Eintrag No. 713 — {Entschuldigt die Verspätung. Habe diesen Beitrag am Dienstag, kurz vor Mitternacht abgeschickt, jedoch versehentlich nicht ›sichtbar‹ und ›öffentlich‹, sondern nur ›geschlossen‹ und ›versteckt‹.}
Aus dem Urlaub zurück, und werde auf der Arbeit gleich frühest morgens empfangen von einem aufgelösten jungen Mädel, das wohl die Nacht durchgemacht hat, und der von gemeinen Kerln die Handtasche geklaut wurde, und die nun ohne Kohle, ohne Ausweis, ohne MobTel, kurz: ohne alles verzweifelt jemanden braucht, der sie mal telephonieren lässt, damit ihr Beau oder Bruder oder Pappa oder Onkel sie abholen kommt. Tja, das ist die Stunde für einen hilfsbereiten Sicherheitsmensch.
Nach diesem Stress habe ich mir eine Streicheleinheit für die Seele verdient, also her mit der Schmalzgranate »Dolphins Make Me Cry« von Martyn Joseph. (»Ducks Make Me Laugh« oder »Hyenas Make Me Nervous« würd ich ja verstehen.).
Lektüre:
Noch während meines Berlin-Urlaubs gekauft (im Otherland-Buchladen) und dann ziemlich flott gelesen: »Horror als Alltag. Texte zu ›Buffy the Vampire Slayer‹«, herausgegeben von Annika Beckmann, Ruth Hatlapa, Oliver Jelinski und Birgit Ziener mit insgesamt 9 Texten (nicht nur zu »Buffy«, sondern auch zu dem Ableger »Angel«), die ich alle für lesenswert und kurzweilig halte. — Besondere Freude hat mir (wieder mal) Dietmar Dath bereitet, der sich in seinem Beitrag »Versuch, ›Restless‹ zu verstehen« einer besonders außergewöhnlichen Folge von »Buffy« annimmt. Gegen Ende seines Textes bringt er etwas schön auf den Punkt, was auch eine Prämisse meiner ›Hyper-Mega-Maxi-Phantastik‹-Theorie ist (S. 122):
Die Wirklichkeit ist ein Dreieck: Du, ich, die Sachverhalte. Niemand erlebt Tatsachen. (Das heißt nicht, wie unverständige Leute lehren, dass es keine Tatsachen gibt.) Was man aber erleben kann, sind Tatsachen in ihrer Beziehung zu den Vorstellungen, die wir uns von ihnen machen. (Das heißt nicht, wie unverständige Leute lehren, dass es nur Vorstellungen gibt. Die Vorstellungen sind ja Vorstellungen von etwas, also muss es etwas geben, daß für die Vorstellung ihr Anderes ist, auf das sie sich beziehen lassen.) Weil sich all das so verhält, ist jede realistische Kunst, das heißt: jede Kunst, die sich dafür interessiert, wie die Welt der Menschen wirklich ist, zwingend zugleich fantastische Kunst – sie stellt ihre Beobachtungen in den Zusammenhang der kollektiven Fantasien, die bei Menschen jede Beobachtung begleiten, vorbereiten, verarbeiten, auslegen helfen.
Letzte Woche konnte ich schon Neues von Master Neal Stephenson melden, und es geht diese Woche munter weiter.
Über die Website von Stephenson habe ich entdeckt, dass er einen Text zum neuesten von Bill Bryson herausgegebenen Buch »Seeing Further – The Story of Science, Discovery, and the Genius of the Royal Society« beigetragen hat. Stephenson beleuchtet in seinem Text »Atoms of Cognition: Metaphysics in the Royal Society, 1715-2010« ein Thema, das auch in seinem gloriosen »Barock-Zyklus« eine bedeutende Rolle spielt: die Konkurrenz zwischen Isaac Newton und Gottfired Wilhelm Leibnitz. Die zweite Hälfte des Beitrages bietet eine gelungene und verständliche Zusammenfassung der Monaden-Theorie von Leibniz, also der Idee, dass kleinste ›denkenden‹ Einheiten die Grundbausteine des Universums sind, und wie diese Idee im Lauf der Zeit aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. — Zu den 21 Autoren und Autorinnen des reichlich bebilderten Buches gehören unter anderem Margaret Atwood, Richard Dawkins, Paul Davis und Ian Steward.
Netzfunde
Eine beängstigende Veranschaulichung zu dem im Golf von Mexico ausgelaufenen Öl hat Chris Harmon gestaltet: Oil’d.
Rüdiger Suchsland, bespricht wie (fast) immer amüsant einen Genre-Knaller. Diesmal den nordgöttischen FußballSuperheldenfilm von Kenneth Brannah, »Thor«: Kampfstern Galactica mit Hörnern am Helm. Leider werde ich diesen Flick wohl erst auf DVD sehen können, denn in Frankfurt läuft er nur zu für mich blöden Zeiten auf Englisch.
Für ›Der Standard‹ hat Josefson wieder eine seiner wunderbaren SF- und Fantasy-Sammelrezensionen geschrieben: Weiterwursteln nach dem Weltuntergang? — Diesmal mit Rezensionen zu Büchern von Will McIntosh, Alastair Reynolds, Larry Niven & Edward M. Lerner, Daryl Gregory, George R. R. Martin (ja ja, ich sollte, könnte eigentlich etwas zu den ersten drei Folgen der TV-Umsetzungen von »A Game of Thrones« sagen, aber ich bin bisher noch so unterwältigt, dass ich mich lieber zurückhalte; prinzipiell halt offenbar nicht meine Tasse Tee), Peter Clines, Paul Melko, K. J. Parker, Lorna Freeman, Michael Marcus Thurner sowie einer Übersicht zu Büchern über Retrofuturismus.
Matthew Cheney hat sich dem Wahnsinnsunternehmen gewidmet, Neil Gaimans »The Sandman« komplett zu lesen und Heft/Kapitel für Heft/Kapitel seine Eindrücke zu beschreiben: Sandman Meditations. Besonders interessant ist dieses Projekt deshalb, weil Cheney freimütig zugibt, nicht viel Ahnung von Comics/Graphic Novels zu haben.
Ich freue mich, eine neue SF- & Fantasy-Podcast-Show entdeckt zu haben, die mir gefällt und die ich allen Phantastik-Interessierten mit gutem Gewissen empfehlen kann: Geeks Guide to the Galaxy. Ich habe mir gleich mal die Folgen mit Charles Yu, Paolo Bacigalupi und Cherie Preist geholt.
Jeff Vandermeer hat in seinem Blog ›Ecstatic Days‹ eine kurzweilige Zusammenfassung seiner Erfahrungen und Erkenntnisse bezüglich SF- und Fantasy-Cons veröffentlicht: Convention Truths.
Zuckerl
Supertoll!!! Quentin Tarantinos nächster Film steht fest: Django Unchained. Als Dasteller dieses Westerns stehen (gerüchteweise) bereits Christoph Walz und Franco Nero in den Startlöchern.
Ich bin immer noch auf dem Kubrik-Tripp, und finde dementsprechend diese von Martin Woutisseth gestaltete, animierte Rückschau auf die Werke des Meisters einfach schön: Stanley Kubrick – A Filmography.
›Ufunk‹ präsentiert zwei schöne Alphabete von Fabian Gonzalez. Die Superheldenbuchstaben finde ich nicht so prickelnd, aber gelungen finde ich das Simpson Alphabet.
Steve Thomas hat nützliche und beherzigenswerte Propaganda-Poster für Büros entworfen: Office Propaganda Poster.
Eintrag No. 677 — Am Samstag zum ersten mal Googles ›Straßenschau‹ ausprobiert. Schon mal 'ne geschmackliche Entgleisung, dass Google als Beispiel auf der ›Wie geht's‹-Seite die olle Siegessäule zeigt. Aber ab nach Frankfurt: Das Haus, in dem die Molochronik entsteht muss freilich verpixelt sein (damit man die Bombenwerkstatt im Hof nicht sieht). Sehr cool, sich wie ein Geist auf Trip die Straßen entlang zu klicken. Überhaupt ist die Straßenschau bemerkenswert gespenstisch: ich nähere mich auf der ›Am Brennhaus‹-Straße dem Südost-Eck des Altgriesheimer Parks, in Klicks von ca. je 5 Metern. Zuerst seh ich nur das Telefonhäuschen und wie ein Kerl mit grauem Pullover und Fahrrad an selbigen vorbeispaziert. Klick. Der Kerl nun im Gespräch mit einem anderen Mann mit scharzem T-Shirt, der auf einer Fahrradabsperrstange sitzt. Klick. Ein dritter Kerl mit rotem Shirt gesellt sich dazu. Klick. Nun ganz nah dran, der Mann in rot ist weg. Die anderen beiden sitzten lässig auf der Stange, der eine mit Fluppe in der Hand. Klick. Ich guck aus westlicher Sicht das Eck an, und holla, da ist der Kerl mit dem rotem Shirt wieder.
