Eintrag No. 646 — War diese Woche meistens in der Minderheit … zumindest, als ich wieder mal bei »Wer ist Dir lieber?« vorbeigeschaut habe um abzustimmen. — Butter oder Margarine?: die Mehrheit mag Butter, aber ich nicht. — Caesar oder Cleopatra?: die Mehrheit mag Cleopatra, aber ich nicht. — Lady Gaga oder Madonna?: die Mehrheit mag Madonna, aber ich nicht. — Lediglich bei den Abstimmungen zu Vollmond oder Neumond, sowie Fox Moulder oder Dana Scully gehörte ich zur Mehrheit: Vollmond und Moulder. (Bei den anderen Abstimmungen war ich unentschlossen oder kannte die entsprechenden Kandidaten gar nicht.).
Lektüre: Derzeit ein etwas planloses Lesen verschiedener Sachen. Kapitelweise oder abschnittwiese wechsle ich zwischen Peter Watsons »The German Genius« und dem ersten Roman einer Quatro, seinem, wie der Autor selbst meint, bedeutendstem Werk. Ich bin sehr zerquält. Nach mehr als der Hälfte von Band 1 zweifle ich wirklich an dem Verstand entweder meiner selbst, oder eben all derer, die diesen Autor und sein Werk so hoch einschätzen.
Desweiteren lese ich zur Erholung querbeet in Mark Twains Spätwerk herum. Vor allem »Der Geheimnisvolle Fremde« (hier zur Originalfassung bei ›Project Gutenberg‹: »The Mysterious Stranger«), nach dem Tod von Twain 1916 erstmals erschienen, hat es mir angetan. Diese Wenig bekannte Fantasy-Geschichte spielt 1590 in einem österreichischen Kaff, und der jugendliche Erzähler Theodor erzählt, wie er und seine Kumpels Nikolaus und Seppi von einem Engel namens Satan besucht werden (einem Neffen des Gestürzten). — Und dann bin ich bei »The Walking Dead« mittlerweile auf Seite 800 von 1088. Ich wähne ein Muster zu erkennen, das mir nicht so ganz schmeckt. Trotzdem: ein großartiges Comic. Hier zu Heft 1 umsonst (auf Englisch).
Eine amüsante und erkenntnisfördernde Idee des »Oribit«-Blogs, die Motive der Coverkunst von Fantasy-Büchern statistisch zu untersuchen: The Chart of Fantasy Art, 2009. Gefunden dank eines Hinweises in Andrea Bottlingers interessanten Blog »Katasthrophengebiet«
Jeff Vandermeer und seine Frau Ann arbeiten derzeit unter anderem an der Anthologie »The Thackery T. Lambshead Cabinet of Curiosities«. Dabei haben sie zu einem Wettbewerb für Kurzbeiträge aufgerufen. Wenn ich kann, werde ich auch versuchen etwas dafür zu schreiben.
Thomas Neumann rezensiert Douglas Coupland: »Generation A« für ›Literaturkritk.de‹. Das ist wieder so ein Symptom, das mich beunruhigt. Ein SF-Roman wie der von Coupland wird in der SF-Szene selbst eher übersehen. Ich kann »Generation A« nur empfehlen. Zugleich sehr komisch, berührend und philosophisch. Hier die Seite zur deutschen Ausgabe bei Klett-Cotta; dort gibt es auch eine Leseprobe der ersten 25 Seiten. Die Figuren des Buches erzählen sich ab der Hälfte gegenseitig spontan ausgedachte Geschichten. Hier ist eine davon als Motion-Comic: »The Short & Brutal Life of the Channel 3 News Team«.
Noch mal Klett-Cotta: Die ersten beiden Bände der neuen Ausgabe von Mervyn Peaks »Gormenghast«-Büchern sind nun erschienen und auch hier bietet Klett-Cotta Leseproben im Netz an, und Interessierte sollten die Vorwörter von Kay Meier (für Band 1: »Der junge Titus«) und Tad Williams (für Band 2: »Im Schloss«) lesen. Vor allem Meiers Einleitung gefällt mir sehr, Williams ist mir etwas zu reisserisch und spoilert mir zu viel von der Handlung (doch seine ehrliche Begeisterung ist trotzdem ansteckend).
Fra Anubis von »Lake Hermanstadt« hat mit Dunkle Pilze einen großartigen Blog-Eintrag über die Bande zwischen moderner Phantastik und durchgeknallten Ideologien geschrieben.
Lindsey ›The Dudette‹ Ellis hat einen feinen Video-Essay erstellt. Nostagia Chick: Playing God über die beiden dominierenden Klischees, wie Wissenschaft in Genre-Filmen dargestellt wird.
Eintrag No. 636 — Letzte Woche trudelte Post aus England ein. Wolf von Niebelschütz: »The Badger of Ghissi«, erschienen bei Unwin Unicorn 1985 (Nachdruck der englischen Erstausgabe von 1963). Befremdend und doch gleich vertraut für mich, dass dieser wunderbare deutsche Roman aus dem Jahre 1959, der bei uns DauerGeheimtipstatus hat, von den englischen Verlagsleuten unumwunden als ›Fiction/Fantasy‹ eingestuft wird. — Sehr schade, dass nur der halbe Roman übertragen wurde. Geht nur bis Ende Kapitel 21 von 39. — Und schräcklich ist das Umschlagsbild von einem gewissen Kevin Tweddell.
Der Übersetzer Barrows Mussey hat, soweit ich das beurteilen kann, eine erstaunliche Arbeit abgeliefert. Hier als Kostprobe der mittlerweile ja fast schon ›berühmte‹ erste (Ab)Satz:
A bishop had been lying dead down in a rock wash of the Cedar Mountains for five hours under teeming cloudbursts. The wash had crumbled away under him and his wagon and his mules and his beloved, away under him, down on top of him, as if earth were flinging him into the maw of hell — all this just before nightfall.
Als Zuckerl hier die einzige mir bekannte farbige Karte der ›mythischen‹ Provinz Kelgurien, die der tatsächlichen Provence nachempfunden ist, enthalten als beigelegtes Blatt in meiner gebundenen Ausgabe des Eugen Diederichs Verlags (Auflage 7. bis 11. Tausend; — Auf der Rückseite ist der Familienspiegel, ebenfalls mit farblichen Hervorhebungen). Leider geben alle späteren Auflagen, die ich kenne (also die Verlage DTV, Haffmans, Kain & Aber), diese Karte nur schwarz-weiß wieder.
Klick auf die Karte öffnet Fenster mit größerer Ansicht.
Fast in der Mitte der Karte liegt Ghissi, Herkunftsort der Hauptfigur Barral, der als Achtjähriger (geboren 1001) als einziger einen Sarazenenüberfall überlebt, dabei seinen ersten Gegner erschlägt, flüchtet, Jahre später als ca. 14-jähriger Schäfer zurückkehrt und dabei auf besagten hinabgemalmten Karren eines toten Bischofs und dessen verängstigter Liebesgespielin trifft.
Nahe Ghissi liegt der nächste größere Ort Ortaffa und es hat mich schier umgestrahlt, als ich bei Wikipedia ein Panoramabild des Ortes gefunden habe, der für Niebelschütz das Vorbild für Ortaffa: Les Baux. — Das ist wirklich eine feine Landschaft für einen satten Fantasy-/Mittelalterstoff! (Und liegt gar nicht in Neuseeland, na sowas!)
Eintrag No. 633 — Hotel gebucht. Fehlt nur noch die Anmeldung abschicken und Bahnfahrt dingfest machen, dann heißt es: »Hamburg und Kongress der ›Gesellschaft für Fantastikforschung‹, ich komme!«
Lektüre: Fertig mit »Der Blaue Kammerherr«, den ich nun also zum zweiten Mal komplett gelesen habe. Unglaublich. Ich bleibe dabei: eines der besten Bücher überhaupt und ever! Vor allem: eines der besten Fantasy-Bücher und wer’s nicht lesen kann, weil des Deutschen nicht mächtig, darf einem aus ganzen Herzen Leid tun. — Es gibt ja verschiedene Ausgaben und Auflagen dieses galanten Romens in vier Büchern (die gekonnt den vier Sätzen einer Symphonie entsprechen:
»Der Botschafter der Republik«: Allegro mit Overtuere und Feuerwerk (sprich: Vulkanausbruch, Erd- und Seebeben);
»Der Reichsgraf zu Weißenstein«: Andante, mit Intriguen-Fuge und Staatsstreich;
»Der Herzog von Scheria«: Scherzo, mit gigantischen Park-Abteilungen und einem Menuett;
»Die Bürgerin Valente« Allegro finale inkl. Traum-Kadenz, Bürgerkrieg, Wahnsinn und Himmelfahrt.
Von allen Ausgaben mag ich die Haffmans-Taschenbüchern am liebsten. Kann man antiquarisch für etwa 20 Euro bekommen. Ich mag die Titelbilder von Nikolaus Heidelbach sehr (die ich vor Jahren schon zu einem Desktop-Schmuck zusammengestellt habe … hier verkleinert wiedergegeben; das Bild zeigt die vier Titelfiguren von links nach rechts). — Aber auch die neue Ausgabe von Kain & Aber ist schön, und wer’s klassisch mag, der kann ja versuchen, die feine kleine (die gebundene, quasi-marmorierte) Schmuckausgabe des Insel-Verlages aufzutreiben.
Nun geht es direkt weiter mit dem anderen großen Roman von Niebelschütz »Die Kinder der Finsternis«.
Ansonsten habe ich mir als Kontrastlektüre den dicken großen Sammelband von »The Walking Dead« besorgt; wunderbar als Zwischendurchstoff in der Küche, während man aufs Heisswerden des Nudelwassers wartet.
NETZFUNDE
Marcus Hammerschmidt hat am 10. Juli für Telepolis ein mein Gemüt erwärmendes Geraunze gegen die sommer-märchenliche Fussball-Irrsinn-Stimmung verfasst: Ölpest an Gefühlen.
Der erstaunliche Herr Damaschke macht aufmerksam und bietet Übersicht zu den Einträgen einer erfreulichen Kolumne von Jan-Frederik Bandel, welcher in der »Jungen Welt« darüber schreibt, wie er auf Arno Schmidts »Zettels Traum« wartet, welchselbiges Monstre-Buch ja im Herbst erstmals in gesetzter Form bei Suhrkamp / Arno Schmidt-Stiftung erscheinen soll. (Ein Großereignis, dem ich auch schon entgegenfibbere.)
Hochinteressante Großreportage, kompletto umsonst zu lesen bei »Digital Culture Books«. Jim Rossignol will mit seinem Text ein positiveres Bild vom Video-Spieler zeichnen, und berichtet, wie Spiele das Leben bereichern und gewissen Dingen förderlich sein können, kurz: dass sie Kultur sind für viele aus der mit ihnen groß gewordenen Generation. This Gaming Life: Travels in Three Cities. Zugegeben, ich bin lediglich mit dem ersten Kapitel fertig, aber das reicht auch schon, um das Buch zu empfehlen.
Gut geschriebener Portrait- / Rezensions-Artikel der »New York Times« über das Autorenpaare Kenneth Rogoff (Schachmeister der in die Wirtschaftsforschung wechselte) und Carmen Reinhardt (aus Exilkubanischer Familie), die mit »Dieses Mal ist alles anders« eine datenreiche Großstudie über 800 Jahre Finanzmurksgeschichte vorgelegt haben: Economists Who Did Their Homework (800 Years of It).
Neuer Dauerlink: Schande, dass ich den jetzt erst einpflege. Herbert Gnauer betreut für Radio Orange in Wien eine kommentierte Lesung der »Kulturgeschichte der Neuzeit« des einzigartigen Egon Friedells. Zu den illustren bisherigen Gästen gehören solch Prominente des Geisteslebens wie Daniela Strigl, Klaus Nüchtern und Heribert Illig: Egon Friedell bei Radio Orange (hier als Podcast-Feed) neue Folgen jeden zweiten und letzten Donnerstag des Monats
WORTMELDUNGEN
Einer der fleissigsten und lesenswürdigsten Comic-Journalisten die wir haben, Stefan Pannor, hat eine Rezension zu dem wunderbaren neusten Band aus Schuiten & Peeters »Die geheimnisvollen Städte«-Welt geschrieben: »Die Sandkorn-Theorie«, und was muss ich Detailfizzelnörgler machen? Eben, in Herrn Pannors Blog mit Detailfizzelgewichtel auffallen.
{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2009 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Hier nun korrigiert und exklusiv um einige weiterführende Links erweitert.
