt werden sollen und/oder man auf die Befindlichkeiten von Sendern und Werbekunden Rücksicht zu nehmen hat. Bei Literatur hege ich allerdings höhere Ansprüche. Hier erwarte ich, dass sich der eine Macher darum bemüht, eine wirklich eigene, unverwechselbare Stimme und Geschichte zu bieten, und mich nicht langweilt mit Kompromissgedöns.

In entsprechend lebhaftes Entzücken versetzte mich schon der Beginn des Debüts von Jesse Burlington »The Sad Tale of the Brothers Grossbart«. Bereits der erste Satz (hier in meiner Stegreifübersetzung) faselt nicht um den heißen Brei:

Zu behaupten, die Brüder Grossbart seien grausame und selbstsüchtige Briganten, hieße selbst die garstigsten Wegelagerer zu verunglimpfen, und sie mordlustige Schweine zu nennen wäre gegenüber der dreckigsten Sau noch eine Beleidigung.

Und ich denke nicht, dass ich unbotmäßig viel verrate, wenn ich die 6-einhalb Seiten des ersten Kapitels stichpunktartig zusammenfasse:

Die Zwillinge Manfried und Hegel Grossbart stammen aus einer Grabräuberfamilie. Mama war geistig zurückgeblieben. Papa hat sie mit den Kleinen sitzen gelassen und wurde irgendwo im Norden gelyncht. Ein Onkel hat die beiden erzogen und ihnen das Grabräubern beigebracht. Manfried und Hegel wollen dem Vorbild ihres Großvaters folgen, der es laut Familienlegende bis zu den opulenten Gräbern der Heiden von ›Gyptland‹ geschafft hat. Nun schreibt man das Jahr 1364, und in Bad Endorf wollen sich die Brüder sich für ihre Reise ausstatten, indem sie den Hof des Rübenbauern Heinrich plündern, aus Rache, weil Heinrich einst die rübenstehlenden jungen Grossbarts mit der Schaufel verdroschen hat. Als sie das Haus des Bauern stürmen, greift dessen Frau die Brüder mit einer Axt an. Im Handgemenge bekommt Manfried die Axt zu fassen und erschlägt damit die Frau. Dann haut er beim Stöbern durchs Haus der ebenfalls wehrhaften Tochter die Axt übern Kopf. Heinrich will in die nahe Ortschaft fliehen um Hilfe zu holen, doch die Grossbarts drohen das Haus, in dem sich noch die zwei Babies der Familie befinden, in Brand zu stecken. Heinrich bleibt, doch es nützt nichts: Die Brüder schlitzen dem Sohn vor den Augen seines Vaters die Kehle durch und zünden das Haus an (und die Babies verbrennen mit kläglichen Geschrei), klauen Karre, ein Pferd, Brauchbares aus dem Haus und Rüben und machen sich davon. — Kurz: die ›Helden‹ des Romanes sind richtig finstere Kerle.

Doch nicht nur der Umstand, dass die Hauptfiguren des Romanes brutale, erschreckend rücksichtslose und eigensüchtige Kerle sind ist dazu geeignet sanftere und sich nach kuscheligen Fantasy-Träumen sehnende Leser abzuschrecken. Das 14. Jahrhundert von Jesse Bullington hat so gar nichts mit glatten, sauberen romantischen Mittelalter-Verklärungen gemein (a la »Der erste Ritter« mit Richard Gere), sondern beschwört nach Kräften ein schmutziges, matschiges, grindiges ›finsteres Mittelalter‹ (siehe z. B. »Jabberwocky« von Terry Gilliam). Wenn bei »Brother Grossbarts« gekämpft wird — und es gibt eine Reihe effektvoll und packend inszenierte lange Kampfszenen –, ist das eine blutige und schmerzvolle Sache. Und Bullington ist studierter Historiker und Volkskundler. Gehe ich also mal davon aus, dass er wohlrecherchierte Gründe hat, seinen Lesern ein harsches Mittelalter zusammenzubrauen.

Bullington schöpft aus dem Vollen, was hahnebüchenden Aberglauben und die Grenze zur Häresie übertretenden haarsträubenden (un-)christlichen Glauben betrifft. Das wird ebenfalls früh im Buch anhand einer theologischen Plauderei der Brüder Grossbart im dritten Kapitel offenkundig. Das geht ungefähr so: Hegel fragt sich, wie es sein kann, dass die Heilige Jungfrau Maria einen gar so verzagten Sohn zur Welt gebracht hat. Immerhin hat sich Jesus am Kreuz nicht ›ehrenvoll‹, sondern wie ein Weichei verhalten. Er hätte einen seiner Peiniger ja wenigstens mal treten können. Manfried erklärt seine theologische Sicht: der HErr wollte Maria schwängern, doch die wollte reine Jungfrau bleiben und ließ den lieben GOtt abblitzen. GOtt schwängerte sie dennoch (und wie Manfried später erklärt, blieb Maria trotzdem weiterhin Jungfrau, denn eine Vergewaltigung zählt ja nicht), und dafür hat sich Maria gerächt, indem sie Jesus zum Waschlappen erzog. Manfried stimmt ein Lob auf die Jungfrau an (Seite 28, Übersetzung von Molo):

