molochronik

Vorschau auf Molos Rezis in MAGIRA 2006 (mit Portraits)

Eintrag No. 273

EDIT 23. Aug. 2006:: Um Links zu Portaitgroßansichten und den einzelnen Rezis ergänzt. Fehlerchen gemerzt, um Links zu Büchern ergänzt.

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Mittlerweile ist »Magira – Jahrbuch zur Fantasy 2006« erschienen und die einzelnen Rezis (mit Anstandsverzögerung) auch in die Molochronik eingepflegt worden.
Nach meiner ›bösen‹ Rezi zu Tad Williams »Der Blumenkrieg« wollte ich (schon vor dem verständlichen Diss bei SF-Radio) diesmal auf gar keinen Fall von unangenehmen Lektüren berichten. Meckern kann ich zwar, aber es ist so öde. So gibts dieses Mal einen launischen Reisebericht über die seltsamen aber empfehlenswerten Bücher der Saison 2005/2006.
Die ganzen ca. 11.000 Worte sind wieder von Michael Scheuch und Herrman Ritter lektoriert worden (und Krischan Seipp durfte sich mit meinen Portrait-Illus herumschlagen). Hier findet der geneigte Leser das Introdubilo, die Überleitungs-Absätze.
Ich kann mich gar nicht genug bei den Genre-Kollegen und Genre-Freaks in den verschiedenen Foren die ich heimsuche bedanken. So manche Idee, Signatur, Ansichtssache hat mir beim Schreiben dieser launischen Empfehlungen geholfen.

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LAUNISCHE ABER AUFRICHTIGE EMPFEHLUBNGEN VON SELTSAMEN & VERWIRRENDEN FANTASYBÜCHERN DER PHANTASTIKSAISAON 2005/2006

»Ich sehe die Rezension als eine Art von Kinderkrankheiten an, die die neugeborenen Bücher mehr oder weniger befällt. Man hat Exempel, dass die gesündesten daran sterben, und die schwächlichen oft durch-kommen. Manche bekommen sie gar nicht. Man hat häufig versucht, ihnen durch Amulette von Vorrede und Dedikation vorzubeugen, oder sie gar durch eigene Urteile zu inokulieren, es hilft aber nicht immer.«

—Georg Christoph Lichtenberg, »Sudelheft J« (1718–1732)

—Was macht gute oder schlechte Phantastik aus? Wann sprießen wirklich neuartige Blüten im Garten der Fantasy und wann ist ›Fantasy‹ lediglich ’ne Karotte zum Erwartungsdirigieren und Treuekonditionieren von Konsumenteneseln? Wann wird an bestehende Traditionen erfrischend angeknüpft, und wann werden nur altbewährte Verführungstricks aufgefahren?

—Mensch Molo, lass doch den verkopften Quark und gib’ einfach Bescheid: ist ein Buch die Lappen, die ich dafür hinblätter wert, oder eben nich’? Überversimpelt gesagt, besteht im Beantworten solcher Fragen der Job eines Kritikers. Doch schaut man dazu am besten von einem fixen Standpunkt, z.B. als Torwächter auf die durchkommenden Bücherkarren aus den fraglichen Genregebieten, und lässt die Guten in die Stadtgemeinschaft passieren und weist die Unwürdigen ab; oder soll man versuchen, als Leuchtturmwärter den potentiellen Lesern Orientierungslicht zu spenden? Sicherlich sind solche statischeren Perspektiven auf Literatur und damit auch auf Teilgebiete wie Fantasy berechtigt und nützlich. Aber ich muss gestehen, dass ich mich dafür als zu skeptisch und sprunghaft einschätze, um auf brauchbare Art und Weise als Wache oder Leuchte zu dienen[01]. Ich will also im Folgenden versuchen, eine in ihrer Unaufgeräumtheit dennoch kurzweil-ige Sammelrezension anzubieten[02].

