Sergeij Lukianenko: Die »Wächter«-Tetralogie, oder: Von den Einen, den Anderen und den ganz Anderen
Eintrag No. 509
»Russisch würd' ich genre können«, ist das erste was mir zu Sergeij Lukianenko (*1968) einfällt[01]. Der Mann mit der Schmauchpfeife ist in Russland ein Star der Phantastik. Und er ist ein extrem fleißiger Bursche. Ich kann kein Russisch, Englisch bringt nix, denn in UK/USA hinkt man hinter dem deutschen Veröffentlichungsstand sogar hinterher. Wir, das gute alte Europa (Russland und Moskau einfach mal brüderlich voll-eingemeindet), sind hipper als die Amis. Tja, so schaut’s halt aus, wenn die einstmals in Russland so exotisch-bezaubernde westliche Medienvielfalt mit zwanzig Jahren Verzögerung der Reifung und Mutation aus dem Osten zurückreflektiert wird. Nun hat »Wächter der Nacht« den typisch westlichen Medienindustrieverwertungsweg genommen: die Bücher waren ein Hit, eine Filmtrio wurde konzipiert und der erste Teil ließ nicht nur im Reich des Bären die Kassen klingeln, sondern fand weltweit sein Horror-Fantasy-Publikum. Dennoch, wenn man den ersten »WÄCHTER«-Film mit seinem westlichen Nächstverwandten »Underworld« vergleicht, findet man alle Vorurteile bestätigt: der unter amerikanischer Leitung hergestellte »Underworld« bietet poliertes Design selbst dort, wo’s schmuddelig und grindig wirken soll; die Hauptfiguren bewegen athletisch-lässig ihre knackigen, fitten Körper und gucken mit Kosmetikwerbung tauglichen Gesichtern vom Bildschirm; und die Unterschiede zwischen gewöhnlich und futuristisch/historisch werden stärker übertrieben. Bei den Russen herrscht eine verschwitztere, kaputtere und natürlich auch versoffenere Grundstimmung; die Oberfläche wirkt gewöhnlich-authentischer, auch detailfreudiger, und ich anders als bei »Underworld« hatte ich nicht das Gefühl, dass die Haar- und Make Up-Stylisten gleich ins Bild hetzen, um eine widerspenstige Locke oder eine rebellische Pore zu disziplinieren. In »Underworld« bewohnen Vampire schmucke alte Villen, in der »WÄCHTER«-Tetra schuften Vampire in ‘ner Großmetzgerei und wohnen in einem ziemlich unedlen Gemeindewohnklotz, kurz: verzwickte Plattenbauromantik statt edlem Goth-Lifestyle-Schickimicki. Als Film finde ich sowas wie »Underworld« (oder den noch weitaus beknackt-gekünstelteren »Van Helsing«) ganz vergnüglich, aber als Prosa … ich weiß nicht.
Der Weltenbau der »WÄCHTER«-Tetra ist erstmal alles andere als rasend originell: es gibt Magie und die funktioniert mittels des ›Zwielichts‹, einer mehrschichtigen Anderswelt, die sich durch den eigenen Schatten betreten und verlassen lässt. Jedoch: Nur ›Die Anderen‹ können in das Zwielicht wechseln[02], und es wird lange nicht erklärt, was genau die magischen Anderen von gewöhnlichen Menschen unterscheidet. Bei seinem ersten Aufenthalt im Zwielicht, muss sich der frisch initiierte Andere zwischen Licht oder Dunkel entscheiden: ob er mehr Engel (Gutmensch) oder mehr Dämon (Egoarsch) sein will, und man kann sich dazu entschließen, dem Ruf einer Wache zu folgen. Diese Wachen gibt es aufgrund des ›Großen Vertrages‹, denn vor langer Zeit hatten sowohl die lichten wie die dunklen Anderen genug vom ewigen Heckmeck um die Schicksalshoheit, und diesen Waffenstillstand vereinbart. Damit ist alles beieinander für den seit über tausend Jahren schwärenden kalten Krieg zwischen den einen und den anderen, kompletto mit entsprechendem lästigen Bürokratie- und Vertragsklauselkram, klandestinen oder detektivischen Missionen und Intrigen, die manchmal so verwickelt sind, dass sich die Parteien intern zuweilen selbst austricksen müssen, um den Gegner an der Nase herumzuführen.
Noch bevor der eigentliche Haupttext beginnt, passiert man eingangs der vier Bücher erstmal Bürokratensprech. In Band 1 heißt es:
Der vorliegende Text ist für die Sache des Lichts / des Dunkels dienlich und zur Verbreitung zugelassen. Die Nachtwache / Die Tagwache.
wobei sich dieses Pfortensprüchlein im Fortlauf der Reihe jedesmal leicht wandelt[03], ein deutlicher Zaunpfahlwink, dass Lukianenko nicht im Traum daran denkt, sich in der »WÄCHTER«-Reihe gänzlich auf eine der beiden Seite zu stellen. Das zunehmende Verwischen der vermeintlich klaren Grenzen zwischen Gut und Böse trägt gehörig zum Charme der Bücher bei, vor allem weil man als Leser diese Verkomplizierung durch die Augen des erfrischend gewöhnlichen Ottonormal-Lichten Anton Gorodezki erlebt (der bis auf Abwechslungssprengsel als Ich-Erzähler dient).
Der formale Aufbau ist übersichtlich. Jeder Band enthält drei (mehr oder weniger) in sich abgeschlossene Geschichten[04] , die mit (meist auktorial erzählten) Stimmungs-Prologen beginnen und in 5 bis 8 Kapitel unterteilt sind. Das Jahr, in dem die Bücher auf Russisch zuerst erschienen ist auch das Jahr der jeweiligen Handlung.
Zu Beginn des ersten Bandes »Wächter der Nacht« (1998) lernen wir Anton als den Hausprogrammierer der Nachtwache kennen. Er ist schon einige Jahre dabei, die Kollegen schätzen ihn als netten Kerl, aber als lichter Magier ist er keine große Wumme. Auffällig unumwunden erinnert die Einteilung der Fertigkeiten der Anderen an Rollenspiel-Erfahrungslevels, und Anton dümpelt zu Beginn im Mittelfeld. In der Eröffnungsgeschichte »Das eigene Schicksal« ist Anton als einsamer Fahnder unterwegs, um Vampire dingfest zu machen, die sich ohne ordnungsgemäße Lizenz über Menschen hermachen. Vampire (ebenso wie Werwölfe automatisch Dunkle) brauchen Blut für ihre Untotenexistenz und damit alles seine Ordnung hat, werden die Lizenzen zum Anknabbern oder Hoppsnehmen von Menschen durch die Lichten der Nachtwache gewährt (oder man greift als Langzahn halt auf Viehzeug und Blutkonserven zurück). Anton ist ein wenig durch den Wind, denn um sich auf die Wellenlänge der gesuchten Vampire einzustimmen, muss er Blut trinken, das er sich mit Hilfe einer im gleichen Plattenbau wohnenden Vampirfamilie besorgt. Ein erster kleiner Höhepunkt für mich, wie Anton sich an seine Bestürzung als frisch eingeweihter Lichter erinnert, als er feststellte, dass seine Nachbarn Vampire sind. Immerhin ist der Teenager Kostja ihm sympathisch, aber Anton kann sich der klaren Frontstellung Lichte vs. Dunkle nicht auf Dauer entziehen, und die Wiedersprüche zwischen Antons Kaderdisziplin als Nachtwachensoldat und der persönlichen Verbundenheit mit seinen Vampirnachbarn spannen sich als großer Bogen durch alle vier Bücher. Bei seiner Suche nach den wildernden Vampiren beobachtet Anton in der Moskauer U-Bahn eine junge Frau, über der (für Andere dank magischem Zwielichtblick zu sehen) ein schwarzer Wirbelsturm tobt, was bedeutet, dass jemand die unbekannte Schönheit, Swetlana, schröcklich heftig verflucht hat. So ein Fluch will sich früher oder später entladen, und der Unglückswirbel über Swetas Kopf ist so ungeheuerlich mächtig, dass bei seinem Ausbruch mindestens ganz Moskau, wenn nicht sogar mehr den Bach runtergehen würde. Und weil Lukianenko ein gut gerüttelt Durcheinander mehrerer Strängen als eine Tugend der »WÄCHTER«-Bücher pflegt, gibt’s als drittes Handlungselement das Gezerre um Igor, einen Jungen mit dem Zeug zum Anderen, denn (!): Eine Prophezeiung macht unter den Anderen die Runde, in der vom Ende des Waffenstillstandes die Rede ist, weil ein außerordentlicher Anderer, ein kommender Messias durch seine Entscheidung für Licht oder Dunkel den Konflikt ein- für allemal für eine der beiden Seiten entscheiden wird. Der junge Igor könnte vielleicht dieser Andere sein. — In der zweiten Geschichte »Der eigene Kreis« wird das Motiv des Wilderers umgekehrt: diesmal ist ein unbekannter Lichter unterwegs der ohne Genehmigung Dunkle killt. Egal welche Art von magischen Eingriff die Lichten oder Dunklen wirken, die Gegenseite hat das Recht zu einer gleichstarken Aktion (und wiederum an Spiele erinnert die haarkleine Gradeinteilung von Zauberspruchstärken, mit der die Balance verrechnet wird). Nach der ersten Geschichte steht Anton im Ruf, ein Lichter mit schmutziger Weste zu sein, und wird der Morde an den Dunklen verdächtigt. Zur Tarnung tauschen zur Wildererhatz er und Olga (die Geliebte von Antons Nachtwachenchef Geser) die Körper. Willkommener Anlass für Gender Studies zum schmunzeln. Zudem erfährt man bröckchenweise mehr über den »WÄCHTER«-Weltenbau. Die groben Verstöße werden von einer dritten magischen Gruppe geahndet, der (Tada!) ›Inquisition‹. — In der dritten Erzählung »Im eigenen Saft« erholt sich Anton größtenteils auf dem Land. Grillparty, Mukke, herzhaft Essen und ordentlich dem Wodka frönen sind angesagt, und ich war überaus begeistert: vom Themen- und Stimmungswechsel, von der hemdsärmelig deftigen und grad deshalb einnehmend menschlichen Art und Weise, wie die Lichten mit ihren Problemen ringen, sich über ihre Existenz als Andere und die Bürden des Wachendienstes beklagen, ihre Ängste und Zweifel aussprechen, sich gegenseitig Mut machen.
»Wächter des Tages« (2000) ist was die Erzählstimmen betrifft die Ausnahme der Reihe. In »Zutritt für Unbefugte erlaubt« hören wir die Stimme der rangmäßigen Gegenspielerin Antons, Alissa, einer dunklen Hexe. Bei dem Kampf um die (Nicht-)Festnahme einer illegal ihre finsteren Magiedienstleistungen anbietenden unregistrierten Hexe, verausgabt Alissa ihre magischen Energien und wird zur Regeneration krimwärts in ein Ferienkamp für Jugendliche geschickt. Dunkle, passend zu ihrer egoistischen Einstellungen vom Recht des Stärkeren, tun sich leichter mit dem Zauberkrafttanken, denn sie nähren sich von schlechten Stimmungen, von Zorn, Hass, Neid und Missgunst der Normalen und intensivieren diese Regungen. Lichte dagegen – die für Uneigenützigkeit und Gemeinwohl fechten – stehlen den Menschen die selteneren Gefühle der Freude, des Glücks und der Liebe. Geschwächt merkt Alissa nicht, dass ihr Hedonismus sie in eine unheilvolle Romanze schlittern lässt (es kommt sogar zu einer milden Pornoszene). — »Fremd unter Anderen« stellt eine neue Besonderheit des Lukianenko’schen Weltenbaus vor, den ›Zwielicht-Spiegel‹. Damit ist ein Ausgleich stiftender Anderer gemeint, den das Zwielicht bei eklatanten Kräfteungleichgewicht zwischen Licht und Dunkel hervorbringt. Höchst beklemmend fand ich es, der Icherzählerstimme des Spiegels Witali zu folgen, der sein Gedächtnis einbüßt hat, als er sich in einem kraftstrotzenden Dunklen verwandelt, und nicht begreift wie ihm geschieht. — Auktoial (also nicht von einer Ich-Stimme, sondern neutral) wird »Eine andere Kraft« erzählt. Nach zwei Geschichten, die auf persönlichere Weise vom intim-psychodynamischen Wechselspiel zwischen Licht und Dunkel berichteten, folgt als Abschluss des zweiten Bandes ein Äktschnhöhepunkt von »Die Hard«-Güte am Flughafen, komplett mit vierköpfiger finnischer dunkler Diebesbande, die eines der brazigsten Artefakte aus einem Sicherheitsdepot der Inquisition geklaut hat: die Kralle des Fafnirs. Ja ganz recht, laut Hintergrund der »WÄCHTER«-Welt war Fafnir ein mächtiger frühmittelalterlicher Anderer.
Die zweite Hälfte der Reihe bestreitet dann Anton als Erzähler. Die ersten beiden Bücher zeigten das Spielbrett und die wichtigsten Regeln, nun werden die Detektiv- und Agentenmissionen Antons persönlicher, er steigt zu immer höheren Magier- und Nachtwachengraden auf, und aus dem Eigenbrötler wird durch seine Verbindung mit Swetlana ein Familienmensch und schließlich ein hingebungsvoller Vater[05].
Mit Beginn von »Wächter des Zwielichts« (2003) rückt der spannungsgeladene Unterschied zwischen Anderen und Normalen in den Vordergrund. Tag- und Nachtwache geben sich gleichermaßen beunruhigt, als sie erfahren, dass ein unbekannter Lichter es wagt, mittels eines als Märchenlegende geltenden Zauberspruchs einen normalen Menschen zu einem Anderen verwandeln zu wollen. Also quartiert sich Anton in »Niemandszeit« als verdeckter Ermittler in einer Wohnanlage für Neureiche ein. — »Niemandsraum« erzählt vom winterlichen Landurlaub Antons und Swetlanas. Nahebei haben ein einige Werwölfe ein paar Kinder im Wald gejagt, aber einer nette unbekannte Hexe mit erstaunlicher Macht hat sie gerettet (die Kinder, nicht die Wölfe). Glanzpartien dieser Geschichte sind Antons Besuch bei der Hexe, wenn diese buchstäblich ihre weibliche Verführungszauberkünste gegen den Ermittler anwendet, und der Zauberkampf-Showdown auf einem Schlachtfeld des zweiten Weltkrieges. — »Niemandskraft« glänzt wieder als flottes Äktschnstück, das mich an James Bond-Situationen erinnerte, inklusive Tätersuche im Zug auf der Fahrt östlich durch den russischen Kontinent, Atombomben als letztes schreckliches letztes Mittel für die Guten, und Showdown im Weltraumbahnhof[06] (WARNUNG: Spoilerfußnote).