Durchaus schön, dass die Straßenschau eine meiner Lieblingsmauern im Viertel konserviert hat. ›Am Gemeindegraben‹, nahe der S-Bahnhaltestelle, gleich gegenüber einer Trinkhalle namens »Die Blechtrommel« ist diese sehr aparte Backsteinmauer, bis auf halbe Höhe aus dunklen Ziegeln gesetzt. Inzwischen wurde sie leider verputzt und sieht entsprechend fad aus.
Höhepunkt der Ironie: guck ich vom Paulsplatz / Braubachstraße in Richtung Südost, sehe ich ein Banner der Schirn Kunsthalle über den Zugang zum Römerberg gespannt. Und was für eine Ausstellung wurde da angepriesen, als der Google-Wagen sein Photo schoss?: »Die Totale Aufklärung«.
<img src="www.antville.org" align="right" style="margin-left:10px; margin--bottom:5px;"alt="Schuberzierbild von Arno Schmidts »Zettel’s Traum«, gesetzte Ausgabe der Arno Schmidt-Stuftung im Suhrkamp Verlag..">Lektüre: Dreissig Seiten weiter mit »Zettel's Traum« und damit jetzt knapp an der 100-er-Marke. Schön langsam beginnt sich ein steter Lesespaß einzustellen. Ich les das Trumm wärend ich Essen warm mache, oder auch auf dem Klo (kleine sportliche Übung in Kniebalance). Auch wenn ich 'ne Zielscheibe abgeben mag, von wegen, die ganzen Sex-Wortspiele von Arno Schmidt sind noch so was von verklemmten Altherrenzoten, yadder yadder yadder … ich steh dazu, dass mir dieses Riesenwerk Vergnügen bereitet. Freilich bin ich nich so begeistert über die ganzen Sigmund Freud-Anteile, aber einige Hypothesen dieser großen Analyse zum Werk und Wesen von Edhar Allan Poe scheinen mir doch plausibel zu sein. — Unbedingt empfehlen kann ich die die ersten ausführlicheren Einträge in Bonaventuras »Zettel's Traum lesen«-Blog, die sich beide lediglich der ersten Seite widmen: Seite 1 (1) und Seite 1 (2). Wenn der in dieser Ausführlichkeit weitermacht, dann stellt dieses Blog nicht weniger als eine echte Sensation dar. — Von der Rezensions-Front lässt sich diese ausführliche TAZ-Besprechung von Stephan Wackwitz vermelden: Neuentdeckung eines Dinosauriers. Wie heißt es dort so schön:
Die Wahrheit über Schmidts Spätwerk besteht wahrscheinlich darin, dass es, viel deutlicher als die meisten anderen inkommensurabel großen Bücher, beides zugleich ist. Große Kunst und kompliziert ausgearbeiteter Dachschaden. Und die Schwierigkeit und vielleicht Unmöglichkeit, sich zwischen diesen beiden Lesarten zu entscheiden, {…}
Und ich mag (unter anderem) genau dieses Flirren.
Unterwegs verköstige ich derweil das erste der »Titus«-Bücher von Mervyn Peake in der Neuausgabe, »Gormenghast: Der junge Titus«. Ich habe »Gormenghast« vor ca. 15 Jahren schon einmal auf Deutsch, und vor ca. vier Jahren dann endlich mal auf Englisch gelesen. Weiterhin bin ich fasziniert davon, wie ungewöhnlich dieses Werk, wie spannend und bezaubernd es ist, obwohl (vor allem auf den ersten 200 Seiten) eigentlich ziemlich wenig geschieht. — Aber: desto länger ich die Umschlaggestaltung der neuen Ausgabe anguck, um so mehr enttäuscht sie mich. Immerhin ist der neue Schriftsatz nun sehr angenehm zu lesen. Die deutsche Erstaushabe war diesbezüglich ein Graus (aus einer Zeit, in der die Hobbittpresse viele schräcklich gesetzte Bücher produziert hat). — Und ich bin enttäuscht und somit grummelig auf die deutsche phantastische Internetgemeinde, denn bisher sind nirgendwo besprechende Rezis, Blog- oder Forumbeiträge zu der Neuausgabe aufgetaucht (wenn, dann hab ich sie übersehen, und will nichts gesagt haben).
Ansonsten: Hatte mal wieder drei Tage am Stück frei und mehr oder minder durchgemacht um ordentlich voranzukommen mit einem Übersetzungsprojekt (sehr feine SF- & Phantastik-Kurzgeschichten). — Zur Entspannung habe ich mir Folgen der zweiten Staffel von »Star Wars: The Clone Wars« gegönnt, der, wie ich ketzerisch juble, besten Inkarnation von ›Star Wars‹ für meinen Geschmack. Hier passen Anspruch, Form, Inhalt und Stil endlich kongenial zusammen.
›Humanistische Presse-Schau‹ präsentiert: Carsten Frerk kommentiert die Antworten der Katholen auf Fragen über ihre Finanzierung und Stellung zum Verhältnis Staat & Kirche: Kirchenfinanzierung: Fragen und Antworten.
(Deutschsprachige) Phantastik-Funde
›PhantaNews‹ hat ein ausführliches Interview mit der von mir sehr geschätzten Ju Honisch geführt: »Das was man selbst am meisten mag, macht man auch am besten«. Nicht nur, weil ich die ersten beiden Bände ihrer historischen Fantasyromane der (ich nenn die mal so) ›Fay-Welt‹-Romane probegelesen habe, lobpreise ich diese bei ›Feder & Schwert‹ erschienenen Bücher. Sie stellen in meiner Lektüreauswahl eine Ausnahme dar, da ich Reihen ja eher scheue. Aber die Mischung, die Ju da mit kurzweiligen Stil zusammenzaubert überzeugt mich (siehe meine Rezension zu »Das Obsidianherz«).
Catherynne Valente, Autorin von »Palimpsest« (würd ich gern testen, kam aber noch nicht dazu) zeigt sympathischerweise, dass man keineswegs auf andere Menschen angewiesen ist, um eine fetzige Diskussion zu führen. Man Frau alleine reicht. Zuerst lässt sie diese lange Uffregung vom Stapel, warum ihr die große Steampunk-Welle auf den Geist geht: Here I Stand, With Steam Coming Out of My Ears, rudert aber etwas erschrocken über die Heftigkeit ihres Zeterns mit Steampunk Reloaded zurück, und zählt dann schließlich auf, was sie asn Steampunk doch mag: 10 Things I Actually Do Love About Steampunk.
Zuckerl
Ganz toll finde ich die Illustrationen von Farl Dalrymple, vor allem die Eiblicke in seine Skizzenbücher. Seine Art zu kolorieren erinnert mich an einen Enki Bilal, der noch nicht dem Solepsismus der Coolheit seiner eigenen Deprisphären verfallen ist. Delrymple bietet z.B. feine »The Sandman«-Charaktere, wie Death, Marv Pumpkinhead, Zelda & Chantal und Delirium. — Und das hier ist vielleicht das typische ›residual self image‹ eines Genre-Fantasy-Fans?
Franziska Felber hat für ›Die Welt‹ einen schönen Text zum 25-jährigen Jubiläum von ›Calvin & Hobbes‹ verfasst: Ein Anarchist und sein Plüschtier.
›A Journey Around My Skull‹ präsentiert die Illus von Harry Clarke zu Goethes »Faust« (die z.B. Neil Gaiman sehr zu schätzen weiß).
Ganz großer Spaß! Der unvergleichliche ›Distressed Watcher‹ nimmt in drei »Let’s Watch«-Vcastfolgen den »Twillight«-Film auseinander Folge eins, Folge zwei & Folge drei. Nützliche gelernte Vokal diesmal: ›das Nullodrama‹.
Eintrag No. 645 — Diese Woche gibts viel Zuckerl. Keine nennenswerten Ereignisse bei mir diese Woche, außer, dass ich die Molochronik bei Flattr angemeldet habe.
