molochronik
Donnerstag, 3. Januar 2008

Neal Stephenson: Der »Barock-Zyklus«, oder: »It’s the economy, stupid«, neben, ach, so vielen anderen Dingen

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2007 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Hier nun korrigiert und exklusiv um einige weiterführende Links erweitert.
••• Hier gehts zum Trailer der Sammelrezi mit Introdubilo und Warentrenn-Überleitungen.}

•••

Eintrag No. 430 — Die Zwickmühle ist erstmal, wie ich einen Autoren und sein neuestes Großwerk beschreiben soll, zu dem ich als Leser (und erst recht als noch schubladenbeliefernder Selberfabulierer) mit schon fast ehrfürchtigem Staunen aufblicke? Oder für alle, denen das zu weihrauchrig klingt: Was kann ich Stubenhockerdolm schon groß Kluges über so ein exorbitant reichhaltiges, vielstrangig- und gestaltig ausuferndes, klug und exzessiv recherchiertes, tolldreist-spekulierenden Firlefanz verbreitendes, entwaffnend facettenreich inspirierendes Ideengroßpanoptikum schreiben? Noch dazu, wenn es wahrscheinlich ist, dass empört oder zweiflend Einspruch erhoben wird aus Gründen der Genrereinheit , da der Barock-Zyklus strenggenommen ja ein historischer Roman und keine Fantasy ist. — Bitte, seid mal nicht sooo streng mit den Grenzkontrollen und laßt Euch davon beschwichtigen, dass es keine verrenkte Sichthaltung braucht, um manch enge verwandschaftliche Bande zwischen Historien- und (vor allem epischer) Genre-Phantastik erkennen zu können.

Zudem! Schon die schriftstellerische Entwicklung die Neal Stephenson (1959) bisher hingelegt hat, macht ihn von Beginn weg als einen Maximalliterarten kenntlich: seine beiden ersten nichtveröffentlichten Romane waren epische Fantasy-Versuche (einer davon mit Schwerpunkt Geologie). Stephenson debütierte erst mit seinem dritten Manuskript, dem ungestüm-munteren Campuskriegsreisser »The Big U« (1984), in dem bereits u.a. intelligente Ratten, fanatische Rollenspielfreaks und alternative Realitäten vorkommen. Mit seinem (stilistisch schon barock anmutenden) Cyberpunk-Flick »Snow Crash« (1992) erlangte Stephenson Kultautoren-Status, dank seiner Vision eines Internets mit 3D-Graphik, die angeblich so manches Sillicon Valley-Start Up-Unternehmen zum Geschäftsplan inspirierte (siehe »Second Life«), und verschmolz damit eine Einführung in die Meme-Theorie anhand babylonischer Mythologie/Frühgeschichte. Mit »Diamond Age« (1995), einer schwindelerregenden Nanopunk-SF-Achterbahnfahrt, diesmal mit der Viktorianischen Epoche als historischen Ideen-Wetzstein, spekuliert Stephenson merklich reifer als zuvor über die Möglichkeiten z.B. maßgeschneiderter Erziehung und die gesellschaftlichen Verwerfungen beim Eintritt in ein Zeitalter schier unbegrenzter Überflußökonomie[01]. Dann verabschiedete sich Stephenson von der klar bestimmbaren Genreschublade der SF und legte 1999 mit »Cryptonomicon« den ersten anständigen Abenteuerroman über das heutige, von Computern geprägte Informationszeitalter vor, und diesmal zeitnäher als bisher, dem 2. Weltkrieg als geschichtlichem Schallraum. »Cryptonomicon«, und der nun damit in loser familiärer Verbindung stehende »Barock-Zyklus« gehören keinem der normalen Phantastik-Genres an, auf den ersten Blick zumindest. Immerhin spielen diese Romane in unserer Welt (naja: einer leicht überhöhten Räuberpistolen-Mutation unserer Welt), und die phantastischen Elemente quellen einem nicht gleich mit großem Hallo entgegen, noch sind sie sonderlich zahlreich. Doch wie Stephenson erklärt, hat er sich in »Cryptonomicon« der Gegenwart der Internet-New Economy und der Geheimbotschaftskriege, und im »Barock-Zyklus« der Zeitenwende vom 17. zum 18. Jahrhundert, mit den sehr spezifischen Sensibilitäten eines (SF)Phantastik-Genreautors gewidmet. Das macht nun vor allem den umfangreichen »Barock-Zyklus« zu einem jener Bücher, die man völlig zurecht als phantastische Meta-Fiktion bezeichnen kann. Die wenigen Betrachtungsrahmen die genug Weitwinkelperspektive zulassen, damit die dieser Zyklus durchpaßt, sind zu komplex, um daraus griffige Vermarktungsettiketchen abzuleiten.

Andererseits läßt sich Stephenson aber damit locker einer Autorengruppe zusprechen, die sich eben herzlich wenig um das Eiteitei von Genregrenzen schert, und der (grad deshalb?) außerordentlich frische und kraftvolle Phantastik gelingt. Aufgrund meiner gehegten Schwäche für diese Grenzüberflieger empfiehlt sich mir Stephenson als einer der reizvollsten zeitgenössischen Fabulatoren. Auf meiner Lektürekarte liegt ›Mount Stephenson‹ an einem Lauf des schillernden Flußgeaders, von dessen Ufern auch Meta-Phantasten wie Umberto Eco, Matt Ruff, Michael Chabon oder Lawrence Norfolk ihre Romanschiffchen auf den Weg schicken[02]. Als jemand, der stets auch schon mit der Romanform selbst spielt und diese auszureizen trachtet, macht Stephenson auch im Vergleich mit solchen regelmäßig außer Rand und Band geratenden US-Romanciers wie Thomas Pynchon[03] oder T.C. Boyle (z.B. »Wassermusik«) eine gute Figur. Stephensons Romane eignen sich vorzüglich dazu, gedankenknoblerische Probleme zu bereiten[04], oder sich zu 1001 ertragreichen Recherechespaziergängen in Sachbuchgefilden anregen zu lassen.