Aus den lebendigeren Gegenden des großen Kontinentes KONVENTIONA berichte ich, wie der geschickte Mythenimpressario Neil Gaiman, ein Konzert veranstaltet, indem er Spinnen Schöpfungslieder singen lässt, und wie Ian R. MacLeod mit Könnerschaft an gute alte europäische Prosatradition anknüpft, um vom ›Unbehagen in der beschleunigten Moderne‹ zu erzählen. Im verstreuten Inselreich AVANTGARDIEN wollte ich nicht versäumen zu erleben, wie China Miéville sein dreiteiliges ›gegen den Genre-Strich‹-Manöver mit rahmensprengender Vehemenz abschließt; und ich bin verblüfft vom artistischen Feinsinn Jeff Vandermeers, nachdem ich mich in seinem verführerischen, kompliziert-verspielten Narrationslabyrinth genüsslich verirrt habe.

Wenn man die üblichen Grenzen zwischen ›Trash‹ und ›Literatuuur‹ mal vergisst, ist es erstaunlich festzustellen, dass hierzulande gescheiter und lustvoller Genre-Fantasy betrieben wird, als man bei übler Laune schlecht reden kann. Da ›geb‹ ich lieber ›Zeitung‹ von einer mir neuen heimischen Fantasy-Hoffnung, und freue mich denn ‘nu auch besonders, wenn Lorenz Jäger für die noble FAZ den ›Schwert aber Nix-Magie‹-Fantasyroman eines jungen Berliner Buch- und Comicautors lobt. Der immer nach neuen Krassheiten gierende Äktschn-Freak in mir nimmt Jägers ›Warnung‹[03], dass

»Niemand dies Buch ohne Verstörung lesen können (wird)«,

hoffnungsvoll als Kauf- und Leseanreiz.

Tobias O Meißner: »DAS PARADIES DER SCHWERTER« –oder: Wenn der Autor auch mit dem Würfel schreibt.

Zur Rezi.

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Nach soviel wilden Blutstrudeln, Sprachbrechern und Metaphernriffen entlang der zerfledderten Küsten AVANTGARDISCHER Inseln, nun zu einem Autor, den ich seit Jahren als ›sicheren Hafen‹ zu schätzen weiß, weshalb er in meiner Lektüregeographie an den Gestaden KONVENTIONIAS gelegen ist.

Neil Gaiman: »ANANSI BOYS« –oder: »Die spinnen, die Götter«.

Zur Rezi.

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Wie überraschend und erfrischend der Einfluss von älterer oder auch neuerer Mainstreamschreibe für heutige Fantasy bzw. Phantastik sein kann, hat ja auch die vielgelobte Susanna Clarke mit ihrem voluminösen »Jonathan Strange & Mr. Norrell« vorgeführt[04]. Jetzt wäre es natürlich Blödsinn, wenn ich hier in einem Jahrbuch zur Fantasy Werke dafür lobte, dass sie Lesern von ›kanonischer Literatur‹ feine Fantasy-Ausflüge bereiten. Umgekehrt wird aber ein Schuh draus: Fantasy-Leser, die ihre Nase bisher gar nicht oder seltenst in alte Bücher gesteckt haben, können sich z.B. vom folgenden Titel anfixen lassen, öfter mal vermeintlich ›angestaubter‹ Literatur ‘ne Chance zu geben.

Ian R MacLeod: »AETHER« –oder: Vom melancholischen Leben im Takt der Maschinen.

Zur Rezi.

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Ian R. MacLeod macht keinen Hehl daraus, als junger Mensch von linken Hoffnungen erfüllt gewesen zu sein. Es sei ihm gegönnt, dass er sich als gereifter und desillusionierterer Mensch einer eleganten Verquickung aus Zorn und Melancholie hingibt. Vom ältesten zum jüngsten Autor dieser Sammelrezi: Was kommt dabei heraus, wenn ein Geek mit heftigst lodernder ›Sozi-Inbrunst‹ auf diesen bedrückten Gemütslagen eine kräftige Portion handgreiflicher und spekulativer Äktschn aussäht?

China Miéville: »DER EISERNE RAT« und Bas-Lag –oder: Wenn die ›Weird Fiction‹ revoluzzt.