Eintrag No. 614 — Eingedenk meiner eigenen, in der Erschöpfung versackten Ersterfahrung mit Thomas Pynchon (1937) und seines Rufes, ein Autor extrem vertrackter Romane zu sein, bin ich erstaunt, wie leicht es mir gefallen ist, »Gegen den Tag« zu verschlingen. Immerhin brechen sich an Pynchon, genauer gesagt seinem Werk (denn der Mensch Pynchon ist extrem medienscheu und entsprechend wenig greifbar, von Mythen und Kolportagen abgesehen), seit dem Erscheinen der fulminanten Phantasmagorie »Die Enden der Parabel« (Amerikanisch 1973 als »Gravities Rainbow«, deutsch 1981) die Diskurswellen über das, was man ›postmoderne‹ Literatur nennt. Für die einen hat sich Pynchon durch diesen abseitigen und ungestümen Roman, der mit Bananengemansche beginnt, und dann Raketen-Ballistik und Erektionen, Mathematik und Esoterik, Halluzinationen und Rausch vor dem Hintergrund der Kriegsjahre 1944/45 auffährt, als König der versponnenen Großfabulierer etabliert. Für die anderen ist dieser Roman ein Musterexempel verwirrender und sinnloser Geschmacks- & Planlosigkeitszumutungen. Bis dato bin auch ich noch nicht wirklich warm geworden mit »Die Enden der Parabel« und habe das Trumm nach einem Drittel erstmal beiseite gelegt, unter anderem weil mich beispielsweise ein seitenlanges Fäkaldelirium vor den Kopf gestoßen hat, bei dem eine Figur im Tagtraum einen Kloabfluss hinabgespült wird[01], aber vor allem, weil Pynchon hier den Kniff des fließenden Perspektiven- und Ebenenwechsels derart auf die Spitze treibt, dass ich allerweil auf nebenbei gemachte Notizen zurückgreifen musste, um nicht völlig die Übersicht zu verlieren. Klarer Fall: ein Buch für mehrere freie Tage und dann heißt es, mit wenig Schlaf und mit Schmackes einfach durch. Immerhin gibt’s auch fetzige Erzphantastik nach meinem Gusto, zum Beispiel wenn ein Tagtraum äußerst munter schildert, wie eine Riesenamöbe London unsicher macht und wie man ihr vergeblich beizukommen trachtet.
Ganz anders der Riesenroman »Gegen den Tag«, der mich von der ersten bis zur letzten Seite derart heftig mitgenommen und für Pynchon eingenommen hat, dass ich in rascher Folge seine beiden ersten Romane »V.« (1961, dt. 1968) und »Die Versteigerung von No. 49« (1966, dt. 1973) las, und siehe: vor allem zweiterer ist alles andere als sperrig.[02]
Einige Leserstimmen intonierten den vertrauten Klagegesang über den zerfaserten Handlungsverlauf von »Gegen den Tag«, vermissen einen klar ersichtlichen Hauptplot der einen bei der Stange hält. Zudem tummeln sich in dem dicken Ding etwa eineinhalb Dutzend Hauptfiguren und zig Neben- und Randfiguren, und die Pausen zwischen Absetzten und Wiederaufnehmen eines Hauptfigurenstranges können bei diesem Übertausendseiter schon mal hundert Seiten und länger sein. Mit der Erwartungshaltung »Ich will einen klar verständlichen Plot!« wird man hier sicher nicht froh, und ich verweise daher auf dessen ausgeprägten Panorama-Charakter. — Kurzer Geschichtsausflug: als Panorama wurden im 19. und 20. Jahrhundert jene begehbaren, mit allen Tricks der illusionserzeugenden Theatermalerei- und Kulissenkunst ausgestatteten 360°-Rauminsterllationen bezeichnet, in denen sich das wunderschausüchtige Publikum in den wuchernden Großstädten der ersten Welt vergnügen konnte. In solchen Panoramahäusern konnten zuhause gebliebene Ottonormalverbraucher sich einen Eindruck verschaffen von Eiswüstenein, neuweltlichen Pionierlandschaften, oder Schlachtengetümmel.[03] — Nun sind Romane zwar keine überdimensionierten Wimmelbilder, über die der Blick der Betrachter frei schweifen kann, denn Leser sind genötigt, sich linear von der ersten bis zur letzten Seite durchzufräsen. Jedoch ermuntern gelungene Romane dazu, nachdem man alles gelesen hat, die Gesamtschau im eigenen Kopf zu veranstalten. Einerseits ist die bildnerische Gesamtschau von »Gegen den Tag« episch, enorm detailreich, und die Art, wie die thematischen Felder und Spannungen kombiniert oder auf- und gegeneinander gewichtet sind, scheint mir vom technisch-mathemathischen Verständnis des gelernten Ingenieurs Pynchon geprägt zu sein. Der Zwang zum linearen Erlesen lässt es andererseits zu, dass man Romanen eine gewisse Verwandtschaft mit den musikalischen Künsten andichten kann, und Pynchon ist nun ein Musikfan, vor allem ein Jazzfan, aber statt klarer Entwicklung bekommt man virtuoses Improvisieren geboten, mit allem, was zu dieser Kunst gehört, vom blödelnden Variieren der Situationskomik bis hin zur meditativen Versenkung in Stimmungen.
Auf welches Hauptthema man »Gegen den Tag« auch verkürzen will, man kann diesem Riesenschinken dabei nicht gerecht werden. Forsch drauf los behauptet, schlage ich vor, dass die große Themenlandschaft von »Gegen den Tag« aufgefaltet wird durch Fragen über die, und Zweifeln an der (Un-)Zielgerichtetheit der Geschichte der modernen Welt und ihrer Individuen. Dazu spannt das Buch einen Zeitbogen von der Großen Weltausstellung in Chicago 1893, bis knapp nach Ende des Ersten Weltkrieges. Eine ungeheure Milieu- und Umgebungs-Vielfalt wird aufgeboten um zu illustrieren, wie sich damals die Weltläufte beschleunigt und sich zerfasernd in jene unheilvollen Strudelbewegungen bezogen wurden, die zu den großen (größtenteils menschengemachten) Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten. Den Reigen der Bösewichter führt dabei der vulgärkapitalistische Industriekapitän Scarsdale Vibe an, der seine gewissenlosen Handlanger unter anderem ausschickt, um unbequeme Bergarbeiter-Sozialisten zu meucheln. Von den gegen solche wie Vibe revoluzzenden Verkündern des Evangeliums des Sabotage-Dynamits bringt einer, Moss Gatling, den »Gegen den Tag« und gegen die Kontroll- und Unterwerfungsabsichten gerichteten Impuls des Widerstands mit folgenden Worten auf den Punkt:
Aber wenn ihr einen Punkt in eurem Leben erreicht, wo ihr begreift, wer wen bescheißt – vergib mir, Herr –, wer nimmt und wer nicht, dann seid ihr verpflichtet, euch zu entscheiden, mit wie viel ihr euch einverstanden erklärt. Wenn ihr nicht jeden Atemzug eines jeden Tages, ob im Wachen oder im Schlafen, an die Vernichtung jener wendet, welche die Unschuldigen so leichthin schlachten, wie sie einen Scheck unterschreiben, wie unschuldig wollt ihr euch dann nennen? Dieser Frage müsst ihr euch jeden Tag neu stellen und zwar in dieser Absolutheit.[04]
Egal, wie sehr man sich nun dafür ins Zeug legt, Pynchon zum Großmeister der engagierten, modernen Anspruchsliteratur zu stilisieren, man mindert den Status dieses Autor keineswegs, wenn man ihn ›nur‹ als Lieferanten ausufernder Abenteuerlichkeiten und Blödeleien nimmt (inklusive alberner und zotiger Lieder, die von den Figuren immer wieder angestimmt werden). Die für die E-Literaturmedien schreibenden Rezensenten drücken sich nicht selten davor, auf die ausgesprochen heftigen Phantastikstrahlung von »Gegen den Tag«hinzuweisen, doch hier, in einem Phantasten-Blog, ist dieser Aspekt des Buches natürlich besonders zu betonen.
Den deutlichsten roten Phantastikfaden liefern die an die ›scientific romances‹ von H. G. Wells und die ›voyages fantastique‹ von Jules Verne erinnernden Luftschiffabenteuer der ›Gefährten der Fährnisse‹[05] (deren Vornamen — Chick, Miles, Lindsay, Randolph und Darby — alle von Größen des Jazz entliehen sind; außerdem gehört noch der intelligente Hund Pugnax zur Crew). Da wird die Hohlwelt durchquert, oder sich so weit in astrale Höhen vorgewagt, bis man in Gegen- und Nebenwelten wieder runterkommt. Auch wühlt man sich in einem Land-U-Boot unter der asiatische Wüste hindurch, um in Städten, die schon vor langen Zeiten vom Sand verschluckt wurden anzudocken.
Geisterhafte Erscheinungen treten regelmäßig auf, mal in Gestalt einer jungen Frau (Yashmeen Halfcourt), die so grazil und anmutig ist, dass zuweilen das Licht durch sie hindurchscheint; mal als Vatergeist, der bevorzugterweise bei Eisenbahnfahrten oder im Traum einem seiner Söhne als anspornender Rachemahner erscheint; mal als grausamer österreichischer Offizier, der aufgrund seines Sadismus als Vampir gilt; ein andermal treibt ein gutbetuchter englischer Dandy seine nocturale Empfindsamkeit soweit, dass er vorzieht wie eine Fledermaus im Keller kopfüber schlafend zu verbringen. – Verschiedene nach der Weltherrschaft strebende Mächte strecken ihre Hand nach dem geheimnisvollen Islandspat aus, das die Eigenschaft besitzt, Dinge die man durch ihn sieht zu verdoppeln. Das Motiv der Verdoppelung wird weitergetrieben zur Bifuraktion, was einige Figuren bis hin zur Kunst bringen, zugleich an zwei Orten zu sein, zum Beispiel, wenn jemand bequem im Sessel liest, und sich zugleich in der Arktis befindet. — Auf Konferenzen beschäftigen sich Wissenschaftler seltsamer Disziplinen mit den Möglichkeiten der Zeitreise und den Geheimnissen des Aethers, oder trachten danach, die Turbulenzen und Vibrationen von Tornados in Sprache zu übersetzten, um im entsprechenden Code mit den schicksalsmächtigen Wirbelwinden kommunizieren zu können. — Ein indischer Yoga-Wissenschaftler, beherrscht die Kunst, durch komplizierte Verrenkungen (sprich: dimensionale Krümmungen des Raumes) sein körperliches Aussehen (bis hin zum Geschlecht) zu verändern, so wie unsereins mittels Fernbedienung den Sender wechselt. — Zeitreisende aus der Zukunft, und Flüchtende von den Massakern der kommenden Weltkriege und womöglich auch der ihnen folgenden Stellvertreterkriege des Kalten Krieges und des Krieges gegen den Terror schleichen durch die Welthintertüren. — Ein sprechender, gutmütiger Kugelblitz, begleitet kurz eine Familie. — Ein den Atlantik überquerendes Passagierschiff verwandelt sich gleitend in ein Schlachtschiff. — Mit einem raffinierten Lichtspielapperat kann man nicht nur aus einem beliebigen Photo die Vergangenheit wieder erscheinen lassen, sondern bei entsprechender Manipulation der analysierten Lichtkonserve lassen sich auch alternative Seitenpfade des Möglichkeitsgeflechts ersehen.
Das größte phantastische Ereignis wird in »Gegen den Tag« von einer Katastrophe verursacht, die nur zu deutlich zeigt, was die tatsächlichen kosmischen Bedrohungen aus der Wirklichkeit für alle menschengemachten Pläne sind: Naturkatastrophen, hier der Meteoreinschlag Tungkuska vom 30. Juni 1908. Es folgt eine kurze Kostprobe der Kapriolen, die in Pynchons Welt dem Kosmosschlag auf den Percussionskörper Erde folgen:
Noch eine Weile nach dem Ereignis liefen verrückt gewordene Raskolniki in den Wäldern umher, geißelten sich und gelegentliche Gaffer, die zu nahe kamen, und delirierten von Tschernobyl, dem zerstörten Stern namens Wermut aus der Offenbarung. Rentiere entdeckten ihre uralten Flugfähigkeiten wieder, die im Laufe der Jahrhunderte seit dem Eindringen von Menschen in den Norden verloren gegangen waren. Bei manchem regte die Begleitstrahlung die Epidermis insbesondere im Nasenbereich zu einem Leuchten am Rotende des Spektrums an. Stechmücken büßten ihre Vorliebe für Blut ein, eigneten sich stattdessen eine Vorliebe für Wodka an und wurden beobachtet, wie sie sich in großen Schwärmen in einheimischen Kneipen zusammenfanden. Uhren, auch Armbanduhren, gingen rückwärts. {…} Sibirische Wölfe kamen mitten im Gottesdienst in Kirchen, zitierten in fließendem Altslowanisch Stellen aus der Heiligen Schrift und gingen friedlich wieder hinaus. {…} Ganze Dörfer kamen zu dem Schluss, dass sie sich nicht dort befanden, wo sie sein müssten, worauf die Einwohner ohne große Vorausplanung schlicht zusammenpackten, was sie besaßen, zurückließen, was sie nicht tragen konnten, und sich gemeinsam in den Busch aufmachten, wo sie kurz darauf Dörfer errichteten, die niemand sonst sehen konnte. Jedenfalls nicht sehr deutlich.[06]
Ebenso reichlich geboten wird prickelnde Situationskomik (wenn ein kauziger Wild West-Fuzzi sich auf eine sinnliche Eskapade mit einem Schoßhündchen einlässt), haarsträubende Äktschn (wenn ein Abenteurer in einer Lebensmittelfabrik vom schrecklichen Tod durch Mayonnaise bedroht wird), bezaubernde Liebes- und Erotikabenteuer, Einblicke in Elends- und Luxuswelten mit all ihren durch von ideologischen, politischen, spirituellen und transzendenten Verblendungen befeuerten Intrigen. Zwar mag »Gegen den Tag« unverschämt vollgestopft mit Details und ausufernd bei seiner Weltenwanderei sein, aber folgt man den Rat von Pynchon-Veteranen, und schert sich (beim ersten Mal) einfach nicht um Fragen aufwerfende Stolperstellen, sondern liest mit gebotener Sturheit weiter, dann kann man wahrlich etwas erleben.