Der »Barock-Zyklus« ist keine Trio, auch wenn der Handhabe wegen seine acht Einzelbücher in drei Bänden erschienen. Band 1 »QUICKSILVER« beginnt mit Buch 1 »Quicksilver« (27 Kapitel), widmet sich vornehmlich dem brodelndem Kessel der Vergangenheit. In der Gegenwartshandlung kommt Enoch Root, ein unsterbliche Alchemistenmeister, 1713 in die neue Welt nach Bosten, um dem alten (Ex-)Puritanier Daniel Waterhouse den Auftrag einer Prinzessin zu überbringen: Daniel soll nichts weniger, als den weltbilderschütternden Magier- äh Gelehrtenstreit zwischen Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz schlichten. Daniel regelt seine Familienangelehenheiten und bricht mit dem Schiff ›Minerva‹ nach Europa auf, und Stephenson versteht es meisterhaft, uns eine langwierige jedoch äußerst fingernägelgefährende maritime Verfolgungsjagd zu liefern, denn im Auftrag obskurantistischer europäischer Mächte will der für seine Grausamkeit berüchtigte Pirat Blackbeard Daniel aufhalten[05]. Vermengt damit wird dem Leser in längeren Rückblicken auf den Zeitraum von 1655 bis 1673 der Werdegang Daniels geboten. Abwechslungsreich wird davon erzählt, wie der Sohn eines radikal-fundamentalistischen Predigers als Jugendlicher zum Busenfreund des (im unheimlichen Sinne) engelsgleichen Newton wird; wie er sich mit diesem zusammen für die Naturphilosophie begeistert und Isaac z.B. bei schweißtreibenden Augenexperimenten behilflich ist. Überhaupt: die Einblicke in die Kindertage der Royal Society bieten haarsträubende und nervenaufreibende Passagen, weniger, wenn Isaac Sonnenuhrenschatten beobachtet, schon eher, wenn Robert Hooke durchs Mikroskop guckt, aber getollschockt hat mich dann doch, wie eine Handvoll Naturphilosophen Hunde bei lebendigem Leib sezieren. Über den gemeinsamen Mentor in Sachen symbolische Logik[06], den einzigartigen Bischof Wilkins[07], lernt Daniel auch Leibniz (›Das Monster‹) kennen und schätzen[08]. Daniel macht seine ersten wackeligen Schritte als politischer Hinter den Kulissen-Spieler im Ringen um Englands Verfassung in Sachen Religion und Thronfolge. Zudem gilt es den ersten Sabotageplott aufzudecken (Manipulation von Kanonenpulver, durch das englische Schiffe in die Luft fliegen).

Szenenwechsel und zurückgesprungen in der Zeit bis 1665, stellt Buch 2 »König der Landstreicher« (18 Kapitel) die zweite männliche Hauptfigur vor, Jack Shaftoe, der mit seinen Brüdern aus der Gosse Londons stammt. Als kleine Buben verdienen die Shaftoes ihr erstes Geld damit, unachtsame Freier zu beklauen, und sich als Gewichte an die Beine von Galgenvögeln zu hängen[09]. Kleiner Zeitsprung vorwärts und wir begleiten Jack als jungen Twen auf dem Weg zum Krieg gegen die Wien belagernden Türken. Die ca. 20 Seiten mit Jacks chaotischer Jagd eines Straußenvogels quer durch das türkische Lager und wie er die Haremssklavin Eliza mitten im Schlachtgetümmel aus den Fängen ihrer Henker befreit, gehört zu der Handvoll bester Äktschnpassagen, die mir in über 20 Leserattenjahren untergekommen sind. Als Kind wurden Eliza und ihre Mutter von einem französischem Sklavenschiff vom Strand ihrer (fiktiven) Heimatinsel Quwglm entführt. Jack und Eliza geben im »Barock-Zyklus« das melodramatische Liebespaar. Es ist eine Wonne, wie der tollkühne Jack von der hochintelligenten und verführerischen Manipulationsmeisterin Eliza gezähmt wird[10]. Die beiden schlagen sich durch das unheimliche und trübe Deutschland, das nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges immer noch als Wüstenei darbt. Es gibt: Hexensabbat auf dem Brocken; Kriechabenteuer in Bergwerksschächten (mit ›leuchtet im Dunklen‹-Superheldenhomage); nettes Geplausche mit Leibniz über Romane und Geheimbotschaftverschlüsselung; Jacks Kapriolen als Partyschreck die Ludwig XIV. einen schönen Party-Abend versauen; Elizas Begegnung mit Wilhelm von Oranien, der ihr einen geheimen Herzoginnenstitel verleiht, ihre Anfänge als durchtriebene Börsenbrokerin und schließlich das tragische Zerwürfnis zwischen Eliza und Jack, weil er sich naiverweise (ohne es zu ahnen) am Sklavenhandel beteiligt. Auf dem Schiff ›Die Wunden Gottes‹ reist er ins Unglück und wird von arabischen Piraten vor der Nordafrikanischen Küste gefangen genommen.

Buch 3 »Odalisque« (22 Kapitel) knüpft wieder an Daniels Geschichte weiter, wie er sich in den heruntergekommenen Whitehall Palace begibt, um James II. offiziell vom Ableben George II. zu unterrichten. Ansonsten steht Eliza im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wir begleiten sie von 1685 bis 1689 durch Norddeutschland, die Niederlande, und Frankreich, zu den inneren Kreisen des Versailler Sonnensystems mitsamt seinen vertrackten Intrigen und Eifersüchteleien, Big Brother-Überwachung und Satanisten-Machenschaften, Maskenbällen, Finanz- und Rohstoffproblemen. Eliza unterstützt als Spionin das geheime Großprojekt von Leibniz und Daniel (Baus einer Denkmaschine), wird von einem Bastard Ludwigs geschwängert und rettet eine Prinzessin.

Band 2 »CONFUSION« springt nun von 1689 bis 1702 zwischen Europa und Exotik hin und her, vermengt beides, ganz der Programmatik des Titel entsprechend. In Buch 4 »Bonanza« (14 Kapitel) sind wir mit Jack Shaftoe unterwegs, der wieder frei mit neun seiner Ruderbankkammeraden einen gigantischen Riffificoup durchzieht[11]. Die bunte Truppe verdeutlicht für mich sehr überzeugend, dass Aliens, Elfen und andere seltsame Humanoiden der Genre-Phantastik oftmals nix anderes sind, als dekorativ übertriebene oder vereinfachte Fremde und/oder Außenseiter[12]. Ostwärts geht's für Jack & Co einmal um den Globus, mit Straßenschlachten auf dem großen Markt von Kairo, Sprengstoffgewinnung aus Pisse in Indien, den Geheimnissen der Edelstahlfertigung, ausgeklügelten Quecksilberschwingungsfallen in einem japanischen Hafen, von Sturm und Feuersbrünsten heimgesuchten Pazifiküberquerungen, und als finsterer Höhepunkt münden die beiden Romane des zweiten Bandes in einer mark- und beinerschütternden Folter/Vergewaltigungs-Doppelpackung.