Im Abschlussband »Wächter der Ewigkeit« (2006) ist Anton dann als Hoher Lichter größtenteils in der Fremde unterwegs. In »Die gemeinsame Sache« soll er einen wildernden Vampir in Edinburgh aufspüren, und macht dabei unangenehme Bekanntschaft mit einem Untergrundkommando abtrünniger Lichter und Dunkler (und ihrer normalsterblichen Helfer), die das allerallermächtigste Artefakt wo’s überhaupt gibt stibitzen wollen: Merlins ›Kranz der Schöpfung‹[07]. — In »Der gemeinsame Feind« recherchiert Anton dann in Samarkand auf einem Schlachtfeld des Krieges der Dunklen gegen die Lichten aus Zeiten, als es noch keinen Großen Vertrag gab, und staunt nicht schlecht, wie locker Tag- und Nachtwachen in der abgelegenen Provinz einander tolerieren. — Das große Finale, »Das gemeinsame Schicksal«, spielt dann wieder zwischen Moskau und Edinburgh und hier erst werden die letzten Rätsel der Zwielicht-Zwiebelschalen entblättert.
Auffällig und erfrischend fand ich Lukianenkos Aufmerksamkeit für die Oberflächen von Popkultur und globalisierter Konsumgesellschaft. Am deutlichsten führt dies Anton mit seinem MD-Player vor, von dessen Zufallsmodus er sich gern überraschen, inspirieren oder trösten lässt. Schade, dass es noch keine Sammlung der in den »WÄCHTER«-Büchern vorkommenden Mukke gibt, bzw. dass man sich als mit russischer Pop- und Rockmusik Unvertrauter recken und strecken muss, um herauszubekommen, was für einen Musikstil genau Anton gerade hört. Auch die ein oder andere erklärende Fußnote hätte meines Erachtens nicht geschadet. Wenn es in einem Lied heißt[08] …
Du kannst Dich nicht mehr in die Büsche schlagen | Wenn dich der Schuss aus der Lupara fällt
… wäre es schon nett, wenn man als Hilfestellung ausdeutet, dass mit Lupara (Wolfstöter) eine abgesägte Flinte gemeint ist, und nur wenige werden ohne Recherche wohl verstehen, was gemeint ist, wenn Lukianenko mit Namen um sich wirft[09]:
Du bist unterwegs. Unternimmst deine eigene kleine Queste, in dir steckt etwas von Frodo und etwas von Paganel, dann noch ein Tröpfchen Robinson und ein ganz klein wenig von Radischtschnew.
Gut möglich allerdings, dass ich mit diesem Wunsch lediglich typische Allgemeinbildungslücken eines Wessis entblöße. Aber abgesehen von solchen kleinen Rätselstellen, war es eine Wonne, wie und wozu Lukianenko z.B. Auto- und Klamottenmarken, Essen und Getränke, Filme und Popikonen erwähnt.
Vor allem die beiden ersten »WÄCHTER«-Bände greifen merklich die Milleniumshysterie auf, und die durch radikalisierte Ideologien hochgeschaukelten Spannungen zwischen Apokalyptikern und Integrierten. Lukianenko lässt durch seine immer wieder über Gott und die Welt diskutierenden Figuren seine Skepsis gegenüber linken wie rechten Weltbildvernageltheiten raushängen, sorgt sich über die tatsächlich von statten gehenden Großkonflikte, die alle, die Einen, die Anderen und auch die ganz Anderen ins Chaos zu reißen drohen. Normalerweise erwärme ich mich kaum für Gutmenschenlulu, aber Dank der im richtigen Maße rotzigen Schreibe Lukianenkos, reich gewürzt mit tollen Magie-Spezialeffekten und -Kämpfen stimme ich gerne in das Resümee der »WÄCHTER«-Tetra ein, dass ich mit einem Lied umschreiben kann, mit dem schon die Beatles den Blaumiesen Angst einjagten: »All You Need Is Love« … (dann klappt’s auch mit dem Zwielicht).
•••
Alle vier Bände wurden aus dem Russischen übersetzt von Christiane Pöhlmann (mit Hilfe von Erik Simon der einige Liedverse übertrug).
- »Wächter der Nacht« (1998); 528 Seiten; Heyne 2005; ISBN: 978-3-453-53080-5;
- »Wächter des Tages« (2000) zusammen mit Wladimir Wassilijew; 528 Seiten; Heyne 2006; ISBN: 978-3-453-53200-7;
- »Wächter des Zwielichts« (2003); 480 Seiten; Heyne 2006; ISBN: 978-3-453-53198-7;
- »Wächter der Ewigkeit« (2006); 448 Seiten; Heyne 2007; ISBN: 978-3-453-52255-8.
•••
ANMERKUNGEN:
[2] Tja, wem fällt es schon leicht
»über seinen eigenen Schatten zu springen«?•••
Zurück
[3] Band 2:
»Der vorliegende Text ist … abträglich und nicht zur Verbreitung zugelassen«;
Band 3:
»Der vorliegende Text ist … belanglos«;
Band 4:
»Der vorliegende Text ist … akzeptabel«.•••
Zurück
[4] Vergleichbar mit dem Plott einer ca. 60-minütigen TV-Serienfolge, einer Konsolen/PC-Spiele-Mission, oder einem etwa drei Hefte langen US-Comichandlungsbogens. •••
Zurück
[5] Soweit ich von meiner bescheidenen Warte aus überblicke, ist ›echtes‹ familiäres Gemenschel (im Gegensatz zu den Aristokraten-Soaps der ›High Fantasy‹) in der Nicht-Kinder-&-Jugendbuch-Genrefantasy noch etwas ziemliches Seltenes. Aber wen wunderts: haben doch auch auf dem Krimifeld erst mit z.B. Donna Leons Commisario Brunetti und seiner Familienrasselbande entsprechend gewöhnliche Aspekte mit Erfolg ihren Weg ins Genre gefunden. — Meiner Meinung nach ist es ist höchste Zeit, daß solche »banalen« Herausforderungen auch in der Genre-Phantastik vermehrt zur Sprache kommen. Immerhin ist Drachen erschlagen oder die Welt retten Kleinkram im Vergleich zu der Megaqueste Familie. •••
Zurück
[6] Die Kirsche auf dem Sahnehäubchen aber war für mich in diesem Fall das Scheitern des Bösewichts, denn das von ihm so rigoros verfolgte Endziel portraitiert jugendlichen Idealismus so tragisch-packend, dass dem Teenager in mir zum harten Los des romantischen Weltverbesserers ein paar Tränen über die Wängelchen kullerten. •••
Zurück
[7] Damit man ein Gefühl für den oben erwähnten Prophezeihungs-Plot bekommt: In der »
WÄCHTER«-Welt war Merlin, wie Jesus auch, ein Messias. Viele halten Merlin für den
›Größen Aller Anderen‹, den die Welt je sah. Und: er gehört zu den wenigen Anderen, die ihre Gesinnung geändert haben. •••
Zurück
[9] Band 3, S. 461. Wem Frodo und Robinson nix sagt, sollte eigentlich gar nicht
»Magira« oder mein Blog hier lesen dürfen (
streng guck). Aber wegen Paganel (Figur aus Jules Vernes
»Die Kinder das Kapitän Grant«) und Radischtschnew (russischer Schriftsteller und Philosoph) mußte ich im Infoozean gründeln, um mir ein genaues Bild davon machen zu können, was Lukianenko meint. •••
Zurück
Neil Gaimans »The Sandman« Band 3: »Traumland« mit »Hilfreichen Handreichungen« als PDF
Dritter Teil von Molos Empfehlungen von
Neil Gaimans
inkl.
»Hilfreicher Handreiche« über mythologische, historische und literarische Anspielungen.
Eintrag No. 484 — Der dritte Band der zehnteiligen Großerzählung vom Wandel des Herrschers der Träume, »Traumland«, versammelt vier für sich allein stehende Kurzgeschichten, die 1991 als Einzelhefte Nr. 17 bis 20, und im Englischen als Sammelband 1995 erschienen sind.
Der kleine Wermutstropfen der ansonsten prächtig gelungenen Ausgabe von Panini Comics sei gleich zu Beginn abgehandelt: Leider wurde das im englischen Sammelband wiedergegebene Manuskript zu dem Heft »Kalliopie« nicht für den deutschen Band übernommen. Gaiman und sein Team gewähren darin ihren englischsprachigen Lesern einen interessanten Einblick in den Herstellungsprozess der Comic-Kunst, wenn sich die 39 Seiten Text-Skript vergleichen lassen mit den 24 Seiten Comic. Es ist aufschlussreich dort zu verfolgen, wie ausführlich der Autor Gaiman im lockeren Ton eines an die Zeichner gerichteten Briefes Beschreibungsaufwand leistet, um der Illustratorenarbeit möglichst hilfreich zuzuarbeiten. — Aber außer dem Fehlen dieses Manuskriptes gibt es wirklich nichts zu jammern über die Panini-Ausgabe. Wie schon ihre beiden Vorgängerbände »Präludien & Notturni« und »Das Puppenhaus« trumpft sie auf mit einem gestochen klaren Druck und der leuchtenden, nuancenreichen Digital-Kolorierung. Wahrlich, eine Augenweide.
»Traumland« bietet einen erfrischenden Sprung raus aus dem bisherigen großen Erzählstrom der Reihe. Von Beginn an war es eine Absicht von Gaiman bei der Gestaltung von »The Sandman«, zur Abwechslung zwischen den längeren Geschichten, deren Handlungsbögen sich über mehrere Kapitel/Einzelhefte spannen, abgeschlossene Einzelerzählungen zu bieten. Insgesamt aber werden alle Sammelbände und die Sandman-Geschichte im Ganzen geprägt, von dem auffälligen Merkmal des verschachtelten Ineinander von Geschichten in Geschichten. Strukturell steht Sandman damit solchen Potpourrie-Schatzkammern wie »1001 und eine Nacht« oder Jan Potockis »Handschriften von Saragossa« nahe, und kann sich ohne dass man übertreiben muss, als moderne, eben im Comicmedium dargereichte Variante derartiger ehrenvoll-wilder Fabulations-Klassiker gelten.
Zur Erinnerung: Band 1, »Präludien & Notturni« hat uns die manchmal nur am Rande auftretende Hauptfigur des Epos, den Herren der Träume, Morpheus, Dream, vorgestellt, und wie dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem englischen Scharlatanmagier beschworen und gefangen gesetzt wurde; wie Dream nach vielen Jahrzehnten erst in den Achtzigerjahren seinem Kerkermeister entkommt und langsam seine Kräfte wiedererlangt und sich auf eine Quest begibt, um die wichtigsten und machtvollsten seiner zwischenzeitlich verstreuten Herrschaftsartefakte einzusammeln. — In Band 2, »Das Puppenhaus«, kümmerte sich Morpheus dann um die Restauration des in seiner langen Gefangenschaft verwahrlosten Traumreiches. Vier der machtvollsten Traumreichbewohner waren ausgebüchst und sorgten in der Menschenwelt gehörig für Angst und Schrecken. Außer um diese Ausreisser, hatte sich Morpheus auch noch um einen alle Träume erfassenden Wirbel zu kümmern, der sich in Gestalt der jungen Frau Rose manifestierte. Nebenbei lernten wir zwei Geschwister von Dreams seltsamer Familie der ›Ewigen‹ kennen (eine siebenköpfige Sippe menschenförmiger, universeller Prinzipien deren Namen im englischen alle mit ›D‹ beginnen): seine ältere Schwester Tot (Death, die als überraschend gut gelauntes und bodenständiges Grufi-Chick daherkommt) und die/den gegen Morpheus intrigierende(n) geschlechtsneurtale(n) Begierde (Desire).
Mit Band 3 hat Gaiman seine bis dahin etwas tastende anfängliche Suche nach dem richtigen Ton und Rhythmus der Sandman-Comics endgültig abgeschlossen. Das soll nicht heißen, dass die Geschichten der ersten beiden Sammelbände misslungen sind, auch wenn dort noch bisweilen einige etwas umständliche Schlenker oder etwas unelegante Huppel im Erzählfluß bemerkbar sind. Immerhin ist die Ambition, die Gaiman bei seiner Saga antrieb, repekteinflößend und die gesteckten Ziele alles andere als Kinderspiele. So zeichnet sich Sandman von Beginn an durch eine äußerst eng gewobene und geschickte Mischung von alten Mythen, klassischer Literatur mit älterer und zeitgenössischer Popkultur aus, die miteinander verflochten eben nichts weniger ergeben, als eine große Geschichte über das Geschichtenerzählen selber, eine Geschichte über die Kraft von Mythen, jene trügerischen Wunschvorstellungen die mal als Orientierung, mal als Irreführung über die großen Zusammenhängen des Daseins berichten, hier vor allem über Erinnerung, Verlust und den Wunsch und die damit verbundenen Schwierigkeiten, wenn man sich verändern, formen will.
Zu den vier Geschichten von »Traumland« im Einzelnen.
»Kalliope«: Hier treten antike Gestalten in der modernen Welt auf, und eine unheimlich-spöttische Erzählung über das moderne Schriftstellerdasein wird geboten. Die Muse Kalliope wird als inspirations-liefernde Sklavin gehalten und von einem altem Schriftsteller in London an einen jungen Horror-Autoren für ein alchemistisches Artefakt eingetauscht. Von zwei der beklemmensten Schrecknissen aller Kreativen wird dabei berichtet: einerseits die Marter, wenn großer Tatendrang mit der Angst vor Ideenlosigkeit einhergeht und andererseits die ruhelosen Qualen eines überbordenden Ideenreichtums.
»Der Traum von 1000 Katzen« ist natürlich ein Fest für alle Katzenfreunde, wenn hier bei einem nächtlichen Treffen auf einem Friedhof eine versammelte Felidenschar einer Katzenerzählerin lauscht, die von ihrer Reise zum König der Träume erzählt (der sich in seiner Gestalt immer gemäß der ihm Begegnenden anpasst und hier als große schwarze Katze mit rotleuchtenden Augen auftritt). Diese Geschichte führt die Fähigkeit kraftvoller Phantastik vor wenn es darum geht, die menschliche Perspektive zu überwinden, und von ein paar Schritten Seitwärts der Wirklichkeit, in diesem Fall aus der Sicht von Katzen, über große Not und sinnstiftende Visionen (oder sind es nur scheinbar Hoffnung machende Truggebilde?) nachzudenken.