Thomas Pynchon: »Against the Day«, (2006); 70 Kapitel in 5 Teilen auf 1220 Seiten; Vintage Taschenbuch (Yuko Kondo-Cover Edition) , 2007; ISBN: 978-0-099-51233-2.
Thomas Pynchon: »Gegen den Tag«; Deutsch von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren; 1596 Seiten. Gebundene Ausgabe: Rowohlt Verlag 2008; ISBN: 978-3-498-05306-2.
Taschenbuch: Rowohlt Verlag, 2010; ISBN: 978-3-499-24609-8:
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ANMERKUNGEN:
[01] Auch wenn dieser Passage in »Trainspotting« von Irving Welsh und seinem Verfilmer Danny Boyle Tribut gezollt wurde, ich fands sie nur grenzenlos unappetitlich. ••• Zurück
[02] Der Griff zu »Die Versteigerung von No. 49«, dem kürzesten Roman von Pynchon, sei als Einsteig für Neugierige angeraten, die bezweifeln die Ausdauer/Konzentration für seine dicken Romane aufbringen zu können. Am erstaunlichsten ist, wie dieser von Verschwörungsunsicherheiten gesättigte Roman trotz, oder gerade wegen seiner Kürze durch Ideenfülle und Quadruppel-Bödigkeit brilliert.
Auch »V.« ist reizvoll facettenreich, wenn auch schon formal schwerer, da sich hier verschiedenste Handlungsfäden und Episoden lange Zeit nur auf äußerst vage Art aufeinander beziehen. Doch auch bei V. macht die kunterbunte, humorige, manchmal sogar deftige Mischung aus Fabublödelei und hochtrabender Spekulation Laune. ••• Zurück
[03] Ein modern-einheimisches Anschauungsexempel bietet das thüringische Panorama Museum nahe Bad Frankenhausen, in dem ein zylindrisches Ölgemälde von Werner Tübke, im Format 14 x 112 Meter, mit über 3000 dargestellten Figuren, die Bauernkriege von 1524 in einer prächtigen Rundschaukunde präsentiert. ••• Zurück
Eintrag No. 610 —Ist man bekennender Fanboy eines Autoren, bekommt man früher oder später Probleme damit, wenn man dessen verschiedene Bücher wertet. Kaum ein Schriftsteller bewegt sich auf einem ständig gleichbleibenden Exzellenzniveau (außer natürlich jenen, die sich im marktgefälligen Mittelmaß behaglich festgeschrieben haben), vor allem dann nicht, wenn besagte Schriftsteller gerne neue Wege einschlagen und zu vermeiden trachten, dass ihre einzelnen Werke sich einander zu ähnlich geraten.
Nein, damit sei keine Apologie angestimmt, die schönreden soll, dass dem englischen ›Weird Fiction‹-Jungmeister China Miéville (*1972) ein Roman missglückt ist, oder dass meine Fan-Erwarungshaltung mehr oder minder eklatant enttäuscht wurde. Aber dennoch muss ich eingestehen, dass mich »Un Lon Don« als Story nicht so wohlig-bratzig überwältigt hat, wie seine drei enormen Bas-Lag-Romane »Perdido Street Station«, »The Scar« und »Iron Council«. Kunststück, denn Bas-Lag wird wohl noch sehr lange einen ganz besonderen Platz nahe meines heiß lodernden Phantastik-Afficionadoherzens innehaben. Die Karten auf den Tisch gelegt kann ich also (leider) sagen: wie schon Miévilles Debüt »König Ratte« oder die ein oder andere Kurzgeschichte der Sammlung »Andere Himmel« durchbricht »Un Lon Don« keine Extraschallmauern der Qualität. Aber immerhin: besagte Ambition, mit jedem Buch etwas wirklich anders anzupacken verhilft auch »Un Lon Don« dazu als lesenswert gelten zu dürfen. Das Neue, das China diesmal wagt, ist, dem äußerst populärem Genre der Abenteuer-Phantastik für Jungleser zuzuarbeiten (oder wie es auf Neudeutsch genannt wird, der ›Jung Adult‹-Sparte), und wenn ich mich umschaue, was ich in den letzten Jahren auf diesem Gebiet mitbekommen habe, dann kann ich »Un Lon Don« als eine durchaus gelungene Bereicherung dieses wildwuchernden Gefildes würdigen.
In der Danksagung erwähnt Miéville viele Namen, aber ein paar sind mir besonders aufgefallen und eignen sich, Inhalt und Gebaren des Buches zu skizzieren: Clive Barker, mehr aber noch Michael de Larrabetti und Neil Gaiman haben dem im »Un Lon Don« angestimmten Thema eines phantastischen, seltsamen Anderswelt-London in ihren Werken bereits ausführlich zugearbeitet. Unschwer zu erkennen war für mich die Inspiration, die Neil Gaimans »Neverwhere« auf Chinas neustes Buch hatte, gibt es doch auch dort neben dem ›normalen‹ Allltags-London (London Above) ein befremdliches, undurchschaubar-magisches Neben-London (London Below) in dem sich vor allem aus dem Rahmen des Gewöhnlichen herausgefallene Figuren (und Monster) aus allem möglichen Gefilden der Vergangenheit und Stadtlegende tummeln. — Der Tradition von Michael de Larrabetti (von dem Miéville bereits als Jugendlicher selbst ein großer Fan war, wie ein in »Pandora 2« abgedruckter Text von China belegt) folgt »Un Lon Don« insofern, als dass es auch bei Larrabettis grandiosen Klassiker »Die Borribles« um ungezähmte Jugendliche geht, die gegen die Borniertheit und Gier der Autoritäten und besser gestellten Klassen aufbegehren. — Eine Überraschung war dann, auch den Namen des verehrten Zamonien-Meisters Walter Moers in der Danksagung zu erspähen. Doch eigentlich kein Wunder, denn einige seiner Zamonien-Wälzer wurden in den letzten Jahren ins Englische übersetzt (übrigens: lustig zu lesen), und dass China Miéville begeistert ist von Moers’ rand- und bandloser Frechdachsphantastik passt wie die Faust aufs Auge. Vor allem, die Art und Weise wie sich bei Moers Erzählung und Illustrationen brillant ergänzen hat es Miéville angetan und wohl unter anderem davon beflügelt hat er sich getraut selber zum Zeichenstift zu greifen und »Un Lon Don« ausführlich zu bebildern. Ein Hoch auf den Bastei Verlag, dass diese Illus auch in der deutschen Ausgabe geboten werden (wohingegen leider das Titelbild von Arndt Drechlser gröblichst enttäuscht).
Die schöne Zenna und die unauffälligere Debba sind beste Freundinnen und geraten langsam – durch mysteriöse Ereignisse, Unfälle wie auch durch die eigene Neugier – in eine verdrehte Welt jenseits des ›Absurdum‹ (engl. ›The Odd‹), nach Un Lon Dun. Alle Städte unserer Welt haben so ein seltsam-verdrehtes Zwillingsgeschwister, genannt Visavistädte: Lost Angeles, No York, Hongkaum und so weiter. Alles was in den wirklichen Metropolen dem Vergessen anheim gefallen ist, was verloren, aussortiert, abgeschafft, zerstört oder nie umgesetzt wurde, kommt in diesen Visavistädten mehr durcheinander als geordnet zusammen. Ganze Häuser werden in Un Lon Don aus entsprechendem Zeug zusammenimprovisiert, aus ›Graffel‹ (im Englischen: ›Moil‹ für ›mildly obsolete in London‹[01]). So werden zum Beispiel kaputte Hubschrauber zu Windmühlen umfunktioniert, oder ganze Gebäude aus nicht mehr funktionierenden Radios oder Schallplatten errichtet. Ein alter, überwunden geglaubter Schrecken, der Smog, ein zu Bewusstsein und Ambition gekommenes Abgaswolkenmonster, bedroht Un Lon Don und laut der Prophezeiung eines keineswegs unfehlbarem (aber ziemlich eitlem) Orakelbuches ist Zenna die Auserwählte Heldin, die den Smog besiegen wird.
Nun bin ich in der Zwickmühle, nicht offen loben zu können, ohne tolle Kniffe der Handlung zu verraten. So viel sei angedeutet, dass Miéville einigen Fantasy-Konventionen, die sich über die Jahre zur plattesten Routine eingeschliffen haben, gehörig vors Knie tritt und sie erfrischend kritisch ummodelt. Auf den Müll also mit empörendem Auserwähltheits-Schmu, weg mit der sanft-paternalistischen Allwissenheit von Magiern und ihren sprechenden Zauberartefakten, und wie ich finde am brillantesten: hinfort mit der beleidigenden Vorstellung vom Helden-›Sidekick‹ (übersetzt als ›Randfigur‹). Auch habe ich mich köstlich amüsiert, wie im Laufe der Abenteuer das Konzept der Queste genüsslich-brachial demontiert wird. So sehr ich den solcherart vermittelnden Appellen nickend zustimmen kann (Warte nichts auf das Schicksal, sondern gestalte nach nach eigenem Wissen und Gewissen die Welt; Nimm von bestimmungsmächtigen Autoritäten nicht alles unhinterfragt hin; Nicht Sinn suchen, sondern Sinn geben ist wichtig), muss ich doch kritisch einwenden, dass bisweilen dieser Impetus des Aufrütteln-Wollens ein wenig zu sehr … nun ja … mit dem Zeigefinger daherkommt. Aber Miéville ist nicht der einzige, dem solche Ausrutscher passieren, denn derartig ins Auge springende Gutmenschen-Lehren trüben auch bei Philip Pullman oder J. K. Rowling ein wenig den Spaß. Und wenn ich mal vergleiche, wie viele verschwatzte Seiten zum Beispiel der Töpferjunge braucht, um seine Message zu wuppen, dann strahlt »Un Lon Don« bemerkenswert helle auf. Wie auch immer, das beherzigenswerte Anliegen von »Un Lon Don« bringt vielleicht folgende Stelle auf den Punkt, wenn Debba sagt:
»Wenn Du wüsstest, dass irgendwo was Schlimmes passieren wird, aber die Menschen dort wüssten es nicht und glaubten sogar, es wäre etwas Gutes, aber du weißt, das ist es nicht und du weißt es nicht hundertprozentig sicher, aber eigentlich weißt du es schon, und du wüsstest nicht, wie du ihnen eine Nachricht schicken kannst und du hörst nie etwas von ihnen, deshalb würdest du nie erfahren, ob es geholfen hat, selbst wenn du ihnen eine Nachricht geschickt hättest …«[02]
Trotz der (für Miéville’sche Verhältnisse) leichten Schwächen, beglückt »Un Lon Dun« mit einem enorm kunterbunten Potpourri schräger Figuren, ungewöhnlicher Orte, pfiffiger Dialoge und berraschender Ideen. Meinen Respekt (und einiges Giggeln) heimst zum Beispiel Chinas Geschick ein, wie er ein banales Milch-Tetrapack mit Leben erfüllt; wie die zu Kreaturen gewordenen Wörter des Königs des Fasellandes (die Schwaflinge) rebellisch herumwuseln; wie ein Berufsabenteurer mit einem Vogelkäfig als Kopf (Rene Magritte läßt grüßen) den Protagonisten dabei hilft, ihren Weg durch ein Haus zu bahnen, in dem sich ein veritabler Dschungel samt Gewässern voller Piranhas befindet; wie aus alten Autos Boote und aus Büchern Klamotten gemacht werden; wie Extremlibristinnen von ihrem gefährlichem Job an den Innenhängen des Bücherturms erzählen; wie Mülltonnen als Elite-Kämpfer umherhüpfen (Englisch: ›Binjas‹). Was den Verlauf angeht, ist »Un Lon Don« bis auf den sich sachte in die Welt jenseits des Absurdum hineinsteigernden Beginn des Buches, eine gehörig atem- und ruhelose Hatz.