Derweil folgt Buch 5 »Das Komplott« (50 Kapitel) Elizas und Daniels Wegen. Eliza steigt zur Doppelherzogin auf und glänzt als Finanzmagiern, Beschützerin von Prinzessinen und leidgeprüfte Mutter. Ach ja: Peter der Große und sein Rudel poltern in diesem Band auf eine Art durch die Szenerie, dass mir ganz flau vor Lachen und Gruseln wurde. Newton und Leibniz (bzw. ihre Anhänger) debatieren sich in den großen Streit hinein, u.a. dazu, ob Newtons atomistisches oder Leibniz monadisches Weltbild stimmt[13]. Newton entschließt sich die Leitung der englischen Münze zu übernehmen, und das zu einem Gutteil auch, weil er aus alchemistischem Interesse äußerst erpicht darauf ist, dass von Jack & Co. geklaute spanische Gold in die Finger zu bekommen. Daniel schließlich bricht am Ende des Bandes ‘gen Bosten auf, um für die nächsten 17 Jahre (siehe Beginn des ersten Bandes) einen (fiktiven) Vorläufer des MIT zu betreiben, und sein ›Comenius-Wilkins-Leibniz'sches, Pansophisch, Arithmetisches Maschinenlogisches Vernunftalgebraisches, Automatisch Rechnendes Behältnis allen Wissens‹ voranzutreiben[14].

Hat man bisher geglaubt, dass Stephenson schon sein Limit an kleinteiliger Ausbreitung historischer Feinheiten erreicht hat, wird von »PRINCIPIA« (engl: »The System of the World«) (Januar bis Oktober 1714) wohl nochmal überrascht werden. Die Detail- und Lebensfülle mit der London, vor allem der berüchtigte Tower und das Newsgate-Gefängnis beschrieben werden, hat mich schlicht geplättet (Oh, welch Wonnen der lustvollen Überforderung!). Zugegeben: ohne einem zumindest ansatzweise vorhandenem Interesse für Stadt- und Gebäudearchitektur und/oder Sozial- und Kulturgeschichte ist das sicherlich nicht sooo aufregend, wie ich hier juble. Aber es tut sich ja auch ordentlich viel, so kommt in Buch 6 »Salomons Gold« (29 Kapitel) der alte Daniel in Südengland an, und bestaunt die ersten Versuche des Dampfmaschinenbaus. Irgendwer trachtet entweder ihm oder Isaac mit Höllenmaschinen (Bomben mit Uhrwerkzeitzündern) nach dem Leben, und in Buch 7 »Währung« (29 Kapitel) und Buch 8 »Das System der Welt« (41 Kapitel & 5 Epiloge) geht es dann richtig rund mit bürgerkriegsartigen Unruhen in London, verbissenen Kämpfen bei denen die Gegner wie Gozillas ganze Häuser platt machen, einem Duell zwischen Sklaven und Sklavenhändler mit Kanonen, und es schließt sich der Kreis des großen Hauptthemas ›modernes Finanz- und Währungswesen‹, dass in Buch 1 mit einem jugendlichen Newton anhob, als dieser über das unübersichtliche Münzdurcheinander seiner Heimat bass erstaunt ist. Zuletzt gipfelt alles in einem philosophischen (sic) Showdown zwischen Newton und Leibniz, bei dem Globen rollen.

Diese Zusammenfassung ist freilich eine lächerliche Peinlichkeit, denn selbst doppelt oder dreimal so viel Worte könnten nur einen vagen Überblick des enorm stoffreichen Zyklus bieten, und ich komme mir vor, wie ein Kandidat, der an dem von Monthy Python erfundenden Wettbewerb teilnimmt, Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlohrenen Zeit« in einer Minute nachzuerzählen.

Schon mit seinen SF-Romanen hat mich Stephenson überrascht, mit der angenehm flüssig zu lesenden Kurzweiligkeit seiner erklärenden Prosa, denn unspannendes Technikblabla ist auch für mich eine lästige und ermüdende Plackerei, durch die mir SF-Lektüre schnell zu anstrengend und freudlos wird. Nicht so bei Stephenson, dem ich zutraue, dass sogar von ihm verfasste Mobiltelefongebrauchsanleitungen noch eine spannendere Lektüre für mich abgäben, als der x-te Band eines Genre-Franchise.

Für die Leser bleibt eigentlich nur die Möglichkeit sich dem Zyklus zu ergeben, hineinfallen und von seinen Strömungen mitnehmen zu lassen, und wie so manche begeisterte Rezensenten zu jauchzen: »Zu viel, denkt man, zu konfus, mehr davon!«[15], oder diese drei Bücher eben zu meiden. Da ich hier ausdrücklich Lese- und keine Kaufempfehlungen gebe, sei empfohlen, auf die (nicht ganz so schmerzlich kostspieligen) Taschenbücher abzuwarten, oder mal bei Freunden und Büchereien zu lugen, und in den ein oder anderen Band des »Barock-Zyklus« reinzulesen, denn ich wage zu versprechen: findet man hinein in dieses gewundene Labyrinth, bleibt man erstmal darin hängen, ist das Vergnügen ein auf Jahre prägendes.

•••

Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

•••

»Barock-Zyklus I: Quicksilver« (engl. 2003 / dt. gebunden 2004, Taschenbuch 2006), Karte vorne: Europa; Karte hinten: London im Jahre 1666 nach dem großen Feuer; Personenverzeichnis, Stammbäume und einige Abbildungen; 62 Kapitel, ca. 1152 Seiten; ISBN: 978-3-442-46183-7
»Barock-Zyklus II: Confusion« (engl. 2003 / dt. gebunden 2006, Taschenbuch 2008); Karte vorne: Europa, Afrika, Vorderer Orient / Nordsee; Karte hinten: Indischer und pazifischer Ozean / Mittelamerika; 64 Kapitel, ca. 1024 Seiten; ISBN: 978-3-442-46662-7
»Barock-Zyklus III: Principia« (engl. 2004 / dt. gebunden 2008); Karte vorne: London / Fleet-Gefängnis; Karte hinten: Die Themse und Umgebung / Tower von London; 104 Kapitel, ca. 1120 Seiten; ISBN: 978-3-442-54607-7.
Alle drei Bände brillliant übersetzt von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller.