»{…} And that’s why She’s holy, brother. Out a all the folk the Lord tested and punished, She’s the only one who got him back, and worse than he got Her. That’s why She intercedes on our behalf, cause She loves thems what stand up to the Lord more than those kneelin to’em.
Und darum ist Sie heilig, Bruder. Von allen Leuten die der Herr geprüft und bestraft hat, ist die Sie die einzige die es im heimgezahlt hat, und zwar schlimmer als er es Ihr besorgt hat. Deshalb setzt Sie sich auch für uns ein, denn Sie liebt diejenigen, die dem Herren die Stirn bieten, mehr als jene, die vor ihm knien.«

Kein Buch also für Leser die ein empfindliches christliches Gemüth haben.

Was gibt’s noch? Ach ja, Monster vom Feinsten! Und die Magie dieses Mittelalters ist stark vom überlieferten Volksglauben geprägt und entsprechend eklig (Eiter, Speichel, Samen und andere übelriechendere Körperflüssigkeiten quellen stellenweise reichlich). — Beeindruckend der Auftritt eines der Hölle entflohenen Pestdämons, der in den Körper eines jungen Reisen geschlüpft ist, wenn er nackt, vor Fieber im kältesten Alpenwinter dampfend auf einem Eber dahergeritten kommt. — Wunderbar die Darstellung der Hexe Nicolette und ihrer wahrhaftig grauenvollen Brut. Nicolette ist ein ganzes Kapitel Vorgeschichte gewidmet, Dank dem diese Widersacherin mehr ist als nur ›böse‹ (na ja, eigentlich kein Kunststück, wenn die Protagonisten selbst von derart zweifelhafter Moral sind, dass sie in den allermeisten Geschichten die besten Übeltäter abgäben). Aber dass Nicolette und ihr Dämonengatte im einsamen Wald die kargen Winter überstanden, indem sie Kinder zeugten die sie dann verspeisten ist schon starker Tobak. Wird aber noch gesteigert, wenn Nicolette zwei frische kleine Monsterbälger mit den über Jahren gesammelten Kinderzähnen versorgt, so dass dieser Brut dann am ganzen Körper gierig schnappende Mäuler wachsen. — Ach ja: eine geheimnisvolle (weil stumme) Nixenschönheit sorgt für (dezente) erotische Wirren, vor allem bei dem sensibleren Manfried.

Neben Wäldern, winterlichen Bergstraßen, menschenverlassenen Klöstern gibt’s zur Abwechslung im weiteren Romanverlauf Abenteuer im frühlingsdurchlüfteten Norditalien und für einige Kapitel sind die Grossbarts im Stadtpalast eines ziemlich rumpeligen Piraten-Kaufmanns in Vendig zu Gast. Schließlich überquert man das Mittelmeer und erreicht Alexandria mit dem christlichen Kreuzzug-Überfallheers unter der Leitung von König Peter I. von Zypern.

Einige Leser haben bemängelt, dass die Episodenfolge des Roman einen etwas ruckelnden Verlauf bildet. Ich fand das keineswegs störend, sondern ließ mich berauschen von der bisweilen munter-knartzigen Sprache und genoss es, mich in ein magisches Mittelalter entführen zu lassen, in dem reichlich ungewöhnliche, sperrigere Figuren auftreten und das mich nicht nervt mit den üblichen langweiligen glatten Typen (der naive Gutmein-Held, die Unschulds-Trulle, der hämische Fiesling, der weise Kuttenopa ect pp ff).

Anfang Dezember 2009 hat Jesse Bullington froh verkündet, dass Bastei Luebbe die Rechte für eine deutsche Ausgabe des Romanes erworben hat. Ich hoffe inbrünstig, dass man für die hiesige Ausgabe der Umschlaggestaltung der englischsprachigen Originalausgaben treu bleibt und das Vexierbild von Istvan Orosz verwendet. Wenn nicht, möge die Heilige Jungfrau mit ihren gerechten Zorn Luebbe strafen!

Ich bin schon gespannt auf Bullingtons zweiten Roman »The Enterprise of Death«, der im November 2010 auf Englisch erscheinen soll und im selben Weltenbau wie die Grossbarts angesiedelt ist, allerdings diesmal zur Barock-Zeit der Spanischen Inquisition, und es soll weniger darum gehen, Gräber zu öffnen und Leut’ in selbige hineinzuprügeln, sondern darum, die Toten aus Gräbern wieder auferstehen zu lassen.

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LINK-SERVICE:

Ende November, Anfang Dezember 2009 hat Jesse eine Werktagswoche als Gastautor für das »Amazon«-Bücherblog »Omnivoracious« beigetragen:

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Jesse Bullington: »The Sad Tale of the Brothers Grossbart«; Vorwort, 31 Kapitel, Bibliographie, 435 Seiten; Britische Taschenbuchausgabe bei Orbitbooks 2009; ISBN: 978-1-84149-783-9.