Ein Beispiel (von vielen möglichen) für die abwechslungsreiche Monsterschar gefällig? Hier die Beschreibung einer Ausgeburt des Smogs (zudem eine kräftige Stelle um das geschickte Händchen von Übersetzerin Eva Bauche-Eppers zu zeigen):
Die Smoglodyten waren fahl wie Leichenwürmer und farblos. Alle hatten sie entweder riesige schwarze, nur aus Pupille bestehende Augen, damit sie im schmutzig grauen Zwielicht des Smogs sehen konnten, oder gar keine. Alle verfügten über irgendeine Anpassung zum EInatmen der giftigen Melange, wie riesige Nüstern oder mehrere von diesen, um den wenigen vorhandenen Sauerstoff aus den Schwaden zu filtern. Deeba entdeckte ein Wesen, das an eine katzengroße Schnecke gemahnte und sie mit einem Strauß Stielaugen beobachtete. Der Rest des Kopfes war eine organische Gasmaske.[03]
Also, wem (mit Gesellschaftsengagement gewürztes) phantastisches Holterdiepolter taugt, besuche »Un Lon Don« und mache sich dann auf, sich einen eigenen Weg zur anderen Seite des Absurdum zu bahnen, um Perdülin, Krankfurt, Über-die-Wuppertal, Kaputtgardt, Entleibtzig, Verbaselt, Ham-wa-nicht-burg, Fortmund, Kainz und die anderen deutschsprachigen Visavisstädte aufzumischen.
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China Miéville: »Un Lun Dun«; Intro, Epilog, 9 Teile mit 99 Kapiteln auf 591 Seiten; mit ca. 100 S/W-Illustrationen des Autors; 521 Seiten; (UK-Ausgabe) Panmacmillan 2007; ISBN: 978-0-230-01627-9.
Deutsche Ausgabe: »Un Lon Dun«; Aus dem Englischen übertragen von Eva Bauche-Eppers;; Bastei Luebbe Taschenbuch 2008; ISBN: 9-7834-0420-5882.
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ANMERKUNGEN:
[01] In etwa: ›ein bisschen überflüssig in London‹. »Moil« bedeutet im Englischen aber auch, »sich {in einer Mine} abrackern«. Miéville, willkommener Pionier der ökologisch unbedenklichen Recycle-Fantasy! ••• Zurück
[02] Kapitel 36, »Zwischen den Zeilen«, S. 204. ••• Zurück
Eintrag No. 604 — Unsortierte Gedanken die in meinem Hirn herumschwirren, seit ich die Uffegung über deutsche Fantasy im »Reality Sucks«-Blog entdeckt und kommentiert habe.
Dem Tenor der dortigen Klage stimme zwar zu (die hiesige Fantasy ist vergleichsweise mau, denn es gibt keine Tradition auf die man bauen könne), auch wenn ich in den Kommentaren relativiere (gibt wohl eine Tradition an fantasyartiger deutscher Phantastik, nur baut man eben zu wenig darauf).
Bereits geäußert habe ich den Verdacht, dass die neuere deutsche Fantasy, vor allem da wo sie erfolgreich ist, erstaunlich und zeihenswert wenig auf literarischem (Traditions-)Bewußtsein fußt, sondern ihre Mühlen vielmehr und nervigerweise überwiegend von Franchise- und Derivat-Strömungen antreiben läßt.
Am vielleicht meisten irritieren mich dabei die Mängel, dass Figuren und Weltenbau vieler Bücher heimischer Produktion geprägt sind von minderem Oberflächenglitzer, Posertum und dadurch die gerade für Phantastik so wichtige Glaubwürdigkeit der Handlung & des Weltenbaus schnell verlustig geht.
Zwei Beispiele aus Romanen von erfolgreichen deutschen Autoren. Um dem Verdacht vorzubeugen, dass ich nur hämisch vorzuführen will, lasse ich Titel und Namen ungenannt.
Eine mittelalterlich anmutende Fantasywelt. Ein Verurteiler wird bestraft, man sperrt ihn in einen Eisenkäfig in dem er verhungern soll. Das ist ja bekannt aus Spielen wie »Stronghold« oder Filmen wie »Der König der letzten Tage«. Da dient diese Art der Bestrafung dazu, die Bevölkerungsmoral zu zähmen, und durch Einstreichen einer Besichtigungsgebühr Gewinn zu machen. In dem Fantasyroman aber bringt man den Käfig in einen abgelegen Teil des Waldes, womit die ganze Aktion ihre gedachte Wirkung einbüßt. Noch dazu gäbe es in dieser Fantasy-Welt eine billige Möglichkeit für Rohstoffgauner an Metall zu kommen.
Eine Alternativwelt-Version der 1920er-Jahre mit Fabelwesen und Magie. Im fernen Asien hat ein Tyrann in großer Berghöhe eine Palastfestung, vollgestopft ist mit wertvollem Zeug. Darunter auch ein Gemälde von Caspar David Friedrich. Der Roman erwähnt, dass es kalt ist (es ist Januar) und die Bediensteten des Tyrannen deshalb in dicken Klamotten rumlaufen. Nun sind Ölgemälde sowohl klima- als auch temperaturempfindlich. Ein Ölgemälde würde bei derart ungünstigen Raumklima schnell Schaden nehmen, die Farbe brüchig werden, reißen und platzen. Also: so ehrenwert es ist, Lesern mittels eines Homage-Cameoauftritts die schönen Künste nahezubringen, so wenig durchdacht ist die Platzierung und damit der gutgemeinte Effekt perdü.
Beiden Szenen begegnet der Leser sehr früh zu Beginn der beiden Romane. Muss ich noch extra erwähnen, dass es nach solchen Schnitzern schwer ist, den Rest dieser Bücher ernst zu nehmen?; Und dass man somit verführt wird, sie gegen den Strich zu lesen und sich seine Lesefreude dadurch zu bereiten, indem man Genre-Fantasy-Bullshit-Bingo spielt?
Eintrag No. 603 — Auch wenn ich mittlerweile wegen meines Brotjobs weniger Zeit habe, versuche ich mindestens ein-, zweimal im Monat einige Stunden frei zu machen für Anlese-Sessions im großen örtlichen Buchkaufhaus. Da geraten mir empörend viele Romane in die Finger, die sich offenbar an den so genannten ›Durchschnittsleser‹ wenden. Romane, die ich nach 10 bis 20 Seiten zur Seite lege, weil sie eben, nun ja, zu zahm, zu charakterlos und zu konformistisch sind. Wenn ich mal ich Bock auf solchartig stromlinienförmig-narrative Stangenwahre habe, dann vertraue ich mich lieber Filmen, TV-Stoffen an (und auch Comics; ich sag nur: Schauwerte). Da kann ich es verstehen, wenn Geschichten vor Angepasstheit strotzen, wenn das Produkt nicht zuuuuu schräg und originell sein darf und kann, da hohe Herstellungskosten wieder reingeholt werden sollen und/oder man auf die Befindlichkeiten von Sendern und Werbekunden Rücksicht zu nehmen hat. Bei Literatur hege ich allerdings höhere Ansprüche. Hier erwarte ich, dass sich der eine Macher darum bemüht, eine wirklich eigene, unverwechselbare Stimme und Geschichte zu bieten, und mich nicht langweilt mit Kompromissgedöns.
In entsprechend lebhaftes Entzücken versetzte mich schon der Beginn des Debüts von Jesse Burlington »The Sad Tale of the Brothers Grossbart«. Bereits der erste Satz (hier in meiner Stegreifübersetzung) faselt nicht um den heißen Brei:
Zu behaupten, die Brüder Grossbart seien grausame und selbstsüchtige Briganten, hieße selbst die garstigsten Wegelagerer zu verunglimpfen, und sie mordlustige Schweine zu nennen wäre gegenüber der dreckigsten Sau noch eine Beleidigung.
Und ich denke nicht, dass ich unbotmäßig viel verrate, wenn ich die 6-einhalb Seiten des ersten Kapitels stichpunktartig zusammenfasse:
Die Zwillinge Manfried und Hegel Grossbart stammen aus einer Grabräuberfamilie. Mama war geistig zurückgeblieben. Papa hat sie mit den Kleinen sitzen gelassen und wurde irgendwo im Norden gelyncht. Ein Onkel hat die beiden erzogen und ihnen das Grabräubern beigebracht. Manfried und Hegel wollen dem Vorbild ihres Großvaters folgen, der es laut Familienlegende bis zu den opulenten Gräbern der Heiden von ›Gyptland‹ geschafft hat. Nun schreibt man das Jahr 1364, und in Bad Endorf wollen sich die Brüder sich für ihre Reise ausstatten, indem sie den Hof des Rübenbauern Heinrich plündern, aus Rache, weil Heinrich einst die rübenstehlenden jungen Grossbarts mit der Schaufel verdroschen hat. Als sie das Haus des Bauern stürmen, greift dessen Frau die Brüder mit einer Axt an. Im Handgemenge bekommt Manfried die Axt zu fassen und erschlägt damit die Frau. Dann haut er beim Stöbern durchs Haus der ebenfalls wehrhaften Tochter die Axt übern Kopf. Heinrich will in die nahe Ortschaft fliehen um Hilfe zu holen, doch die Grossbarts drohen das Haus, in dem sich noch die zwei Babies der Familie befinden, in Brand zu stecken. Heinrich bleibt, doch es nützt nichts: Die Brüder schlitzen dem Sohn vor den Augen seines Vaters die Kehle durch und zünden das Haus an (und die Babies verbrennen mit kläglichen Geschrei), klauen Karre, ein Pferd, Brauchbares aus dem Haus und Rüben und machen sich davon. — Kurz: die ›Helden‹ des Romanes sind richtig finstere Kerle.
Doch nicht nur der Umstand, dass die Hauptfiguren des Romanes brutale, erschreckend rücksichtslose und eigensüchtige Kerle sind ist dazu geeignet sanftere und sich nach kuscheligen Fantasy-Träumen sehnende Leser abzuschrecken. Das 14. Jahrhundert von Jesse Bullington hat so gar nichts mit glatten, sauberen romantischen Mittelalter-Verklärungen gemein (a la »Der erste Ritter« mit Richard Gere), sondern beschwört nach Kräften ein schmutziges, matschiges, grindiges ›finsteres Mittelalter‹ (siehe z. B. »Jabberwocky« von Terry Gilliam). Wenn bei »Brother Grossbarts« gekämpft wird — und es gibt eine Reihe effektvoll und packend inszenierte lange Kampfszenen –, ist das eine blutige und schmerzvolle Sache. Und Bullington ist studierter Historiker und Volkskundler. Gehe ich also mal davon aus, dass er wohlrecherchierte Gründe hat, seinen Lesern ein harsches Mittelalter zusammenzubrauen.
Bullington schöpft aus dem Vollen, was hahnebüchenden Aberglauben und die Grenze zur Häresie übertretenden haarsträubenden (un-)christlichen Glauben betrifft. Das wird ebenfalls früh im Buch anhand einer theologischen Plauderei der Brüder Grossbart im dritten Kapitel offenkundig. Das geht ungefähr so:
Hegel fragt sich, wie es sein kann, dass die Heilige Jungfrau Maria einen gar so verzagten Sohn zur Welt gebracht hat. Immerhin hat sich Jesus am Kreuz nicht ›ehrenvoll‹, sondern wie ein Weichei verhalten. Er hätte einen seiner Peiniger ja wenigstens mal treten können. Manfried erklärt seine theologische Sicht: der HErr wollte Maria schwängern, doch die wollte reine Jungfrau bleiben und ließ den lieben GOtt abblitzen. GOtt schwängerte sie dennoch (und wie Manfried später erklärt, blieb Maria trotzdem weiterhin Jungfrau, denn eine Vergewaltigung zählt ja nicht), und dafür hat sich Maria gerächt, indem sie Jesus zum Waschlappen erzog. Manfried stimmt ein Lob auf die Jungfrau an (Seite 28, Übersetzung von Molo):
»{…} And that’s why She’s holy, brother. Out a all the folk the Lord tested and punished, She’s the only one who got him back, and worse than he got Her. That’s why She intercedes on our behalf, cause She loves thems what stand up to the Lord more than those kneelin to’em.
Und darum ist Sie heilig, Bruder. Von allen Leuten die der Herr geprüft und bestraft hat, ist die Sie die einzige die es im heimgezahlt hat, und zwar schlimmer als er es Ihr besorgt hat. Deshalb setzt Sie sich auch für uns ein, denn Sie liebt diejenigen, die dem Herren die Stirn bieten, mehr als jene, die vor ihm knien.«
Kein Buch also für Leser die ein empfindliches christliches Gemüth haben.