•••

ANMERKUNGEN:

[01] »Diamond Age« ist immer noch mein persönlicher SF-Lieblingsschmöker eines Zeitgenossens. Warum? Hier nachzulesen: http://molochronik.antville.org/stories/766431/ ••• Zurück
[02] Umberto Ecos in der Zeit von Barbarossa spielender »Baudolino« verarbeitet die Fantasy-Propaganda über fiktive christliche Reiche im Orient; Matt Ruff legt mit »Ich und die Anderen« eine Innenwelt-Psycho-Fantasy-Quest-Romanze im heutigen Amerika vor; Chabon erzählt in »Die unglaublichen Abenteuer von Kevalier und Clay« über zwei fiktive Comic-Pioniere und ihren eskapistologischen Superhelden und Norfolk hat in »Lamprier's Wörterbuch« und »In Gestalt eines Ebers« köstlich über Confusionen von Fakt und Phantasie fabuliert. ••• Zurück
[03] Was Willi Winkler in der »Literaturen« vom März 2007 über Pynchons neusten Wahnwitzschmöker »Against the Day« schreibt, scheint mir auch bis auf I-Tüpflechen auf Stephensons Romanen passen:
»Diesen Autor treibt das studentische Bedürfnis, die Welt nicht nur zu durchschauen, sondern auch noch zu retten. {…} Er ist Bastler, Ingenieur und möchte nichts Geringeres, als dem Welträtsel auf die Spur zu komen.«

••• Zurück

[04] Jedoch: Probleme bieten Gelegenheiten fürs Raffinessezeigen. Knoten wollen gelöst werden und Geschichtenerzählen ist immer Knüpfkunst bzw. -handwerk. ••• Zurück
[05] Erste ›Cliffhanger‹-Zumutung, und typisch für ein derart ambitioniertes Werk: erst nach über 1000 Seiten wird dieser Handlungsfaden zu Beginn des dritten Bandes wieder aufgenommen. ••• Zurück
[06] Grob gesagt Vorläufer u.a. moderner zeichentheoretischer, mathematischer & steuerungstechnischer Disziplinen wie Kybernetik, Programmierung und Informationstheorie. ••• Zurück
[07] Mit »Mercury, or the Secret and Swift Messenger« (1641) der erste Sachbuchautor in Sachen Geheimcodes, zudem mit seinem satirischen Mondfahrtabenteuer von 1634 ein SF/Phantastik-Pionier. Wilkins dient Stephenson auch als Anschauungskandidat, wie elendig in der damaligen Zeit Leute an so einer ›Kleinigkeit‹ wie Nierensteinen verreckt sind. Wie betet doch Samuel Pepys (dessen erotische Tagebücher von Helmut Krausser herausgegeben jüngst bei Eichborn erschienen sind) so schön ehrfürchtig:
»Herr des Universums, … Preis und Dank sei Dir dafür, dass Du uns die Gaben der Vernunft geschenkt hast, dank deren das Verfahren der Lithotomie erfunden wurde…«

Aus: »Confusion«, S. 623. Siehe auch Fußnote 10. ••• Zurück

[08] »Es gibt zwei berühmte Labyrinthe, in denen sich die menschliche Vernunft oft verwirrt« wie Leibniz meint. Der eine Irrgarten hat mit dem Wiederspruch zu tun, ob der Mensch bei seinen Entscheidungen und Meinungen Willensfreiheit genießt, oder ob er nicht doch gemäß göttlicher Vorherbestimmung (Predestination) handelt. Das zweite Labyrinth bezieht sich auf das Problem der Kontinuität oder des Unendlichen, was sich auch als Frage formulieren läßt, die in ihrer Einfachheit schon wieder mystisch klingt: Was ist der Raum? ••• Zurück
[09] Köstlich, wie die Knaben den Verurteilten mit einer theatralischen Werbung augenfällig vorspielen und singen, welchen Todesqualen verkürzenden Wert ihre Dienstleistung bietet. ••• Zurück
[10] Unter anderem durch Elizas Tantra-Gaben, mit denen sie Jacks vom Druck jahrelang angestauter »gelber Gallenflüssigkeit« befreit. Jacks Geschlecht wurde nämlich bei einer schiefgelaufenen, besoffenen Syphilis-›Operation‹ durch ein glühendes Eisen verbrutzelt, was ihn den Spitznamen ›Schuß-in-den-Ofen-Jack‹ (Half-Cocked Jack) bescherte. ••• Zurück
[11] Guckt Euch mal »Oceans 11«, 12 und 13, oder entsprechende Klassiker wie »The Sting« durch die Fantasy-Genrebrille an; Einbruchsmagische Künststüchcken in leicht überhöhter Echtweltwirklichkeit. ••• Zurück
[12] Bei den Schwarzalben der Edda überkommt mich kein Elfenschauer, sondern die Vermutung, daß die alten Nordeuroäer damit wohl die dunkelhäutigeren Südeuropäer, Afrikaner und Araber meinten. Und wenn ich daran denke, daß im Bergbau der Altvorderen bis hin ins junge 20. Jahrhundert sich Kinder kaputtschufteten, erscheinen mir die typischen McFantasy-Zwerge beunruhigend schal und verlogen. Aber warum sollte es bei Phantastik anders sein, als bei Wurst- und Gesetztmacherei? Weiß man erstmal, wie Wurst und Gesetzte fabriziert werden, kann einem der Appetit, bzw. der Glaube zum aktuellen Stand des Parlamentarismus vergehen.
Hier sozusagen als Trailer Jacks Meisterdiebande (»Confusion«, S. 42): 1) Jewgeni, der Raskolnik, auch der ›Rus‹ genannt; 2) Mr. Foot, ehemaliger Inhaber des ›Bombe & Enterhaken‹ in Dünkirchen und jetzt Unternehmer ohne Portfolio; 3) Dappa, ein Negerlinguist und Anti-Sklavereipamphletautor; 4) Jeronimo, ein unflätiger, aber hochgeborener Spanier; 5) Nyazi, ein Kamelhändler vom oberen Nil; 6) Moseh de la Cruz, der Kohan mit dem Plan; 7) Gabriel Goto, ein Jesuitenpriester aus Japan und Samuraischwertmeister; 8) Otto van Hoek, ein holländischer Seemann und Piratenhasser; 9) Vjej Esphahnian, Spross einer in aller Welt verstreuten armenischen Händlerfamilie. ••• Zurück
[13] Leibniz im Zwiegespräch mit Newtons Fanboy Fatio:
»Perzeption (Wahrnehmungsvermögen, A.d.Molo) und Denken sind Eigenschaften der Seelen. zu postulieren, dass der Grunbaustein des Universums Seelen sind, ist nicht abwegiger, als zu behaupten, es seien kleine Stücke harten Stoffes, die sich im leeren Raumumherbewegen, welcher von geheimnisvollen Feldern durchdrungen sei.«