Kurznotiz zu Gustave Flaubert: »Die Versuchung des heiligen Antonius«

Eintrag No. 577 — Habe ich diese Woche als Diogenes-Taschenbuch aus dem Ramsch gefischt. 1874 erschien die endgültige Fassung dieses vision- und trugbildgesättigten Drama-Romans, an dem Flaubert etwa 40 Jahre gebosselt hat, und den er selbst als Höhepunkt seines Schaffens betrachtete. — Wegen seines (wie Thomas Mann meint) »polyhistorischen Nihilismus« erregte das Buch einiges Aufsehen und den Groll der bürgerlichen Kritik, denn (wiederum Mann) er ist »nicht nur ein phantastischer Katalog aller menschlichen Dummehiten {…} auch der Irrsinn der religiösen Welt wird lückenlos vorgeführt«.

Die klassische Legende über den Heiligen Antonius führt drei große Bedrängungen des um Tugendhaftigkeit ringenden Asketen vor: (i) die Versuchung durch schöne Frauen, am deutlichsten durch die Erscheinung der Köigin von Saba; (ii) die angsteinflössende Heimsuchung durch furchterregende Monster; sowie (iii) die Verführung durch das Angebot von Macht und Reichtum.

Als Anhang liefert die Diogenes-Ausgabe einen Fan-Brief von Ernest Renan an Flaubert vom September 1874, sowie einen Text von Paul Valéry aus dem Jahre 1942.

Der Brief von Renan spendet einige geradezu glühende Verteidigung der phantastischen Hervorbringenen künstlerisch gestalteter Einbildungskraft:

Die große Trösterin des Lebens, die Einbildungskraft, hat ein besonderes Vorrecht, das aus ihr, alles wohl erwogen, das kostbarste aller Geschenke macht; das liegt daran, daß ihre Leiden Wollüste sind. Mit ihr ist alles Gewinn. Sie ist die Grundlage für die Gesundheit der Seele, die wesentliche Voraussetzung für die Fröhlichkeit. Sie macht, daß wir den Wahnsinn der Wahnsinnigen und die Weisheit der Weisen genießen.

Denn, so meine Folgerung, ohne die bereichernde Hilfe der Einbildungskraft bliebe der Wahnsinn etwas beispielsweise unangenehm Schreckliches, und die Weisheit, von mir aus, etwas zeigefingerwedelnd Langweiliges.

Wunderbar, wie Renan schließlich die kleinkrämerische Kritik gegenüber phantastischen Schöpfungen kommentiert, wenn er schreibt:

Daß der Zug der Träume der Menschheit für Augenblicke einem Maskenzug ähnelt, ist kein Grund dafür, sich ihre Darstellung zu verbieten. Arme Menschheit! {…} jedermann durchlebt seine Stunden des Zwiefels; in solchen Stunden tröste nur Farbe und Bild. Und das ist keine eitle Schwärmerei. Die Einbildungskraft hat ihre Philosophie. {…} In Sachen Kunst stellt einzig die bürgerliche Plattheit etwas Unmoralisches dar. Welcher Irrtum, die kraftvolle Ausübung unserer natürlichen Fähigkeit {der Einbildungskraft} als Krankheit zu bezeichnen! {…} Die Arbeit der Einbildungskaft ist gesund, so wie es für ein Land gesund ist, gute Militärs, gute Maler, gute Philosophen, gute Arbeiter auf jedem Gebiet zu haben.

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Gustave Flaubert: »Die Versuchung des heiligen Antonius« (fr. 1874), Übersetzung von Felix Paul Greve (1907-1909) revidiert von Franz Cavigelli (1979); Drama-Roman in sieben Akten; Anhang mit Texten von Ernest Renan & Paul Valéry & einem Glossar; 215 Seiten; Diogenes Taschebuch 1979; ISBN: 3-257-20719-0

Otto Kallscheuer: »Die Wissenschaft vom Lieben Gott«

Eintrag No. 353 — Was die für mich bisher und ansonsten vorzügliche Reihe »Die Andere Bibliothek« angeht, so dachte ich bis jüngst, dass es da weder Mittelmäßiges noch gar Schlechtes gäbe. Nun aber bin ich eines besseren belehrt worden, denn zur Jahreswende habe ich mir »Die Wissenschaft vom Lieben Gott« von Otto Kallscheuer (wenn auch nur als Taschenbuch) gegönnt.

Vergnügt hat mich das Buch schon, auch und gerade indem es mich uffgeregt und genervt hat. Kallscheuer babbelt die meiste Zeit derart flappsig und kalauernd daher, dass ich mich frug, ob ich es hier mit einem (Möchtegern-)Komiker zu tun hab. Den glaubensverteidigenden Humorleistungen eines G. K. Chesterton kann Kallschauer jedoch nicht das Wasser reichen und so wirkt die Witzischkeit von »Die Wissenschaft von Lieben Gott« desöfteren mehr wie aufgesetztes Ornament, nicht wie tragende Struktur. Die besteht leider aus jenem (für mich Ungläubigen mal zutiefst unheimlich, mal putzig anmutendem) kirrem, sturem und treuherzigem Postulieren von Absolutismen, also ›Überdrübergehtnixmehr‹-ismen, welche unter dem exotisch und ehrwürdig klingenden Namen Theologie angeredet werden dürfen.