Was gibt’s noch? Ach ja, Monster vom Feinsten! Und die Magie dieses Mittelalters ist stark vom überlieferten Volksglauben geprägt und entsprechend eklig (Eiter, Speichel, Samen und andere übelriechendere Körperflüssigkeiten quellen stellenweise reichlich). — Beeindruckend der Auftritt eines der Hölle entflohenen Pestdämons, der in den Körper eines jungen Reisen geschlüpft ist, wenn er nackt, vor Fieber im kältesten Alpenwinter dampfend auf einem Eber dahergeritten kommt. — Wunderbar die Darstellung der Hexe Nicolette und ihrer wahrhaftig grauenvollen Brut. Nicolette ist ein ganzes Kapitel Vorgeschichte gewidmet, Dank dem diese Widersacherin mehr ist als nur ›böse‹ (na ja, eigentlich kein Kunststück, wenn die Protagonisten selbst von derart zweifelhafter Moral sind, dass sie in den allermeisten Geschichten die besten Übeltäter abgäben). Aber dass Nicolette und ihr Dämonengatte im einsamen Wald die kargen Winter überstanden, indem sie Kinder zeugten die sie dann verspeisten ist schon starker Tobak. Wird aber noch gesteigert, wenn Nicolette zwei frische kleine Monsterbälger mit den über Jahren gesammelten Kinderzähnen versorgt, so dass dieser Brut dann am ganzen Körper gierig schnappende Mäuler wachsen. — Ach ja: eine geheimnisvolle (weil stumme) Nixenschönheit sorgt für (dezente) erotische Wirren, vor allem bei dem sensibleren Manfried.
Neben Wäldern, winterlichen Bergstraßen, menschenverlassenen Klöstern gibt’s zur Abwechslung im weiteren Romanverlauf Abenteuer im frühlingsdurchlüfteten Norditalien und für einige Kapitel sind die Grossbarts im Stadtpalast eines ziemlich rumpeligen Piraten-Kaufmanns in Vendig zu Gast. Schließlich überquert man das Mittelmeer und erreicht Alexandria mit dem christlichen Kreuzzug-Überfallheers unter der Leitung von König Peter I. von Zypern.
Einige Leser haben bemängelt, dass die Episodenfolge des Roman einen etwas ruckelnden Verlauf bildet. Ich fand das keineswegs störend, sondern ließ mich berauschen von der bisweilen munter-knartzigen Sprache und genoss es, mich in ein magisches Mittelalter entführen zu lassen, in dem reichlich ungewöhnliche, sperrigere Figuren auftreten und das mich nicht nervt mit den üblichen langweiligen glatten Typen (der naive Gutmein-Held, die Unschulds-Trulle, der hämische Fiesling, der weise Kuttenopa ect pp ff).
Anfang Dezember 2009 hat Jesse Bullington froh verkündet, dass Bastei Luebbe die Rechte für eine deutsche Ausgabe des Romanes erworben hat. Ich hoffe inbrünstig, dass man für die hiesige Ausgabe der Umschlaggestaltung der englischsprachigen Originalausgaben treu bleibt und das Vexierbild von Istvan Orosz verwendet. Wenn nicht, möge die Heilige Jungfrau mit ihren gerechten Zorn Luebbe strafen!
Ich bin schon gespannt auf Bullingtons zweiten Roman »The Enterprise of Death«, der im November 2010 auf Englisch erscheinen soll und im selben Weltenbau wie die Grossbarts angesiedelt ist, allerdings diesmal zur Barock-Zeit der Spanischen Inquisition, und es soll weniger darum gehen, Gräber zu öffnen und Leut’ in selbige hineinzuprügeln, sondern darum, die Toten aus Gräbern wieder auferstehen zu lassen.
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Ende November, Anfang Dezember 2009 hat Jesse eine Werktagswoche als Gastautor für das »Amazon«-Bücherblog »Omnivoracious« beigetragen:
Eintrag No. 599 — Jeff Vandermeer hat es wieder getan! Wie schon bei seinen früheren, in der ›Secondary Creation‹-Welt der Stadt Amber angesiedelten, Büchern »Die Stadt der Heiligen & Verrückten« (engl. 2002 / dt. 2004) und »Shriek: Ein Nachwort« (2006) staune ich über »Finch«, bin durch die Lektüre verstört, hocherfreut und baff zugleich, und stelle respekterfüllt fest, dass sowohl mein Hirn wie mein Herz immer noch am trippen sind. Worum geht es? Hier meine Übersetzung der entsprechenden Passagen aus dem Presse-PDF zum Roman:
Was ist Amber?
Es war einmal, an den Ufern des Moth-Flusses, dass eine mächtige Stadt wie keine andere innerhalb oder außerhalb der Geschichte entstand. Gegründet auf dem Blut der ursprünglichen Bewohner, der verstohlenen und nichtmenschlichen Grauhüte, und auf Jahrhunderte durch die Nachwehen dieses Kampfes geformt, war Amber lange ein Zentrum des Handels und der Künste — und der Herrschaft. Nun jedoch, hundert Jahre nach den Ereignissen die in den früheren Büchern geschildert wurden, bricht Amber zusammen unter der Herrschaft der Grauhüte, die sich erhoben und die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht und das Kriegsrecht ausgerufen haben. Mit süchtig machenden Pilzdrogen, Internierungslagern und willkürlichem Terror kontrollieren sie Amber während sie an zwei Türmen arbeiten die das Schicksal der Stadt für immer verändern könnten. Die Überbleibsel der Rebellenstreitkräfte sind demoralisiert und verstreut. Partials, menschliche Verräter die durch die Grauhüte verändert wurden, patrouillieren die Straßen und drangsalieren ihre Bewohner.
Welchen Bezug hat »Finch« zu den anderen beiden Amber-Romanen?
Obwohl jeder Amber-Roman für sich selbst steht, bilden die drei Bücher zusammen den »Amber-Zyklus«, eine enorme 1700-Seiten lange Erzählung. Viele Figuren und Themen kommen in allen drei Büchern vor, und »Finch« liefert Antworten auf Fragen zu den Grauhüten und die Natur der Stadt selbst betreffend, die zum ersten Mal in »Die Stadt der Heiligen & Verrückten« gestellt wurden.
Wie ist Jeff Vandermeer auf die Idee zu Amber gekommen?
»Eines Nachts erwachte ich von einem lebhaften Traum und da war die Stadt in meinem Kopf. Sofort eilte ich zum Computer und schrieb die ersten Seiten der ersten in Amber angesiedelten Geschichte. Seltsamerweise benötigten diese ersten zwei-, dreihundert Worte kaum eine Überarbeitung. Von da an entwickelte sich bald die gesamte phantastische Stadt in meiner Vorstellung. Ich schrieb Erzählungen in diesem Setting, die schließlich zu Teilen von ›Die Stadt der Heiligen & Verrückten‹ wurden, und um 1998 herum hatte ich die groben Konturen des Amber-Zyklus ersonnen. Es dauerte zehn Jahre um die drei Romane zu beenden. Es war mir nie klar, dass ein Augenblick der Inspiration dazu führen könnte einen Vollzeitschriftsteller aus mir zu machen, oder dass er so bestimmend für mein Leben werden würde. Zudem haben mich die Reaktionen von Kritikern, Lesern und Fans Demut gelehrt.«
Betörendes Titelbild:John Coulthart hat ein mich begeisterndes Cover geschaffen. Der Umriss der Pistole macht klar, dass hier mal ›Secodary World‹-Phantastik geboten wird, die näher zu unserer Gegenwart angesiedelt ist als üblicherweise gewohnt. Die goldene Kreuzung aus Koralle, Seestern und Pilz ist ein technisches Gerät der Grauhüte. Im Griff der Pistole sieht man teilweise eine handschriftliche Chronik, ein Hinweis, dass Geheimnisse der Vergangenheit eine Rolle spielen. Im Lauf der Knarre erhebt sich ein Büschel prächtiger Türme, die jedoch überragt werden von einem großen Pilzturm der Grauhüte. Ein Detektiv im Anzug mit Kravatte und Hut (yeah!) kommt aus Schatten auf uns zu (wer meinen Klamottenstil kennt {siehe Kopfschmuck oben} kann sich denken, wie sehr mich das bereits anturnt). Wie es sich für ›Fungal Noir‹ gehört, ist das Cover farblich überwiegend von hübschen Schimmelpilzstrukturen überzogen.
Cooler Aufbau: Die Gegenwarts-Handlung erstreckt sich über eine Woche. Und die 42 Kapitel sind entsprechend auf Montag bis Sonntag verteilt. Montag bis Samstag werden eingeleitet von einem Verhör, dass sich im späteren Lauf der Handlung ereignet. Superspannend, da nicht vorweggenommen wird, wer da den armen Finch in die Mangel nimmt, und weshalb genau. Die auktoriale Erzähler›kamera‹ ist nüchtern immer nah bei Ermittler Finch, hie und da unterbrochen von dessen kursiv gesetzten Gedanken. Gewürzt wird das durch einige ›Handouts‹, sprich, Zeichnungen, Ausschnitten von gefundenen Notizen, Büchern und durch Ermittlungs-Protokolle.
Kecker Genre-Bastard:Krimi, weil es um die Aufklärung eines Doppelmordes an einem Menschen und einem Grauhut geht. Die Opfer werden in einer Wohnung gefunden, scheinen aber seltsamerweise durch einem Sturz aus größerer Höhe gestorben zu sein. Vom toten Grauhut liegt zudem nur der Oberkörper herum. — Spionage- & Polit-Thriller, weil Detektiv Finch bei seinem Versuch die Morde aufzuklären in einen vielstrangigen Konflikte-Knäuel verschiedener Interessensgruppen hineingezogen wird. — Fantasy bzw. Science Fiction, denn es wird Dank der nichtmenschlichen Art der Grauhüte und ihrer Kultur brilliant mit dem Thema Magie/höhere Technik gespielt, entsprechende Gadgets und Monster geboten. — Magischer Realismus und Weird Fiction da die Grenzen zwischen Wahrheit und Schein, Alltag und Transzendentem im Romanverlauf immer mehr verschwimmen und durch steigenden kosmischen Horror die einzelnen klar zu benennenden Phantastik-Genregrenzen solange miteinander kurzgeschlossen werden bis die Funken Sporen blühen. — Kriegs- und Überlebensgeschichte weil die Gegenwartshandlung in einer von Konflikten, Okkupation und Zerstörung gezeichneten Stadt(ruine) spielt, die normale Zivilisation zusammengebrochen ist und man von Tag zu Tag ums Miteinander- und Überleben ringt.
Weitere glänzende Erzählkunst-Facette: Ähnlich wie bei China Miévilles Romanen bin ich beeindruckt, wie Meister Vandermeer Stil und Atmosphäre seiner Bücher sehr gekonnt dem jeweiligen Inhalt anpasst. — »Die Stadt der Heiligen & Verrücken« bot als labyrinthischer Collage-Roman das Vergnügen, dass man sich in einem absichtlich vor barocker Unübersichtlichkeit strotztenden Rummelplatz der Ideen und Perspektiv- und Tonwechsel verliehren konnte. — »Shriek: Ein Nachwort« lud ein, sich auf einen durch die Erzähler Janice und Duncan Shriek geprägten autobiographischen Dialog einzulassen, war entsprechend persönlicher und individueller, näher an diesen Figuren dran. — »Finch« ist nun von der Gradlinigkeit eines ›typischen‹ Krimis geprägt und weiß mit seinem überwiegend knappen, herben Satzbau für sich einzunehmen, aus der die halluzinogeneren wilden Phantastik-Kunststücke um so effektiver hervorwuchern. Wie ein englischer Rezentent richtig bemerkte, gönnt sich »Finch« von allen dreien Amber-Büchern am wenigsten Humor, was aber passt und kein Verlust ist.
Krasser & zugleich berührender Schluß: {VORSICHT!!! Möglicherweise milde SPOILER} Das Ende von »Finch« erinnert mich (im Guten und Besten) wiederum an China Miéville und den Schluß von dessen zweitem ›Bas-Lag‹-Roman »The Scar«, teilweise auch an die Apokalyptik von Alfred Kubins »Die Andere Seite«. — Die Kriminalhandlung wird aufgelöst. Der größere Konflikt zwischen den Grauhüten, den Menschen und noch anderen Fraktionen allerdings nicht (wirklich). Wie es sich für einen ordentlich Phantastik-Roman gehört, kommt es zwar zu einer vorläufigen Überwindung der akutesten Widrigkeiten, aber der größere Handlungsrahmen um das Schicksal der Stadt Ambra mündet dennoch in einer atemberaubenden Entwicklung, durch die ein großes Fenster zu überwältigend vielen Möglichkeiten geöffnet wird. Kurz: richtig große ›Sense of Wonder‹-Portion.