Flattr ist ein Weg, mit kleinen Gutschreibungen einen Internetbeitrag zu entlohnen. Wer bei Flattr angemeldet ist und über ein Guthaben verfügt, kann derweil einmal im Monat der Molochronik etwas spenden (siehe Flattr-Button oben in der rechten Säule). — Sobald ich dazu komme, werde ich die aufwendigeren ›de luxe‹-Einträge der Molochronik mit eignen Flatter-Buttons ausstatten. — Und ich freue mich natürlich, dass ich nach drei Tagen schon einmal geflattert wurde (kein Vergleich freilich zu wirklich beliebten Websites).
NETZFUNDE
Spannend ist der Briefwechsel von Marvin Oppong mit der Stadt Duisburg den »Carta« bietet. Oppong will Einsicht in die Genehmigungsunterlagen der Love-Parade, die so tragisch-tödlich verlaufen ist. Die verschiedenen Behörden mauern, unterschiedliche Auffassungen des Informationsfreiheitsgesetztes prallen aufeinander.
Leider hatte ich noch nicht die Zeit, ausführlich im neuen Gruppenblog der »F.A.Z.«, Deus ex Machina, zu stöbern. Dort soll berichtet werden …
… getreulich und mit Plaisir {…} von den göttlichen Internetmaschinen neuester Art, ihren Berechnungen unberechenbarer Weis- und Torheiten, und ihrem Wirken zum Gedeih und Verderb der menschlichen Art hienieden auf Erden {…}
Sehr gute Besprechung des Films »Agora« im Oliblog. Ich hab den Film im Kino gesehen, obwohl er ›nur‹ auf Deutsch lief. Auch wenn man sich bei der Nacherzählung des Martyriums der durch Fundi-Christen getöteten Bibliothekarin von Alexandria große Freiheiten die historischen Details betreffend genehmigt hat, bietet der Film ein bewegendes Drama und versteht es, weltanschauliche Streitfragen und ihre Verquickung mit einzelmenschlichen Zwängen ergreifend darzustellen. Allen Jungfrauen beiden Geschlechts zur inniglichen Beherzigung anempfohlen
Interviews mit zwei von mir sehr geschätzten Autoren habe ich diese Woche entdeckt: einmal spricht »io9« mit China Miéville über seinen neuesten Roman »Kraken«, warum er Joss Whedons Zeug mag und J. J. Abrams’ Zeug nicht; — und zweitens hat Matt Ruff der Seite »The Author Speaks« Fragen beantwortet, z. B. zum ›Lustiger Schwarzer Kerl‹-Klischee in Äktschnfilmen und seinen nächsten Roman »The Mirage«.
»Inception« ist einer dieser Filme, die das Publikum zum Deuten herausfordern. (Gehört zu den großartigsten Dingen, die ein Film fürs Massenpublikum leisten kann. Statt hinterher nur darüber zu babbeln, was cool, was nicht cool war, werden die Zuschauer animiert, weiter zu fabulieren und philosophieren.) — Peter V. Brinkemper hat für »Glanz & Elend« eine ausführliche Rezension über Christopher Nolans »Inception« geschrieben, die ich als (im besten Sinne) schwurbelige, schwindelerregende Cinemaskopie-Poesie bezeichnen kann. Der Text hat mich beim ersten Lesen etwas verstörend amüsiert (hatte z.B. den Verdacht, der Text sei zu fremdwortversalzen), doch die Zweitlektüre versetzt mich in einen schmunzelnden Sprachrausch, durch Sätze wie folgenden:
In »Inception« sind Träume und Traumzustände lebendige Membrane von anwesenden und unsichtbaren, aber spürbaren Ereignissen, Träume werden durch Kollektivschaltung zu sanften oder heftigen Dramen, immer noch intersubjektiv beeinflussbaren Situationen und relativ klaren Bewusstseinszuständen, zwischen rationaler Konstruktion, gezielt eingreifender, dominanter Manipulation und unwillkürlich subjektiver Projektion.
Nix Neues, aber eben letzte Woche von mir entdeckt, nämlich dass es eine Web-Site zum Werk des grandiosen deutschen Zeichners Hans Georg Rauch gibt. H. G. Rauch ist vielleicht am bekanntesten durch seine Illustrations-Reihe ›ZEITzeichen‹ für das große Hamburger Wochenblatt. Ist aber schon viele Jahre her. Rauch kann Wimmelbilder schraffieren wie nur wenige. Vor allem seine Auseinandersetzungen mit Strukturen, den Themen Landschaft und Architektur sind atemberaubend. Leider sind die Wiedergaben im Netz oft zu klein für diese detailreichen Meisterwerke.
ZUCKERL
Der ›Nostaligia Critic‹ hat einen dreiteiligen »Animaniacs« Tribut erstellt, in dem er Glanzmomente dieser Cartoon-Reihe zeigt und mit den Autoren & der Autorin (die teilweise auch Sprecher bzw. Sprecherin einiger Figuren sind) einen ausführlichen & erhellenden Plausch geführt. Ein Muss für Freunde des höheren Blödsinns.
Habe die Seite Springfield Punks entdeckt. Hier entwerfen Freunde der Familie Simpson selbst ihre gelbhäutigen Springfield-Versionen bekannter Figuren, von denen es eben noch keine Simnpson-Version gibt. Hier z.B. die »Watchmen«-Hauptfiguren im Matt Groening-Stil. Kann man bitte mal den ganzen Comic so machen?
Apropos ›Comic machen‹: Mahendra Singh zeichnet phantastische Illustrationen mit klassisch-altmodischem Strich (erinnern mich an Emlematik-Zeichnungen und Max Ernst). Ich freue mich schon auf den von ihm zum Graphic Novel hoch-illustrierten Lewis Carroll-Schaffenshöhepunkt »The Hunting of the Snark«, der im November erscheinen wird. In Mahendras Blog »Just the place of a Snark« kann man den Werdegang der Illustration vom Mai 2007 an verfolgen. — Hier als Beispiel die Doppelseite 10/11 des kommenden Buches, aus dem ›Second Fit‹ (›Zweiten Krampf‹).
Dritter Teil von Molos Empfehlungen von Neil Gaimans
inkl. »Hilfreicher Handreiche« über mythologische, historische und literarische Anspielungen.
Eintrag No. 484 — Der dritte Band der zehnteiligen Großerzählung vom Wandel des Herrschers der Träume, »Traumland«, versammelt vier für sich allein stehende Kurzgeschichten, die 1991 als Einzelhefte Nr. 17 bis 20, und im Englischen als Sammelband 1995 erschienen sind.
Der kleine Wermutstropfen der ansonsten prächtig gelungenen Ausgabe von Panini Comics sei gleich zu Beginn abgehandelt: Leider wurde das im englischen Sammelband wiedergegebene Manuskript zu dem Heft »Kalliopie« nicht für den deutschen Band übernommen. Gaiman und sein Team gewähren darin ihren englischsprachigen Lesern einen interessanten Einblick in den Herstellungsprozess der Comic-Kunst, wenn sich die 39 Seiten Text-Skript vergleichen lassen mit den 24 Seiten Comic. Es ist aufschlussreich dort zu verfolgen, wie ausführlich der Autor Gaiman im lockeren Ton eines an die Zeichner gerichteten Briefes Beschreibungsaufwand leistet, um der Illustratorenarbeit möglichst hilfreich zuzuarbeiten. — Aber außer dem Fehlen dieses Manuskriptes gibt es wirklich nichts zu jammern über die Panini-Ausgabe. Wie schon ihre beiden Vorgängerbände »Präludien & Notturni« und »Das Puppenhaus« trumpft sie auf mit einem gestochen klaren Druck und der leuchtenden, nuancenreichen Digital-Kolorierung. Wahrlich, eine Augenweide.
»Traumland« bietet einen erfrischenden Sprung raus aus dem bisherigen großen Erzählstrom der Reihe. Von Beginn an war es eine Absicht von Gaiman bei der Gestaltung von »The Sandman«, zur Abwechslung zwischen den längeren Geschichten, deren Handlungsbögen sich über mehrere Kapitel/Einzelhefte spannen, abgeschlossene Einzelerzählungen zu bieten. Insgesamt aber werden alle Sammelbände und die Sandman-Geschichte im Ganzen geprägt, von dem auffälligen Merkmal des verschachtelten Ineinander von Geschichten in Geschichten. Strukturell steht Sandman damit solchen Potpourrie-Schatzkammern wie »1001 und eine Nacht« oder Jan Potockis »Handschriften von Saragossa« nahe, und kann sich ohne dass man übertreiben muss, als moderne, eben im Comicmedium dargereichte Variante derartiger ehrenvoll-wilder Fabulations-Klassiker gelten.