Zur Rezi.

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Nach dem bombastischen Ausflug in die konfliktreiche Globalisierungsgeschichte einer phantastischen Zweitschöpfungswelt schließe ich meinen Reisebericht nun mit einem thematisch nicht minder gegenwartsbezüglichen, bis auf Einschübsel meist indirekter Art gänzlich urbanem Erzählungspuzzle. Der nächste Autor ist auch so einer, der meint, dass man als Künstler sowohl seine art pour art-Haltung pflegen, und zugleich trotzdem zeitgenössisch auf der Höhe sein, und politisch-gesellschaftlich relevante Fiktionen von vergnüglicher Reife zustande bringen kann. Aber schon der Titel dürfte anklingen lassen, dass ›gnostischere‹ Fantasy auf einen zukommt.

Jeff Vandermeer: »STADT DER HEILIGEN & VERRÜCKTEN« –oder: Kalmartentakel und Pilzsporen.

Zur Rezi.

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[01] —Vorsicht, nicht die Küste rempeln. ••• Zurück
[02] Darum wissend, dass ich selbst eine Virenschleuder für oben genannte ›Kinderkrankheiten‹ aus dem Reich der Meinungsschieberei bin. ••• Zurück
[04] Gwenda Bond stellt in ihrem Artikel für »Fantasy Goes Literary«
(»Novels with supernatural elements are finding a new readership«)

für Publishers Weekly Einschätzungen von Verlagen und Agenten zu diesem Phänomen vor. ••• Zurück

China Miéville: »Perdido Street Station« (»Die Falter«, »Der Weber«) oder: Thrillerhafte Monsterhatz in einer urbanen Weird-Fiction-Fantasia

Eintrag No. 261 — Ich bin ja bekennender Bas-Lag und China Miéville-Fan. Meine größte Sorge ist da freilich, ob ich als ›Fan‹ überhaupt nichtpeinlich über das von mir bewunderte Werk schreiben kann. Folgende Besprechung erschien zuerst in »MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert.

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China Miéville (1972) bietet in »Perdido Street Station« Phantastik, die zwar mit dem Genre der Fantasy kokettiert, aber die Mode a la Tolkien meidet. So erzählt der Roman weder von mystischen Questen noch von Kämpfen des Guten gegen das Böse, sondern die fatalen Folgen des Zufalls sind der Ausgangspunkt der Handlung. Originaltaschebuchausgabe in einem Band; 867 Seiten mit Karte; Pan Books; London, 2001 — Entweder: Für die deutsche Ausgabe in zwei Bücher aufgeteilt als: 1. »Die Falter«; 2. »Der Weber«; aus dem Englischen übersetzt von Eva Bauche-Eppers; je 557 Seiten; Bastei-Verlag; Bergisch Gladbach, 2002. — Oder: Einbändige Sonderausgabe von Amazon.

Es beginnt mit zwei Aufträgen.

Erstens: Der Universalgelehrte und Erfinder Isaac Dan der Grimnebulin soll einen Weg finden, daß der flügellose Vogelmensch Yagharek wieder nach Belieben fliegen kann.

Zweitens: Isaacs Geliebte Lynn ist Künstlerin. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit soll sie eine lebensgroße Skulptur des Verbrecherfürsten Vielgestalt (englisch: Mr. Motley) anfertigen.

Isaacs Recherchen führen zur Freisetzung von extrem gefährlichen, exotischen Labortieren. Nicht nur, daß diese Lebewesen auf ausgeklügelt schauderhafte Weise jagen und sich laben, sie sind zudem nur umständlichst überwindbar. Hilfsmittel gegen die Monster zu finden und die Viecher zu erlegen sind nun die Ziele einer kleinen verzweifelten Gruppe um Isaac.