Theologie geht ja so: verleibe Dir möglichst viel von der Konkurrenz ein (antiker Philosophie, Heidentum, Volksaberglaube), steigere all das dann zum Besten, Größen, Herrlichsten, Mächtigsten usw. und wenn jemand dann auf die Fehler, Widersprüchlichkeiten und Unklarheiten aufmerksam macht, redet man sich raus mit dem Hinweis, dass über GOtt zu reden oder ihm gar mit Vernunftargumenten beikommen zu wollen eh eine Knieschußaktion ist, weil unsere menschliche Sprache zu unvollkommen, unser menschlicher Verstand zu begrenzt, unsere menschliche Existenz zu beschränkt seien, um sprechend, denkend oder seiend IHM, DER DA IST wirklichend gerecht werden zu können. Nur wer wahrhaft glaubt, kann der Gande zuteil werden, irgendwie und ungefähr GOtt zu erfahren und SEINE HERRLICHKEIT ein izzi-bizzi-wenig aber mystisch zu schauen.

Wer sich ordentlich über die Geschichte theologischen Denkens informieren will, kann sich das Buch sparen, denn es bietet weder eine historische noch eine thematisch sinnvolle Aufbereitung des monotheistisch-theologischen Denkens und Glaubens. Vor allem aus den ersten zwei Dritteln kann man aber durchaus erfahren, aus welchen Legosteinchen der Glaube an einen absoluten persönlichen Eingott zusammengesteckt wurde.

Die Verstiegenheit des Buches fasst sich im letzten Absatz selbst ganz prächtig zusammen, wenn es heißt, dass die Globalisierung, also die ethisch-politische Vereinigung zu einem Königreich, ein Projekt Gottes sei, inklusive der wissenschaftlich-technischen Erforschung und Durchdringung der Welt. — Das ist richtig gruselig, denn durch das Buch zieht sich als ein roter Faden (oder als Achse des Westlich Guten™???) die Lobpreisung eines gewissen Bildes vom geistig-philosophischen Westen (für Kallscheuer eben die Essenz der drei Monotheismen Judentum, Christentum und Islam). Hiermit ist eine Denkart gemeint, bei der es noch EINE höhere Zielgerichtetheit, EINE teleologische Schöpferabsicht in der Welt und für uns Individuen, eben EINE Wahrheit gibt. Entsprechend hat das Buch nur Spott und Schimpf für antike und moderne Phantasmen-Vielfältigkeiten übrig (ganz nach dem Gebot: »Du sollst kein Trugbild haben neben mir«), grämt sich über die Popularität von fernöstlichem, weichgewaschen-christlichen und pokulturll-beliebigen Glauben. Diskurse die wahrhaft kritisch zu werden drohen sind Kallscheuer abhold.

Zudem: Ulkige Fehler lassen sich finden. Kallscheuer zitiert zwar alle möglichen obskuren Katholen mit Inbrunst, aber aus dem ägyptischen, einen Falkenkopf tragenden Gott Horus macht er einen ›Stiergott‹ (S. 161), und aus Hergé, dem Schöpfer von Tim & Struppi, wird ›Hervé‹ (S. 386).

Das Buch bietet auch Lobenswertes: da ist als erstes der dialogische Aufbau des Textes zu nennen, welcher im Großen und Ganzen für eine lockere Lesbarkeit sorgt (ein paar Kapitel gehen trotzdem wegen ihrer eintönigen »GOtt ist groß«-Formelhaftigkeit schwer runter); dann ist der Spott und die Schimpfe, die Kallscheuer den ganz engsternigen (Un-)Glaubensgenossen angedeien läßt, erfrischend zu lesen, und so genoß ich die verbalen Kopfnüsse und Brennesseln gegenüber Kreationisten, Wohlfühl-Esotrikern und Bequemlichkeits-Atheisten; und drittens amüsiert das Buch streckenweise mit seinen begeisterten Science Fiction- und Fantasy-Einlagen, wenn zum Beispiel quantentheoretische Multiversum-Spekulationen, oder freakige Jesutien-SF über den Omegapunkt der Evolution referiert werden.

Am meisten auf den Wecker gegangen ist mir allerdings die Art, wie Kallscheuer sich selbst in seinem Dialog immer wieder das Wort verbietet, ja geradezu anherrscht, nur bis hier und nicht weiter zu spekulieren, zu fragen, und also das Maul zu halten:

»Lassen wir das! Das wäre schon wieder eine andere Debatte {…} Ihre Frage ist ja sinnvoll, aber hier muß ich die Notbremse ziehen {…} Darum lassen wir hier die Finger davon, mon cher {…} Halt! Zu diesem Punkt entziehe ich Ihnen (und mir) das Wort {…}«

Nene, von einem guten Sachbuch erwarte ich anderes.