Zur Erinnerung: Band 1, »Präludien & Notturni« hat uns die manchmal nur am Rande auftretende Hauptfigur des Epos, den Herren der Träume, Morpheus, Dream, vorgestellt, und wie dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem englischen Scharlatanmagier beschworen und gefangen gesetzt wurde; wie Dream nach vielen Jahrzehnten erst in den Achtzigerjahren seinem Kerkermeister entkommt und langsam seine Kräfte wiedererlangt und sich auf eine Quest begibt, um die wichtigsten und machtvollsten seiner zwischenzeitlich verstreuten Herrschaftsartefakte einzusammeln. — In Band 2, »Das Puppenhaus«, kümmerte sich Morpheus dann um die Restauration des in seiner langen Gefangenschaft verwahrlosten Traumreiches. Vier der machtvollsten Traumreichbewohner waren ausgebüchst und sorgten in der Menschenwelt gehörig für Angst und Schrecken. Außer um diese Ausreisser, hatte sich Morpheus auch noch um einen alle Träume erfassenden Wirbel zu kümmern, der sich in Gestalt der jungen Frau Rose manifestierte. Nebenbei lernten wir zwei Geschwister von Dreams seltsamer Familie der ›Ewigen‹ kennen (eine siebenköpfige Sippe menschenförmiger, universeller Prinzipien deren Namen im englischen alle mit ›D‹ beginnen): seine ältere Schwester Tot (Death, die als überraschend gut gelauntes und bodenständiges Grufi-Chick daherkommt) und die/den gegen Morpheus intrigierende(n) geschlechtsneurtale(n) Begierde (Desire).
Mit Band 3 hat Gaiman seine bis dahin etwas tastende anfängliche Suche nach dem richtigen Ton und Rhythmus der Sandman-Comics endgültig abgeschlossen. Das soll nicht heißen, dass die Geschichten der ersten beiden Sammelbände misslungen sind, auch wenn dort noch bisweilen einige etwas umständliche Schlenker oder etwas unelegante Huppel im Erzählfluß bemerkbar sind. Immerhin ist die Ambition, die Gaiman bei seiner Saga antrieb, repekteinflößend und die gesteckten Ziele alles andere als Kinderspiele. So zeichnet sich Sandman von Beginn an durch eine äußerst eng gewobene und geschickte Mischung von alten Mythen, klassischer Literatur mit älterer und zeitgenössischer Popkultur aus, die miteinander verflochten eben nichts weniger ergeben, als eine große Geschichte über das Geschichtenerzählen selber, eine Geschichte über die Kraft von Mythen, jene trügerischen Wunschvorstellungen die mal als Orientierung, mal als Irreführung über die großen Zusammenhängen des Daseins berichten, hier vor allem über Erinnerung, Verlust und den Wunsch und die damit verbundenen Schwierigkeiten, wenn man sich verändern, formen will.
Zu den vier Geschichten von »Traumland« im Einzelnen.
»Kalliope«: Hier treten antike Gestalten in der modernen Welt auf, und eine unheimlich-spöttische Erzählung über das moderne Schriftstellerdasein wird geboten. Die Muse Kalliope wird als inspirations-liefernde Sklavin gehalten und von einem altem Schriftsteller in London an einen jungen Horror-Autoren für ein alchemistisches Artefakt eingetauscht. Von zwei der beklemmensten Schrecknissen aller Kreativen wird dabei berichtet: einerseits die Marter, wenn großer Tatendrang mit der Angst vor Ideenlosigkeit einhergeht und andererseits die ruhelosen Qualen eines überbordenden Ideenreichtums.
»Der Traum von 1000 Katzen« ist natürlich ein Fest für alle Katzenfreunde, wenn hier bei einem nächtlichen Treffen auf einem Friedhof eine versammelte Felidenschar einer Katzenerzählerin lauscht, die von ihrer Reise zum König der Träume erzählt (der sich in seiner Gestalt immer gemäß der ihm Begegnenden anpasst und hier als große schwarze Katze mit rotleuchtenden Augen auftritt). Diese Geschichte führt die Fähigkeit kraftvoller Phantastik vor wenn es darum geht, die menschliche Perspektive zu überwinden, und von ein paar Schritten Seitwärts der Wirklichkeit, in diesem Fall aus der Sicht von Katzen, über große Not und sinnstiftende Visionen (oder sind es nur scheinbar Hoffnung machende Truggebilde?) nachzudenken.
»Ein Sommernachtstraum«: Diese Geschichte ist für viele ein heißer Kandidat, wenn es um die Frage geht, welches der 75 Kapitel/Einzelhefte von Sandman die aller aller beste ist. Und tatsächlich erregte dieses herausragende Meisterstück der Sandman-Saga über die comiclesenden Phantastikzirkel hinaus für Aufsehen, als es 1991 den ›World Fantasy Award‹ als beste Kurzgeschichte gewann (woraufhin eine Regellücke des Wettbewerbs gekittet wurde, auf Drängen derer, die sich empörten, dass so eine ›unwürdige‹ Medienform wie eine Comicerzählung diesen altehrwürdigen Preis einheimsen konnte, und seitdem können nur noch Prosawerke diesen Preis gewinnen). — »Ein Sommernachtstraum« ist eines von zwei Sandman-Kapiteln, mit denen Gaiman dem großen William Shakespeare seinen Respekt zollt. Die zweite, »Der Sturm«, wird erst als letztes Kapitel den Sammelband »Das Erwachen« und damit als Epilog das ganze Epos abschließen. Shakespeare ist hier nun in Sussex unterwegs und gibt mit seiner Truppe eine exklusive Premieren-Sondervorstellung für eine illustrere Schar aus dem Feenreich, angeführt von niemand anderem als Titania und Oberon selbst, und der lustig-unheimliche Droll (auch als Puck bekannt) ist auch mit von der Partie und macht sich auf und davon für seine spätere, wichtige Rolle in der großen Sandman-Geschichte.
»Fassade«: Mit dieser Geschichte widmet sich Gaiman einer vergessenen Superheldin der 60er-Jahre, um ihr eine tragisch-melancholische Abschiedsvorstellung zu bereiten. Außergewöhnlich ist, dass Dream selbst gar nicht vorkommt in dieser tragischen Erzählung über Element Girl, die sich ängstlich zurückgezogen hat. »Fassade« ist eine sehr melancholische Geschichte über eine Person, die wegen ihrer Fähigkeit der Gestaltwandlung den Kontakt zur Außenwelt verloren hat, und die sich, da sie unsterblich ist, nach einem erlösenden Ausweg sehnt. Wie immer, wenn Sandman über unser Verhältnis zur Provokation des Sterben-Müssens sinniert, betritt Dreams Schwester Death die Erzählbühne um wie so manches Male einer in der eigenen Tragik gefangenen Figur den Kopf zurechtzurücken.
Besonders erwähnen muss ich die vier Cover des englischen Grafikmagiers und Gaiman-Kumpels Dave McKean. Okey, ich geb zu, ich folge fast allen Arbeiten von McKean mit treu ergebener Fan-Hingerissenheit, aber die vier Arbeiten der »Traumland«-Sammlung zählen für mich zu den allerfeinsten Bildern, die er je zusammengezaubert hat.
Ich kann verstehen, dass man als Neuleser zögert, ob sich die Anschaffung von zehn Sammelbänden lohnt. »Traumland« ist eine vorzügliche Möglichkeit, sich erstmal eine Kostprobe zu gönnen, denn die hier präsentierten Geschichten bereiten auch dann großes Lesevergnügen, wenn man keine Ahnung vom weiten Terrain der großen Sandman-Erzählung hat, und liefert dabei dennoch einen kraftvollen und sehr abwechslungsreichen Einblick zu diesem herausragenden Comicroman.
Sei es Kelly Jones feiner Strich mit seinen tiefen, harten Schatten, Charles Vess’ luftig leichter Duktus oder Colleen Dorans merkwürdig zerrissen wirkende Linienführung, immer ergänzen sich Story und Zeichnungen in nahezu perfekter Weise.
»Traumland« ist mit ziemlicher Sicherheit das »unepischste« der Sandman-Tradepaperbacks. Trotzdem — oder gerade deshalb — zeigt dieser dünne Sammelband alle Stärken (und Schwächen) von Gaimans einmaligem Comic-Kosmos um die Ewigen.