Großartig versteht es Miéville, die Millionenstadt New Crobuzon zum Beispiel eben als Speisetafel für die gefährlichen Monster-Falter darzustellen. Überhaupt geht viel Verführungskraft des Buches von der höchst originell ausgestalteten Welt Bas-Lag, bzw. der Stadt New Crobuzon aus. Mit viel Liebe zum Detail wird uns eine kapitalistisch-industrielle Metropole geschildert, in der alles möglich ist, die brummt und schafft, ständig verdaut und gebiert, Sehnsüchte der Mächtigen erfüllt und Hoffnungen der Unmächtugen zernichtet.

Für mich ist New Crobuzon dabei durchaus verwandt mit Ankh-Morpork aus Terry Pratchetts Scheibenwelt, nur ungleich härter und grimmiger. Wo die Phantasie bei Pratchett der komödiantischen Verspieltheit frönt, gibt sich Miéville lieber dem Grotesken hin. Beide führen die Klischees der Fantasy vor, der eine um damit Satire zu betreiben, der andere, um dem Genre eine erfreuliche Frischzellenkurz zu verpassen.

Zum Beispiel Rassen: Miéville bietet unter anderem Vogel- Wasser- und Kaktusmenschen (sic!) und Insekenfrauen. Wie Miéville zurecht kritisiert, werden Rassen in der Fantasy oftmals nur als Kürzel benutzt (Zwerge gieren immer nach Gold, Elfen sind immer arrogant und Trolle dumpf), und er unterläuft diese langweilige Mechanik von phantasieloser Fantasy, indem er Allgemeinplätze über Rassen als genau das vorführt: als gedankenlose oder rassistische Vorurteile.

Auch der Umgang von Wissenschaft und Thaumaturgie (die X-Kunst) ist wohltuend innovativ. Magie ist ein Wissenschaftszweig von vielen und selten habe ich so schöne Spekulationen in der Fantasy gelesen, wie bei Isaacs Bemühungen um eine einheitliche Feldtheorie und Krisis-Energie, mit der er Yaghareks Problem zu lösen hofft. Zu den vielen Fäden und Themen der Monsterhatz wurden u.a. die Folgen von bedenkenlos eingesetzten ›Atomwaffen‹, der Verselbstständigung einer kypernetischen (= konstruierten) Intelligenz, blutig niedergerungenen Arbeiterstreiks, politischer Untergrundaktivisten, rassenübergreifer Geschlechtsbeziehungen verwoben. Dabei ist »Perdido Street Station« trotz flotter Ereignisfolge und bunter Schilderung nicht durchwegs aalglatt zu konsumieren, sondern spielt ganz bewußt mit punktuell ungestümer Wortwahl (siehe ›Hä?‹-Refelx), lyrischem Sprachfluß, Perspektivenwechseln und haarsträubenden Kulminationen.

China Miéville hat zwei große Interessen: Zum einen ist er in England als Sozialist politisch aktiv und hat sein Studium an der London School of Economics mit »Between Eqaul Rights« abgeschlossen. Zum anderen ist er ein echter Trash- und Monsterfan, der Rollenspielenzys als Unterhaltungslektüre verschlingt. Miéville nennt sich selbst einen Autor von ›Weird Fiction‹ und ihm ist nicht daran gelegen dem Leser tröstende Fantasy-Träume zu liefern, sondern er nutzt lieber die verstörenden, befremdenden Fähigkeiten des Genres. Mit traumwandlerischem Gefühl für Spannung, gute Dialoge und unterschiedlichste Athmosphären geschrieben, ist »Perdido Street Station« etwas, an das man fast nicht mehr glauben mochte: spekulative, provozierende Fantasy, schwindelerrend in seiner Erfindungswut und alles andere als tröstlich.

Sehr zu dessen Wohl und zum verblüfftem Vergnügen des Rezensenten.

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Hier zu einer Liste der Molochronik-Einträge, die sich mit Miéville (mehr oder weniger) und seiner Art von Phantastik befassen.