»Ein Sommernachtstraum«: Diese Geschichte ist für viele ein heißer Kandidat, wenn es um die Frage geht, welches der 75 Kapitel/Einzelhefte von Sandman die aller aller beste ist. Und tatsächlich erregte dieses herausragende Meisterstück der Sandman-Saga über die comiclesenden Phantastikzirkel hinaus für Aufsehen, als es 1991 den ›World Fantasy Award‹ als beste Kurzgeschichte gewann (woraufhin eine Regellücke des Wettbewerbs gekittet wurde, auf Drängen derer, die sich empörten, dass so eine ›unwürdige‹ Medienform wie eine Comicerzählung diesen altehrwürdigen Preis einheimsen konnte, und seitdem können nur noch Prosawerke diesen Preis gewinnen). — »Ein Sommernachtstraum« ist eines von zwei Sandman-Kapiteln, mit denen Gaiman dem großen William Shakespeare seinen Respekt zollt. Die zweite, »Der Sturm«, wird erst als letztes Kapitel den Sammelband »Das Erwachen« und damit als Epilog das ganze Epos abschließen. Shakespeare ist hier nun in Sussex unterwegs und gibt mit seiner Truppe eine exklusive Premieren-Sondervorstellung für eine illustrere Schar aus dem Feenreich, angeführt von niemand anderem als Titania und Oberon selbst, und der lustig-unheimliche Droll (auch als Puck bekannt) ist auch mit von der Partie und macht sich auf und davon für seine spätere, wichtige Rolle in der großen Sandman-Geschichte.
»Fassade«: Mit dieser Geschichte widmet sich Gaiman einer vergessenen Superheldin der 60er-Jahre, um ihr eine tragisch-melancholische Abschiedsvorstellung zu bereiten. Außergewöhnlich ist, dass Dream selbst gar nicht vorkommt in dieser tragischen Erzählung über Element Girl, die sich ängstlich zurückgezogen hat. »Fassade« ist eine sehr melancholische Geschichte über eine Person, die wegen ihrer Fähigkeit der Gestaltwandlung den Kontakt zur Außenwelt verloren hat, und die sich, da sie unsterblich ist, nach einem erlösenden Ausweg sehnt. Wie immer, wenn Sandman über unser Verhältnis zur Provokation des Sterben-Müssens sinniert, betritt Dreams Schwester Death die Erzählbühne um wie so manches Male einer in der eigenen Tragik gefangenen Figur den Kopf zurechtzurücken.
Besonders erwähnen muss ich die vier Cover des englischen Grafikmagiers und Gaiman-Kumpels Dave McKean. Okey, ich geb zu, ich folge fast allen Arbeiten von McKean mit treu ergebener Fan-Hingerissenheit, aber die vier Arbeiten der »Traumland«-Sammlung zählen für mich zu den allerfeinsten Bildern, die er je zusammengezaubert hat.
Ich kann verstehen, dass man als Neuleser zögert, ob sich die Anschaffung von zehn Sammelbänden lohnt. »Traumland« ist eine vorzügliche Möglichkeit, sich erstmal eine Kostprobe zu gönnen, denn die hier präsentierten Geschichten bereiten auch dann großes Lesevergnügen, wenn man keine Ahnung vom weiten Terrain der großen Sandman-Erzählung hat, und liefert dabei dennoch einen kraftvollen und sehr abwechslungsreichen Einblick zu diesem herausragenden Comicroman.
Und hier zum Schluß noch die deutsche Fassung der Anmerkungen zu Sandman für alle, die sich nicht mühen wollen mit der englischen Fassung, die sich dennoch aufmachen möchten, die tieferen Schichten dieses anspielungs- und zitatenreichen Comics zu ergründen. Viele Leser haben unter Leitung von Greg Morrow und David Goldfarb (und Websiten-betreut durch Ralf Hildebrandt) diese »Annotations« zusammengestellt, die ich bearbeitet, ergänzt und übersetzt habe und hier den deutschsprachigen Lesern als »Hilfreiche Handreichung« zu »Traumland« als PDF zum Download (ca. 211 KB) biete.
LINK-SERVICE:
Frank Drehmel schwärmt für »Webcritics« über die Arbeit der Zeichner von »Traumland«:
Sei es Kelly Jones feiner Strich mit seinen tiefen, harten Schatten, Charles Vess’ luftig leichter Duktus oder Colleen Dorans merkwürdig zerrissen wirkende Linienführung, immer ergänzen sich Story und Zeichnungen in nahezu perfekter Weise.
Christian Endres jubelt für »Fantasyguide« ähnlich wie ich, über die besondere Güte dieses Bandes:
»Traumland« ist mit ziemlicher Sicherheit das »unepischste« der Sandman-Tradepaperbacks. Trotzdem — oder gerade deshalb — zeigt dieser dünne Sammelband alle Stärken (und Schwächen) von Gaimans einmaligem Comic-Kosmos um die Ewigen.
Und Christel Scheja bringt für »Literra« den besonderen Charakter der Erzählungen des Bandes auf den Punkt:
In keiner der Geschichten steht die Action im Vordergrund sondern eine intelligent erzählte eher stille Geschichte, deren tiefgründige Hinweise und Zitate erst bei genauerem Lesen und Betrachten deutlich werden. Wieder gelingt es Neil Gaiman und den Künstlern, eine unwirkliche, magische Atmosphäre zu erzeugen, die zu verzaubern weiß. Er spielt mit der düsteren Melancholie, die den Träumen unterliegt, und verzaubert durch seine übersprühende Phantasie, die Gewalt durch viel tiefer unter die Haut gehende Bedrohungen und den Blick in den Spiegel ersetzt.
Hal Duncan »The Book of All Hours 1: Vellum«, oder: Die Mythen-Jukebox voll aufgedreht
•••
Eintrag No. 483 — Nicht vollends von der Hand zu weisen ist der Vorwurf, dass mit dem Schotten Hal Duncan (1971) ein junger Autor auf die Erzählbühne tritt, der sich geradezu versessen nach der ganz irre großen Bedeutung streckt und dabei die Gemütslaken von schamhafteren, zurückhaltenderen Lesern unflätig mit seinen Hirnwichsereien voll sudelt. Wer sich also nicht bekleckern lassen will, möge einen großen Bogen um »Vellum« machen. — Aber den Unentschlossenen und Neugierigen möchte ich folgendes zu bedenken geben (und die nach ästhetischen Exzessen Suchenden können’s als Empfehlung nehmen): stilistisches und ästhetisches Hirnwichsen ist eine sooo schändliche Sache nicht. Immerhin: wie soll und kann Literatur die Herausforderungen durch den Weltensturm an Verunsicherung, dem Scharaden- und Ränkespiel mit interessenstützender Großraumphantastik der Echtwelt begegnen, wenn nicht zum Beispiel mit einer schon ins Unanständige gesteigerten Fabulations- und Mythenmixmanie?
Worum geht’s? Tja, puh, äh, diese Frage überfordert mich ein wenig, denn eine Handlung im üblichen Sinne (eine Geschichte wird von A nach Z erzählt) aus dem heftigen Mythen-Shake und dem fortwährenden Randomwechsel der Zeiten- und Welten-Jukebox herauszulesen, ist nicht so einfach, oh nein. Auf jeden Fall aber kann ich sagen, dass mich der Stil und die in »Vellum« zusammengeschmissenen Themen überwiegend bezaubern. Vom Gebaren her kommt Hal Duncans Roman für mich daher, als ob ein zum rotzig-romantischen Goth-Punk mutiertes »Finnegans Wake«[01] sich ‘ne Acid-Pappe geschmissen hat, um anschließend mörderheftig im Darkroom mit Grant Morrisons Comichelden aus »The Invisibles«[02] zu knutschten, wovon es sich dann erholt, indem es abwechselnd beim Wasserpfeifenblubbern chillt bzw. zu lebhafter Musik abzappelt. — Mit typographischen Besonderheiten, mal links, mal mittig, mal rechts stehende Zwischenüberschriften, werden verschiedene Wirklichkeits-Verfassungen gekennzeichnet, ebenso wie mit dem Wechsel zwischen zwei verschiedenen Serif-Schriftgestaltungen des Fließtextes. In der zweiten Hälfte von »Vellum« kommt es anhand in einer beeindruckenden SF/Cyberpunk-Szenerie auch zu informationstechnologischen Spielereien, die mit kurzen sans serif-Einschüben darstellen, wie sich ein Schwarm mit künstlicher Intelligenz gesegneter Nanopartikel, so genannte Bitmites, durch die verschiedenen Schizoschichten einer Anarchoterroristenpsyche zu hacken versucht.
Los geht alles mit einer brennenden Welt-Karte. Vereinfachend gesagt prallen Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftswelten aufeinander im großen Kampf ums Dasein. Das zentrale Phantastikelement sind die ›Unkin‹, sprich: engel-/dämonenhafte Wesen die es druffhaben, mit dem ›Cant‹[03] die Wirklichkeit zu formen. Außerdem werden höllische Tattoo- und Blutmagie sowie himmlische Chakra-Wummen und KI-Nano-Schwärme eingesetzt. Auf der einen Seite steht die Herrschaft der Erzengel, das Imperium, die Faschos, die kapitalistischen Unterdrücker; auf der anderen Seite die rebellischen Dämonen, die Anarchisten und Freiheitskämpfer, die Arbeiterbewegung. Das Ganze wird recht ungestüm durch Zeiten und Welten springend erzählt, von Babylons Inanna-, und Griechenlands Prometheusmythos, über verschiedenste historische Konflikte (Erster Weltkrieg, Spanischer Bürgerkrieg, Irlandaufstand, Irakkrieg, Terrorismus in der nahen Zukunft) bis hin zu Andersweltgebieten, durch welche die Flüchtlinge eines die Wirklichkeit verschlingenden Sturms zigeunern. Verstrickt in diesen Himmel-, Fegefeuer- und Höllestrudel finden sich drei Studikumpels und ein Mädel und ihr überirdischer Sohn wieder, deren Wege sich quer durch die Dimensionen im so genannten ›Vellum‹ kreuzen. Das Vellum ist die Welt als Buch, GOttes ultimative Gebrauchsanleitung für die Realität, das alle wahren Namen enthält, mit denen sich der besagte ›Cant‹ zwecks Wirklichkeits-Kontrolle bewerkstelligen lässt. Dieses ›Ewige Stundenbuch‹ löst sich aufgrund der unerhörten Eingriffe und Trinkereien der Konfliktparteien auf, beziehungsweise verwandelt sich drastisch, dort wo die entsprechend bratzigen Engel und Dämonen durchlatschen und aufeinandertreffen. Nur hat noch keine der Figuren einen wirklichen Plan davon, was eigentlich los ist; sie irren durch die Vellum-Welt(en), umflirrt von Traumfetzenwirbeln, Erinnerungen und Visionen, unterwegs auf Expeditionen um die älteste Kultur der Menschheit zu finden, in Irrenhäusern darbend, in Schlachtfeldgräben kauernd, in Pubs mümmelnd und in Hotelzimmern grübelnd.
Zwei Dinge dünken mir bei »Vellum«, im Guten, bemerkenswert. Erstens der gewollt rand- und bandlose Umgang mit Genregrenzen, wenn mythische und utopische Register wechseln, wenn sich klar verortbare Genre-Stimmungen, wie beispielsweise Kriegs- und Spionageabenteuer, mit vom magischen Realismus bekannter doppelbödigen Stimmungspoesie verquickt. Da lässt sich nicht auseinanderklamüsern wie die mythische Archaik aufhört, in modernen Horror übergeht und die fetzige Cyperpunk-SF beginnt, denn gemäß der alles ihren Weltenbrandstrudel ziehenden Logik gemäß ist hier alles stets im Übergang und ein Vor- oder Nachecho seines gewandelten Selbst. Sprachlich versteht sich Duncan zuallermeist vorzüglich darauf, Punk-Jargon mit sakralem Mythenton zu kreuzen, zwischen legendengesättgtem Fantasygeraune und Science Fiction-typischen Gadgetsprech zu wechseln, auf abgefahrene Traumbildcharaden Schilderungen von realistischen Echtweltszenen folgen zu lassen. Zweitens, und das geht mit eben ausgeführten Stil- und Genremix prächtig Hand in Hand, beziehungsweise ist eine Folge davon, meistert Hal Duncan erzählend ein Desorientungshütchenspiel mit den fundamentalen Wirklichkeitskathegorien Ort, Zeit und Identität. »Nix ist fix« scheint das Buch mir als Leser einflüstern zu wollen, und nachdem ich mich damit abgefunden habe, dass Mich-treiben-lassen ohne Orientierung von diesem Durcheinander von mir gefordert wird, traten um so deutlicher die starken Gefühle der Figuren und die spezifischen Orts- und Zeitstimmungen (ob historisch oder andersweltlich) als eigentlich bestimmende Motive hervor. Da kommt dann unter anderem zur Sprache: Der Schmerz derer, die Verfolgung, Ausgrenzung und Folterung erleiden (oder zufügen), oder deren geistiger Halt durch den Verlust des/der Geliebten zerrissen wurde; der rebellische Trotz derer, die dem Schöpfer- und Ordnungszwang der selbstgerechten Positivisten ein trotziges Nein entgegenstellen; die schamgepeinigte Einsamkeit der Verräter und Feiglinge; das Erschrecken von Liebenden über die Mächtigkeit ihrer eigenen Leidenschaft.
Ich will nicht verhehlen, dass »Vellum« mir streckenweise auch gehörig auf die Nerven ging, vor allen mit seinen lyrisch-idyllischen Passagen, wenn wenig los ist, aber sich viel angeschmachtet oder weltschmerzlich gelitten wird, oder auch, wenn liturgisch-rituelle Partituren zu schematisch absolviert wird. Aber das ist nun mal der Preis, den man entrichten muss beim Lesen eines Buch, dass sich intensiv und mit zum Teil aktionsreicher Wonne auf alle möglichen Extreme einlässt, Orientierungs-Sicherheiten gewollt meidet, Grenzen zwischen Welten, Zeiten, zwischen Ich und Du, Innen und Außen mit Schmackes missachtet. Immerhin dauernd die Nervpassagen nie lange, da das Buch in hunderte kurze Tracks unterteilt ist. Anders gestimmte Leser werden vielleicht gerade die rrrromantischen Schmachtpassagen der in verschiedensten Weibchen/Männchen-, Männchen/Männchen-Kombinationen der Liebenden zu schätzen wissen, oder begeistert die formelhaften Schritte der Ereignis-Abfolge von altbekannten Mythen genießen (vor allem wenn man diese Mythen eben noch nicht durch das Selberlesen der klassischen Quellen kennt). — Leider habe ich den zweiten Band »Ink« nicht mehr rechtzeitig mit der gebotenen Sorgfalt zu Ende lesen können, um hier zu berichten, wohin die Reise mit Hal Duncans wildgewordener Mythen-Jukebox führt, und ob sich diese Reise letztendlich lohnt oder nicht. Nachdem ich aber bei »Vellum« die größere Mühe aufbringen musste, weil ich den Roman beim ersten Mal auf Englisch las, werde ich mich bei »Ink« (Deutsch »Signum«) zurücklehnen und gleich die höchster Bewunderung würdige Übertragung von Hannes Riffel genießen.