Aus: »Confusion«, S. 388). ••• Zurück

[14] »Confusion«, S. 755. Auf englisch: ›Comenius-Wilkins-Leibniz Arthmetickal Engine-Logick-Mill-Algebra of Ratiocination-Autopmatic Computation-Pepository of all Knowledge project‹ (S. 624). ••• Zurück
Mittwoch, 2. Januar 2008

»Ihr habt alle recht obwohl Ihr nicht diskutieren könnt!«

(Eintrag 429; Gesellschaft, Medien, Deutungshickhack, Alltag) — Hierzulande läßt sich in letzter Zeit desöfteren ein ›Krach-Peng‹ und ›Ka-Wumms‹ vernehmen, wenn die Animösitäten von Vertretern der etablierten (Old School-)Medien und frischfrommfröhlichfrei daherschreibender Blogger aufeinanderkrachen.

»Ihr seid raunzender, Dummgrütze verbreitender Pöbel, ohne Relevanz, ohne Qualitätsansprüche, ohne Hirn und Geschmack oder Anstand und kritzelkratzelt den lieben langen Tag eierschaukelnd und chipsverschlingend die Klowände der Öffentlichkeit voll«, so in etwa die bescheidene Kritik der Etablierten an den Bloggern, Forums- und Chitchat-Parasiten.

»Ihr brutzelt, saturiert und gepuderzuckert mit’m Rüssel am Schwanz des Vorderelephanten in Eurem an der Tatsächlichkeit der Verhältnisse vorbeitüdelnden Klügnelpool und maßt Euch an, die Lahmarschigkeit Eurer Weltsicht als Qualitätsjournalismus zu postulieren«, so dreckschleudert es aus der Blogosphäre zurück.

Die Wahrheit liegt wie immer wohl irgendwo zwischen diesen beiden Refrains des Deutungshoheits-Watschentanzes. So lästig und verwirrend das alles sein mag, das Vielerlei an hysterisch-behämmerten Extremmeinungen ist eine Schau.

Als Überblick zu diesem Ringelreih seien Andreas Einträge »The Poesiealbum strikes back« und »Dekadente Artefakte«, sowie (etwas allgemeiner) »Bärtige Prinzessinen und seltsame Geweihe« empfohlen. — Sehr schön ist auch die lustige von Florian Steglich zusammengestellte Liste, mit den 50 exemplarisch Schwachsinnsröhrern über das Internet des Jahres 2007.

Meine Meinung? — Nun, ich lese gerne Zeitungen, höre gerne Radio, auch wenn ich mich ärgere, dass die etablierten Medien so gleichgeschaltet sind. Ich les auch gerne manche Blogs, und tummle mich auch gern in einigen Foren. Gottseridank kann ich Englisch, denn das deutschsprachige Internet würde meinen Bedarf an Qualitätsbeiträgen (egal ob etablierte Medien oder Blogger und Co) nicht zu decken vermögen.

Zur allgemeinen Auffrischung hier noch ein kleiner Auszugs-Remix aus dem Buch »Praxis Internet – Kulturtechniken der vernetzten Welt«, Hrsg. von Stefan Münker und Alexander Roesler (edition suhrkamp, 2002 {sic}), Essay »Vom Mythos zur Praxis« (Beitrag der Herausgeber), S. 15 bis 17. (Fette Hervorhebungen von Molo.)

Medien sind nicht neutral. Was sie sind, wird bestimmt durch das mehr oder weniger offene Wechselspiel dreier Faktoren: ihrer technischen Beschaffenheit, ihrer mythischen Aufladung und ihrer pragmatischen Verwendung. {… es ist} die mythische Aufladung, welche durch phantasiereiche Erzählungen und eingängige Bilder den kollektiven Willen unterstützt, das neue Medium in der Gesellschaft umzusetzten. {…} Die Parallelität von Entwicklung, Mythos und Verwendung des Internet läßt sich beispielhaft an drei ebenso grundlegenden wie folgenreichen Prinzipien illustrieren, die der technischen Struktur des Mediums implementiert sind, sich in seinem pragmatischem Gebrauch immer wieder fortschreiben und Ausgangspunkt aller utopischen Aufladung sind: Den Prinzipien der Dezentralität, der Unabhängigkeit und der Interaktivität.
Soweit, so gut. Auf S. 21 dann etwas wichtiges über die Natur des Internetes:
Die Kommunikationsstruktur, als welche das Internet entwickelt wurde, ist — Resultat der strategischen Erfordernis der Flexibilität — von Anfang an und unwiderruflich so realisiert, daß theoretisch jeder User Sender und Empfänger in einer Person sein kann. {…} Klassische Verbreitungsmedien und Archive aber sind gerade nicht interaktiv. {…} Der Verzicht auf Interaktivität ist die Bedingung der Möglichkeiten von Massenmedien.
Und jetzt hineingezoomt in das Hin- und Her bzgl. Zähmung des Internets (S. 23 u. 24):
… sowenig die utopischen Impulse der Netzgemeinschaft(en) sich gesamtgesellschaftlich umsetzten ließen, sowenig läßt sich das Intertnet je vollständig gesellschaftlich integrieren und politisch, sozial oder ökonomisch regulieren. {…} Will man das anarchistische Potential des Netzes kontrollieren, dann gibt es nur eine Möglichkeit: das Netz in seiner Gesamtheit abzuschalten. Das jedoch könnte nur ein totalitärer Weltstaat.

Und gleich der zweite Beitrag des Buches, »Remilitärisierung des Cyberspace« von Claus Leggewie, bietet weitere beherzigenswerte Gedanken zum Thema. — Da findet sich erstmal auf S. 27 der Internet-kritische Satz, dass…

{… das} Internet auch ein gigantisches Desinformationsmedium {ist}, auf dem sich unsägliche Trittbrettfahrer des Wahnsinns tummeln und den Terror der wirklichen Welt kongenial vollenden.
Ein gigantisches Desinformationsmedium zu sein, trifft aber genauso auf mancherlei z.B. privatwirtschaftlich initierte Propaganda-Kampagnen zu (siehe z.B. Privatisierung öffentlicher Güter). Abgesehen davon, pflegen auch so manche Staaten und Politiker ein entsprechend laxes Verhältnis zur Wahrheit (Rumsfeld, Barschel und Konsorten).