Fazit: Jeff Vandermeer hat wieder mal gezeigt, das ›Fantasy‹ und ›Phantastik‹ als Genres keineswegs reaktionär oder altbacken oder simpel zu sein haben und lediglich dazu taugen Tagtraumvorlagen für kleine Fluchten vom langweiligen und nervigen Alltagstrott zu ermöglichen. Es besteht für mich kein Zweifel, dass er zu jener kleinen Schaar gegenwärtiger Autoren gehört, bei denen man der Phantastik beim Wachsen zuschauen kann. — Ich hoffe natürlich, dass auch diesmal wieder das Team von Klett-Cotta diese Gemme auf Deutsch verlegen wird.
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Es ist mir ein Rätsel, wie Vandermeer so viel gebacken bekommt, wie er in seinem Blog und anderswo verbreitet. Gut für mich neugierigen Leser, der ich ich gerne einen Blick hinter die Kulissen des Schreibens werfe. In zwei Blog-Einträgen zeigt Jeff uns, wie der Roman »Finch« entstanden ist. Hier: »Finch: What a Novel and Novelist Look Like…« (wieder Mal ernüchternd, dass Autoren die großartige Bücher schreiben, nicht unbedingt eine lesbare, schöne Handschrift haben müssen); und hier: »Finch from Inception to Interior Layout«, mit Einblicken über Probeleser- & Lektoren-Anmerkungen.
Zum zweiten Mal hat Vandermeer einer seiner Lieblingsband dazu verführen können, einen ›Soundtrack‹ zu seinem Roman einzuspielen. Bei »Shriek« war es die Gruppe The Church (nicht soooo mein Ding), und nun für »Finch« hat Murder By Death einen mir sehr gefallenden Score geschaffen. Hier geht es zu einem Interview, das Jeff mit der Band für das Amazon-Blog ›Omnivoracious‹ geführt hat: »Murder by Death on Books, Touring, and The Soundtrack for Finch«
Eintrag No. 596 — Heyne/Randomhouse hat einen Wettbewerb veranstaltet, bei dem ein Debüt-Werk zum ›magischen Beststeller‹ gekürt werden sollte. Da wurde in den Genre-Phantastikgefilden geunkt und sich davor geforchten, was für ein Schmarrn letztlich dabei rauskommen würde.
Nicht noch ein Buch mit im Boden steckenden Schwert oder schicksalsumflorten Kuttentypen auf dem Umschlag!
Nicht noch ein klischeetriefender Fantasy-Rassenbackförmchen-Schmuh!
Ermarmen!!!
Aber nein: Die Juryrichter hatten erfreulicherweise Erbarmen, ein glückliches Händchen und pickten aus den geschätzten drei Millionen eingereichten Manuskripten eines als Sieger heraus, das sich angenehm von den platten Modeströmungen der Genre-Phantastik abhebt.
Am meisten hat mich an »Des Teufels Maskerade« erstaunt, wie dieser Roman sich auf seine Figuren, deren Gefühlslagen und Konversationen konzentriert und Erwartungen zuwiderläuft, man bekäme einen atemlosen und äktschenreichen Abenteuergarn geboten. Halsbrecherische Ereignisse sind rar in diesem Roman, und wo sie sich dennoch ereignen, werden sie erfrischend unkonventionell knapp und fast schon lapidar abgehandelt.
Im Zentrum des Lesevergnügens stehen die Mitglieder einer kleinen Detektei, welche sich auf okkulte Fisimatenten spezialisiert hat, und die ungewöhnlichen Vorkommnisse in die sie im Sommer 1909 zu Prag und Wien verstrickt ist.
Da ist der Chef der Truppe, der etwas verlebte ehemalige Hauptmann, nun ein Automobilnarr, Dejan Sirco; sein pedantischer Kompagnion Lysander Sutcliffe, ein durch magische Eskapaden im Körper eines Otters befindliche ehemalige Geist eines englischen Adeligen des 16. Jahrhunderts; sowie der beflissene Ex-Straßenjunge und jetztige ungestüme Filius der Detektei Mirko Zdar. Zum Quartett wird die Gruppe mit der resoluten und auf Benimm pochenden Bordellbetreiberin Esther, für mich die stärkste Figur des Romans und allein schon die Lektüre wert, so wie Victoria Schlederer vor allem diese Esther, und auch andere Figuren, glänzend in für Piefkes (= nichtalpenländische Deutsche) verständlich aufbereiteten K.&K.-Duktus parlieren läßt, was z.B. so klingt (S. 48):
»{…} Den sollten’S sehen, ganz voll Narben, an Stellen, wo man sich denkt, na, das tut doch weh …«
Leichte Abstriche muss ich machen, da der Handlungsverlauf bisweilen paradoxerweise auf mich zugleich beliebig und forciert wirkte, einige Szenen allzu plötzlich als Fremdkörperepisoden aus dem Gefüge herausragen und öfter als verzeihlich der Zufall oder neue Figuren die Handlung vorantreiben.
Trotzdem: als ›leichte (jedoch nicht ›platte‹) Lektüre‹ für Zwischendurch und Unterwegs für mich ein empfehlenswerter Roman und ein Debüt, dem ich gerne meinen neidvollen Respektes angedeihen lasse. Ich hoffe, Frau Schlederer wird in Zukunft weiteren feinen Garn für das Lektüregewebe historischer Alternativwelt-Phantastik spinnen, das ich durch Autoren/Autorinnen wie Gorden Dahlquist, Ju Honisch, Susanna Clarke, Ian R. MacLeod und Mark Frost zu schätzen gelernt habe.
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Viktoria Schlederer: »Des Teufels Maskerade«; 19 Kapitel mit Anhang, mit 7 Bleistift-Illustrationen und 3 Karten von Iris Daub auf 542 Seiten; Heyne 2009; ISBN: 978-3-453-52655-6.
Für »Magira 2008« habe ich anders als in den Jahren zuvor und danach keine Sammelrezension geliefert, sondern mich auf das Werk eines einzigen Autors – Matt Ruff – konzentriert.
Für die Molochronik-Leser habe ich diesen langen Beitrag in zwei Teilen aufbereitet. Teil eins enthält meinen persönlich gefärbten Werküberblick zu den wilden Welten von Matt Ruff.
Wie immer habe ich den Herausgebern Michael Scheuch und Hermann Ritter, den Korrekturlesern und Layoutern von »Magira« für ihre Unterstützung zu danken. Besonderen Dank schulde zudem ich dem Hanser-Verlag für seine Aufgeschlossenheit, sich auf einen Amateur-Journalisten wie mich einzulassen, und natürlich danke ich Matt Ruff selbst für seine Großzügigkeit und seine Hilfe bei der Nachbearbeitung des Interviews.
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Eintrag No. 593 — MOLO: Willkommen in Europa. Bist Du gerne unterwegs auf Reisen?
MATT RUFF: Jeder Reiseanlass kommt mir sehr gelegen. Bisher bin ich in Paris gewesen, auch wenn keine Lesungen stattgefunden haben. Man erzählte mir, dass die Franzosen ungern Lesungen in fremden Sprachen veranstalten, was mich etwas verblüfft hat.
Zwischen den Lesungen und Interviews hatte ich ein wenig Gelegenheiten für Stadtbesichtigungen, aber die Europatour ist ein Arbeitsaufenthalt. Da habe ich leider nicht wirklich Zeit die Dinge um mich herum entspannt zu genießen.
MOLO: Hattest Du Gelegenheit Deiner Familiengeschichte nachzuspühren? Du hast ja deutsche Vorfahren.
MATT RUFF: Richtig. Beide Seiten meiner Familie stammen ursprünglich aus Deutschland. Die am weitesten zurückreichenden Vorfahren der Familie meiner Mutter stammen aus Öttingen. Zu gerne hätte ich den Ort besucht, aber es war leider keine Zeit dafür.
Ich war ja schon zweimal in Deutschland auf Lesereise: 1991 mit »Fool on the Hill« und 1998 mit »G.A.S – Die Trilogie der Stadtwerke«. 1998 habe ich 20 Städte abgeklappert und bei sechs Lesungen saß ich zusammen mit Franka Potente auf der Bühne. Das war kurz bevor »Lola Rennt« in die Kinos kam, und Franka war zwar schon bekannt, aber eben noch nicht so berühmt wie sie durch diesen Film dann wurde. Es war ziemlich spaßig.
Aber nun zu Deinem jüngstem Buch. Du sagst, dass »Bad Monkeys« Dein ›Philip K. Dick-Roman‹ ist. Wie würdest Du das literarische Vermächtnis von Philip K. Dick für jemanden beschreiben, der nichts über ihn weiß?
MATT RUFF: Einen Roman als ›Philip K. Dick-Roman‹ zu bezeichnen, ist für mich eine Abkürzung um zu beschreiben, dass es sich dabei um ein Buch handelt, in dem die Wirklichkeit der Welt, und/oder auch die Identität der Hauptfigur in Frage gestellt wird. Dick hat sehr gerne Geschichten erzählt, in denen sich entpuppt, dass alles was die Hauptfigur über sich selbst zu wissen glaubt, oder was sie über die Welt annimmt, sich als falsch erweist, und wie diese Figuren dann damit zurechtkommen und wie sie zu ergründen versuchen, was wahr ist. In »Bad Monkeys« erzählt eine Frau einem Psychiater ihre Geschichte, und ihre Schilderungen könnten Lügen, oder Wahnvorstellung oder etwas völlig anderes sein. Die Bezeichnung ›Philip K. Dick-Roman‹ bot sich also als passende Beschreibung an.
MOLO: Apropos Dick. Hat Dir die Verfilmung von »A Scanner Darkly« gefallen?
MATT RUFF: Eigentlich nicht. Ich blieb auf seltsame Weise von ihr unberührt. Das Buch ist ziemlich gut und sehr lustig. Es gehört zu den am besten geschriebenen Büchern von Dick. Ihm gelingt es dort sehr gut jene geistlosen Unterhaltungen zu schildern, die Leute auf Drogen miteinander haben, und steigt dabei in einen Wahnsinn hinab, der sich durch einen übermäßigen Konsum schlechter Drogen auftut. Der Film aber funktioniert aus verschiedenen Gründen nicht. Es gelang ihm nicht, mich so wie das Buch mitzunehmen, was schade ist. Aber das ist bei vielen Filmen die auf Dicks Büchern basieren der Fall. Warum auch immer, sie nehmen ihr Publikum nicht mit. Die Filme die aus Dicks Kurzegschichten statt seinen Romanen gemacht wurden, sind in der Regel besser, auch wenn ich nicht sicher bin, woran das liegt. Vielleicht zwingt das Filmemacher dazu etwas kreativer zu sein und die Vorlage zu einer gut ausgewogenen Geschichte zu entwickeln.
MOLO: Ich denke das liegt daran, dass Sprache immer noch die wirkungsvollste Art ist eine narrative Welt zu errichten und eine Geschichte zu erzählen. Filme neigen dazu, mehr als ein Spektakel für die Sinne zu funktionieren. Erst mit dem serialen Erzählen von TV-Sendungen wie (um jüngere Beispiele zu nennen) »Deadwood« oder »The Sopranos« hat sich im anglo-amerikanischen Fernsehen so etwas wie eine anspruchsvollere »Telenovela de luxe«-Strömung entwickelt. Da gibt es dann genug Zeit und Raum um Perspektivwechsel zu bieten und die verschiedenen Figuren und ihre Hintergründe genauer darzustellen.
MATT RUFF: Interessant. Ein Autor den ich sehr bewundere, Richard Price, hat ein Buch namens »Clockers« geschrieben, das Spike Lee verfilmt hat. Ihm ist womöglich die beste Zweistunden-Filmversion des Buches gelungen, die möglich ist, und trotzdem kam ich aus dem Kino und dachte mir: »Das war es nicht wirklich. Man hätte mindestens acht Stunden, vielleicht sogar zwölf gebraucht um den Roman angemessen gerecht zu werden.«
MOLO: Zurück zu Dick. Was war für Dich wichtig daran, einen ›Philip K. Dick-Roman‹ zu schreiben, und was waren Deine Hoffnungen und Ängste was diese Ambition betrifft?
MATT RUFF: Ich glaube nicht, dass ›wichtig‹ das richtige Wort ist. Ich hatte diese Idee für eine Geschichte, und die Art sie zu erzählen. Das als ›Philip K. Dick-Roman‹ zu beschreiben war dabei ein passendes Kürzel für das, was ich im Sinn hatte. Dann spielte ich eine Weile mit dem Gedanken, die Hauptfigur Phil zu nennen, als eine Art Homage. Schließlich fand ich heraus, dass Dick eine Zwillingsschwester namens Jane Charlotte hatte, die im Babyalter gestorben ist, deren Präsenz aber Dick sein Leben lang verfolgt hat. Um auf das Buch »A Scanner Darkly« zurückzukommen: An einer Stelle der Geschichte widmet ein Radio-Moderator ein Lied »Phil und Jane«, was eine von vielen Anspielungen von Dick auf seine Schwester. Thematisch schien es also äußerst passend, die Hauptfigur Jane Charlotte zu taufen und ihr einen Bruder namens Phil zu geben, der real ist oder auch nicht. Beim Lesen von »Bad Monkeys« ist das eine wichtige Angelegenheit. Es passte also. Während der Entwicklung eines Romanes stolpert man über solche Dinge und denkt sich: »Das fügt sich gut. Das passt sehr gut zur Intention der Geschichte. Dadurch wird es besser.« Als ich dann zu schreiben begann war die Stimme von Janes Figur genau richtig.