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Otto Kallscheuer: »Die Wissenschaft vom Lieben Gott. Eine Theologie für Recht- und Andersgläubige, Agnostiker und Atheisten« 486 Seiten, XVIII Kapitel; Die Andere Bibliothek, 2005 (gebunden), ISBN: 978-3-821-84561-6; — Piper, 2008 (Taschenbuch) ISBN: 978-3-492-25221-8

Septapack der Transzendenz

Eintrag No. 486 — Derzeit stöbere ich in Peter Sloterdijks neuestem Buch »Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen«. Sloterdijks Bücher lese ich sehr gerne, denn abgesehen von den Stellen, wo er mir mit Fremdworten, die ich in keinem meiner heimischen Wörtbuch finde, vor’s Hirn haut, bereiten die mir einfach Spaß. Da ich in meinem Alltag umgeben bin von lauter Menschen, die seufzend den Kopf schütteln, wenn ich Sloterdijk erwähne, muss ich mein Blog als Überlaufventil nutzen und ein bischen Begeisterung ablassen. Vorsicht, denn was ich hier nun folgt, ist ein Remix vermengt mit eigenen Gedanken, keine Rezension.

Dabei reicht es mir schon, nur über’s erste Kapitel von »Gottes Eifer« zu faseln. Das dreht sich um die Prämissen (›das Vorausgeschickte‹) des Buches, worum es so geht, was man als Leser beachten sollte, um sich nicht das Gemüt zu stossen. Richtig gehend fetzig fand ich dort eine Unterteilung der Phänomene, die mit dem Transzendenten, dem Heiligen zu tun haben.

Da gibt’s zuerst mal vier Phänomene, die sich mittlerweile ohne große Umstände auf weltliche Art und Weise beschreiben lassen, und wo also (sag ich jetzt mal) heiliges und sakrales Getue vielleicht eine nette Folklore darstellt, aber mehr auch nicht. Sloterdijk beschreibt entsprechend diese Transzendenz-Phänomene als ›Verkennungen‹.

  • 1—Verkennung des Langsamen: Praktischer Aspekt: Wie bewerkstelligt man die Koordinierung, wenn es gilt, über Generationen hinweg an einem Projekt zusammenarbeiten? Hier braucht’s Leute, die sich der langsamen Verwaltung widmen, und diese Leute nutzen dazu orientierende Ideal-Phantasmas. — Erkenntnis-Aspekt: Menschen im Lauf der Zeit immer besser gelernt, die langsamen Prozesse um sich zu beobachten und richtiger zu deuten, siehe z.B. die Evolutionstheorie. Also nix mit einem im Über oder Außen thronenden Schöpfer und Planer. Wir Menschen müssen uns selber organisieren, bzw. blubbert das Evolutionstreiben allein Geschöpfe hervor, ohne großen himmlischen Knetmeister.
  • 2—Verkennung des Heftigen: Superkrasse Wut-, Zorn- und andere aus der ›Wildnis von Innen‹ auflodernden heftigen Erregungszustände (inkl. ihrer Umkehr in sich selbst wegmachen wollende Scham) sind derart überwältigend, dass, wer von ihnen ergriffen wurde, sich als von etwas erfüllt wähnt, das von Woanders, von Oben, von Außen in ihn gefahren sein muss. Siehe Amoklauf und Berserker.
  • 3—Verkennung der »Unerreichbarkeit des Anderen«: Mein persönlicher Schwachsinns-Favorit. Weil ›etwas‹ nicht auf mein Zetern, Klagen, Bitten usw. reagiert, muss ›es‹ höher sein als ich oder die Welt. Sehr fein ist aber Sloterdijks prächtiges Resummee, wenn er schreibt:
    Selbst wenn hier also eine von Verkennung markierte Konzeption der Transzendenz vorliegt, sollte man »Gott«, sofern das schlechthin Andere gemeint ist, als ein moralisch fruchtbares Konzept würdigen, das Menschen auf den Umgang mit einem unmanipulierbaren Gegenüber einstimmt.
    Weitergedacht, invertiert und ein klein wenig übertrieben: zum »Gott« steigt man denen gegenüber auf, die einem nicht ans Bein pinkeln können, egal was man anstellt.
  • 4—Verkennung von Immunitätsfunktionen: Bei Immunitätsfunktionen geht’s um die Instanzen zur Abwehr von schädlichen Einflüssen (biologisch), zum Ausgleich von Dingen die außer Balance geraten sind (juristisch) und zum Motivieren in Situationen, wo es nach menschlichem Maßstäben nicht weitergeht (Chaosüberwindung).
    • a—Verarbeitung von Integrationsstörungen: Um mit solchen fiesen und piesakenden Naturkräften wie Tod, Zufall, Leiden fertig zu werden, hilft ritualisiertes Trösten, Mutmachen, Trauern usw. und aus dem narrativem Drumherum der entsprechenden Rituale lassen sich symbolisch gebastelte Weltbilder machen. Wenn man aber das aus den ›ritualisierten Sprechakten‹ zusammengefügte Weltbild verwechselt mit der höchsten Wahrheit, wird’s fatal, denn dann wird das helfende Mittel (die Lindernden Wirkungen der tröstenden Mumbojumbo-Rituale) zur Gottheit und fertig ist die Kulturhaltung eines Junkies, nur dass dort, wo dieser seinen Rausch-Kick braucht, der fundamentalistische Gläubige seinen Recht-behalten-Kick braucht.
    • b—Kanalisierung & Kodierung von Exzessbegabungen: Junge, was kann der Mensch auszucken! Gerade dann, wenn es durch das Zusammenleben von Menschen immer mehr Menschen besser geht und sie sich etwas gönnen oder sie sich ausruhen oder feiern oder Blödsinn anstellen können, werden Überschüsse frei und man will, muss, darf was anstellen. Besser also, man bändigt diese frei flotterenden Tatenergien, bevor sich allzu viele weh tun, die sich nicht weh tun wollen! Die einen Kasteien im religiösen Kontext sich selbst, andere peitschen sich mit lustigen Lederklamotten im sado-masochistischen Kontext, und der gemeine Proll verabredet sich zur großen Post-Fußballspiel-Prügelei irgendwo am Waldrand.