•••
ANMERKUNG:
[01] »Finnegans Wake« (1939) ist das letzte Werk des Erzexzentrikers James Joyce. Darin wird der Traum eines Kneipenbesitzers erzählt, und das ganze dicke Buch ist in einer viele Sprachen zusammenmischenden Brabbelsprache verfasst, die Figuren wechseln ihre Identität und Gestalt und entsprechend vieldeutig interpretierbar ist das Ganze. Eigentlich ist dieses Buch nicht ernsthaft lesbar, es sei denn, man trinkt vorher und dabei ordentlich und lässt sich das ganze von einer entsprechend angeschickerten Person vorlesen, die des mit irischem Dialekt gefärbten Englisch mächtig ist. — Der lockere Vergleich scheint mir zulässig, weil auch Duncan in »Vellum« mit der mehrsinnigen Vielstimmigkeit von Sprache hantiert. So lauten die Titel der beiden Großabschnitte des Buches
»The Lost Deus of Sumer« (Die verlorenen Götter/Tage des Sommers/der Sumerer) und
»Evenfall Leaves« (Fall der Herbstblätter / Abschied vom Ort Evenfall), und der Übersetzer Hannes Riffel hatte sich in seiner exzellenten Übertragung zu entscheiden und destillierte diese sprachliche Schlieren zu
»Sommertage« und
»Herbstdämmerung«. •••
Zurück
[01] »The Invisibles« (erschienen 1994 bis 2000) ist ein 59 Kapitel starkes Comic, das von Grant Morrisson geschrieben (bei uns wohl bekanntesten durch seinen Batman-Band mit Dave McKean: »Arkham Asylum«) und verschiedenen Künstlern gezeichnet wurde. Darin wird der Kampf einer Guerilla-Zelle des Invisible College gegen finstere Schreckensmächte geschildert. Die Invisibles gehen dabei mit Zeitreisen, verschiedensten Magietraditionen bis hin zu Meditation und Tantra, sowie Wummen, Bomben und Kampfsportkünsten gegen die überdimensionalen Archons vor, welche bereits weite Teile der Menschheit ohne deren Kenntnisnahme versklaven konnten. Verschwörungs-Popkultur, psycho-spekulative SF und moderne Szene-Esoterik finden sich hier zu einem verspielten und äktschenreichen Abenteuer zusammen. — Erscheint seit 2008 endlich auch auf Deutsch Panini DC/Vertigo. Bisher sind von den fünf geplanten Monstereditions-Bänden erschienen: Band 1 »Revolution gefällig«; Band 2 »Ordnung und Entropie«. •••
Zurück
[03] Ein Wort, das im Englischen irgendwo im durch die Begriffe
›Fachsprache‹,
›Gaunersprache‹ und
›Frömmelei‹ umzirkelten Bedeutungsfeld herumschwirrt; zudem klingt deutlich das Lateinische
›Cantus‹, für
›Gesang‹,
›Melodie‹, an. •••
Zurück
•••
Hal Duncan:
»The Book of All Hours 1 – Vellum«; 238 Abschnitte in 17 Kapiteln zu zwei Teilen auf 499 Seiten; Taschenbuch bei Pan Macmillan, 2005; ISBN: 0-330-44433-6
Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 1 – Vellum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 594 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Shayol / Golkonda, 2007; ISBN: 978-3-926126-72-6
Taschenbuch bei Heyne, 2008: ISBN: 978-3-453-52254-1
Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 2 – Signum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 648 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Golkonda, 2010; ISBN: 978-3-942396-00-4
Pratchett, Steward, Cohen: »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, oder: Expeditionen in die Wirklichkeit der geschichtenerzählenden Affen
Eintrag No. 478
•••
Ich weiß, ich weiß! Terry Pratchett ist einer der großen lebenden kapitalen Platzhirsche der Phantastik, vor allem der humoristsichen Fantasy, und da mittlerweile sogar öffentlich-rechtliche Sender[01] und überregionale Feuilletons und Buchmagazine bei Erscheinen eines neuen Pratchetts wohlwollend über den Scheibenweltschöpfer berichten, warum also hier in einem Fantasyjahrbuch ›unter Kennern‹ noch viele Worte über ihn und seine Bücher verlieren?[02]
Pratchetts Scheibenwelt hat sich seit 1983 zur einer der erfolgreichsten und prägendsten Fantasy-Institutionen entwickelt.[03] Als attraktivste Eigenheit der Entwicklung von Pratchetts Schreiben empfinde ich, wie er sich im Laufe der Jahre vom parodistischen Satiriker, der vornehmlich (allzu) liebgewonnene Eigenheiten der Genre-Fantasy genüsslich aufs Korn nimmt, zu einem humoristischen Moralisten entwickelte. Über den Kurs der (derzeit etwa) 40-ebbes Scheibenweltbücher zeichnet sich Pratchetts Auseinandersetzung mit geschichtlichen, gesellschaftlichen und philosophischen Problemen und Spannung immer deutlicher ab. Als markante Stationen dieses Erstarkens von Pratchetts engagierten Zeitgenossenschaftskommentaren verweise ich auf das Geschlechterrollengerangel zwischen Magiern und Hexen (»Equal Rites«, 1987), die Gräuel des fundamentalistischen Monotheismus (»Small Gods«, 1992), den Missbrauch von sowohl fremdenfeindlicher als auch Multikulti-Denke durch Diplomatie und Politik in Kriegszeiten (»Jjngo«, 1997). Eine thematisch-stimmungshafte »Verdüsterung« der Scheibenwelt hat sich endgültig ab »Night Watch« (2002) etabliert, immerhin werden hier Revolutionsunruhen, Bürgerkriegsmassaker und Serienmörderpathologien ausgebreitet. Anders ausgedrückt, schafft es Pratchett scheinbar so nebenbei, sich für seine Fantasywelt Epochen wie die Industrielle Revolution oder die moderne Konsum- und Mediengesellschaft als Material nutzbar zu machen. Entsprechend abwechslungsreich finden sich in den Scheibenweltbüchern die verschiedensten modernen Milieus ein, wird spielerisch-erzählend vorgeführt, wie die Identitäten von Minderheiten Eigenleben entwickeln, individuelle Weltbilder von der sozialen Einbettung geprägt werden, und wie schwer die Bemühungen (ja leider oft gewalttätig die Konflikte) um eine vermittelnde, umfassende Sicht auf die Wirklichkeit sind.
Pratchett gehört zudem einer (wie ich finde begrüßenswürdigen) Avantgarde der Fantasy an, da er sich nicht scheut wissenschaftliches Bildungsgut und die moderne Informationsgesellschaft deutlich erkennbar in seinen Fantasyweltenbau einfließen zu lassen, und das eben nicht nur, um nette kleine Kalauer auf die Tücken der Technik zu platzieren, oder gar um der Wissenschaft vorzuwerfen, dass sie sich vom Menschen hat missbrauchen lassen, und damit den schrecklichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts (die beiden Weltkriege, Rassenhygiene und atheistische Gulags) förderlich gedient zu haben.[04] Das prominenteste Requisit[05] dieser erfreulichen Offenheit der Scheibenweltbücher für die tatsächlich stattfindende Moderne ist Hex, ein in »Soul Music« (1994) debütierendes Konglomerat aus Glasröhren, Ameisen und Magie, das als einfache mit Lochkarten betriebene Rechenmaschine anhob, und sich zu einer immer mächtigeren Denkmaschine und schließlich Großrechenanlage gemausert hat.[06]
Zur Reihe der »GELEHRTEN DER SCHEIBENWELT« selbst: Der erzählende Prattchet-Anteil[07] ist deutlich geringer als die Sachtextportionen von Jack Cohen[08] und Ian Steward (1945). Wer also zuvörderst neue Scheibenweltromane erwartet, wird vielleicht enttäuscht. Die Schreibenwelthandlung dient hauptsächlich als lockerers Korsett und kurzweilige Intermezzi des großen Sachbuchbogens. Steward und Cohen glänzen zwar oft durch ihren Schalk, aber verglichen mit dem Humorvirtuosen Pratchett erscheint ihre Kalauerei ab und zu ein wenig zu harmlos oder zu willkürlich. Wer wilde Bücher mit herumschlenkernden Habitus, z.B. solcher Sachbuchphantasten wie Robert Anton Wilson, Douglas R. Hofstadter oder Rudy Rucker mag, wird mit der stellenweise blumig-albernen Ideenjoungliererei von Steward und Cohen seinen Spaß haben. Was das Hin und Her zwischen Scheibenwelt-Novelle und Sachtext-Argumentation betrifft: Ich selber habe (beim ersten Mal) nicht gewagt, mich dem schwindelerregenden Wechsel auszusetzen, und habe die beiden Stränge jeweils für sich am Stück genossen.
In der Erzählung des ersten Bandes der Reihe, »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, beginnt alles mit Ponder Stibbons (Hex-Experte der Unsichtbaren Universität) Projekt der Spaltung des Thaums (= elementare magische ›X-Teilchen‹), gedacht als billige und effektive Energiequelle und Möglichkeit die Grenzen des Wissens zu erweitern. Da der Energieausstoß so gigantisch ist, dass er das Scheibenweltuniversum zu vernichten droht, leitet man die Energie in eine Glaskugel um, in der es keine Materie, keine Realität und, am wichtigsten, keine Magie gibt. Durch das neugierige Rummgefummel der Zauberer entsteht sozusagen als Unfall unser Universum. Die Zauberer haben ihren ›Videospielspaß‹ damit Materieklumpen aufeinanderzudonnern (= Sonnen zu schaffen), mittels des Schnellvorlaufs die aberwitzig langfristige Entwicklung des Universums auf etwa einen Monat zu verkürzen, und der allerweil hochstressierte weil überängstliche Zauberer Rincewind wird in einer Art ›Virtual Reality‹-Tauchanzug in unser Universum geschickt, um sich vor Ort genauer umzugucken. Die Zauberer verfolgen erstaunt das hartnäckig als Unwahrscheinlichkeit erscheinende Aufkommen von intelligenten Lebensformen. Andererseits drohen kosmische (es reichen auch globale) Katastrophen höhere wie niedere Arten mit Massenexitus. Das Buch klingt damit aus, dass die Scheibenweltgelehrten beobachten wie eine höhere Lebensform die Erde mittels eines Weltraumaufzuges verlässt, rechtzeitig bevor die nächste fiese Eiszeit zuschlägt.
In »Die Philosophen der Rundwelt« gibt es dann mit den parasitären Elfen und ihrer Königin richtige Bösewichter, die sich aus der Scheibenwelt in die Rundwelt eingeschlichen haben, um mit ihrer verführerischen und täuschenden Magie die Menschen in abergläubischer Ehrfurchtsdummheit dümpeln zu lassen und damit zu versklaven. Da die menschliche Gabe der Vorstellungskraft das empfindliche Einfallstor für die Elfenmagie ist, sorgen die Zauberer der Scheibenwelt bei ihrem ersten Rettungsversuch in der Steinzeit dafür, dass die Frühmenschen ihren Hang zum Aberglauben nicht entwickeln[09]. Dadurch aber bleiben die Menschen so beschränkt, dass sie sich nie über das kulturelle Niveau der Steinzeit hinaus entwickeln. Beim zweiten Rettungsversuch, diesmal zur Zeit der englischen Renaissance, trachten die Zauberer deshalb danach, mit der richtigen Art von Geschichten die Kreativität der Menschen über das anfängliche Maß hinaus zu steigern, um die Menschheit gegen die unheilbringenden Elfenverführungen zu immunisieren (wobei Shakespeare und sein Theater ›The Globe‹ eine entscheidende Rolle spielen).
Der dritte Band »Darwin und die Götter der Scheibenwelt« nimmt sich dann insbesondere die Evolutionstheorie vor, sowie die Kontroversen über sie, was nichts anderes ergibt, als ein gründlichen Exkurs über die Rivalität zwischen Wissenschaft und Religion. Die Gegner der Menschheit sind diesmal die Revisoren der Realität, ein Rudel ›himmlischer Bürokraten‹, die alle höheren Lebensformen hassen, weil die mit ihrer quirligen Umtriebigkeit nicht zum Ideal der Revisoren von einem wie ein perfektes Uhrwerk ablaufendes Universum passen. Durch die Eingriffe der Revisoren verfasst Charles Darwin statt seiner »Entstehung der Arten« eine »Theologie der Arten«, in der er darlegt, dass die Evolution von der ordnenden Hand eines Schöpfer geleitet wird. Leider führt das Werk zu einer stagnierenden Denkblockade der Menschheit, der Weltraumaufzug droht wieder nicht rechtzeitig zur gnadenlosen Eiszeit fertigzuwerden. Es kommt zu einem aberwitzigen Krieg der Zauberer gegen die Revisoren, in der beide Seiten wieder und wieder in den historischen Zeitenlauf eingreifen. Schließlich verschlägt es Darwin auf die Scheibenwelt, wo er seine Unschlüssigkeiten zur ihn selbst arg beunruhigenden Evolutionstheorie[10] im Gespräch mit dem Scheibenweltgott der Evolution überwindet.