Molosovsky ist unterwegs in Ambra

Eintrag No. 249 — Ein Hoch auf den Klett-Cotta Verlag, der mich in dieser Saison mit zwei wundervollen neuen Phantastik-Büchern beglückt: einmal Ian R. McLeods »Aether« (einem wunderschönen Bildungs- Karriereroman in einer viktorianischen Alternativwelt mit Klassenkampf & Zeitenwende, Magie, ›Gothik Novel‹- & ›Steampunk‹-Elementen), und Jeff VanderMeers »Die Stadt der Heiligen und Verrückten« (fürderhin: »SHV«).

Wenn man ›Fantasy‹ in Traditionen zu teilen gewillt, bemüßigt oder geneigt ist, dann disputiert man früher oder später über solche Gegensätze wie ›J.R.R. Tolkien vs. China Miéville‹ (wie ich vor Kurzem bei Bibliotheka Phantastika) — da bin ich nun sehr froh, daß sich VanderMeers kapitalen Phantastik-Werk (das in vielerlei Hinsicht meinen ›feuchten Träumen‹ von richtig feiner Phantastik entspricht) bisher mit außergewöhnlicher Begeisterung gewidmet wird.

Die F.A.Z. fährt bei mir fett Goodie-Points ein, da dort der geschätzte Dietmar Dath »SHV« bejubelt (09. Dez. 2005, S. 34:)

»Man darf dieses vielstimmig erzählte, auf durchaus unheimliche Weise luxuriöse Buch ruhig dem Fantasy-Genre zuschlagen. Man sollte sich aber nicht darüber täuschen, was das in diesem Fall bedeutet: Die vielen Fakten über Ambras Straßen und Türme, Plätze und Auswegslosigkeiten dienen ganz und gar nicht demselben Zweck, wie etwa die Exkurse, die J.R.R. Tolkien im Gewebe seines ›Herren der Ringe‹ über die Herkunft von Pfeifen oder die Dialekte erfundener Sprachen einflicht. Wo nämlich bei den Schöpfungen der Neomythologen vom tolkienschen Schlag die Sachtext-Splitter immer eine Vertiefung und Festigung der Illusion bezwecken, man befände sich in einer runden, geschlossenen anderen Welt, frißt das Morbide, ›nach stockfleckigem Papier‹ riechende, von ›extremer Gicht‹ und Wahnsinn Angekränkelte in den Dokumenten aus VanderMeers magischer Stadt gerade den Traumbildcharakter des Ganze an. Dieser Dichter will eben nicht das Stimmige und Runde, sonders Ausgefranste und ontologisch Dubiose darstellen.« {…} »Wie immer bei den bestechensten phantastischen Texten ist es vielmehr gerade nicht die blühende Ausgedachtheit des Erzählten, was beeindruckt, sondern die Vielzahl der erstaunlichen Momente, an denen sich das Vermögen der Phantastik enthüllt, den sturen alten Konkurrenten ›Realismus‹ auf seiner Bahn am Rand der Tatsachen sozusagen links zu überholen und ein Bild von der Wirklichkeit zu entwerfern, das man als stimmiger und wahrer erlebt als das bloß brav abgemalte.«

Wobei ich hier einen kleinen Einspruch anbringen muß, denn ›abgemalter (schaler) Realismus‹ und ›erstaunliche (stimmige) Phantastik‹ erscheint mir eine zu vage Umschreibung, für die Gegensätzlichkeit der beiden erwähnten Fiktions-Praktiken. Egal ob eine Fiktionswelt die Gesetze und Bedingungen unserer ›Echtwelt‹ nicht überschreitet, oder darüber hinaus phantastische Unmöglichkeiten erfindet, beide Arten von ausgedachten Geschichten gehen von unserer ›normalen‹ Echtwelt aus. Sonst ließe sich kein verständlicher Text schreiben oder lesen. Für mich sind z. B. »Finnegans Wake« oder der »Codex Serafinianus« Extremwerke, die sehr anschaulich und spannend größtmögliche Argheit an Devianz vom ›normalen Realismus‹ oder auch ›verständlichen Fiktionen‹ anstreben.