Noch nachdenklicher aber stimmt Leggewies Auseinanderklamüserei dazu, welche vier bedenklichen Entwicklungen die politische Qualitätsinformationen bedrohen (S. 32f):

  1. Entpolitisierung der öffentlich-rechtlichen Medien durch Konkurrenz- und Quotendruck durch Kommerzmedien; Zuflucht zu Klamauk und Infotainment;
  2. Private Unterhaltungskonzerne wollen das Internet zu einem ihre Sender ergänzenden ›Push-Medium‹ zurechtstutzen; (kritische) Politikinhalte werden zu einem Spartenprogramm für entsprechende Freaks;
  3. Auf dem öffentliche Bildungssektor droht das Vordringen der neuen Medien zu einem Vehikel für Technik- und Ökonomisierungsoffensiven zu werden; Allgemeinbildung, Sozial- und Kulturwissenschaften werden dadurch aufs Abstellgleis geschoben;
  4. Freie Meinungsäußerung droht beschnitten zu werden, weil man aus Angst vor Radikalismus und Porno die Cyberpolizei, Zensur und Filtertechniken zu Hilfe ruft.
Leggwie resummiert desweiteren (S. 34 bis 36), dass sich das Internet als Medium bestens dazu geeignet, Einweg-Formate zwischen Sender und Empfänger zu überwinden. Nicht als Massenmedium, sondern durch seine ›klein aber fein‹-Aspekte kann das Internet …
… im Erfolgsfall weit mehr Menschen in den demokratischen Verständigungsprozess einbeziehen, als es sich herkömmliche Medien in ihrer »Interpassivität« auch nur träumen lassen können.

Oder wie ich das seh: Weg mit dem Monopol der Pyramiden, her mit dem flauschigen Gewuschel von Pilzgeflechten. — So. Jetzt hab ich Euch wieder vollgeschwätzt. Dabei wollte ich eigentlich den Lesern und Kommentiern der Molochronik ein Kompliment machen. Hier gibts bisher keine Trollereien, keine ekligen Polemiken, sondern zuweilen sogar intensiven, sich durch Respekt auszeichnenden Meinungsaustausch. Woanders mag das anders sein, aber ich bin froh und (soweit ich das Gefühl trotz Verklemmtheit zulasse) auch stolz auf Euch. Weiter so, Ihr Lieben!

Dienstag, 1. Januar 2008

Idee für Organspende-Ausweis

(Eintrag No. 428; Gesellschaft) — Derzeit gibt es noch zuwenig Organspenden und so sterben Patienten, die welche brächten. Jedoch: die Kontrolle in Sachen Organspende funktioniert nicht so recht. Die zuständigen Kontrollen fassen nicht, da die Unterlagen nicht ordentlich ausgefüllt werden. Dennoch spiegelt sich in den unvollständigen Statistiken über Organspenden und Organempfängern etwas, was Angst und Mißtrauen auslöst: Privatpatienten werden — wie auch sonst in unserer Zweiklassenmedizin — als Empfänger für Organspenden bevorzugt.

Falls ich meinen Hintern mal hochbekomme, dann werd ich mich erkundigen, ob sich ein Organspender-Ausweis durch eine Zusatzklausel ergänzen ließe. Ich würde Organe spenden (wohlgemerkt: nach meinem Ableben), aber nur, wenn gerantiert werden kann, dass ein bedürftiger Mensch, kein Privatpatent, meine Organe bekommt.

Ansonsten: willkommen im neuen Jahr. (Kann ja nicht immer nur brütent Muffeln, muß auch ein wenig die Form der Jahreszeitenrituale pflegen.)

Mittwoch, 19. Dezember 2007

Poetikvorlesung mit Helmut Krausser

(Eintrag No. 427; Woanders, Literatur, Pathos) — Eine der regelmäßigsten Stiche meines schlechten Gewissens, bzw. meiner selbstwahrgenommenen Unzulänglichkeit gründet darin, dass mir bisher noch viel zu wenig Einträge über Helmut Krausser gelungen sind. Immerhin ist er einer der wichtigsten lebenden Kreativen für mich.

Da freut es mich, nun »Die Sprachspielerin« gefunden zu haben. Sie berichtet nämlich über die Poetikvorlesungen von Krausser. Es geht um »Pathos und Präzision«.

Erster Teil vom 08. Nov. 2007:

Er feiert das Pathos nicht, aber er befürwortet es besonnen, möchte es wieder aufgenommen wissen ins Repertoire stilistischen Handwerkszeugs, gerne gepaart mit Ironie, verteidigt es gegen Kritiker, die nur noch Textökonomie unterstützen und Klarheit. Pathos sei eine Übertreibung und Verdeutlichung, eine Unterstreichung der Wichtigkeit, ein Schritt an die Kante, bewege manche Menschen, während es für andere nur schwer erträglich sei. Kinder und Jugendliche würden magisch vom Pathos angezogen, es scheine etwas natürliches zu sein, was den Menschen erst später ausgetrieben werde. Und schließlich: Kunst ohne Pathos sei unmenschlich und blutleer.

Zweiter Teil vom 09. Nov. 2007:

Ganz anders als Alban Nikolai Herbst in seiner Heidelberger Poetik-Vorlesung befürwortet Helmut Krausser eine Trennung zwischen U- und E-Literatur überhaupt nicht und meint sogar, die E-Literatur sei zumeist marginal, beleidigt, von sich selbst eingenommen und messianisch, obwohl sie ein Randdasein friste. Man solle doch lieber den Reichtum des Nebeneinander anerkennen und genießen. Krausser ist der Meinung, gute Literatur müsse es auch mit Harry Potter oder einem Computerspiel aufnehmen bzw. auch eine Dreizehnjährige ohne viel Leseerfahrung begeistern können.

Dritter Teil vom 06. Dez. 2007:

Kraussers Blick auf die Zukunft: eine neue Romantik, ein neuer Idealismus, ein Sturm-und-Drang des Inneren deute sich zumindest an (auch wenn eine neue Epoche sicher neue Benennungen hervorbrächte). Die Behauptung, nach Joyce könne man nicht mehr auktorial schreiben, stamme von Autoren, die weder auktorial nocht sonst wie schreiben könnten. Ein Autor könne niemals etwas für die Nachfolgenden einengen, die einfachste Definition von Kunst sei schließlich immer noch ‘Bereicherung der Welt, Erweiterung des Horizonts’, das stünde ganz im Gegensatz zu einer Einschränkung.
Samstag, 15. Dezember 2007

Zeitungskonditor

(Eintrag No. 426; Grafimente, Gesellschaft) — Wie man ein Blatt mit Inhalt füllt.