Die Sachtextabschnitte erzählen vom Werdegang der wissenschaftlichen Durchdringung der Welt. Es gibt spannende Anekdoten über Forscher und Philosophen und ihre Heureka- und Homer Simpson-Momente. Berühmt-berüchtigte und nicht so bekannte Gedankenexperimente und Spezialmetaphern sprühen hier Funken und es wird (ziemlich aktuell) über den Stand von kontrovers verhandelten Fragen referiert. Löblich vor allem, dass Wissenschaft hier nicht als Hort absoluter Wahrheiten dargestellt wird. Immerhin, desto eingehender man sich mit irgendeinem wissenschaftlichen Thema beschäftigt, um so deutlicher wird, dass wir Menschen eben nicht genau wissen wie und warum etwas so oder so funktioniert oder beschaffen ist. In einem Podcast der BBC anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Albert Einsteins Publikations-Wunderjahr 1905, sprechen die drei Scheibenweltgelehrten munter über die Ambivalenz der Begriffe Technik und Magie[11], und dass die Phantasie ein eminent wichtiges Talent für jegliche Wissenschaft ist. Tatsächlich muss ja jeder Person, die nicht nicht hinreichend in die Mysterien der Technik eingeweiht ist, ein Mikrowellenherd, Lichtschaltermagie, Fernsehen und Telefon wie Zauberartefakte erscheinen. Banal umschrieben wurde Magie dann angewandt, wenn am Ende eines Prozesses augenscheinlich mehr Ergebnis / Produkt / Auswirkung geerntet wird, als man anfänglich Aufwand / Arbeit / Tat investiert hat. – Die Evolutionstheorie kann hierzu als Beispiel für konkurrierende Erklärungs-Phantasmen dienen. In ihren Rückzugsgefechten um die Deutungshoheit zur Beschaffenheit der Welt, berufen sich die fundamentalistischen Religiösen auf einen Schöpfergott (oder in kosmetischer Verschleierung: auf Intelligent Design), um hochkomplexe Hervorbringungen der Natur, wie das Auge oder den Menschen selbst mit seinem wundersamen Bewusstseinsvermögen, zu erklären. Solche Leute hängen ihre Argumentation an dem Himmelshaken ›Schöpfergott‹ auf, und Gott wird schlicht als wahr vorausgesetzt, basta.[12] Wissenschaftliche Denke aber ist zu der Erkenntnis gelangt, dass genügend Zeit und Variation in kleinteiliger, aufeinander aufbauender Krahnarbeit eben vollkommen ausreichen, um die wundersamen Höhen an Gestaltungsarbeit zu erreichen, als die wir Menschen uns selbst gerne wähnen. Und bezügliche menschlicher Selbsterhöhung hat mich der feinsinnigen Spott des Trios beeindruckt, wenn sie derartige allzumenschliche Schwächen bloßstellen und z.B. lausbübisch statt der selbstglorifizierenden Bezeichnung ›Homo sapiens‹ (Weiser Mensch) den – zumindest auch für mein Empfinden – zutreffenderen Begriff ›Pan narrans‹ (geschichtenerzählender Schimpanse) vorschlagen.
Abschließend ein paar Worte zur neuen deutschen Auflage der Reihe bei Piper-Taschenbuch. Gut übersetzt von Andreas Brandenhorst (Pratchett) und Erik Simon (Cohen & Steward); erfreulich, dass die Paul Kidby-Illustrationen für die Umschlagszier übernommen, und die Reihe schön einheitlich gestaltet wurde. Ein Ärgernis aber ist das Papier, bzw. die Untugend, durch schweres und dickes Papier das Volumen von Büchern künstlich aufzublähen.[13] Die englischen Taschenbücher kann man in der Gesäßtasche einer Jeans mitnehmen, für die deutschen Ausgaben braucht’s schon mindestens Military- oder Baggy-Klamotte mit großen Beintaschen. Zudem finde ich es betrüblich, dass die ausführlichen Stichwort-, Namens- und Werksregister der Originalausgaben nicht übernommen wurden. Nur schwachen Trost spendet da der bibliographische Anhang mit weiterführende Lektüre des dritten Bandes. So lästig diese Makel auch sind, mindern sie nicht die einzigartige Bereicherung, die diese Reihe Wissbegierigen zu bescheren vermag.
•••
»Die Gelehrten der Scheibenwelt« (
»The Science of Discworld 1«) engl 1999, erweitert 2002; 528 Seiten; Piper Taschenbuch 2006; ISBN: 3-492-28616-X
»Die Philosophen der Rundwelt« (
»The Science of Discworld 2 – The Globe«) engl. 2002; 478 Seiten; Piper Taschebuch 2006; ISBN: 3-492-28624-6
»Darwin und die Götter der Scheibenwelt« (
»The Science of Discworld 3 – Darwins Watch«) engl. 2005; 430 Seiten; Piper Taschenbuch 2006; ISBN: 3-492-26622-3
Alle drei Bücher übersetzt von Andeas Brandenhorst (Pratchett), Erik Simon (Steward & Cohen) und mit Titelbildern von Paul Kidby.
•••
ANMERKUNGEN:
[02] Zu Pratchett siehe auch
»MAGIRA 2003«:
»Welt und Spiegel aller Welten« von Lydia Eslinger, S. 267; Carsten Kuhr über
»Der Zeitdieb«, S. 327. –/–
»MAGIRA 2004«: Erik Schreiber über
»Rettet die Rundwelt«, S. 252. –/–
»MAGIRA 2004«: Michael Scheuch über die Hörbücher von
»Gevatter Tod« und
»Wachen! Wachen!«, S. 301. –/–
»MAGIRA 2006«: Michael Scheuch über die Hörbücher von
»Ein Hut voller Sterne« und
»Pyramiden«, S. 405, 408. •••
Zurück
[03] Der moderne Volksmund der Engländer mutmaßt z.B., daß die Eisen-, S- und U-Bahnen auf der Insel dem ungeschriebenen Gesetzt folgen, daß kein Zug losfahren darf, ehe nicht mindestens ein den neuesten Pratchett lesender Fahrgast anwesend ist. •••
Zurück
[04] Menschen haben Menschen gedient, und sich bei Planung und Durchführung der Technik bedient. •••
Zurück
[05] Vielleicht doch genauer: der
›prominenteste Charakter‹? •••
Zurück
[06] Die Portrait-Skizze von
Paul Kidby in dem prächtigen Bildband
»Die Kunst der Scheibenwelt« (Heyne, 2006) läßt als Bestandteile von Hex u.a. erkennen: einen skeletierten Widderschädel; eine Tastertur mit Hebeln und kleinen Lochkartensteckschlitzen, nebst einem A4-Schreibfederplotter; einen Teddybären; ein nacktes, verknicktes Regenschirmgestell an dem Fische hängen; ein etwas schlapper Wasserball; ein Glockenwindspiel; eine wabbelige Dali-Kuckucksuhr; ein Aquarium; ein Miniatursteinkreis; ein traditionell-geflochtener Bienenkorb; eine Sanduhr an einer kräftigen Federwage; eine Mondphasenuhr, viele viele Zähnräder verschiedenster Größe und das allem zugrundeliegende ameisendurchwuselte (
›Anthill inside‹) Gewirr aus Glasröhren, Retorten und Kolbenflaschen. •••
Zurück
[07] Etwa 30% in Band 1 & 2 und 25% in Band 3. •••
Zurück
[08] Ich muß einfach auf Jack Cohens
»X-FILES« und
»MILLENIUM«-Connection hinweisen. Neben vielen anderen Tätigkeiten arbeitet Cohen als Berater für die Filmindustrie, z.B. wenn möglichst realistische Aliens entwickelt werden sollen. Cohen hat die TV-Leute wohl gehörg beeindruckt, denn der durchgeknallteste Drehbuchautor der für die beiden Serien schrieb, Darin Morgan, hat mit der Figur des SF/Sachbuchautoren Jose Chung eine zum Kringeln lustige Homage auf Cohen geliefert, zu genießen in
»Andere Wahrheiten« (
»X-FILES«, Staffel 3, olge 20) und
»Die Phantasien des José Chung« (
»MILLENIUM«, Staffel 2, Folge 9). •••
Zurück
[09] Die schönste mir bekannte Klage über Aberglauben findet sich in Caesars erstem Tagebuchbrief an Lucius Mamilius Turrinus aus Thornton Wilders
»Die Iden des März« (1948):
Dem Paket dieser Woche schließe ich ein halbes Dutzend jener unzähligen Berichte bei, die ich als Pontifex Maximus von den Auguren, Wahrsagern, Himmerlsbeobachtern und Hühnerwerfern erhalte. Was ist zu tun? Ich habe diese Last von Unsinn und Aberglauben geerbt. Ich regiere unzählige Menschen, muß aber anerkennen, daß ich von Vögeln und Donnerschlägen regiert werde. Das hemmt und hindert häufig die Staatsführung. {…} Vor allem wird durch diese Observanzen der wahre Lebensgeist im Gemüt des Menschen angegriffen und untergraben. Sie gewähren unsern guten Römern vom Kehrichtfeger bis zum Konsul ein unbestimmtes Gefühl der Zuversicht, wo es keine Zuversicht gibt, und flößen ihnen gleichzeitig eine Ängstlichkeit ein, die weder zum Handeln anspornt, noch den Geist erfinderisch macht, sondern nur lähmt. Mit den anderen Feinden der Ordnung läßt sich fertigwerden.
••• Zurück
[10] Apropos: Eine alternativ-historische Fantasy-Auseinandersetzung mit der vielleicht großartigen Idee aller Zeiten, der Evolutionstheorie, legte der von mir letztes Jahr für
»Aether« (»The Light Ages«) gelobte Ian R. McLeod 2005 mit
»House of Storms« vor. •••
Zurück
[12] Etwas origineller ist das Manöver der transzendenten Metaverkettung von Himmelhaken. Wenn der buchstäblich im Nichts hängende Himmelshaken an einem übergeordneten Himmelhaken befestigt ist, und dieser wieder an einem noch höheren Himmelshaken …
ad infinitum. •••
Zurück
[13] Auch der Heyne-Verlag ließe sich da wegen seiner Aufbereitung der
»WÄCHTER«-Tetralogie von Lukianenko rügen. Legt die gewichtige Mehrheit der (womöglich überwiegend jugendlichen, leichtblendbaren?) Leser tatsächlich Wert auf solche
›Ich tu so, als ob ich dicker (= wichtiger? seriöser?)
wär‹-Ausgaben? Ist das so ein haptischer Fetischismus? Bestehen richtige Genre-Leser womöglich auf derartig aufgeblähte Mimikri-Ziegel? •••
Zurück
Wieder mal: Fantasy und Phantastik und was die wert sein sollen
Eintrag No. 476 — Ein Artikel erregte meinen Unmut, bzw. regt mich an, ein wenig ›Notizenmaterial zum Kapieren‹ oder auch des Widerspruchs unters Volk zu streuen.
In dem umständlich benamsten Artikel »Warum ein Jugendbuch literarisch noch viel bedeutsamer ist als das Lob der Kritiker erkennen lässt und der Buchbranche als Wegweiser dienen könnte« von Buchmarkt-Chefkolumnist Gerhard Beckmann, werden zwei Anliegen miteinander ungeschickt vermischt und dabei entsprechend wischi-waschi m.E. Blödsinn verbreitet. — Zum einen steht er dort als begeisterter Empfehler Wieland Freunds und dessen Phantastik-Roman für junge Erwachsene »Jonas Nichts« bei. Ich hab das Werk noch nicht angeschmeckt, aber wenn ich Beckmanns Ton den er anschlägt lausche, scheint das Buch bisher nicht so dolle angekommen zu sein. So legt sich Beckmann ins Zeug »Jonas Nichts« anzupreisen und zu loben, und tut (das allein ist ja noch nicht rügenswert) in dem er dieses Buch abgrenzt gegen vermeindlich Schlechtes und Zeihenswertes. Und so nennt er zum anderen das Übel pauschal ›Fantasy‹ und haut munter drauf ein, wenn er schreibt…
Denn die Fantasy-Literatur spielt in fiktiven übernatürlichen, magischen Reichen, die als (in sich) real geschildert werden. Kulturell, politisch wie sozial spiegeln sie — natürlich stark idealisiert — gewöhnlich eine weit zurückliegende Epoche, rückständige Gesellschaftsordnung und archaisch religiöse Verhältnisse. So etwas fällt unter den allgemeinen Begriff Fantastik. Seit Fantasy gegen Ende des vorigen Jahrhunderts aber zu Massenbuchware wurde, seit sie zu einem eigenen populären Genre geworden ist, werden ihre Titel – häufig serienweise – zunehmend noch aus immer gleichen Versatzstücken zusammengeschustert.
Erwachsene Leser, die für ihre Sehnsüchte in der modernen Realität keine Befriedigung finden und sich in solche Lektüre flüchten, riskieren, dass die schon entwickelten Keime und Energien schöpferischer Phantasie sich zurückbilden. Für Kinder aber besteht die viel größere Gefahr, dass diese kreativen Energien und Fühler sich gar nicht erst entwickeln und damit auch ihre Fähigkeit zu spielen verkümmert. So paradox es klingt: Die Fantastik der Fantasy-Literatur nimmt ihnen die Phantasie.
Das ist in mehrfacher Hinsicht so falsch, dass ich es als Gag so stehen lasse.
Mich ärgert was anderes: Phantastik wird bei sehr vielen unterschiedlichen Namen gerufen: ›Horror‹ oder ›Science Fiction‹ zum Beispiel, und schon immer wichen jene, denen diese Ettiketten (oder andere) zu lasterhaft dünkten, darauf aus, dass sie feinere Bezeichnungen heranzogen, wie z.B. eben ›Phantastik‹ oder ›Magischer Realismus‹ (mensch kann dieses Nobilitierungsspiel auch am Pärchen ›Comics‹ = Bäh und ›Graphic Novels‹ = Edel-edel beobachten). Und richtig wirr wird es, wenn ein holistischer Larifari wie ich zu Bedenken gibt, dass ›Phanastik‹ auch oftmals zum Schimpfwort verkommt, wenn man damit z.B. Parteiprogrammtiken (siehe ›christliche Wurzeln Europas‹ a la Söder und Co.) oder die reichlichen Erzeugnisse ideologischer und theologischer Dichtung als Blumen im Beet der Phantastik bezeichnet. Da schwingt dann deutlich der Vorwurf ›Hirngespinst‹ mit ›Täuschung‹ mit.