Daraufhin folgen zwei Transzendenz-Phänomene, die sich aufgrund ihres schon geheimnisvolleren Charakters ein bissi gegen eine Umsetzung in rein weltliche oder naturalistische Zusammenhänge sperren:

  • 5—Die höhere Intelligenz: Zu den selbstbezüglichen Seltsamkeiten des menschlichen Bewußtseins gehört die Fähigkeit, sich ›etwas‹ vorzustellen, das intelligenter ist als wir Menschen. Meine persönliche Vermutung ist ja schlicht, dass wir hier einfach unser Verhältnis zum Nutz- und Haustier umkehren, wenn wir uns in bangen Museaugenblicken fragen, ob wir selbst zum Nutzen für ›etwas‹ oder zu dessen Vergnügen gehalten werden, so wie wir uns einen Hamster, einen Hund oder ein Pferd halten. Bei Katzen gibt es ja bekanntlich eine große Fraktion, die annimmt, dass wir die Haustiere und Dosenöffner-Büttel der Viecher, und diese die eigentlichen Chefs der Tier-Mensch-WG sind. — Wie dem auch sei: Sloterdijk verweist am Rande darauf, dass es die Welt der Bücher ist, in der man seine entsprechenden Bedürfnisse nach Kontakt mit höherer Intelligenz weltlich ausleben kann.
  • 6—Das Reich der Toten: Ja wo tummeln sie sich denn alle, die von uns gegegangen sind? In einem idylischen Arkadien, in schrecklichen Höllenpfuhlen? Warten unvorstellbare Fremdartigkeiten jenseits der Schwelle des Todes auf uns, oder hinterfotzige Bürokratien einer vogonengleichen Karma-Recycle-Wirtschaft? Wir können es nicht wissen, bzw. was wir sicher wissen, ist nicht so wahnsinnig ermunternd (Wümer, Bakterien usw.) und deshalb stellen wir uns da halt von Herzen gerne etwas Erbaulicheres, storymäßig Griffigeres vor (statt dem Verdacht zuzustimmen, dass da eben nix kommt) und so haben sich Menschen anderwoige Jenseitse in manigfachen Varianten ausgesponnen.

Und zuletzt das siebte Transzendenz-Phänomen, das so heikel ist, dass hier, so Sloterdijk, derweil noch beim Deutungsspiel zwischen Wissen und Glauben letzter meistens siegt.

  • 7—Offenbahrungen: Woher kommen diese Stimmen in meinem Kopf? Wer flüstert mir die dollen Ideen, Weisungen, Befehle ein, die ich hab? Und freilich ist meine innere Stimme die einzig wahre und richtige und mit universeller Authorität ausgestattete, und deine innere Stimmen ist nur eine dämonische Irreleitungen, Truggebrabbel, Rückbänklergemurmel. — Jau, wie übersichtlich wird die Welt, wenn man sich vorstellt, es gäbe wirklich irgendwo in der Weltenmitte einen absoluten, über und in und jenseits von allem thronenden Herrscher, und manche von uns habe eine gute Antenne um seine Mitteilungen zu empfangen, ein exklusiv durch Gnade freigeschaltetes Free-Prophetie-Abo, während andere leider leider leider nur taube Hirne und Herzen mit so primitiven Kugelspielen haben, damit sie was zum in der Hirnschale Hin- & Herklappern haben.

Orientierende und dicht gepresste Kompaktversion von »Gottes Eifer« bekommt man in folgenden Rezensionen gereicht: Die harte Variante im aufzählendem Notat-Stil liefert Martina Wagner-Egalhaaf für »Literaturkritik.de«; eine weichere, erzählende Version bietet Hans Jürgen Heinrichs für »Die Welt«.