Print-Gatekeeper motzt gegen Net-Zigeuner

(Eintrag No. 425; Gesellschaft, Medien, Print vs. Net) — Toller Tagesanfang für mich. Andrea findet sich zitiert im »Perlentaucher«, dem sie vorgestern gratuliert hat zur dieswöchigen gewonnen Justizrunde um Weiterverwertung von Rezensions-Abstracts. Andrea schlug vor, das Internet nicht immer nur runterzumachen und als Pfui-Bäh-Medium hinzustellen, sondern ganz unaufgeregt die Habermas’schen Ausführungen über den Strukturwandel in der Öffentlichkeit auch mal auf das Internet umzuklappen. (Wir erinnern uns: Im Zeitalter der Aufklärung entstand eine neue Öffentlichkeit, mit Kaffehäusern, mit Salons, mit Zeitungen und Periodikas … es entstand das, was die Anglo-Amerikaner »Marktplatz der Ideen« nennen). — Gleich darunter (naja, dazwischen ist ein kleiner Werbekasten) berichtet »Perlentaucher« über den nächsten Deutungshoheitverteidigungsröhrer von Frank Schirrmacher. Schirrmacher versteht Öffentlichkeit als etwas mit Mauer und Kontrollschleusen drum rum. Schon vor Jahren basta-wortete er in etwa, dass ›wer jetzt nicht drin ist‹ (genau gemeint war glaub ich Journalismus in den großen Blättern und Medienplattformen), ›der kommt jetzt auch nicht mehr rein‹. Ganz auf der Linie geht seine Denke und Meinerei weiter im Kress-Report, allerdings nur für regestrierte Abonennten (soviel zum Thema Öffentlichkeit). Ich übersetzte mal:

Frank S.: »Unsere Situation kommt mir wie die des Films vor einigen Jahren vor: Da wurde das Kinosterben angekündigt, und dann kamen die großen Produktionen.« — Mit ›uns‹ meint Schirrmacher wohl die etablierten Journalisten und ›Old School‹-Medien. Das Kinosterben wurde u.a. dadurch erstmal verschoben, weil neue Technik die Filme mit neuem Zauber auflud. Zum einen Technik der Herstellung, als der Tonfilm die Monumentalstummfilme ablöste, der Farbfilm den S/W-Film in die Ecke stellte, als Stop Motion-Kameras neuen Augen-Zucker ermöglichten, zum anderen Technik der Saal-Ausrüstung, mit Dolby-Sound und Surroundsound oder diesertage mit tollen Digitalprojektoren, die aus Kinos Großfernsehbunkern machen, wo man außer Filmen dereinst auch Fußballspiele und in neuer Technik glänzendes 3-D-Kino genießen kann. Zudem: Mit Kinosterben war in den letzten Jahrzehnten vor allem auch die unseelige Entwicklung gemeint, wie große Popcorn-Tempel-Ketten (Multiplexse und Co.) kleinen Programmkinos verdrängten. Ich bin gespannt, welche Innovation die Zeitungen mit neuem Spektakelschmalz ausstatten sollen. Vielleicht gibt es einmal die Woche die F.A.Z. ja bald als Pop-Up-Zeitung (Schautafeln mit beweglichen Überraschungen), oder mit Aromakarten (der Duft zur Glosse)?

Frank S.: »Wir haben eine ähnliche Aufgabe: Inszeniertes Denken, die große Bühne.« — Mit ›wir‹ meint Schirrmacher hier wohl ›Zeitungen und Kino‹. Toll. Nicht Nachrichten, sondern eben inszenierte Nachrichten sind die Scholle, die Journalisten zu beackern haben. Der Journalist als Spielleiter, als Kontrollaufsicht im Rattenlabyrinth, die Promis und Mächtigen als Spielercharaktere und die Masse der Leser als NPCs (=NichtSpielerCharaktere) die als Hintergrundgeräusch fungieren dürfen, wenn sie sich ab und zu über den Abdruck ihrer Leserbriefe freuen dürfen. Im Internet, deutsch z.B. bei »Nachrichtenaufklärung« und bei den »Nachdenkseiten« kann man dann gucken, wo die Inszenierung der Medien alter Schule Schindluder treibt oder glattweg Wirklichkeit verdreht oder unter den Tisch fallen läßt.

Frank S.: »Das Internet ist wie eine Live-Sendung: Nachrichten, die neben uns herlaufen. Aber dann kommt ein Break, dann kommt die Tagesschau. Das sind wir, und wir sagen, was in der Welt passiert ist. Das ist Qualitätsjournalismus!« — Soso. Qualität ist also, wer (noch) das dicke Deuttungshoheitszepter schwingt. Nicht was wirklich der Fall ist sei Wirklichkeit, sondern das Maskenspiel des Medien-Establishments. Das entspricht eher dem Öffentlichkeitsverständis von Vatikan oder Geheimdiensten, als dem einer bürgerlich-weltlichen Zeitung. Irgendwie seh ich Schirrmacher da im Spartaner-Dress gegen die anrückenden Perser anstänkern, so nach dem Motto: »Dann schreiben wir eben im Schatten«. — Aus Schirrmachers Sicht funktionierten Zeitungen als große Zauberspiegelfenster, die aber lediglich einen Blick auf eine inszenierte Welt des Scheins freigeben, und verständicherweise sagen solche Illusionisten wie Schirrmacher dann solche Sachen wie ›Achten Sie nicht auf dem Mann hinter dem Vorhang‹.

Frank, schau, die Öffentlichkeit, zumindest deren weitaus größerer Teil, ist immer draussen, jenseits von Elitenmauern. Öffentlichkeit ist nur zu einem geringen Teil das, was man sich in Ball- und Thronsaal hinter dicken Mauern und bewacht von Armbrustschützen zutuschelt, sondern Öffentlichkeit ist die Rede auf dem Stadtplatz, das Getratsche auf der Duld. Öffentlichkeit ist nicht nur das Erbauungsprüchlein in aufwändig illuminierten Stundenbüchern für die Reichen und Schönen, sondern auch das spottende Grafitti auf den Mauern, die zwischen Stadt, Wald und Flur weitergegebene Kunde.

Freitag, 14. Dezember 2007

Heute die Nachrichten von morgen

(Eintrag No. 424; Film, Comicverfilmung) — Krasses Beispiel für virales Marketing. Hier aber wirklich mal nett, wenn man sich eben für Christopher Nolans Neuauflage von Batman erwärmen kann.