Im Anglo-Amerikanischen hat sich erst in der vergleichsweise jüngeren Vergangenheit in einem Prozess von ca. Mitte der Fünfziger bis Anfang der Achtziger des 20. Jhds. der Begriff ›Fantasy‹ für eine gewisse Fiktions-Spielart eingeschliffen; ein Begriff, der gerade durch seine oft undifferenzierte und den Vermarkungsschubladen der Verlagsprogrammatik naiv folgenden Nutzung m.E. mehr Verwirrung als Orientierung stiftet. In den letzten Jahren kommt es auch im Anglo-Amerikanischen wieder zu Wortmeldungen, die an die nicht so enge (Genre-)Bedeutung des Begriffs ›Fantasy‹ erinnern, an eine Zeit bevor vor allem die mächtigen Werke Tolkiens das Terrain erschütterten und eine Schar Nachfolge-Pfadfinder ermunterten, Derivative von unterschiedlichster Güte zu produzieren. (Auch der Aufstieg von Rollenspielen darf hier nicht unterschätzt werden. Rollenspiele kommen mit ihren Regelapperaten nicht umhin, die ›Sekundärwelten‹ die sie als Spielraum aufziehen, zu sortieren, schematisch zu unterteilen.) China Miéville, M. John Harrison oder Neil Gaiman geben Beispiele für derartige kritisch-genre(selbst)bewußte Reflektionen zum Begriff ›Fantasy‹.
Als ›Gegengift‹ zu Beckmanns Pauschal-Klatsche möchte ich deshalb ein Zitat des englischen Edel-Literarten Ted Hughes anbieten, der in seinem Essay »Mythen und Erziehung« von 1976! (aus »Wie Dichtung entsteht«, Insel Verlag, 2001) über den grundlegenden Sinn und Zweck von Phantastik schrieb, und besser ausdeutet, was die Attraktion und den Wert dieses fabulatorischen Modus ausmacht.
Das Wort ›Phantasie‹ bezeichnet gewöhnlich nicht viel mehr als die Fähigkeit, ein Bild von irgendwas in unserem Kopf zu erschaffen und dieses dort festzuhalten, während wir darüber nachdenken. Da dies die Grundlage beinahe aller unserer Handlungen ist, kommt es zweifellos sehr darauf an, ob unsere Phantasie eher stark oder schwach ist. Die Erziehug vernachlässigt diese Fähigkeit vollkommen.
{…} Der dämonisierte Zustand unserer Welt ist millionenfach spürbar geworden. Wie kommt es, dass Kinder sich so zu ihr {der Phantastik} hingezogen fühlen? Jedes Kind ist eine Chance der Natur, die Fehler der Kultur zu korrigieren. Kinder sind ihr {der Welt} gegenüber höchst sensibel, weil sie am wenigsten durch wissenschaftliche Objektivität für ein Leben in der Kameralinse konditioniert wurden. Sie haben ein doppeltes Motiv, aus der Linse auszubrechen. Sie wollen der Häßlichkeit der entspiritualisierten Welt entfliehen, in welcher sie ihre Eltern eingesperrt sehen. Und sie sind gewahr, dass diese innere Welt, die wir von uns gewiesen haben, mehr ist als nur ein Inferno verkommener Impulse und verrückter Explosionen verbitterter Energie. Unser wahres Ich liegt da unten. Da unten, vermengt mit all dem Wahnsinn, liegt alles, was einst das Leben lebenswert machte. All die verlohrene Bewußtheit und die Kräfte und Bindungen unseres bilogischen und spirituellen Seins. Die Versuche, dieses verlorene Erbe wieder anzutreten, nehmen viele Formen an, und sind das Hauptanliegen eines Schwarms von Kulturen.
{…}Objektive Phantasie {welche die Äußere Welt betrachtet und erforscht und aneignet} also, so wichtig sie ist, riecht nicht aus. Wie wäre es mit einer ›subjektiven Phantasie‹? … Das eigentliche Problem kommt mit dem Umstand, dass die äußere und die innere Welt jederzeit voneinander abhängig sind. Wir sind einfach der Ort ihrer Kollision. Zwei Welten, mit einander widersprechenden Gesetzten oder Gesetzten, die uns als solche erscheinen, prallen jede Sekunde aufs neue aufeinander, kämpfen um friedliche Koexistenz. Ob es uns gefällt oder nicht: unser Leben ist das, was wir aus dieser Kollision und diesem Kampf machen.
Was wir also offensichtlich brauchen, ist eine Fähigkeit, die beide Welten gleichzeitig umfasst. Ein großes, flexibles Verständnis, eine innere Vision, die wie ein großes Theater die Wettkampfarena weit offen hält und die beiden Seiten gleichzeitig Respekt zollt. Die, wie Goethe sagte, der der Dinge und der Geisterwelt gleichermaßen die Treue hält.
Beckman tut mit seinem Artikel Wieland Freund m.E. keinen Gefallen. Welche potentiellen jungen oder erwachsenen Phanatstik-Freund werden nach seinem tollpatischen Rumpeln gegen ›DIE Fantasy‹ noch Bock haben »Jonas Nichts« eine Chance zu geben? Wer so mit dem Oberlehrer-Zeigefinger wedelt, macht keine Laune. Da bleibt mir nur, entsprechend mit dem Zeigefinger zurückzuwedeln.
Für mich als gnadenlos von den phantastischen Literaturen und Modi Hingerissener besteht der Wert der Phantastik ganz allgemein darin, dass dieser Modus des phantastischen Erzählens, Reflektierens und Spekulierens über die Welt die stärksten und mächtigsten Instrumente eben dazu liefert um über sich selbst, ›Gott und die Welt‹ nachzudenken und zu verhandeln. Zugestanden: zugleich gehen damit aber auch intensivere Gefahren einher, da die Phantastik der Psychagogen, Demagogen, Schwarzmagier, (Stimmungs-)Giftmischer und Schadenszauberer dazu führen kann, dass die Leute und die Gesellschaft ihre kostbaren Tat- und Denk- und Empfindungs-Ressourcen verschwenden für Verwirrung, Missverständnisse, Täuschung, Illusionen, Zwist & Tatenlosigkeit. — Ich halte es jedoch für kreuz-fatal, wenn man angesichts dieser mit der Phantastik verbundenen Gefahren zusammenzuckt und sich auf ein (vermeintlich) sichereres Terrain des so genannten (puristsichen) ›Realismus‹ zurückzieht, oder Klein-Klein-Gefechte aufführt indem man verschiedene Ettikettenworte, die alle unter ›Phantastik‹ subsummiert werden können, gegeneinander auszuspielen trachtet.
Nicht, dass man mich falsch versteht: Natürlich lässt sich über Wert und Unwert einzelner Phanatstik- oder Kunst-Strömungen trefflich streiten, und das sollten wir (die Leser, Autoren und Kritiker) auch. Aber Werten hängt immer vom jeweiligen Standpunkt, der jeweiligen Lebenslage, Welt-Erfahrung und Befindlichkeit ab. Meiner Meinung nach kommt man also auch beim Versuch, möglichst objektiv über diese Dinge Aussagen zu tätigen nicht umhin, den Empfängern faire Einblicke in die eigene subjektive Sender-Verfassung zu gewähren, damit der Empfänger ‘ne Ahnung davon bekommt, von wo aus und zu welchem Zweck mensch Aussagen und Wertungen anstellt.
Dazu nochmal eine kleine Schau auf ein Gegensatzpaar in das mensch, wenn mensch will, die Bedeutungs- und Werte-Ebenen auseinander sortieren kann. (Ich mixe dabei munter den bereits erwähnten Ted Hughes mit Fetzen aus den Werken von Peter Sloterdijk und dem Ethnologen Hans Peter Duerr … Fetzen, die sich halt in meinem Hirn sinnfällig zusammengefunden haben):
- Die intimere, intensivere Ebene der eigenen Person, der eigenen Gruppe oder Kultur (der kleineren und mittleren ›Blasen‹). Das sind die Werte der überschaubaren Gruppe, des Stammes, Clans, der Familie, des Dorfes und der Kleinstadt usw. Man nennt das auch die tribalistischen Werte der Untergruppen gegenüber der Welt. Die entsprechenden Zusammengehörigkeits-Mythen werden oftmals als spießig, altmodisch, beschränkt und einengend bezeichnet oder empfunden (man denke an die ständige Beäugung durch die eigene ›Peer Group‹, den eigenen Stamm, die starken Spannungen, Vergleichs-Animositäten und wilden Gerüchte dieser ›Bei uns hat man das immer schon so gemacht‹- und ›Wo kämen wir denn dahin‹-Werte).
- Die konfusere, relativistischere Ebene des Verbundes oder der Summe von Gruppen (die kleinen, mittleren und größten ›Blasen‹ die zusammen als ›Schaum‹ gesehen werden können … maximal eben der Schaum der globalen Menschheit, der sich aus den vielen vielen Untergruppen-Blasen mit ihren jeweiligen Traditionen und Interessen zusammenfügt). Die entsprechenden, arg in Verhandlung und deshalb Wandlung befindlichen Global-Mythen werden oftmals als flach, beliebig, leer, degradiert und herabsetzend bezeichnet (man denke an den Vorwurf gegenüber der Moderne oder Postmoderne, nur Wischiwaschi zu liefern, an die Gefahren des Nihilismus, der Entmutigung angesichts von Entfremdung durch Zweckrationalismus).
Zwischen diesen beiden Ebenen gibt es eine Barriere, einen Zaun, und alle Menschen sind mehr oder weniger ständig auf einer ›Queste‹ zwischen dem Hüben und Drüben zu vermitteln, einen persönlichen Ausgleich zu schaffen.
Herr Beckmann als Chef-Kolumnist des angesehenen Branchenblattes »Buchmarkt« inokkuliert seinen Beitrag leider nur ungeschickt. Statt sich darüber aufzuregen, dass die Verlage und Marketingleute uns ärgerlicher weise zuschütten mit schlechter oder auch nur seichter Serien-Phantastik, sollte er sich lieber weiterhin (wie er es lang schon macht) für eine bessere Ausbildung der Buchhändler einsetzten. Phantastik (und Fantasy) ist ein riesiges Terrain. Da tut’s so ein plattes Zitieren überkommener Vorurteile kaum. So hätte Beckmann z.B. ruhig den Mut haben können, auszudeuten, dass es schon die Werke der ehrwürdigen ›Fantasy‹Klassiker Lewis und Tolkien sind, die nur so strotzen vor platt-naivem Mittelalter-Nostalgik, und dass es aber heutzutage durchaus ›Fantasy‹-Novitäten gibt, die — obwohl sie einige Aspekte dieser Strömung weiterführen — von einem sehr modernen Weltverständnis ausgehen, wie Hal Duncan, Steven Erikson oder eben mein persönlicher Favorit China Miéville.
Jaques Cazotte: »Der verliebte Teufel«
Erstellt von molosovsky um 18:27
in
Literatur,
Horror,
Ludwig Wittgenstein,
Klassiker,
Jorge Luis Borges,
Fantasy,
Bibliothek von Babel,
Jaques Cazotte,
Phantastik,
Tzvetan Todorov,
Buch-Rezension
VIERTE FOLGE VON MOLOS WANDERUNGEN DURCH
DER BÜCHERGILDE GUTENBERG
Eintrag No 456 — Entgrenzter Beginn: wie sehr treibt mich die Sehnsucht, mich immer und immer wieder der süßen Illusion hinzugeben, ich könne mich zurücklehnen, die Welt wie ein Gemälde betrachten, und zugleich hineinfallen lassen, mit all dem mitempfinden, was sich da im Laporello meines Panoramablicks tummelt. Ich weiß, dass diese Spielart des ›Kuchen essen, und Kuchen behalten‹ ein Ding der Unmöglichkeit ist. Aber es ist diese Spannung, dieses Pendeln, was mich auf Trapp hält bei all meinen Wanderungen durch die Gefilde der Literaturen, Künste, Medien: einerseits der Schönheitsrausch angesichts der Vielfalt und Seltsamkeit der Erscheinungen des Universums, andererseits die Skepsis gegenüber den Verlogen- und Beschränktheiten des Menschen (inklusive meiner eigenen Person).
Ein hilfreicher Rat gegen die Gefahren eines enthemmten Holismus scheint mir da das Sprüchlein: »Der Teufel steckt im Detail«[01], besonders dann, wenn mensch interpretiert. Es ist bestimmt keine exzentrische Übertreibung, wenn ich als Liebhaber der phantastischen Künste der Meinung bin, dass gerade die Phantastik manniglich zu schaffen hat mit einem besonders verknotungs- und verirrungsgefährdetem Gefizzel beim Auseinanderklamüsern von Wahrheit und Lüge, Illusion und Ent-Täuschung, richtig- und daneben-liegen beim Interpretieren. — Ein kleiner Zitatenkranz als Einstimmung.
In meiner ersten Wanderung durch die von Jorge Luis Borges zusammengestellte Anthologiereihe habe ich mittels eines Schlenkers auf Ecos Roman »Der Name der Rose« ein Beispiel für eine harsche Weisung zu Problemen der Wahrheitsnavigation gegeben:
Wer zweifelt, wende sich an eine Autorität, befrage die Schriften eines heiligen Vaters oder Gelehrten, und schon endet jeder Zweifel.
Diese Art von streng hierarchischer Formatierung der Zugänge zur Wahrheit ist charakterisch für vormoderne Gesellschaftsverfassungen. Und wiederum bei Eco (in seinem Vortrag »Mögliche Wälder«) fand ich eine exemplarische Aussage dazu, was nun den Umgang mit Wahrheitsspannung seit dem Aufbruch der Moderne, spezieller, seit dem Anheben des pluralistischen Spiels der erzählenden Fiktionen betrifft, wenn er auf den Punkt bringt:
Indem wir Romane lesen, entrinnen wir der Angst, die uns überfällt, wenn wir etwas Wahres über die Welt sagen wollen.
Bereits ganz und gar weltliche Äußerungen über die Welt, über Vergangenheit und Zukunft und andere nicht(an)fassbare Phänomene wollen da auf ihren Wahrheits- und Vorgaukelei-Gehalt abgeklopft werden. Wie arg potenziert sich diese Notwendigkeit aber erst, wenn wir das Gebiet der Phantastik betreten? Die sich dabei (nicht für alle locker zur lustvollen) Spannung aufschaukelnden Bredoullien des Durchblickenwollens, umschreibt Ludwig Wittgenstein ganz treffend, als er schrieb[02]:
Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides, nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen.
Die stillschweigenden Abmachungen zum Verständnis der Umgangssprache sind enorm kompliziert.
Zu den stillschweigenden Abmachungen bei Interpretationen gehört im Allgemeinen, dass man sich Werke nicht zurechtbiegt, oder dass man sich nicht nur jene Stellen aus ihnen herauspickt, die zur eigenen Sicht der Dinge passen (oder zumindest, dass man derartig einseitigen Beispiel-Gebrauch eingesteht und erklärt). Gemäß einer der (leider) immer noch einflußreichsten Theorien zum ›Phantastischen‹, Tzetvan Todorovs »Einführung in die fantastische Literatur«, liegt
… das Fantastische im Moment der Ungewissheit …
und dabei wird Jaques Cazottes bekanntester Text als Beispiel für typische ›fantastische Literatur‹ im Todorov-Sinne herangezogen[03].