In keiner der Geschichten steht die Action im Vordergrund sondern eine intelligent erzählte eher stille Geschichte, deren tiefgründige Hinweise und Zitate erst bei genauerem Lesen und Betrachten deutlich werden. Wieder gelingt es Neil Gaiman und den Künstlern, eine unwirkliche, magische Atmosphäre zu erzeugen, die zu verzaubern weiß. Er spielt mit der düsteren Melancholie, die den Träumen unterliegt, und verzaubert durch seine übersprühende Phantasie, die Gewalt durch viel tiefer unter die Haut gehende Bedrohungen und den Blick in den Spiegel ersetzt.
Wer den ersten Band »Präludien & Notturni« noch nicht gelesen hat, bekommt mit Band 2 »Das Puppenhaus« eine weitere feine Einstiegshilfe. Obwohl, äh, da verzapf ich grad Quatsch, denn die meisten der zehn Einzelbände der »Sandman-Bibliothek« lassen sich ganz gut allein stehend genießen (ich werd bei den Bänden, die als Einstieg etwas zu sperrig sind bescheid geben). Aber zugleich bilden die zehn Bände zusammen eine große Saga über den Herrscher der Träume, Morpheus, und seine dysfunktionale Familie der Ewigen, die neben Dream aus sechs weiteren menschenförmigen Personifizierungen ewiger Prinzipien besteht.
Die Einstiegshilfe von »Das Puppenhaus« kommt in Form einer ›Was bisher geschah‹-Einleitung daher. Ganz schnell: Anfang des 20. Jhd. hat ein englischer Okkultguru (mehr unfreiwillig) Morpheus eingesperrt. Nach vielen Jahrzehnten kann Morpheus entkommen, er rächt sich an seinen Peinigern und macht sich auf zu einer Queste, um seine geklauten und verstreuten Macht-Artefakte wiederzuerlangen. Im letzten Kapitel (»Das Rauschen ihrer Flügel«) von »Präludien & Notturni« dümpelt Dream mit Post-Abenteuer-Depri in New York und füttert Tauben, als seine Schwester Death vorbeischneit, den Tunichtgut einen Tag lang mitnimmt auf ihre Pflichtgängen, und ihn dabei an den Wert des Lebens und seine Verantwortung als Traumherrscher und -beschützer erinnert.
Die versammelten acht Kapitel (urpsprünglich als Einzelhefte veröffentlicht) von »Das Puppenhaus« erzählen nun davon, wie Morpheus das in seiner langen Abwesenheit verlotterte Traumreich aufräumt.
Das Hauptaugenmerk des Bandes konzentriert sich in sechs Kapiteln auf die jugendliche Protagonistin Rose Walker, die zusammen mit ihrer Mutter ihre Großmutter in einem englischen Pflegeheim besucht. Großmutter Walker wurde im ersten Band kurz erwähnt. Dort war sie ein Opfer einer geheimnisvollen Schlafkrankheit die durch Morpheus Gefangenschaft verursacht wurde. Jetzt da der Herrscher des Traumreichs wieder frei ist, ist auch Großmutter Walker wieder wach und hat (vermögend wie sie ist) über Detektive ihre Verwandtschaft finden lassen. Wer aber noch fehlt, ist Roses jüngerer Bruder Jed. — Im Handlungsstrang um Rose kommt Gaimans Stärke zum Zuge, wenn er von ›ganz normalen‹ Menschen erzählt, die wundersame Abenteuer erleben. Rose zieht in Florida in eine WG und als Leser gucken wir Rose über die Schulter, wenn sie in ihren Tagebucheinträgen über die anderen WG-Bewohner lästert. Hier wimmelt es Exzentriker wie das Pärchen Ken und Barbie (die so aussehen und sich so geistlos verhalten wie die bekannten Matell-Figuren), und die Grufti-Lesben Chantal und Zelda die eine unheimliche Leidenschaft für Spinnen pflegen. — Zudem weiß Rose nicht, dass sie ein Traumwirbel ist. Und ein Traumwirbel zu sein, ist kein Zuckerschlecken, oh nein. In jedem Zeitalter taucht so ein Traumwirbel auf, oftmals in Form eines Gegenstandes, seltener auch, wie bei Rose, in Gestalt einer Person. Ein Traumwirbel strebt unwissentlich danach, für kurze Zeit alle Einzelträume der Menschen in einem großem Traum zu vermischen, und im Umfeld des Traumwirbels treten ungewöhnlich viele Zufälle auf. Somit beobachtet Rose in ihren Träumen die Träume anderer und begegnet magischen Wesen, wie den drei Hexengöttinen die eine sind, oder Traumdämonen und Alpträumen die sich während Morpheus Gefangenschaft aus dem Traumreich davongemacht haben, wie den hinterhältigen Gaunern Brute & Glob und dem schrecklichen Visonär ›der Korinther‹(ein heimlicher Star der Sandman-Saga). — Zusammen mit Gilbert (dem entfleuchten Traumort Fiddlers Green, der sich in Gestalt des englischen Erzphantasten G. K. Chesterton als Beschützer von Rose ins Zeug schmeißt) macht sich Rose auf die Suche nach ihrem Bruder Jed und stolpert unwissentlich in einen Kongress von Serienmördern (eine köstliche Parodie auf Comic- und SF-Conventions und Serienmörder-Fanship).
Zwei Kapitel von »Das Puppenhaus« fallen aus dem Rahmen. Eröffnet wird der Band mit einer für sich stehenden Erzählung über »Geschichten im Sand«, über eine weit, weit zurückliegende tragische Liebesgeschichte von Morpheus und der (wahrscheinlich afrikanischen) Königin Nada. Hier kommt Morpheus nicht so doll weg, denn er benimmt sich so unreif und kaltherzig, dass er seine Geliebte in den Selbstmord und damit in die Hölle treibt. — In »Männer mit Glück und Geschick« sorgt zuerst eine Wette zwischen Morpheus und Schwesterchen Death dafür, dass ein einfacher Mann des Mittelalters, Hob Gadling, nicht stirbt; dann werden die alle hundert Jahre stattfindenden Treffen von Hob und Morpheus geschildert, in deren Verlauf sich eine Kumpel-Freundschaft zwischen dem unsterblichen Glücksritter Gadling und dem unnahbaren Ewigen entwickelt.
Die ganz große Klammer von »Das Puppenhaus« und Puzzlestück im weitausholenden Bogen der Sandman-Bibliothek bildet die Konkurrenz zwischen Morpheus und seinem Geschwister Desire, also das Heck-Meck zwischen Traum und Begehren. Der erste Auftritt von Desire (die im Herzen eines riesigen schwebenden Körpers wohnt) und die abschließende Konfrontation von Morpheus und Desire gehören für mich zu den Glanzpunkten der Saga. — Sind wir nur Marionetten unserer Leidenschaften? Speist unser Begehren unsere Träume, oder formen unsere Träume unser Begehren? Können wir unser Schicksal selbst bestimmen, oder sind wir nur Spielzeugpuppen in den Händen des tüdelnden Schicksals? — In derartige philosophische Gefilde führt einen Gaiman mit dem vorliegenden Band, und zeigt damit, wie man Comic- und Popkulturtrash mit Mythen und Klassikern vorzüglich vegnüglich zu gedankenanregenden Fabulationen verflechten kann. — Nicht von ohngefähr gilt Gaimans »Sandman« neben solchen Werken wie »Watchmen« & »V for Vandetta«(beide geschrieben von Alan Moore) oder »Die Rückkehr des Dunklen Ritters« & »Ronin«(beide von Frank Miller) als wichtige Wegmarke eines Wandels zum Besseren in der anglo-amerikanischen Comickultur, als die Kästchenerzählungen dort in den 80ern begannen ernsthafter und erwachsener zu werden.
Besonders freut mich, dass die deutsche Ausgabe dabei auf die neue, digitale Kolorierung zurückgreift. Die ursprüngliche Färbung war zwar nicht grottenschlecht, aber doch deutlich geprägt von der schrilleren Ästhetik, die nun mal vor der Revolution der Digialkolorierung vorherrschte. Die neue Digikoloierung dürfte den ›Normallesern‹, die keine ausgeprägten Horror- und Superheldencomic-Fans sind, entgegenkommen, ist sie doch kein so heftiger geschmacklicher Extremisten-Hieb aufs Auge.
Hier ein Beispiel; Seite 10 des Kapitels: »Men Of Good Fortune« (»Männer mit Glück und Geschick«):
Links die alte Kolorierung von Robbie Bush aus meinem »Doll’s House«-Trade des DC-Verlages von 1990. Rechts die Digitalkolorierung von Zylonol aus dem neuen »Das Puppenhaus«-Sammelband des Panini-Verlages von 2007.
Wenn sich die Geschichten nur um diese vordergründigen Themen drehen würden, wäre dies nur eine nette Geschichte, aber Gaiman taucht auch hier wieder in die Abgründe der menschlichen Psyche ein und macht daraus wieder etwas ganz besonderes.