Und in der neuesten Ausgabe von Alien Contact gibt im Interview mit Peter Wild der Dichter selbst noch Zunder für ein amœnokratisches Auffackeln von Phantastik:

»Im Hintergrund all meiner Geschichten steht die Subjektivität der Welt. Die Geschichte an sich ist subjektiv — alles außer Namen, Daten und anderen grundlegenden Elementen wird aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet und vorsortiert, jedem Bericht liegt ein bestimmter Standpunkt zugrunde, und damit ist er subjektiv. Daraus entstehen fiktive Texte, die wir als Sachtexte behandeln. Das ist jetzt nicht sonderlich neu, aber dieses Wissen auf eigentliche Erzähltexte anzuwenden — das könnte sehr wohl etwas Neues sein ... ich glaube, in der Welt herrscht eine Art natürliche Spannung, die von dieser Vielzahl unterschiedlicher Standpunkte verursacht wird, von denen aus jeder angeblich objektive Vorfall betrachtet werden kann. Wenn ich den Blickwinkel wechsle, dann deswegen, weil man, um in fiktiven Texten zu irgendeiner Form von »Wahrheit« zu gelangen, jede allein gültige Wahrheit scheuen muss. Um ›Realität‹ und ›Phantasie‹ miteinander zu verschmelzen, muss man mehrere Spezialisten nach ihrer Meinung fragen und sie dann aufeinander loslassen.«

Ach, bei solchen Gedanken blüht mein Herz auf. Auch wenn Schlingel Jeff durchaus ein bischen arg so tut, als ob er der Erste währe, der sich humorvoll und unterhaltend solcher Metatext-Inversionen und -Verwieise in ›Genre‹-Phantastik-Sphären bedient. Ich mein, wer heutzutage um die Dreissig ist, muß schon am Arsch der Welt dahinvegiert haben oder weitetstgehend unverspielt sein, wenn er noch nie was von kommerziellen Unterhaltungs-Rollenspielen mitbekommen hat. In Spiel-Charaktere schlüpft man nicht erst, seit es Konsolen- und PC-Games gibt. In Zeiten, als die digitalen Welten noch superprimitiv durch ASCI-Zeichen dargestellt wurden, hat man analog mit Charakterblättern, Lageplänen und Zinnfiguren (sowie einem beliebig monströs erweiterbaren Fundus an Ereignis-Tabellen, Hintergrundinfos, Hand-Outs* bis hin zu Mukke, Raumathmo und verbundenen Augen) das gemeinsame (sic!) Fabulieren in narrativen VRs betrieben. Rollenspieler kennen das In- und Nebeneinander von ›narrativer Fiktion‹ (Story) und ›Sachtext-Fiktion‹ (Enzy) entsprechend aus ihren Regel- und Kultur-, Monster-, Charakter-, Abenteuer-, Ausrüstungs-Handbüchern. Vor allem seit einer kleinen Kulturrevolution auf dem Gebiet der Rollenspiele, die sich in so ohngefähr in den Grundge-Zeiten Anfangs der Neunziger abspielte; White Wolf fuhr Erfolge mit seinen dezidiert als ›Storytelling Game‹ titulierten »World of Darness«-Reihen ein. Da gibts dann schon mal das ein oder andere besondere Buch, das keine spieltechnischen Regeln enthält, als vielmehr als Enzy-Artefakt auftritt (»Book of Nod« aus dem »Vampire: The Masquerade«-System ist mir noch in Erinnerung). Auf dem Gebiet der Comics fällt mir die wunderbaren und äußerst schönen Werke von Francois Schuiten und Benoit Peeters ein, den besten Überblick (oder die tiefste Verwirrung) bietet deren »Reiseführer zu den Geheimnisvollen Städten«. — Ich knie nieder vor VanderMeer, weil er als Prosaist selbst Gefallen an Buch-Artefakten bekundet, und auch den Mut hat, so ein aus der Phantasie-Welt übergreifendes Artefakt anzubieten.

* siehe Borges: »Tlön, Uqbar, Orbis, Tertius«, z.B. in »Fiktionen«, Fischer TB 1992.