MOLO: In Deiner Danksagung zu »Bad Monkeys« erwähnst Du Laurence Sutin der eine wunderbare Biographie über Philip K. Dick geschrieben hat »Göttliche Zwischenfälle« (Frankfurter Verlagsanstalt, Leider vergriffen).
MATT RUFF: Durch dieses Buch habe ich von Jane Charlotte erfahren.
MOLO: Ich kann mich nur an wenige andere Biographien erinnern, die so bewegend waren wie Sutins Buch. — Mich würde interessieren, wie Du Philip K. Dick beschreiben würdest. Erst in den letzten Jahren steigt sein Ansehen bei uns auch außerhalb der SF-Genreleserkreise. Es ist eine glückliche Fügung, dass zur gleichen Zeit wie »Bad Monkeys« nun Dicks Kurzgeschichten endlich komplett und gut editiert auf Deutsch (bei Zweitausendeins) veröffentlicht werden, nachdem sie nur vereinzelt gedruckt zu haben, bzw. lange vergriffen waren.
MATT RUFF: Tatsächlich bin ich ja der Ansicht, dass Dicks Kurzgeschichten viel besser sind als seine Romane. Er war einer dieser Autoren, die mit einer überschaubaren Länge besser zurecht gekommen sind, weil er, wie ich vermute, nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne hatte.
MOLO: Vielleicht lag das an seinem Amphetaminproblem.
MATT RUFF: Das spielt da auch mit hinein. Bis auf einige Ausnahmen finde ich, dass seine Romane an logischen Handlungsunzulänglichkeiten kranken, und so etwas macht mich kirre, denn diese Makel seiner Romane scheinen mir weniger auf bewussten künstlerischen Entscheidungen, als vielmehr auf Schlamperei und Aufmerksamkeitsfehlern zu beruhen. Einfach ärgerlich.
Ich mag Fiktionen mit Ambiguität. Ich mag es, wenn ich als Leser nicht sicher sein kann was genau geschieht, aber ich will schon das Gefühl haben, dass der Autor weiß was er will, dass er einem Plan folgt, auch wenn ich selbst die Lösung nicht sehe, wenn es eine Lösung gibt. Wenn Leute wie Dick oder David Lynch dann etwas vorlegen, bei dem man sich dann denkt, dass es keine Möglichkeit gibt das logisch plausibel zu erklären, kann einen das ziemlich aufregen.
MOLO: Du erwähnst Lynch. »Lost Highway« ist ja ein berühmt-berüchtigtes Beispiel einer Geschichte, über die viel debattiert wird wegen der Dinge, die wir Zuschauer nicht deutlich gezeigt oder erklärt bekommen, die wir nicht auf der Leinwand sehen.
MATT RUFF: Dazu muss ich sagen, dass David Lynch einer der unterhaltsamsten Erzähler von unplausiblen Geschichten ist. Selbst dann, wenn seine Filme beginnen absolut keinen Sinn mehr zu ergeben, können sie sehr hypnotisch sein, wenn man in der richtigen Stimmung ist. Aber ich ziehe es vor das Gefühl zu haben, dass einer Geschichte eine plausible Logik zugrunde liegt, auch wenn mir nicht gewährt wird, alles zur Gänze zu verstehen.
MOLO: Denkst Du, dass es einen großen Unterschied zwischen realistischen und phantastischen Geschichten gibt, wenn es darum geht koherente Plausibilität zu erreichen? »Ich und die Anderen« ist für mich z.B. ein phantastischer Roman, trotzdem er in einem realistischen Weltenbau im Hier und Heute spielt, und keine augenfälligen Wunderlichkeiten vorkommen. Man muss nur die gewohnte SF-Perspektive ändern, weg von technisch-utopischen Spekulationen hin zu Spekulationen über Innere Welten und die Beschaffenheit des Ichs um den Roman als SF oder ›Psycho-Fantasy‹ zu lesen.
MATT RUFF: Das stimmt. »Ich und die Anderen« ist sicherlich Science-Fiction-haft in dem Sinne, dass der Roman das Phänomen der Multiplen Persönlichkeit in etwa so erforscht, wie es ein SF-Autor machen würde.
MOLO: Und es gibt eine Fantasy-Ebene mit der Queste zu den Geheimnissen der Vergangenheit und den Nebenwelten im Bewußtsein der Figuren.
MATT RUFF: Tatsächlich bin ich der Ansicht, dass kein großer Unterschied zwischen SF/Fantasy und realistischen Fiktionen besteht, denn auch den Geschichten der phantastischen Genre müssen bestimmte Regeln zugrundeliegen, auch wenn diese Regeln anders sein können. Auch bei phantastischen Geschichten, zumindest wenn sie halbwegs interessant sein sollen, muss unterschieden werden was möglich ist und was nicht, und die Dinge müssen einen Sinn ergeben.
Clive Barker hat einen Roman namens »Weaveworld« (»Gewebte Welt«) geschrieben, und ich bin über die ersten 10 bis 15 Seiten nicht hinausgekommen, denn da stürzt der Protagonist zu Beginn in eine andere Welt in einen Teppich. Bei der Beschreibung der Landschaft in diesem Teppich auf den ersten paar Seiten war für mich sehr deutlich zu spüren, dass Barker hier alles mögliche zusammenflickt wie es ihm gerade passt und wie es ihm gerade einfiel. Was auch immer ihm gerade zu passen scheint, geschieht einfach. Das reizt mich nicht. Auch andere Phantastikgeschichten die ich las, und bei denen es keinen schmalen Grat zu geben schien, was möglich und was unmöglich ist, mochte ist deshalb nicht. Ich mag Geschichten die zugrunde liegenden Regeln folgen, und die nicht einfach ins Blaue fabulieren.
Da fällt mir eine Lieblingsstelle aus Stephen Kings »The Dead Zone« ein. Da ist dieser Mann, der nach einem langen Koma mit der Fähigkeit erwacht, die Zukunft vorherzusehen. In diesem Roman sind also übermenschliche Psychofähigkeiten real. Zugleich aber hat dieser Kerl eine Mutter die daran glaubt, dass Außerirdische auf der Erde gelandet sind, und sie wird als irre beschrieben. Ich erinnere mich, wie ich damals von dieser Idee angetan war, dass es, obwohl es sich um einen phantastischen Roman handelt, immer noch möglich, dass Figuren an verrückte Sachen glauben, die unrealistisch sind. Das fand ich richtig cool, wie King hier vermittelt, dass es immer noch Grenzen des Möglichen gibt, auch wenn diese Grenzen anders gezogen sind, als man gemeinhin glaubt.
MOLO: Meiner Ansicht nach gehört genau das zu den größten Stärken der phantastischen Literatur, dass sie die Wachsamkeit der Leser für Grenzen zu schärfen vermag. Ich selbst mag die ›alles ist möglich‹-Ästhetik und bin der Meinung, dass es den phantastischen Erzählweisen dabei zum Beispiel spielender gelingt, Komisches und Ernsthaftes miteinander zu kombinieren.
MATT RUFF: Sicherlich gehört zu den Dingen, die man in phantastischen Fiktionen anstellen kann, dass man unhinterfragte Annahmen auf den Kopf stellen und damit in Frage stellen kann. Was das Kombinieren von Komik und Ernsthaftigkeit betrifft, so lässt sich das in der Phantastik wohl tatsächlich leichter erreichen, aber ich glaube dennoch, dass sich auch bei realistischen Schreibweisen recht einfach ist, Humor zu finden.
MOLO: Es kommt dabei dennoch zu Unklarheiten. Nehmen wir »G.A.S.«: ich bin auf Auslegungen gestoßen, in denen die Leser glauben, dass Du mit diesem Roman ein hymnisches Lob auf Ayn Rand und ihren Objektivismus vorgelegt hast, wogegen andere Leser (einschließlich mir selbst) erwidern würden: »Nein, nein. Matt macht sich lustig über Rand und führt vor, wie kaltherzig und vernagelt ihre so genannte Philosophie ist. Jedoch zollt er zugleich der Person Ayn Rand seien Respekt, denn man muss zugestehen, dass sie eine faszinierende Charakterstärke inne hatte«.
MATT RUFF: Oh, natürlich mache ich mich lustig über Rand, aber ich habe mir viel Mühe gegeben dabei nicht zu gehässig oder abfällig zu sein, was einige Leser verwirrt hat. Man kann über jemanden lachen und dennoch Respekt für die Person zeigen., und ich respektiere Rand sehr. Sie ein cleverer, talentierter und interessanter Charakter. Sie hat sich jedoch meiner Ansicht nach in vielerlei Hinsicht gewaltig geirrt, aber weißt Du: Ich irre mich auch oft.
MOLO: In Bezug auf die ernsthaften Aspekte habe ich beobachtet, dass manche Leser bei »Ich und die Anderen« vor dem Thema Kindesmissbrauch zurückschreckten, aber jeder, der den Mut aufbrachte sich trotzdem auf den Roman einzulassen und ihren gelesen hat äußerte Bewunderung für die umsichtige Art und Weise, wie Du diese Facette behandelt hast.
MATT RUFF: Es gibt eine Stelle in »Ich und die Anderen« über eine der Figuren des Romanes, die herausbekommen will, »wie man das Böse anerkennt, ohne davon aufgefressen zu werden«. Das ist, denke ich, eine der wichtigsten Funktionen von Humor: uns mit schrecklichen Dingen fertig werden zu lassen, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Man muss natürlich achtsam sein, dass man dabei das in Frage kommende Problem nicht verharmlost und trivialisiert, doch wie es scheint, habe ich eine ganz gute Ader dafür die Balance zu wahren.
MOLO: Zurück zu »Bad Monkeys«. Als ich zu den Mottis des Roman recherierte stieß ich auf <a href=""de.wikipedia.org target="_blank" title="Zum deutschen Wiki-Eintrag.">H. L. Mencken und war überrascht als ich entdeckte, dass dieser amerikanische Journalist über den John Scopes-»Monkey«-Prozess von 1925 berichtete, bei dem sich Kreationisten und Darwinisten beharkten. War es Deine Absicht auf diesen ›Affenzirkus‹ anzuspielen, als Du Dich für Menckens Zitat als Motto entschieden hast?
MATT RUFF: Nein, aber das ist witzig. Was für ein glücklicher Zufall, daran habe ich gar nicht gedacht. Wirklich schön. Passt. — Das Zitat von Mencken mag ich sehr.{01}
MOLO: Als aufmerksamer Fan Deiner und Neal Stephensons Arbeit habe ich einige Verbindungen zwischen Euch entdeckt. Deine Frau, Lisa Gold, hat Neals »Barock-Zyklus« Korrektur gelesen, Du erwähnst Neal in Deinen Danksagungen von »Ich und die Anderen« und »Bad Monkeys« und (last but not least), Eure Schwertkampf-, Flaschenköpf-Sessions, von denen sich auf Deinen und Neals Websieiten Photos finden.
MATT RUFF: {Lacht}
MOLO: Magst Du etwas erzählen über Deine Freundschaft mit Neal?
MATT RUFF: Neal und ich sind gute Freunde. Ich habe z.B. das Manuskript von Neals neustem Roman (»Anathem«) als Reiselektüre dabei. Ein tolles Buch, ich habe noch einige hundert Seiten vor mir. Ein dickes Buch.
Neal war mir bereits bekannt lange bevor wir uns begegnet sind. Der Verlag Atlantic hat seinen Roman »Zodiac« im gleichen Quartal veröffentlicht wie »Fool on the Hill«. Mein Lektor bei Atlantic gab mir »Zodiac« mit den Worten: »Dieser Kerl schreibt ein bischen so wie Du. Ich glaube, es wird Dir gefallen.« Das hat es auch. Ein paar Jahre später las ein anderer Freund, der nichts von »Zodiac« wußte, dann »Snow Crash« von diesem Typ namens Stephenson, und mir gesagt: »Das erinnert mich an Deine Sachen«. Mein Freund gab mir »Snow Crash«, das ich ebenfalls sehr gut fand und ich kam drauf, dass es von dem gleichen Kerl stammt wie »Zodiac«. Ich dachte mir, dass Neal und ich in der gleichen Richtung unterwegs sind, und dass wir uns wohl für ähnliche Dinge interessersieren. Als dann die Veröffentlichung von »G.A.S.« nahte, bat ich meinen Verleger Neal eine Kopie des Manuskriptes zu schicken, falls er einen Empfehlungsspruch für den Buchumschlag beisteuern will. Neal mochte das Buch und er schrieb einen Blurb. Als ich dann auf der Lesetour von »G.A.S.« in Seattle war, frug ich ihn, ob wir uns treffen können und wir landeten in einem Sushi-Restaurant und so begann unsere Freundschaft.