Eine Figur und eine ganze Serie stellten Heft für Heft unter Beweis, dass der amerikanische Superheldencomic eine zutiefst intellektuelle Sache sein kann und trotzdem seine Coolness nicht verliert.
Erst im »Puppenhaus« kann man wirklich entscheiden, ob man »Sandman« mag oder nicht. Der Band ist typisch für die Serie und zeigt, wohin die Reise geht. {…} Gaimans Serie verdankt ihren Ruhm vor allem der Tatsache, dass der Autor das Erzählen von Geschichten und die Lust am Träumen selbst zum Thema macht.
DRITTE FOLGE VON MOLOS WANDERUNGEN DURCH
DER BÜCHERGILDE GUTENBERG
Eintrag No. 412 — Es freut mich, in dieser dritten Folge meiner Empfehlungen der von Jorge Luis Borges zusammengestellten »Bibliothek von Babel« nun einen Autoren vorstellen zu können, der sich wie wenige andere ästhetische Denktäter dazu eignet Brücken zu bauen und Denkschranken einzureißen. Aus der Leseecke aus der ich komme, dem Schmuddelkinderwinkel der Comic- und Phantastik-Narren, ist Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zuvörderst bekannt als einer der großen englischen Witzereisser und Kapriolenkapazunder, der sich mit jungenhafter Unbekümmertheit über so ziemlich alles hinwegsetzt, wenn dabei nur eine geistreiche Pointe rumkommt.
Zum ersten Mal bin ich Chesterton vor etwa 17 Jahren dank Neil Gaimans beeindruckenden, zehnteiligen Comicromans »The Sandman« begegnet. 1990 habe ich mir den zweiten Sammelband »Das Puppenhaus« (The Doll's House) dieser facettenreichen Saga über Morpheus, den Herrscher der Träume zugelegt. Darin wird erzählt, wie Morpheus vier mächtige Einwohner seines Reiches bändigt, die aus den Traumlanden ausgebüchst sind. Einer dieser vier Davongelaufenen ist allerdings kein Wesen, sondern ein Ort, genauer: das aus irischem Seemannsgarn bekannte ›Fiddlers Green‹(wo fortwährend Fröhlichkeit herrscht, die Fidel nie verstummt und die Tänzer nicht müde werden). Dieses idyllische Traumgefilde hat sich in die irdische Sphäre begeben, um eine eng mit dem Schicksal des Traumreiches verbandelte Familie zu beschützen, und dazu hat Fiddlers Green, sich Gilbert nennend, eben das körperliche Aussehen und Gebahren von Chesterton entliehen. Eine wundervolle Hommage von Comicmeister Gaiman und als jemand, der gern mal solch einem Fingerzeig folgt, hab ich damals so Chesterton für mich entdeckt.
Als Spontispruch-Opa ist Chesterton zwar nicht so ehrwürdig antik wie Heraklid, aber dafür gibts von ihm auch mehr, als nur ein paar raunende Fragmente. Als kalauernder Phantast kann er dem munteren Ideenanachismus der Marx Brothers das Wasser reichen, wenn auch um den Preis der ein oder anderen treugläubigen Naivität. Und als Gattungsspringinsfeld versteht er es, seine Leser mit einen bunten Strauß verschiedenster Textsorten zu erfreuen, mal mit Kriminalgeschichten, mal mit Essays und Sachbüchern, mal mit Gedichten und Dramen und schließlich, last but not least, eben auch mit hirneschleuderner Phantastik.
Die vielleicht schwindelerregenste Akkrobatenleistung der letztgenannten Spielart von Chestertons freiem Geist, »Der Mann der Donnerstag war«, habe ich 2003 glühend empfohlen, und vor kurzem konnte ich zu meiner großen Freude jene Rezi zu diesem allerzeit hochaktuellen Metaphysik-Spionage-Alptraum um Verehrermeldungen u.a. des von mir hochverehrten Daniel Kehlmann ergänzen. Es ist schon erstaunlich, daß mit Chesterton (wiedermal) ein lohnender und einflußreicher Klassiker englischer Fabulierinbrunst bei uns kaum mehr als eine Fußnote für Außenseiter ist. Dabei gehört zu diesen Chesterton-begeisterten Außenseiten auch der mittlerweile durch den Büchnerpreis nobilitierte Martin Moosebach, der Keith Gilbert trefflich charakterisiert als ›Seehund, der es im Spiel seiner unerschöpflichen Begabung mit niemals ausgehender Lust genoß, sich von einem Felsen ins schäumende Wasser zu werfen.‹[01]
Grad faselte ich schon von Spontis. Da kann ich nachreichen, wie einer der streitbarsten und originellsten anarcho-katholischen Querulanten der deutschen bayerischen Nachkriegszeit, Carl Amery, Meister Chesterton als Ahnherren aller Unangepassten lobt:[02]
Vor einigen Jahren bereiste ich im Auftrag einer Rundfunkstation die britische Alternativszene, die damals der deutschen noch weit voraus war. {…} Wir unterhielten uns über den historischen Platz der grün-alternativen Bewegung, über mögliche Traditionen, über den romantischen Protest als legitime Ausdrucksform der gesellschaftlichen Kritik. Und wir suchten einen möglichen Ahnen. »Chesterton!«, sagten wir fast gleichzeitig. {…} Im Deutschland der Zwanzigerjahre wurde Chesterton hauptsächlich von einem katholischen Publikum gelesen, das in der neuromatischen Tradition des Renoveau Catholique und der deutschen Jugendbewegung stand. Chesterton wurde folgerichtig als eine Art katholisch-römischer Märchenonkel gelesen. Wie schon aus der eingangs erwähnten Renaissance unserer Autors in den Kreisen der Alternativbewegung hervorgeht, ist eine solche Einschätzung nicht mehr zu halten.
»APOLLOS AUGE«
Wie jeder Band der »Bibliothek von Babel«-Anthologie, eröffnet ein Vorwort von Jorge Luis Borges mit der für ihn typischen Mischung aus Konzentriertheit und Spielerei die Auswahl. Borges klärt uns darüber auf, daß Chesterton ursprünglich die Malerei zu seiner Profession machen wollte, und liefert folgenden Beispielreigen um Chestertons überaus visuelles Metapherntalent vorzuführen:[03]
So vergleicht er die Gewächse eines Gartens mit angeketten Tieren, den Marmor mit erstarrtem Mondlicht, das Gold mit zu Eis gewordener Flamme und die Nacht mit einer Wolke, die größer ist als die Welt, ein Ungeheuer, das aus Augen besteht.
Gemäß dem Gefühl von Borges ist »Die drei Reiter der Apokalypse«[04] die beste Kurzgeschichte Chestertons. Hier belauschen wir die gemütliche Herrenklubrunde von Mr. Pond, der seinen Kumpels zur Kurzweil von einem haarsträubend vetrackten Befehlsgeknäul der preussischen Arme während des ersten Weltkrieges berichtet. Es geht um den polnischen Dichter-Patriot Paul Petrowski, der in preussischer Haft darbt und das Hin- und Her dazu, ob er begnadigt oder erschossen werden soll. Die Rätsel-Nuß geht so (S. 17):
»Die ganze Sache ging schief, weil die Disziplin zu gut war. Grocks {Oberbefehlshaber der Preussen bei der Belagerung von Posen} Soldaten gehrochten ihm zu gut, so daß er einfach nicht machen konnte, was er wollte.«
Als vergnügliches und enorm stimmungsreiches Lehrstück über Befehlsketten-Knieschüsse kommt dieses Soldatendurcheinander daher, komplett mit Schlachtfeld-Schwärmerei für ritterliche Hussaren und Schelte für atheistische Nihilisten. Für hiesige Leser ist hierbei insbesondere reizvoll, wie der Engländer Chesterton mittells der verschiedenen vorgeführten Preussen hier darüber reflektiert, wie kalte Effizienz sich durch Stress & Hektik selbst zu Fall bringen kann.