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Mehr zu Jeff VanderMeer: • Einführung von Jeffrey Ford; • Jeff VanderMeer: Making Of »Die Stadt der Heiligen & Verrückten« Teil Eins und Teil Zwei; • dito : »Exponat H«; • dito: »Die Geschichte der Knochenschnitzer«; • Rezi von SF-Leszikel-Kammeraden Jakob Schmidt. • Wunderbare Leseprobe des Beginns von »Hoegbottons Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra von Duncan Shriek«

EDIT: Kleine Ergänzungen und Satzbügelein.

Internetforum für China Miéville-Leser

Eintrag No. 224 — Zuerst wars nur eine Mailingliste, und schwupps wurde daraus ein Internetforum mit Mailinglisten-Option.

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Bisher machen dort noch ›nur‹ knapp eine Handvoll Leute mit, aber das kann (und wird sich hoffentlich) im Laufe der Zeit noch ändern.

Ich gebe zu: die Forumsoberfläche ist nicht die knackigste und die Werbeeinblendungen nerven gewaltig. Aber es geht immerhin um einen der interessantesten und phantasie- und wortmächtigsten ›Weird Fiction‹-Autoren den man heutzutage lesen kann.

Also, wer wie ich die auf der Welt Bas-Lag angesiedelten Romane »Perdido Street Station« (»Die Falter« & »Der Weber«), »The Scar« (»Die Narbe« & »Der Leviathan« und »Iron Council« (»Der Eiserne Rat«) mag, dem empfehle ich dort mal vorbeizuschaun. Würde mich freuen, wenn wir uns dort treffen.

––––––––––– Weitere Beiträge zu China Miéville: • Kapitelstruktur der Bas Lag-Romane von China Miéville; • Tolkien als Bilbo; • Hurrah, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da; • Portrait.

Kapitelstruktur der Bas Lag-Romane von China Miéville

Eintrag No. 136 – Hier Spektrogramme der Kapitelstruktur der drei Bas Lag-Romane von China Miéville. Diese Bücher sind Avantgarde, nicht nur als Vertreter der Phantastik (Miéville bezeichnet sich selbst gerne als ›Wierd Fiction‹-Autor), sie behaupten sich auch auf dem Turnier der großen Literatur als souverän, gewichtig und vielfältig. Anempfohlen allen, die bisweilen gerne mal ein außergewöhnliches Buch zur Hand nehmen, egal aus welchem Leserbiotop man kommt. Diese drei Bas Lag-Romane bieten für den Genre-Leser eben soviel, wie dem Verköstiger postmoderner Anspruchsunterhaltung. Die ›verdrehte‹ und groteske Phantastik von China Miéville ist Metaliteratur ex Cornucopia vom Feinsten.

Natürlich könnten die drei Kapitel-Spektrograme unterschiedlich lang sein, und damit die Seitenanzahl der Bücher wiederspiegeln. Tun sie aber nicht, und man möge somit den entsprechenden Längenvergleich also selbst im Kopf erledigen.

Was sich sehen läßt, ist der ungewöhnliche Aufbau des dritten Romans »Iron Council«.

Legende Legende für Diagramme der Kapitelstruktur / Legend of Chapterogram

»Perdido Street Station« (2000), 867 Seiten als Panmacmillan-Taschebuch; Deutsch aufgeteilt in zwei Bücher: »Die Falter« und »Der Weber« Kapitelstruktur von »Die Falter« & »Der Weber« / Chapterogram of »Perdido Street Station«

»Perdido Street Station« (2000), 867 pages, Panmacmillan.

»The Scar« (2002), 795 Seiten als Panmacmillan-Taschebuch; Deutsch aufgeteilt in zwei Bücher: »Die Narbe« und »Leviathan« Kapitelstruktur »Die Narbe« & »Leviathan« / Chapterogram of »The Scar«

»The Scar« (2002), 795 pages, Panmacmillan.