Die Sau zeigt nicht genug Ehrfurcht vor den Göttern!

(Eintrag No. 454; Gesellschaft, Religion, Kritik, Großraumphantastik, Deutungshickhack, Infowar) — Auf der Frankfurter Buchmesse letztes Jahr habe ich bereits hochvergnügt darin geblättert und hätte es ja gerne fürmeine Sammlung respektloser Bilderbücher: »Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel«von Michael Schmidt-Salomon (Text) und Helge Nyncke (Illustration), erschienen im Alibri Verlag.

Aber — Himmel hilf! — das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend will das Werk verbieten lassen! Der Humanistische Pressedienst berichtete unter der Überschrift »Großer Ärger um kleines Ferkel«, und hat als PDF-Anhang den Indizierungsantrag der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zugänglich gemacht.

Hanebüchender als der Verbotsantrag der Bundesprüfstelle geht’s ja schon eigentlich nimmer, wie man sich überzeugen kann, wenn man Bilderbuch und Verbotsantrag nebeneinander hält. Immerhin kann man dieses Pa-Hö aber auch so deuten: Das kleine Ferkel macht seine Sache hervorragend. Denn das Bilderbuch soll ja zeigen, wie Religionen mit krassen Phantastereien die wildesten Dinge mythos-bastamäßig behaupten. Wem nutzen solche religiösen Irrationalismen wohl mehr: Den Schäfchen, oder den Hirten? Und wenn man auf die Mythen- und Phantasmenkerne der Religionen zu sprechen kommt, kann man eigentlich gar nicht anders, als diese der Lächerlichkeit preiszugeben. Sich selbst herabsetzten tun jene, die mit Hirngespinsten noch großgesellschaftlich Gestaltungsmacht an sich reissen wollen, nicht jene, die darauf aufmerksam machen.

Exemplarisch für die Einseitigkeit fundi-religiöser Denke und Selbstdarstellung ist ein Bericht zum Verbotsantrag beim »Pro Christliches Medienmagazin«. Da wird über die Macher des Ferkelbuches, bzw. den neuen Atheismus den sie vertreten geschrieben, sie seien ›sendungsbewusst‹ und führten ihren Kampf gegen den Glauben mit ›missionarischem Eifer‹. Naja, kein Wunder dass man als Anhänger von (noch) priviligierten Spiritualitätsverwaltern da schnell mal pikiert reagierend auf seinem Monopol hockt und anderen das Recht auf Mission nicht gönnt. Wie wär’s mal zwecks Glaubwürdigkeitsaufbesserung mit einem kritischen Artikel zu Konkordatslehrstühlen bei Euch, liebes »Pro Chistliches Medienmagazin«?

Habe ich also gleich mal das blaue Solidaritäts-Netzbildchen hier unter Verwendung von Motiven aus Nynckes Zeichnungen gebastelt, weil das erste Webbanner zur Verteidigung der Ferkel-Meinungsfreiheit zu breit für die Molochronik ist. Mittlerweile hat man bei Alibri beschlossen, mein Banner zu übernehmen. Danke für die Ehre!

Molos Empfehlungen für Web-Glotzer

(Eintrag No. 410; Gesellschaft, Medien, Phantastik, Bildung & Unterhaltung) — Obwohl ich schon einige Monate mit einer komfortablen Breitbandleitung durchs Web gurke, habe ich erst in diesem Monat angefangen, mich in entsprechenden Portalen umzuschaun, wie es um lohnende Filmchen bestellt ist. Hier eine mehr oder weniger munter-unsortierte Auswahl lohnender Clips und Streams.

Kann sein, daß meine Links nicht lange online, oder die entsprechenden URLs schnell wieder unaktuell sind und wieder verschwinden. Gebt halt ggf. als Kommentar hier bescheid, wenn dem so sein sollte.

Den Anfang macht das einzige Web-TV-Angebot der öffentlich-rechtlichen, das ich regelmäßig verfolge: »Das Philosophische Quartett« mit Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski. Für mich, der ich mir kaum leisten kann abends mal aufn Bier zum Klönen wohinzugehen, sozusagen mein Stamtischersatz. Glaubt bloß nicht, ich nehm alles ernst, was die Damen und Herren des Quartetts so daherphilosophieren. Aber genau das, Daherphilosophieren (und zwar unaufgeregt), ists, was diese Sendung für mich so reizvoll macht. Leider reicht das Archiv nicht allzuweit in die Vergangenheit.

Ein Abend mit Neil Gaiman. Ich habe Gaiman ja im Frühjahr 2007 in Leipzig erlebt und kann sagen: Der Mann weiß, wie man einen vergnüglichen Leseabend gestaltet. Der hier verlinkte Fora.tv-Beitrag dauert fast 2 Stunden. Neil liest aus neustem Kurzgeschichtenband »Fragile Things«, inkl. Frage und Antwortspiel. Nict versäumen sollte man die Story »Secret Brides Of The Faceless Slaves Of The Forbidden House Of The Nameless Night Of The Castle Of Dread Desire«, ein Muss für alle, die eine deftige Parodie auf Gothic Novel-Schwulst abkönnen (zugleich aber auch eine köstliche Verteidigung der Phantastik). — Knackig auch Neil Gaimans Gedanken über Horror- und Weird Fiction Papst H. P. Lovecraft.