Für mich dabei Ärgernis: alle Beispiele die Todorov aus Cazottes »Der verliebte Teufel« pflückt, stammen aus Abschnitten des späteren Verlaufs des Buches, in denen sich der Held der Erzählung, der junge Adelige Alvares, tatsächlich nicht ganz sicher ist, ob seine aufgegeilten Sinne nur verrückt spielen und ihm die wildesten Einbildungs-Streiche spielen, oder ob die junge Verführerin Biondetta wirklich der Leibhaftige in Frauengestalt ist. — Ja, Alvares mag sich sich ungewiss sein, aber als Leser bin ich’s nicht einen Moment und wundere mich, wie Todorov die deutlichen Hinweise auf den wundersamen, märchenhaften Charakter der Erzählung unter den Teppich kehrt. Der Roman beginnt immerhin damit, dass Held Alvares in Neapel bei einem lockeren Abend mit Wein und Plausch die Bekanntschaft mit von Alchemie und Geisterbeschwörung raunenden Fremden macht. Im zweiten Kapitel begibt man sich in die nahen Ruinen von Portici und mit Kerzen, Zauberkreisen und Beschwörungsformeln zitiert Alvares den Anleitungen der Fremden folgend Beelzebub herbei, und für mich gibt es hier keine Ungewisseheit darüber, ob der Text lediglich ein Scharadenspiel schildert, oder ob tatsächlich Magisches geschieht. Ein Fenster des Gewölbes öffnet sich und[04]
… ein Lichtstrom bricht durch die Öffnung, glänzender als das Tageslicht; ein Kamelskopf, ebenso scheußlich durch seine Dicke wie durch sein Aussehen, zeigt sich am Fenster; übergroß sind seine Ohren. Das häßliche Gespenst öffnet seinen Rachen und antwortet in einem der übrigen Erscheinung angemessenem Tone:
»Was willst du?«
Und zauberhaft-grotesk geht’s wenige Zeilen später weiter, als[05] …
… das anstaunenswürdige Kamel seinen sechszehn Fuß langen Hals aus{reckt}, sein Haupt in die Mitte des Saales {neigt} und ein weißes Löwenhündchen mit feiner, glänzend-seidener Wolle aus{spie}…
Der Hund spricht dann auch noch, und statt seiner steht dann plötzlich ein junger Page am Ort der Teufelsbeschwörung. Der Page ist eigentlich ein junges Mädel (Biondetta eben), das Mädel ist eigentlich eine Sylphe, ist eigentlich der Teufel.
Freilich kann man diese Teufelsbeschwörung und die damit zusammenhängenden Okkult-Fuzzis unter anderem auch als Metapher lesen. Die gewagteste Deutung dazu von mir läßt mich an Mädchenhandel denken. Aber ausdrücklich nahegelegt wird diese oder andere Deutungen, die Zauberhaftes ausschließen und stattdessen tatsächliche Echtweltmacheleukes als Erklärung nahelegen, nicht. Dazu gleich mehr.
Entsprechend gepfeffert war eine Retourkutsche des polnischen Phantasten Stanislaw Lem gegen Todorovs strukturalistische Zurechtbiegung in »Science Fiction Studies«. Lem greift in seinem Essay dabei selber — mit phantatischem, also verdeutlichenden, ›sehen machenden‹ Kniff — auf eine Metapher zurück, nämlich ›das Bett des Prokrustes‹ und mokiert sich zurecht über die äußerst enge Kropusauswahl, auf die Todorov seine Thesen zum ›fantastischen Genre‹ stützt.
Hinfort nun mit diesem kleinteiligen Einblick in das Hin- und Her zum Nutzen und Übel von über’s Ziel hinauspreschendem Strukturalismus und entsprechend polemischem Zurückgegrunze, und lieber hingewandt zu der ertragreichen und fruchtbaren Internet-Ressource des Romanisten Erich Köhler, der sich in seinen »Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur« (Aufklärung, Teil II, Hrsg: Dietmar Rieger; Seite 111 bis 120) mit Umsicht und Einsicht Jaques Cazottes verliebtem Teufel widmet.
Dort kann man lernen, dass Cazotte als Monarchist und gläubiger Kathole zwar ein streitbarer Gegner der Aufklärung (insbesondere Voltaires) und der Französischen Revolution war, dass er aber als Künstler und phantastischer Hallodri durchaus genug Eigenwilligkeit im Blut hatte, um mit »Der verliebte Teufel« ein Werk vorzulegen, dass sich als Übergangsbrückchen zwischen die älteren Märchenerzählungen (Conte merveilleux) und den sich neuerdings aufmachenden phantastischen Erzählungen der Romantik deutschen Schlages (Conte fantastique) positioniert. Zudem ragt »Der verliebte Teufel« als anti-aufklärerisch-philosophische Erzählung (Conte anti-philosophique) hervor.
Dazu eine kleine Interpretationsphantasie von mir: Sehr deutlich klingt bei Cazotte an einer Stelle an, dass es einst die Mathematik war, deren Ausraffinierung für das Finanz- und Versicherungswesen binnen einer Genration während der Renaissance dafür sorgte, dass die Astrologie vom wahrscheinlichkeitsberechnenden Risikomanagements verdrängt wurde[06]. Das liest sich dann so, wenn Alvares sich mit Biondetta syphilischer Expertise im Casino vergnügt[07]:
Nichts in der Welt geschieht zufällig. Alles war und ist eine Folge notwendiger Berechnungen, welche nur die Wissenschaft der Zahlen verstehen lehrt, deren Grundsätze so abstrakt und so tief sind, daß sie einen Lehrer erfordern, den man auffinden und sich zu eigen machen kann.
Bei Erich Köhler erfährt man desweiteren genaueres über die von Cazotte in im Nachwort nur angedeuteten zwiefachen allegorischen Schichtung von »Der verliebte Teufel«. Zum einen schildert die Erzählung da, auf der Ebene der individuellen Person, den Kampf der Tugenden und Laster um die Seele von Don Alvares, was in der Sprache der mittelalterlichen Gelehrsamkeit ›Psychomachia‹ genannt wird; und zum anderen, auf der Ebene der gegeneinander strebenden gesellschaftlichen Kräfte, versucht Cazotte das Hauen und Stechen der alten, sich im Rückzugsgefecht befindlichen Ordnung (kirchliche und aristokratische Authorität mit ihren Glaubens- und Offenbahrungswahrheiten) gegen die neuen, aufstrebenden weltlichen Tendenzen der Aufklärung (Bank- und Handelswesen, Empirie, Naturwissenschaft, Pluralität mit ihren klassenübergreifenden Lustbarkeiten) zu fassen.
Nicht zuletzt aber hat mich, trotz der ideologischen Gräben die Cazotte und mich trennen, der blumige Zauber indirekt zur Sprache gebrachter Erotik und wild wallender sinnlicher Begierden begeistert, der (im schönsten Sinne) leidenschaftliche Schwulst des Buches. Da wird ›Ach‹ und ›Oh‹ geseufzt und gestöhnt, da zupfen Whippets gar sehr bedeutungsschwanger an Männerröcken und wird mit einer metaphorischen Lust (wenn auch für heutige Zeiten empörend einfältig) über die Rollenbilder von Männlein und Weiblein fabuliert, dass man das Spitzentüchelchen rausholen möchte um sich Luft zuzufächeln. Nicht immer tönt das dann anachronistisch oder flasch, zum Beispiel wenn Ich-Erzähler Alvares sinniert:
Der Mann entstand aus Ton und Wasser. Warum das Weib nicht aus Tau, Dünsten, Lichtstrahlen, aus einem verdichteten Regenbogen? Was ist möglich, und was ist es nicht?
In diesem Sinne wünsche ich den aus Regenbogendunst gepressten Molochronik-Lesern ein schönes Wochenende.
•••
ANMERKUNGEN:
[01] »Der liebe Gott steckt im Detail – Mikrostrukturen des Wissens«, so nannte der Kunstgeschichtler und Kulturhistoriker Aby Warburg 1925 seine Hamburger Vorlesungen, und irgendwer hat fluggs den entsprechenden Austausch von
›Gott‹ mit
›Teufel‹ getätigt. Vielleicht ringen die beiden ja
›im Detail‹ miteinander, so wie die zwei mythologischen Wölfe, ein guter und ein böser, laut den Legenden nordamerikanischer Indianer im Herzen eines Mannes miteinander ringen. — Zur Bedeutung von Details siehe auch: John Irving:
»Witwe für ein Jahr«, bzw. die Verfilmung dessen erster Hälfte
»The Door in the Floor« …
It's the small details. •••
Zurück
[03] »Einführung in die fantastische Literatur« (fr. 1970; dt. 1972), Kap. 2
»Definition des Fantastischen«. Freilich kann man aus Todorovs Großgedankenspiel-Vorlage durchaus Nützliches machen, wie Simon Spiegel mit seinem Buch
»Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des Science Fiction Films« (2007) beweist. In meiner Empfehlung dort biete ich auch einen kurzen Überblick zu Todorov durchaus orientungsspendender Phantastik-Einteilung in die fünf verschiedenen Geschmacksrichtungen (i)
Reine Phantatsik; (ii)
Phantastisch-Wunderbares; (iii)
Phantastisch-Unheimliches; (iv)
Unvermischt Wunderbares und (v)
Unvermischt Unheimliches. — Die Gleichung
›Fantastik = Ungewißheit‹ erscheint mir zudem sprachlich ungeschickt, weil es z.B. mit
›Ambivalenz‹ einen viel gebräuchlichern Begriff für die Schwebe des Unentschiedenen gibt. •••
Zurück
[04] »Der verliebte Teufel« dritte Fassung von 1776, Büchergilde Gutenberg, S. 21. — Nebenbei:
»Babylon 5«-Freunde werden das Böse erkannt haben an seiner typischen Verführungsfrage, wie in der SF-Serie die
›Shadows‹ stellen. Die Guten fragen dort ja:
»Wer bist du?« Und beide bekommen ja dann für ihre ideologische Verbohrtheit von den Menschen gehörig die Leviten gelesen. •••
Zurück
[06] Mehr zu diesem gigantischen aber etwas im okkulten dümpelden Epochenwendethema findet sich abenteuerlich aufbereitet in Neal Stephensons
»Barock Zyklus«, wenn der jesuitische Agent de Gex im Band
»System of the World« (Heyne Manhattan, angekündigt für Herbst 2008) über die alle Hierarchien auflösenden Kräfte des Kommerzes flucht; und erzähl-philosophisch aufbereitet in Peter Sloterdijks
»Die letzte Kugel – Zu einer philosophischen Geschichte der terristsichen Globalisierung« in
»Sphären II – Globen« (Suhrkamp 1999), erweitert gesondert erschienen als
»Im Weltinnenraum des Kapitals« (Suhrkamp 2005). Auch der leider immer noch zu sehr übersehene Wolf von Niebelschütz kommt in seinem galantem Roman
»Der Blaue Kammerherr« (Suhrkamp 1949), mit einer schwummrig machenden Passage auf das Getrickse fiskalischer Zahlen zu sprechen, im vierten Band
»Die Bürgerin Valente«, dort im elften Kapitel (
»Der Traum vom Brunnenschacht, plutonisch«). •••
Zurück
[07] »Der verliebte Teufel«, Büchergilde Gutenberg, S. 49. •••
Zurück
Wissenschaft und Fantasy
Eintrag No. 437 — Frank Weinreich, Autor der erfeulichen Einführung zur »Fantasy«, hat für die Phantastik-Couch unter dem Titel »Äxte am Stamm der Moderne — Fantasy und Romantik« einen lockeren und lesenswerten Essay geschrieben. Unter anderem reagiert er dabei auf das Buch »Romantik« von Rüdiger Safranski.
Im dazu erblüten Thread »Fantasy — Stiefbruder der Romantik« der »Bibliotheka Phantastika« geht man den Banden zwischen Romantik und Fantasy nach und sinniert u.a. über den (vermeindlichen) Gegensatz von Wissenschaft & Magie, von Moderne und Fantasy.
Vor allem meine Lektüren von China Miévilles Bas-Lag-Romanen (z.B. »Perdido Street Station« und »Der Eiserne Rat«), Neal Stephensons »Barock-Zyklus« und Susanna Clarkes wunderbaren Fantasygeschichten die in der Regency-Epoche angesiedelt sind, haben mich in den letzten Jahren heftig über solche Fragen grübeln lassen.
Hier auch für die Molochronikleser meine Ergenisse des Google-Orakels zum Thema.
- »Using Science in Fantasy«: Wie man Wissenschaft in Fantasy einbringen kann.
- Bibliographie zum RPG-System »Castle Falkenstein«: Diese Fantasy-, Romance-, Steam Punk-Welt zeigt wunderbar, wie sich Wissenschaft und Magie in Fantasy die sich moderene Epochen annimmt mixen lassen.
- »The Lost Notebooks of Leonardo da Vinci«: ein Sourcebook des »Castle Falkenstein«-RPGs. Wunderbarer Augenschmaus und hochoriginell. Auch einfach so schön zu genießen, ohne dass man Rolle spielen muss.
- »Mixing Science & Magic: A Recipe for Desaster?«: Brainstorming zum Thema mit einigen Fiktionsbeispielen. China Mievilles »Perdido Street Station« wird erwähnt …
- … dazu verweise ich als Bas-Lag-Aktivist mal auf diesen Thread auf der deutschen Bas-Lag-Seite »Die Crisis-Theorie«:. Miéville ist studierter Anthropologe und Politikwissenschaftler und greift für seine ›Weird Fiction‹-Welt Bas-Lag (für mich) erfreulicherweise auf modernere Denksysteme als Grundlage für seine Magie (= Thaumaturgie) zurück.
- »Fantasy & Reality in Childrens Stories«: Widmet sich unter pädagogischen Gesichtspunkten der Thematik.
- »SF Diplomat: Conservatice Fantasy«: Umfangreicher Thread des Genre-Kritikers Jonathan McCalmont. Ich habs nur überflogen, aber McCalmont kommt u.a. auf Stephens »Barock-Zyklus« und George R.R. Martin zu sprechen und vergleicht den Weltbildbau beider.
Und ganz allgemein erhellend zum Thema sind die »Fantasy World Building Questions« von Patricia C. Wrede.