Die vier restlichen Geschichten hat Borges aus dem Fundus der etwa 52 Pater Brown-Geschichten ausgewählt.[05] Hier wird freilich die Toleranz der Phantastikgenre-Grenzwächter strapaziert, handelt sich sich doch strengstgenommen nicht um Phantastik-Fiktionen, in denen Fabelwesen sich die Klinge in die Hand drücken, oder tatsächlich übernatürliche Magie am Werke ist. Die Kriminalstücke mit dem spitzbübischen katholischen Pfarrer aber feiern die Verwirrung stocksteifer Nüchternheit durch (scheinbar) übernatürliche Rästel. — Hier kann ich nun nicht anders und muß ein klein wenig raunzen: Die Art und Weise wie Chesterton Pater Brown als neunmalklugen Menschendurchschauer inszeniert ist für mich als religionskritischer Bright stellenweise schon enervierend. Religiöse geraten darob sicher weniger ins bittere denn heitere Kirchern[06], aber Nichtgläubigen sei dennoch empfohlen, bei solchen Propaganda-Huppeln ruhig Blut zu bewahren und trotz dieser Eigentümlichkeit den Hütchenspieler-Witz Chestertons mit nachsichtiger Neugier zu verköstigen.[07] Schließlich kann auch ein Bright durch G.K.Cs exemplarisches »Crea quia absurdum«-Gentänzel etwas lernen.
Ein ›Erzengel der Unverschämtheit‹ sorgt für »Die seltsamen Schritte«[08] beim jählichen Festmahl des oligarisch-snobistischen Klubs der ›Zwölf wahren Fischer‹ im exklusiven Edelrestaurant des Hotels Vernon. Zum einen begeistert mich hier Chestertons anklagende Analyse der Dünkel reicher Gesellen, wenn er deren eigentümliche Scham beschreibt (S. 62 und 63):
»{…} jene Mischung aus moderner Gefühlsduselei und dem schrecklichen, modernen Abgrund zwischen den Seelen der Reichen und denen der Armen. {…} Sie {die Reichen} wollten nicht brutal sein, aber sie schreckten davor zurück, gütig sein zu müssen.«
Zum zweiten liefert diese Geschichte ihrem Titel folgend (sozusagen) akkustische Phantastik, wenn der mit analytischer Vorstellungskraft gesegnete Pater Brown Klangereignisse erfolgreich zu deuten versteht.
Mit ihrer berauschenden Sinnlichkeit entzückt »Die Ehre des Israel Gow«[09], wenn Pater Brown und seine Freunde in einem düsteren schottischen Tal weilen, um die Rästel von Tod und Testament des letzten Lord Glengyle zu ergründen. Da raunt einem geballt die Athmo düsterer Wälder, heruntergeommener Burgen, irrsinniger Lords und ihrer Gärtner und heidnischer Traurigkeit an, wenn Brown und seine Helfer bei schlechtem Wetter Gräber ausheben und Burg-Inventar begutachten.
In »Apollos Auge«[10] läßt Chesterton seinen kecken Spott weiblicher Technikbegeisterung und esoterischer Sonnenpriester-Scharlatanerie angedeihen. Spätestens mit dieser dritten Geschichte dürfte den Lesern dämmern, daß G.K.C zwar über die tatsächlichen Wirrnisse menschlicher Herzen, Reden und Taten schreibt, sich dazu aber überzeichneter Karikaturen in Kasperltheatermanier statt plausibler Personen bedient. Ein funkelndes Gemmen-Beispiel für Chestertons verbale Comiczeichnerei bietet diese knappe Beschreibung des übermenschenaffinien Apollokirchen-Priesters Kalon und seines raumfüllenden Charismas (S. 121):
»Seine {Kalons} von der Robe umwallte Figur schien den ganzen Raum mit klassischem Faltenwurf zu tapezieren; seine epischen Gesten schienen ihm größere Ausdehnung zu verleiehen, bis die kleine, schwarze Gestalt des modernen Priesters völlig Fehl am Platze schien, ein runder, schwarzer Fleck auf hellenischer Pracht.«
Auch in der letzte Geschichte des Bandes, »Das Duell des Dr. Hirsch«[11] dribbelt der allerweil verschmitzte Pater Brown mit seinem vernünftigen Irrationalismus die phantasielose Rationalität seiner atheistischen Begleiter aus, als es gilt, das Geheimnis staatsgefährdener Spionagemacheleukes zu entzaubern. Aber auch hier, diesmal durch einen Verweis auf den empörenden Dreyfus-Skandal des Jahres 1894, versteht es Chesterton trotz allen Firlefanzes dem Leser Erhellendes über realweltliche Probleme angewandter Infowar-Taktik zu vermitteln.
Statt eines Resummees bitte ich für das Schlußwort ehrfürchtig einen der deutschen Urblogger aufs MoloPodium: Kurt Tuchsolsky[12], der einige Male mit Fanboy-Begeisterung von seinen Chesterton-Lektüreerlebnissen berichtet hat.
Er hat soviel Fett wie Humor. {…} Es wäre hübsch, wenn sich recht viele Deutsche an dieser blitzenden Weisheit eines Krämergeistes jenseits des Kanals erfreuten. Wir habens nötig.
Die Kurzgeschichten dieser Sammlung sind zwar weniger phantastisch, denn ungewöhnlich, aber dennoch immer überraschend und humorvoll. Wer Club Stories und Tall Tales mag, wird hier voll auf seine Kosten kommen.
Was die Kurzgeschichte (Drei Reiter der Apokalypse) allerdings zu einem Lesevergnügen erster Güte macht, sind die vielen auch in der deutschen Übersetzung gelungenen Wortspiele, die auch die Phantasie des Lesers zu beschäftigen wissen. {…} Die Geschichten überraschen durch eine überraschende Themenvielfalt {…} Sie sind intelligent konstruiert, auch wenn sie manchmal das Verbrechen nur als unbedeutenden Aufhänger für theologische Diskussionen nutzen.
Als immer schon überzeugter Freund der Phantastik gerade ich fast in Versuchung (obwohl ich jünger bin), Burkhard Müllers Frohlocken für die »Süddeutsche Zeitung« mit sowas wie onkelhaftem Amusement zur Kenntnis zu nehmen, wenn er jauchzt:
Das ist nicht nur von Anfang an fesselnd, das ist auch noch Literatur!
und kann seinem Resummee ganzen Herzens zustimmen, wenn er schreibt:
{»Apollos Auge«} ist ein Buch zum Mitgruseln, Mitträumen, besonders aber zum Mitdenken.
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ANMERKUNGEN:
[01] Paraphrase von mir auf Moosebachs Vorwort zu »Orthodoxie« (1908), Eichborn/Die Andere Bibliothek Band 187 (2000), Seitze 13. ••• Zurück
[02] Nachwort zu »Der Held von Notting Hill«, Kerle Verlag 1981, Seite 245. ••• Zurück
[05] Im Nachlass von G.K.C. fand man noch eine Handvoll Pater Brown-Stories. ••• Zurück
[06] Entsprechend lobtpreist der evangelistische US-Autor Philip Yancy in seinem Nachwort für »Orthodoxie« G.K.C. folgendermaßen:
»Sooft ich spüre, daß mein Glaube wieder einmal zu verdorren droht, wandere ich zum Buchregal und nehme ein Buch von G.K. Chesterton heraus, und das Abenteuer beginnt von vorne.«
(Eichborn/Die Andere Bibliothek 2000), Seite 304. ••• Zurück
[07]Alberto Manuel plaudert in seinem Essay »Chesterton beim Wort genommen« anregend über das Leben, sowie die Schatten- und Lichtschimmer im Werk von G.K.C in »Im Spiegelreich« (Into to Looking Glass Wood, 1998), Verlag Volk & Welt 1999, Seite 271ff. ••• Zurück
[12] Aus dem Text »Feuerwerk« über den Chesterton-Essayband »Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge«, in »Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke, Bd 2, 1919-1920«, Rowohlt 1975, S 167f. ••• Zurück
Erster Teil von Molos Empfehlungen von Neil Gaimans
inkl. »Hilfreicher Handreiche« über mythologische, historische und literarische Anspielungen.
Eintrag No. 389 — Schön langsam mutiert die Molochronik zu einem Neil Gaiman-Fanblog. Was soll ich auch machen? Gaiman ist nun mal einer der originellsten und fruchtbarsten Gegenwartsvertreter der Genre-Phantastik, und da durch so manches Ungeschick seine Werke bei uns bisher zumeist in nicht so dollen Ausgaben erschienen, werf ich mich gern ins Zeug um diesen ›modernen Multimedia-Ovid‹ lobzupreisen. Ich schätze Gaiman deshalb so hoch, weil er es (nicht immer aber eben immer wieder) schafft, einem Literatur-Ideal gerecht zu werden, daß mir durch solche respektablen Klassiker wie den Römer Horaz oder den Barock-Gelehrten Gracian schmackhaft nahegebracht wurde. Kein Zweifel: Literatur, Fiktionen, Fabulation sollten zu mehr nützen, als dem Publikum eine Wohlfühlmassage zu verschaffen. Leser von Romanen (egal ob in Prosa oder in graphischer Form) sollten auch zum Nachdenken angeregt werden. Doch zweiteres will nun mal besser schmecken, wenn die Belehrung nicht so dröge, steif und nur bildungshuberisch daherkommt. Zuerst einmal muß unterhalten werden, muß die Hemmung durch den Zweifel überwunden werden. Derart beschwingt ist es dann auch locker-flockiger möglich, den Lesern ernste Gedanken nachzubringen, auf die sie sich ansonsten nicht einzulassen die Lust gehabt hätten.