»Iron Council« (2004), 471 Seiten als Panmacmillan-Buch; Deutsch angekündigt, noch nicht erschienen. Chapterogram of »Iron Council«

»Iron Council« (2004), 471 pages, Panmacmillan.
---------- Chapterograms of the Bas Lag-Novells by China Miéville (Grafimente, Dossier for Getting It, Literature) – One of my stranger hobbies is making diagrams while reading books. These images show the chapter-structure of the novells by China Miéville set on the world Bas Lag. These books are not only avantgarde among the fantastic terrain … they also joust very well on the tournament of all great literature. Recommended to everyone who likes to read one of those extraodinary books once a while, regardless from which specific bibliothop the reader comes. The wierd and grotesque imagination of China Miéville delivers metalitereture ex cornucopia of the finest.

Note that the diagrams are not analog to the length of the books. And »Iron Council« really is the odd one.


Weitere Beiträge zu China Miéville: • Tolkien als Bilbo; • Portrait; • Hurrah, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da.

Hurra, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da

Eintrag No. 42 — China Mieville und sein Roman »Perdido Street Station« haben 2002 meine fast vollkommen erloschene Begeisterung für neue Fantasy/SF wiederbelebt. Ich dachte schon, ich finde nur noch auf dem Totenacker der Literatur mich nicht langweilende oder platt dünkende Genre-Phantastik.

Nun freue ich mich, daß der Bastei-Verlag auch den zweiten Roman aus der Welt Bas-Lag »The Scar« veröffentlicht. Eva Bauche-Eppers hat wiederum die Übertragung ins Deutsche besorgt, und ich habe nach den ersten Dutzend Seiten den Eindruck, daß ihr das anerkennungswürdig gelungen ist, bedenkt man die kurze Zeit (die das Verlagsgeschäft für eine Taschenbuchübersetzung einräumt). Immerhin ist China Mievilles Stil sprachlich und imaginativ recht komplex, überbordend und das Buch ein dickes (engl. Ausgabe: 795 Seiten). Leider konnte die sehr schöne Umschlagsgestaltung des Originals nicht übernommen werden, da der Roman in zwei Teile aufgespalten wurde (Band 1: »Die Narbe«, Band 2: »Leviathan«), aber immerhin wurden die deutschen Umschlagbilder von Arndt Drechsler diesmal passend zum Inhalt gestaltet.

Doch leider sind mir auf dem Weg von Bahnhofsbuchhandlung nach Hause auch schon wieder die ersten Ausreißer aufgefallen:

  • Das Impressum gibt an, daß der erste Band die Kapitel 1-20 enthält. Das letzte Kapitel des ersten Bandes ist aber das sechsundzwanzigste.
  • Der erste Satz im Original: A mile below the lowest cloud, rock breaches water and the sea begins. Daraus wird im Deutschen: Eine Meile unterhalb der tiefhängendesten Wolke mit ihren geblähten Schlechtwetterbäuchen, stürzt Fels lotrecht in Wasser und der Ozean beginnt. - Wie der unterstrichene Teil des Satzes sich aus dem, was da im Englischen steht ergibt, kann ich nicht ganz nachvollziehen … kreativ ist es aber schon.
  • Lustiger Sachfehler auf Seite 101 (dt) wo das englische pirates of pantomime übertragen wurde mit Piraten der Pantomime. In England gibt es in der Winterzeit um Weihnachten und Neujahr die Tradition, lustige Theaterabende zu veranstalten, z.B »King Lear And His Ugly Daughters«. Da wäre Faschings- von mir aus auch Karnevalspiraten besser gewesen. Die Welt Bas-Lag ist ja gehörig phantastisch, aber ich glaube auch dort, hätte eine Schauspieltruppe mit dem Schwerpunkt Piratenpantomome kaum Ruhm.

Aber, weg ihr Nörgelgedanken. Ich bilde mir ein deutlich zu bemerken , daß Frau Bauche-Eppers mit der vielstimmigen Sprache von Mieville vertrauter ist, als noch bei Perdido Street Station. Nicht oft kommt es vor, daß mir das Lesen einer Übersetzung dermaßen Spaß macht. Also ihr Fantasy-Recken und Phantastik-Gourmets: lauft in den Buchladen oder klickt euch diese Romane ins Postloch..

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