Apropos H.P.L.: Hier gibt Howard Philip Lovecraft Auskunft (1933). Fast möcht ich meinen, daß es sich hier um einen geschickten Fake handelt, aber der Clip wurde augenscheinlich von Lovecraft-Experten S.T. Joshi beigesteuert.

J.R.R. Tolkien spricht über die seine Mythologie. Man braucht schlaue Ohren, um das murmelnde Gebabbel vom Papa Hobbit zu verstehen, aber es lohnt sich. Was dieser Clip zeigt: Ian McKellen hat alle zuhandenen Filmaufnehmen des Meisters studiert und gibt als Gandalf eine beeindruckende Hommage auf Tolkien.

Richard Dawkins: Der streitbare Atheist, Autor von »Das egoisische Gen« und dem jetzt vieldiskutierten »The God Delusion« geht in Teil 1 den Wirrnissen des Aberglaubens (Astrologie & Co) nach, in Teil 2 widmet er sich der Scharlatanerie alternativer Heilmethoden (Homöopathie & Co.).

Der Neurologe, Humorist, Theater- und Opernregiesseur Jonathan Miller hat für die BBC versucht eine »Rough History of Atheism« auszubreiten. Kein leichtes Unterfangen, haben doch aus Angst vor gröberer Unbill lange Zeit Atheisten gezögert, sich als solche zu outen. Die Dokumentation hat drei Teile, die jeweils in etwa 10-minütige Clips aufgeteilt wurden. Hier zu den ersten Abschnitten von Sendung eins (»Shadows of Doubt«), zwei (»Noughts and Crosses«) und drei (»The Final Hour«). — Eine der schönsten Gemmen dieser Reihe ist Millers Unwohlsein mit dem Begriff ›Atheist‹. Immerhin: Warum sollte man speziell dem Nichtglauben an GOtt (oder Göttern) einen eigenen Namen geben? Gibt es ein besonderes Wort für Menschen, die nicht an Geister, Kobolde und Einhörner glauben? Eben. — Zusätzlich hat Jonathan Miller mit einer Reiher prominenter Nichtgläuber (und einem Gläubigen) Interviews geführt, die schon in seiner »Rough History« gekürzt verwendet wurden. Unter dem Titel »Atheism Tapes« kann man aber die ganzen Gespräche goutieren. Hier gehts zu den jeweils ersten Clips der Interviews mit Colin McGinn (Wissenschafts-Philosoph), Steven Weinberg (Physiker), Arthur Miller (Dramatiker), Richard Dawkins (Biologe), Denys Turner (Theologe), Danniel C. Dennett (Wissenschafts-Philosoph). — Wer nicht glotzen will, kann die kompletten Transkripte der Gespräche hier lesen.

Nach so viel ernsten Zeug über Glauben und Nichtglauben, hier noch ein Clip mit den englischen Humoristen, Schauspielern und Autoren Stephen Fry und Hugh Laurie, die in England berühmt sind für ihre Sendung »A Bit of Fry & Laurie«. — Unsterblich genial ist dieser Scetch »On Language«. Jupp: so isses.

Und als Schlußzuckerl schließlich noch zu den beiden haarsträubend grotesken kurzen Filmchen des amerikanischen Animationskünstlers Bill Plympton (einigen Freaks hierzulande bekannt als Schöpfer des gandiosen Films »The Tune«): »How to Kiss« und »25 Ways to Quit Smoking«.

Viel Vergnügen.

Öffentliche Petition zum Religionsunterricht an öffentlichen Schulen

(Eintrag No. 408; Gesellschaft, Großraumphantastik, Bundestags-Petition) — Gerade im deutschen Brights Blog gelesen: endlich tut sich was in Sachen Kritik und Aktion gegen §7 des Grundgesetztes. Dort steht nämlich (noch):

Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.

Ich bin ja schon lange der Meinung, daß Kinder und Jugendliche einen neutralen ›Lebenskunde‹-Unterricht erhalten und neutral und vor allem vergleichend über Religion informiert werden sollten. Die Privilegien der etablierten, organisierten Religionen in Sachen Unterricht (aber auch z.B. bezüglich deutscher Militärseelsorge, Konkordatslehrstühlen, Finanzierung der Ausbildung von Geistlichen usw ect pp ff) sind alles andere auf der Höhe des bei uns ja nur widerwillig geduldeten pluralistischen Informationszeitalters.

Wer, wie ich, etwas tun möchte, damit vielleicht in absehbarer Zeit der Mißstand des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen behoben wird, lese bitte hier den Text der Bundestags-Petition und raffe sein (humanistisches, aufgeklärtes) Herz auf, um diese Einreichung mit seiner ›Unterschrift‹ zu unterstützen. Dazu ist noch Zeit bis zum 27. Oktober 2007.

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