In den frühen 90gern lauschte ich auf einer Fantasy-Con Freunden beim Fachsimpeln über die »Sandman«-Comics. Es ging um die ›Endless‹, die Endlosen, jene 7-köpfige, dysfunktionale Familie anthropomorpher Personifizierungen, deren Namen auf englisch alle mit D beginnen (der ernste Destiny/Schicksal, die lockere Death/Tod, der vergrübelte Dream/Traum, der lebenslustige Destruktion/Zerstörung, die intrigante Desire/Verlangen, die selbstquälerische Despair/Verzweiflung und die jüngste im Bunde Delirium, die einst Delight/Entzücken war). — Als jemand, der schnell mal hingerissen ist, wenn philosophische Menschen- und Weltenlauf-Bespiegelung mit Äktschn, Spannung und Soap vermengt werden, spitzte ich die Ohren. Hmm, neue, neutrale ›Götter‹, eine moderner Pantheon für eine globalisierte Welt, dachte ich mir neugierig.
Worauf läßt man sich ein? Auf einen großen, zehnbändigen Epos über die Krise von Dream/Morpheus, seinen Niedergang und seine Wiederauferstehung; auf eine kecke Mischung aus Altem und Neuen, wobei Mythologien und Klassiker von frühester Zeit an und aus allen möglichen Weltgegenden Hand in Hand mit Neo-Mythen der westlichen Pop-Moderne einen abwechslungsreichen Reigen tanzen.
Der erste Band »Prädludien & Notturni« versammelt den aus acht Kapiteln/Heften bestehenden eröffnenden Handlungsbogen, dessen Arbeitstitel auf englisch »More than Rubies« (Mehr als Rubine) lautet.
Ein nach dem Vorbild des Scharlatan-Okkultisten Aleister Crowley gestalteter englischer Gurumotz hegt die alte Menscheitsambition den Tod zu überwinden zu wollen. Dazu zieht dieser Roderick Burgess Anfang des 20. Jhd. ein Beschwörungsritual mit seiner Kultgang durch, verhaut sich aber grob. Statt Death/Tod zu bannen, fängt Burgess deren ›kleinen‹ Bruder Dream/Traum in seinem Zauberkreis, wo der bleiche König der Traumlande über siebzig Jahre darbt. Durch Dreams Abwesenheit verfiel sein Reich, viele Traumlandbewohner haben sich auf und davon gemacht und treiben ihr Unwesen in unserer Welt.
<img src="molochronik.antville.org" title="»Sandman«, Heft 1, Seite 1, alte Kolorierung. Copyright by Vertigo/DC."align="right" style="margin-left: 10px; margin-bottom: 10px;">Erster und Zweiter Weltkrieg vertreichen, wie auch die Nachkriegsepoche, bis es Dream schließlich Ende der 80-ger gelingt seinen Kerkermeistern zu entkommen und in seine Heimatgefilde zurückzukehren. Soweit das erste Kapitel.
Der Rest von »Präludien & Notturni« erzählt dann ausführlich und abwechslungsreich, wie der geschwächte Morpheus Stück für Stück seine machtvollen Artefakte wiedererlangt und sein Reich halbwegs restauriert. Zu den Höhepunkten des ersten Sammelbandes gehört ein Ausflug von Morpheus in die Hölle, wo er sich mit einem gemeinen Dämon ein ›Duell der Realität‹ liefert; ein verstörendes Kapitel über Größenwahn und Maßlosigkeit, wenn ein Straßenrestaurant zum Hort tödlichen Gruppen-Irrsins wird; und natürlich das abschließende achte Kapitel des ersten Bandes, wenn dem selbstmitleidigen Morpheus von seiner überaus symphatischen Grufischwester Death der Kopf gerade gerückt wird.
Meine ersten »Sandman«-Einzelhefte las ich noch leihweise, bevor ich im September 1992 mit Heft 41 selbst anfing zu sammeln. Im Lauf der Zeit besorgte ich mir die zehn englischen Sammelbände von Vertigo/DC. Mit großer Verstörung beobachtete ich vor Jahren, wie diese Sammelbände in schrecklicher Art und Weise das erste Mal auf Deutsch herausgebracht wurden. In zu großem (europäischem) Albumformat auf viel zu schwerem Papier, und (was am rügenswertensten ist) oftmals wurden die Original-Sammelbände für die deutsche Ausgabe einst zweigeteilt veröffentlicht. Zudem wurde diese erste deutsche Ausgabe nie abgeschlossen. Sicherlich hat das für enorm viel Frust bei der Comicliteratur-Leserschaft gesorgt (und wieviele Jungleser durch diese ›Schlampausgaben‹ dazu getrieben wurden, gleich auf Englisch zu lesen, wage ich gar nicht zu spekulieren).
Nun — endlich! — mit großer Verspätung, dafür aber auch mit erfeulicher Sorgfalt gestaltet erscheinen seit Anfang dieses Jahres die Sammelbände bei Panini/Vertigo erneut. Panini hat Sandman neu übersetzten lassen lassen und folgt dabei der neusten Sammelauflage der Amerikaner, tischt uns damit also die neue digitale Kolorierung auf. Die alte Kolorierung ist freilich nicht gänzlich zu verachten; vor allem Freunde der klassischer Gruselrießer-Comics dürften daran Gefallen finden. Immerhin: die 75 Hefte der »Sandman«-Reihe, die von 1989 bis 1996 (fast immer) monatlich erschienen, dokumentieren nebenbei auch die Geschichte der Umstellung zum digitalen Einfärben der s/w-Linienzeichnung. Der Vergleich von Seite 1 in alter und neuer Kolorierung zeigt, wie Dank digitaler Bildbearbeitung feinere Farbnuancen & -verläufe möglich sind. Die Seiten sind zugleich dezenter eingefärbt, und wirken dennoch plastischer. Dadurch geht zwar der horror-trashige Charakter der ursprünglichen Koloierung verlohren, aber alles in allem finde ich die neue Farbgestaltung angenehmer, stimmungsvoller, kurz: schöner.
Zu den bezaubernsten Markenzeichen von Gaiman gehört, wie es ihm gelingt, kleine Geschichten in der großen Geschichte unterzubringen; wie er vor allem mit »Sandman« eine Geschichtenerzähl-Maschinerie anwirft, die im Besten Sinne an die berühmte Wendung aus Michael Endes »Die Unendliche Geschichte«
Aber dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden
oder auch an die labyrinthische Weberei von Schahrasads Erzählungen in »Tausendundeiner Nacht« erinnert.
Wie bei jeglicher ehrwürdiger Phantastik bietet »Sandman« seinen Lesern ein facettenreiches philosophisches Panoptikum an. Philosophisch im hehresten Sinne, eignet sich dieses Epos über Niedergang und Wiederaufstieg, über Sehnsucht und Zorn doch vorzüglich dazu, den Leser unaufdringlich die Kunst des Sterbens zu lehren, ohne Verzweiflung damit fertig zu werden, daß unser aller Leben auf ein unausweichliches Ende zustrebt, es also nur in unserer eigenen Verantwortung liegt, welche Welten wir für uns und unsere Mitmenschen bauen.
»Sandman« ist ein ehrenwerter Fundus abstrakter Poesie, düster, betörend, verwirrend und in seiner Form definitiv einzigartig.
Leider stößt Björn aber auch wieder in das Horn, welches tutet, daß Gaiman verschreckend und verstörend ›brutal‹ ist. Liebe Leut: »Sandman« ist gedacht für ›mature readers‹. Trotz aller Auch-Eignung für aufgeweckte Teens, ist »Sandman« eben kein Kinderfantasykram, sondern beste Phantastik für reife Leser.
Einerseits kann man sich einfach nur von einer spannenden und ungewöhnlichen Geschichte unterhalten lassen - andererseits ist es auch möglich in die hintergründigen Szenarien einzutauchen, die in Text und Bildern erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Das macht die Serie zu Recht zu einem der Klassiker der Comic-Geschichte.