Als meine Frau und ich dann ein paar Jahre später nach Seattle übersiedelt sind, nahm ich wieder Kontakt mit Neal auf. Er lud uns zu sich nach Hause ein und seitdem verbringen wir Zeit zusammen. Spätestens seit seiner Arbeit am »Barock-Zyklus« interessiert sich Neal sehr für die Schwertkämpferei des Mittelalters und der Renaissance. Bei vielen Treffen haben wir verschiedenste Sachen ausprobiert, aber erst seit kurzem verwenden wir richtige Stahlklingen und Rüstungen.
Mit Neal befreundet zu sein ist aufregend, denn er kennt eine Menge interessante Leute. Manche sind Schriftsteller, andere Kryptographen. Man weiß nie, wem man begegnet, wenn man von Neal zum Essen eingeladen wird.
MOLO: In früheren Interviews hast Du Unbehagen darüber geäußerst, einer bestimmten literarischen Gruppe anzugehören oder zugerechnet zu werden. Als ich aber die Schwertkampf-Photos von Neal und Dir im Internet sah, dachte ich mir sofort: »Jupp, die zwei passen zusammen.«
MATT RUFF: Wovon ich Abstand nehme, wenn Leute von Literatenkreisen reden, ist sowas wie ›Dorothy Parker und ihr lasterhafter Kreis‹, also Menschen die zusammenkommen nur um über Bücher zu debattieren. Natürlich plaudern Neal und ich manchmal über unsere Sachen, zum Beispiel wenn er mich fragt, woran ich gerade arbeite und wie es vorangeht und umgekehrt. Aber Schreiben ist eine ziemlich solitäre Angelegenheit. Da sitzte ich alleine zuhause in meinem Zimmer und Neal sitzt bei sich zuhause alleine in seinem Zimmer. Er und ich reden nicht viel über das, was wir da tun, nicht in dem Sinne, dass wir uns gegenseitig direkt beeinflussen. Wir zeigen uns nicht im Werden befindliche Manuskripte. Sein neustes Buch lese ich als Manuskript, weil ich Lust habe es zu lesen und weil es fertig ist. Neal und ich bilden also keinen kleinen literarischer Salon, wie es der Fall ist, wenn Autoren sich zusammensetzten um miteinander gemeinsam ›Literatur zu machen‹. Das zumindest stelle ich mir vor, wenn man von einer Literatur-Szene oder literarischen Kreisen spricht, und bei so etwas bin ich lieber nicht dabei. Es ist aber sicherlich einfacher Autoren zu begegnen, deren Werk man kennt und bewundert. Mit Neal verbindet mich mehr eine persönliche Freundschaft und weniger eine Arbeitsfreundschaft.
MOLO: Um beim Thema Internet-Auftritt zu bleiben. Mir sind nicht viele Autoren bekannt, die so wie Du schon früh begonnen haben, ihren Lesern einen großzügigen Rundgang hinter die Kulissen in die kreative Werkstatt zu gewähren.
MATT RUFF: Tatsächlich? Ich dachte, dass das jetzt mit Blogs viele machen.
MOLO: Mein Eindruck ist, dass Autoren das Internet vor allem als Nebenbühne nutzen, um den Lesern ergänzendes Material zu bieten, wie Landkarten oder Glosare, mehr noch aber, um selbst etwas für die Buch-PR beizutragen. Mittlerweile beglückt jedoch eine ganze Reihe von Autoren ihre Leser mit großzügiger Offenheit, etwa Neil Gaiman, Charles Stross, Hal Duncan mit ihren Blogs, oder auch Neal mit seinem »Barock-Zyklus«-Metawebwiki, aber mir scheint, Du bist da ein Pionier. Ansonsten sind kaum jemand so freimütig wie Du, um z.B. über Geheimnisse zu sprechen wie »Bücher die ich nicht fertig geschrieben habe« oder »Musik die ich beim Schreiben gehört habe«, oder um anhand von Beispielen die verschiedenen Arbeitsphasen eines Manuskripts zu zeigen.
MATT RUFF: Das mache ich aus Spaß an der Sache und das gehört zu den Freuden, wenn man eine eigene Website betreut. Es bereitet mir Vergnügen, auf diese Weise die Dinge die ich getan habe zu dokumentieren, auch wenn aus ihnen keine Bücher geworden sind. Kann sein, ich mache das erst mal nur für mich, um meine Aufzeichnungen zu organisieren. Aber mir ist klar, dass sich die Leser dafür interessieren, immerhin sind das ja auch die Sachen, auf die ich als Leser neugierig bin bei den Autoren, die mich beschäftigen. Meine Website zu pflegen macht mir Spaß.
MOLO: Zur vielleicht ernstesten Frage. Fühlst Du Dich wohl, wenn ich Dich als einen Schriftsteller beschreibe, der zu einer Avantgarde gehört, wenn es um das Geschichtenerzählen im Zeitalter des Infowars geht, wo wir alle als Global-Bürger damit zu ringen haben, in wen oder was wir unser Vertrauen investieren?
MATT RUFF: Damit fühle ich mich soweit wohl, als dass in meinen Geschichten, sicherlich zumindest bei »Bad Monkeys«, dieses Problem zur Sprache kommt. Obwohl ich mich auf dieses Problem mit meinen Geschichte beziehe, steht für mich aber die Erzählung im Vordergrund. Doch für mich ist dabei ein wichtiger Aspekt der Geschichte, dass sie einige Tiefe und Relevanz birgt. Ich scheue davor zurück zu erklären, dass meine Geschichten eine bestimmte versteckte Botschaft transportieren sollen, aber ich bin sehr dafür, dass ein Roman Anliegen hat oder Themen anklingen lässt, die sehr viel mit den aktuellen Zeitgeschehen zu tun haben. In »Bad Monkeys« zum Beispiel trifft man auf das Thema der allgegenwärtigen Überwachung und des Kampfes gegen das Böse, worin sich offensichtlich auf verschiedene Art und Weise der gegenwärtige ›War on Terror‹ widerspiegelt. Ich schätze, dass ich mich mit Deiner Beschreibung ganz gut zurecht komme, auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich das selbst so ausdrücken würde.
MOLO: Ich bin zu ernst und streng?
MATT RUFF: Das ist es wohl. Ein bischen zu ernst für meinen Geschmack. Es ist nicht so, dass ich mir selbst einrede: »Ich werde diesen oder jenen Aspekt des modernen Lebens kommentieren«. Eher schon ist es so, dass ich etwas schreibe und dann merke »Hmmm, ich habe da diese coole Idee zu einem Überwachungssystem die sehr stimmig ist, denn genau solche Entwicklungen finden ja derzeit statt.«
Eine Facette meines Schreibens ist, dass ich eher intuitiv arbeite, und weniger direkt und bewusst Ideen einbaue die in Bezug zur aktuellen Weltlage sinnvoll sind.
Wenn ich einen unmittelbaren Kommentar zur Weltlage geben wollte, würde ich einen Sachtext schreiben. Fiktionen haben zuerst mal damit zu tun eine Geschichte zu erzählen und dabei verschiedene Seitenblicke auf die ernsten Vorgänge zu werfen, die gerade in der Welt stattfinden.
MOLO: Für meinen Geschmack bist Du ein hervorragender phantastischer Autor, wenn man die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Phantasie »(vor dem geistigen Auge) erscheinen lassen« zugrunde legt. Jeder Künstler spielt auf dem Publikum, wie ein Musiker ein Instrument spielt. Desto besser ein Autor ist, um so besser ist die Kopfmusik die er mit seinen Büchern beim Publikum hervorzurufen vermag.
Du hast schon in früheren Interviews gesagt, dass Du zwar Deine Geschichten sehr aus dem Bauch heraus schreibst, aber dabei doch äußerst großen Wert darauf legst, umsichtig und mit Akribie den Erzählablauf und die Details auszuarbeiten und aufeinander abzustimmen.
MATT RUFF: Sicherlich lege ich großen Wert darauf zu wissen wohin die Reise geht. Die gegenteilige Art zu Schreiben hat Stephen King einmal beschrieben, und für mich mutet diese Haltung sehr seltsam an. Er macht eine große Sache daraus, dass er niemals weiter als ein paar Seiten im Voraus weiß, was geschehen wird. Wenn King über den Vorgang des Schreibens spricht, dann benutzt er Metaphern die mit Entdeckung und Erforschung zu tun haben. Er spricht über einen Roman wie über etwas, das bereits irgendwo in der Welt vorhanden ist, was er nur noch finden muss. Das fertige Stück ist schon da, er muss es nur noch ausgraben. Bei mir ist anders: »Nein, der Roman ist solange nicht da, bis ich ihn zusammensetzte.«
Natürlich entwerfe ich Teile eines Romans schon bevor ich anfange ihn zu schreiben. Ich bin mir sehr bewußt, dass ich als Ausführender die Kontrolle über den Aufbau eines Buches habe, und dass ich bestimmte Entscheidungen treffen muss. Das lässt sich auf verschiedene Art bewerkstelligen. King aber beschreibt das z.B. mit der Metapher, dass der Roman wie eine Burg ist, in die er einzubrechen versucht, und dass es eben viele Weg gibt und er nur einen finden muss der funktioniert. Ich würde das anders umschreiben: »Nein, für mich gibt es nur ein Bündel von Entscheidungen mit dem ich zufrieden bin, woraus sich dann die bestmögliche Romanform für diese oder jene Geschichte ergibt.« Mir ist aber klar, dass es andere Möglichkeiten gegeben hätte, wie man eine Geschichte hätte erzählen können, andere Wege, die man hätte wählen können. Einige davon wären vielleicht genauso reizvoll gewesen. Solang man an einem Buch arbeitet bleibt immer reichlich Spielraum während der Reise für Inspiration, Zufälle und Entdeckungen, es ist eben ein kreativer Vorgang.
MOLO: Das erinnert mich an die Unterscheidung von Schopenhauer, der Schriftsteller in drei Klassen einteilt. Am häufigsten und schwächsten sind die Parasiten, die ab- und zusammenschreiben, was andere bereits gedacht und geschrieben haben. Die schon selteneren Jäger und Sammler denken dann, während sie schreiben, aber am seltesten und löblichsten sind jene Autoren, die nachgedacht haben, bevor sie sich ans Schreiben machen.
MATT RUFF: Ich bin nun mal besessen davon und sehr pedantisch, wenn es darum geht, dass alles stimmt und richtig klingt. Deshalb brauche ich auch so lange für meine Bücher.
MOLO: Mit dem wilden Mischmasch den Du dabei kreierst stößt Du bei den deutschen Feuilleton-Kritikern immer wieder auf Zurückhaltung. Ein Argument, das dabei immer wieder vorgebracht wird, lautet, dass Du Geschichten voller Dinge schreibst, die man als Zehnjähriger toll und aufregend fand …
MATT RUFF: … als ob das eine schlimme Sache wäre.
MOLO: Manche Kritiker neigen dazu das als schlecht anzutun, auch wenn sie dann zugestehen, dass man es Dir durchgehen läßt, weil Du Deine Sache so kunstvoll machst. Für mich bereiten Deine Bücher das größte Vergmügen damit, dass einerseits die schrägsten Genre- und Popkultursachen vorkommen, die dann z.B. »Star Wars« oder Zeichentrickfans wiedererkennen können, dass Du aber andererseits dabei immer auch sehr ernste Geschichten erzählst. Nicht zuletzt traust Du Dich damit, Deinen Leser Rätsel und Ungewissheiten zu präsentieren.
MATT RUFF: Tatsächlich mag ich es sehr, die unterschiedlichsten Dinge in einem Roman zusammenzubringen, zu zeigen, wie sie zueinander in Kontrast stehen. Ein Merkmal, vielleicht sogar das auffälligste, meines Schreibens ist es, auf bizarre Weise die verschiedensten Dinge miteinander zu kombinieren, so, wie man es nicht erwarten würde, aber so, dass es dennoch funktioniert. Entsprechend schwer ist es, die Bücher in bestimmte Genre-Schubladen einzuordnen, denn ich mag es nun mal psychologische Thriller, und comichaften Slapstick und abenteuerliche Aktionen und dies und jenes zu verknüpfen … das finde ich toll.
MOLO: Ein besseres Schlußwort kann ich mir nicht wünschen. Vielen Dank, Matt, für das Gespräch.