Hier zu den (insgesammt 4) Seiten <a href="www.thegothamtimes.com" title="Enzy-Promo-Site zu »The Dark Knight« target="_blank">The Gotham Times. Und wer’s dort nicht findet, hier gehts zur vom diesmaligen Bösewicht, dem Joker, verunzierten Ausgabe: The Ha Ha Ha Times. — Nicht vergessen: »That which dosen’t kill you, makes you stranger.«

Samstag, 8. Dezember 2007

»Warum mögen wir die Science Fiction nicht?«

(Eintrag No. 423; Literatur, Genre, Relevanz, Science Fiction, Phantastik) — Diese Frage stellt <a href="www.bryanappleyard.com" title="Zur Bryans engl. Website" target=_blank">Bryan Appleyard in der »TimesOnline«-Ausgabe vom 02. Dezember 2007, anläßlich der Neuauflage des von Brian Aldiss herausgegebenen »A Science Fiction Omnibus«. Zwar klagt Appleyard über die Hochnäsigkeit britischer Kulturdeutungszirkel gegenüber Science Fiction, aber bei dieser Ignoranz handelt es sich keineswegs nur um ein auf die Insel beschränktes Phänomen. — Folgendermaßen bringt er die enorme Relevanz der Sf auf den Punkt (Übersetzung von Molo):

»Die Wahrheit ist«, schrieb Aldiss, »dass wir in nun letztendlich in einem SF-Szenario leben.« Eine zusammenbrechene Umwelt, eine übervernetzte Welt, Selbstmordbomber, fortwährende Überwachung, die Entdeckung anderer Sonnensysteme, neuartige Pathogene, Touristen im Weltraum, Kinder werden vollgepumpt mit Medikamenten zur Verhaltenskontrolle — all das ist nun wahr geworden. Aldiss glaubt, dass all dies die SF redundant werden ließ. Ich sehe das anders. In solchen Zeiten sind es die konventionellen Literaten die bedroht sind, und SF tritt hervor als der härteste Realismus.

Appleyard reagiert hauptsächlich auf den »TimesOnline«-Beitrag »Why are science fiction writers so neglected?« vom 23. November 2007, in dem Aldiss einige Zeilen über seinen neuen Omnibus schrieb. Aldiss beendet seinen Artikel mit einem Zitat von <a href="de.wikipedia.org" title="Zum dt. Wiki-Eintrag" target=_blank">Percy Bysshe Shelley (aus »Defence of Poetry«):

»Wir verfügen über mehr moralische, politische und historische Weisheit als wir in die Praxis umzusetzten verstehen; wir verfügen über mehr wissenschaftliches und wirtschaftliches Wissen als wir einbringen können zur gerechten Verteilung der Erzeugnisse, die durch dieses Wissen vermehrt werden … Es mangelt uns an kreativen Fähigkeiten, die uns zeigen was wir wissen.«
Dienstag, 4. Dezember 2007

eBay-Schwindel mit meiner Adresse!

(Eintrag No. 422; Alltag, Netznepp)Warnung!!! Irgendjemand versucht sich unter meinem Namen und mit meiner Anschrift bei eBay anzumelden. Wer immer auch unter der eMail-Adresse

alexander65933ffm@web.de

rumfuhrwerkt, ich bin es nicht.

Heut kam ein entsprechender Brief von eBay aus der Schweiz, in dem ich (eben nicht ich) aufgefordert werde, die Einrichtung meines (eben nicht meines) Nutzerkontos zu bestätigen.

Was mich nun nervt: der Telefonsupprt von eBay funktioniert nur, wenn man bereits angemeldet ist. Der eMail-Kontakt-Support funktioniert nur, wenn man sich bei eBay anmeldet.

Fazit: Jetzt kann ich den Druckertoner schütteln um einen Brief an eBay zu schreiben.

Fragestöcken: Songs

(Eintrag No. 421; Musik, Alltag)TH hat mir ein Musik-Stöckchen zugeworfen, und brav wie ich nun mal bin (wuff), hier die Antworten (die natürlich nur eine derzeitige Momentaufnahme sind; in einigen Wochen könnten die Antworten wieder anders aussehen).

Ein Song…

… der mich traurig macht:»Der König von Thule« von Franz Schubert mit Text von Goethe.

… bei dem ich weinen muss:»Tell me, true Love« von John Dowland.

… bei dem ich sofort gute Laune kriege: — Hasslers »Tanzen und Springen« (vom Album »The King’s Singers European Madrigal History Tour«).

… bei dem ich nicht still sitzen kann:»Tiny Town« von David Byrne (vom Album »uh-oh«).

… bei dem ich immer laut mitsinge:»Les jours tristes« von Yann Tiersen (vom Album »L’absente«).

… der meiner Meinung nach zu kurz ist:»No One Knows I’m Gone« von Tom Waits (vom Album »Alice«).

… der mir etwas bedeutet:»The Silver Swan« von Orlando Gibbons.

… den ich ununterbrochen hören kann:»There She Goes, My Beautiful World« von Nick Cave & the Bad Seeds (vom Album »Abattoir Blues/The Lyre of Orpheus«).

… den ich liebe:»Take a Bow« von Muse (vom Album »Black Holes & Revelations«).

… den ich besitze, aber nicht mag: — ???, mir fällt im Augenblick echt nix ein.

… dessen Text auf mich zutrifft:»The Fall Of the World’s Own Optimist« von Aimee Mann (nach Elvis Costello vom Album »Bachelor No. 2 or, the last remains of the dodo«).

… von einem Soundtrack:»Good Luck« von Basement Jaxx (vom »Appleseed«-Soundtrack).

…den ich schon live gehört habe:»Liar« von Henry Rollins.

… der nicht auf englisch/deutsch ist:»Vitrum nostrum gloriosum«, ein klösterliches Renaissance-Sauflied eines anonymen Komponisten (vom Album »The King’s Singers European Madrigal History Tour«).

… der von einer Frau gesungen wird:»Pleasure Is All Mine« von Björk (vom Album »Medulla«).

… meiner Lieblingsband: — Eine Lieblingsband hab ich eigentlich nicht. Am ehrsten reichen dieserzeiten noch Muse oder System of a Down an diesen Titel rann.

… der Erinnerungen weckt:»Smalltown« von Lou Reed & John Cale (vom Album »Songs for Drella«).

…den kaum jemand kennt, obwohl ihn jeder kennen sollte: — Vielleicht »Cordoba« von Brian Eno & John Cale (vom Album »Wrong Way Up«).

Ich geb das Stöckchen weiter an Andrea, Phyllis und Chuck.

Sie sind nicht angemeldet