Ebenfalls sehr ertragreich und abseits des üblichen Fantasy-Mainstreams (wo, zumindest meiner Wahrnehmung nach, eine gewisse romantische Affinität für Magie und Neuheidentum vorherrscht) ist die Reihe »Die Gelehrten der Scheibenwelt« von Meisterfabulator Terry Pratchett und der Wissenschaftler Ian Steward & Jack Cohen. Meine Rezi dazu wird erst in den kommenden Monaten hier eingepflegt (hier derweil mein Trailer). Bis dahin bleibt nur, entweder das aktuelle »Magira — Jahrbuch zur Fantasy 2007« zu lesen, oder auf diese exzellente Besprechung von Andreas Müller beim Humanistischen Pressedient auszuweichen.
Susanna Clarke: »Jonathan Strange & Mr. Norrell« / »Die Damen von Grace Adieu«, oder: Ein edles Tröpfchen des berauschenden Weins der Magie
Eintrag No. 434
•••
Das gute Stöffche der Susanna Clarke’schen Phantastik wurde mir zum ersten Mal in der von Neil Gaiman herausgebenen Anthologie mit Kurzgeschichten aus dem Universum seiner »Sandman«-Comics kredenzt, und später lag einer Gallery-Mappe zu Gaimans und Charles Vess »Stardust« eine weitere Kurzgeschichte von Clarke bei[01]. In der Autorenbio der »Sandman«-Antho von 1996 heißt es (Übersetztung von Molo):
Derzeit arbeitet sie an einem Roman, der im England des 19. Jahrhunderts spielt, in dem Zauberei eine mehr oder minder angesehene Profession ist.
Gute zehn Jahre hat Clarke an »Jonathan Strange & Mr. Norrell« (= JS&MN) gefeilt, bis der Roman 2004 erschien.
Welch eine Freude! Was für eine Wohltat, wie JS&MN mittlerweile aufgenommen wurde, sowohl bei den Genre-Lesern, als auch von der Zunft der berufsmäßigen Literaturmeinungsverbreiter in Großmedien und Feuilletons. So jubelt beispielswiese Denis Scheck für die TV-Sendung »Druckfrisch«:
Susanna Clarke hat eines jener raren Bücher geschrieben, die uns daran erinnern, dass die Realität nur der Ort des Eskapismus derjenigen ist, die für das Reich der Magie nicht stark genug sind
und Nina May für »Die Zeit«:
Mit einer wunderschönen Bildersprache hat Susanna Clarke ein Buch für lange Herbstschmökerabende geschrieben, ein Buch, auf dessen honigfarbene Seiten einfach Schokoladen- und Kaffeeflecke gehören.
Aber, in beiden Lagern (bei Fantasylesern und Literatuuurverköstern) äußerte man verschiedentlich auch Befremden oder Unwohlsein über einige Eigenschaften von Clarkes Roman. Befremdet zeigte sich auch eine angesehene englische Literatin[02], die Clarke im Vorfeld der Veröffentlichung von JS&MN zwar begeistert bescheinigte, einen außergewöhnlich guten Roman vorgelegt zu haben, aber Clarke solle das Buch doch besser nicht selbst freimütig als ›Fantasy‹ bezeichnen, dass würde ja die anspruchsvolle oder ernste Leserschaft auf falsche Fährten locken und verschrecken. Diese Denkfigur ist ja bekannt: wenn ein Buch gute Literatur ist, dann kann es keine Genre-Fantasy sein. (Und ergänzend das andere in meinen Augen genauso dumme Vorurteil: Fantasyleser können eigentlich niemals wirklich ›ernsthafte‹ oder ›anspruchsvolle‹ Leser sein.)
Natürlich sind Einwände gegen die prägnanten Eigenschaften solch guter Literatur wie JS&MN nicht immer gänzlich kraftlos. Wer auf einen zügigen Fortlauf und klaren Bezug von Ereignissen wert legt, wer positive, leicht zu handhabende Rollenverteilung bevorzugt, wer mehr eine Schwäche (oder grad eben eher Gelegenheit) für ›Auf Sie mit Getöse‹-Äktschn und verlässliche Achterbahn-Thrill- und/oder Gefühlskissen-Einlagen hegt, wird hart und wohl weitestgehend freudlos an JS&MN zu knabbern haben, und nach einigen hundert Seiten beiseit legen. Wem es so ergeht, ist nicht automatisch ein schlechter oder dummer Leser. Man outet sich halt nur, ein ungeduldigerer Leser[03] in Sachen ›Worum geht’s denn nu?‹-Haltung zu sein.
Da ist es bequem, dass sich mittlerweile die nicht oft bietende Gelegenheit auftut, und man sich wie bei einem guten alten Rollenspiel-Buch[04] auf, in diesem Fall, zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen in eine Fantasywelt begeben kann:
- »Möchtest Du lieber in einem munter ausufernden dicken Roman versinken, dann greife zu ›JS&MN‹;
- Wenn Du elegant geschnürte Kurzgeschichten vorziehst, dann gib Dich den ›Die Damen von Grace Adieu‹ hin.«
Da JS&MN bereits mit einiger Aufmerksamkeit bedacht wurde, stelle ich im Folgenden »Die Damen von Grace Adieu« (= DVGA) ausführlicher vor[05].
DIE KURZGESCHICHTEN
Leider wurde für die deutsche Ausgabe nur das ornamentale Blumenmotiv des Umschlags übernommen, die restlichen, entzückend anmutigen Illustrationen von Charles Vess[06] der hiesigen Leserschaft aber traurigerweise vorenthalten. Da blühen Prunkwinden, Sterne und Vollmond kehren mehrmals wieder, Eulen im Flug; zwei der drei Damen von Grace Adieu halten sich beschwörend an den Händen, die dritte betet, alle tragen typische Regency-›Elfenkleidchen‹ mit Kaschmirschultertuch, Puffärmeln und gesogten Bündchen; aus einem Buch klettern kleine Kobolde und ranken sich belaubte Ästchen; ein kleiner Junge steht auf der Mauer einer Turmruine umflattert von einem Rabenschwarm; nächtliche Hügel mit Hirsch, Hundemeute und rufenden Gestalten im Nebel; eine junge Frau mit Haube und Korb guckt in einem dichten Wald durch einen schmalen Ausblick auf einen Weg der zu Steinkreisen und einem ummauerten Turm führt; an einem Kirchturm fliegt ein kleines Schiffchen mit drei fröhlich musizierenden Engelsmännekens vorbei; Mary of Scottland sitzt vor einem Gobelin und stickt mit finsterem Blick; drei Heilige schauen ehrfurchtsgebietend auf den Betrachter herab.
Zuerst spricht ein gewisser Prof. James Sutherland (im Jahre 2006 Direktor für Sidhe-Studien[07] an der Uni Aberdeen) zu uns, als Autor des Vorwortes und Herausgeber der Kollektion, später noch mal als Erzähler/Bearbeiter einer der Geschichten. Die magisch-historische Alternativwelt von Clarke umfasst sich nicht nur die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vergangenheit bis zum Regency. Laut Sutherland soll DVGA zum einen helfen, die Entwicklung der Zauberei auf den Britischen Inseln zu verstehen, zum zweiten dem Leser einige Einblicke und Rat liefern betreffs des Umgangs mit Elfen sowie deren schwer durchschaubaren Manipulationen menschlicher Angelegenheiten.
In dem Roman JS&MN ist Zauberei ja zuvörderst eine Männer-, genauer gesagt eine Gentleman-Angelegenheit, und der Erzählungsreigen ergänzt vorzüglich, da uns (nicht nur) durch die titelgebende Eröffnungsgeschichte »Die Damen von Grace Adieu« (1996) etwas von den weiblichen Zauberkünsten gezeigt wird. Hier lernt man die vielleicht drei fähigsten Zauberinnen des Regency-Englands zur Zeit von JS&MN kennen, die in dem kleinen (fiktiven) Kaff Grace Adieu leben, und sich bei ihren abendlichen Unterhaltungen über ihre männlichen ›Kollegen‹ Norrell und Strange uffregen, ansonsten sie als Kindermädchen auf Weisen aufpassen (Miss Tobias), als Witwe ein angenehmes Dasein pflegen (Mrs Field) oder mit Unbehagen über Heiratsfragen grübeln (Cassandra Parbringer). Der illustre, jüngere Meisterzauberer im Dienste Englands, Jonathan Strange, besucht zusammen mit seiner etwas überdrehten Frau Arabella deren Bruder Henry, von dem es heißt, er wolle die junge Cassandra ehelichen (die dazu lieber nix sagt). Wie überall, wo Jonathan weilt, ist er die Attraktion des Ortes, und er begegnet nächtens den drei zauberhaften Damen zwischen Wald und Hügel. Zugleich werden die Damen von unangenehmen Zeitgenossen heimgesucht, und ›Eulen sind nicht das, was sie zu sein scheinen!‹
In »On Lickerish Hill« (1997) lesen wir die dialektgefärbten Aufzeichnungen von Miranda, einer schlauen jungen Dame aus einfachen Verhältnissen, die mit dem wenig umgänglichen Sir John Sowreston verheiratet ist. Zum einen schildert die Geschichte eine Variante des Rumpelstilzchen-Märchens, und wie Miranda sowohl ihren Gatten als auch den spinnenden Elfen austrickst. Andererseits ist Miranda auch Gastgeberin eines wuseligen Gelehrtengrüppchens (die Royal Society ist noch in ihren Kindertagen), zu denen auch John Aubrey gehört[08]. Die Herren Gelehrten tummeln sich als Elfenkundler im moorigen Umland, entwerfen Fragenkataloge, für den Fall, dass sie mal einen Elfen erwischen, streiten natürlich immerfort leidenschaftlich und versuchen sich im Beschwören von Elfen.
Venetia, die Heldin der Geschichte »Mrs. Mabb« (1998) ringt mit dem Wahnsinn, denn ihr Geliebter weilt mit seinem Regiment in der Ferne im Kampf gegen Napoleon, oder doch nicht? Fiel er nicht vielmehr der Becircung der geheimnisvollen Mrs. Mabb anheim? Insekten spielen eine wichtige Rolle[09] und Venetia verbreitet bei ihren Versuchen die Schliche von Mrs. Mabb zu ergründen Unruhe unter deren Gästen und Familienangehörigen. Ins Irrenhaus eingeliefert zu werden dräut der Verzweifelten als Schicksal.
»Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig« (1999) ist der kürzeste Beitrag der Sammlung und lässt den große Helden (eine Art Rockstar seiner Epoche) Lord Wellington triumphieren, indem er es versteht, mit Nadel, Faden und Schere um sein Leben zu kämpfen.
»Mr. Simonelli und Der Elfen-Witwer« (2000) kommt in Form von Tagebuchauszügen der Titelfigur daher. Mr. Simonelli, ein junger Protestant italienischer Abstammung, nimmt, um den unaufhörlichen Intrigen Cambridges zu entkommen, eine Stelle als Landpfarrer an. Dort lernt er John Hollyshoes kennen, einen ihm bisher unbekannten Verwandten, der in dem heruntergekommenen Anwesen Allhope lebt. Hier treibt Clarke das Scharadenspiel zwischen Elfenprunk und tatsächlichem Verfall am weitesten, und Simonelli findet sich zu seiner Überraschung in der Rolle es beherzten Frauenretters wieder.
»Tom Brightwind oder Wie die Brücke in Thoresby gebaut wurde« (2001) ist die munterste Geschichte, mit den tollsten Zaubereikunststückchen. Herausgeber James Sutherland erzählt auktorial (mit Fußnoten) von einem im Jahre 1780 spielenden Abenteuer der Freunde David Montefiore, einem betont vernünftigen jüdischen Arzt, und Tom Brightwind, einem wohlhabenden Elfen, geschlagen mit einer quirligen Rasselbande junger Prinzessinstöchter.
»Antickes & Frets« (2004) handelt von der Konkurrenz zwischen Elizabeth I. und Mary von Schottland. Mary sinnt auf Rache und Thronübernahme und gibt sich zu diesem Zwecke alle Mühe, von der Heiratskarrieristin Bess Hardwick zu lernen, wie man mittels Stickereien Leute killt.
Zuletzt widmet sich Clarke/Sutherland mit »John Uskglass und der Cumbrische Kohlenbrenner« (2006) dem legendären Rabenkönig, dem mittelalterlichen Champion der englischen Zauberei, der schon in JS&MN eine wichtige und verrufene Rolle inne hat. Der junge Rabenkönig Uskglass verbreitet leichtfertig Chaos auf einer Waldlichtung, dem Zuhause eines einfachen Kohlenbrenners und seines Schweins. Der Kohlenbrenner will Vergeltung und klappert dazu die nächstgelegenenen Kirchen ab, wo die Heiligen (St. Kentigern, St. Barbara & St. Oswald) aus ihren Glasmalereihimmeln herabsteigen, um mit perfiden Zauberein dem aus Leichtsinn rücksichtslosen Uskglass erzieherische Lektionen zu erteilen.
Letztes Jahr habe ich gemosert wegen zu schnell und unbedacht gezogener ›Typisch Englisch, halt so wie bei Charles Dickens‹-Vergleiche. Bei Clarke kann aber auch ich solchen Vergleichen mit den üblichen Verdächtigen zustimmen: Clarkes alternativgeschichlich-magischer Weltenwurf verdankt nicht wenig den Romanen von Dickens und Jane Austen, denn Charakterzeichnung und die Schilderungen komplexer Standes- und Gesellschaftsregeln ist mehr Raum gewidmet, als knalliger Äktschn, und sind auf anregend durchdachte Art mit den magischen Vorgängen verbandelt. Clarke zeigt sich in ihrer Kurzgeschichtensammlung als meisterhafte Stimmenimmitatorin, die scheinbar mühelos die manchmal formelhaften Schematas von Märchen zu überraschend zu varieren und neuzubeleben versteht, mit dem für Kleinigkeiten aufmerksamen Alltags-, Konversations- und Sehnsuchtshin- und her, durch das eben die Romane von z.B. Thackery, Austen oder der Brontegeschwister zur Weltliteratur aufstiegen. Zwischen diesen beiden Erzählkonventionen pendelnd (Märchenfantasy hie, realistische Gesellschaftsprosa da), gelingt es Clarke spielerisch, ihre Leser und Protagonisten amüsant an der Nase herumzuführen und zu überraschen.
DER ROMAN
Spätestens seit Shakespeare ist ja bekannt, dass die Welt eine Bühne, und wie wichtig es deshalb ist, sich gemäß des eigenen Platzes in der Gesellschaft zu verhalten. Doch wer verteilt die Rollen und wie ergeht es Personen, die sich partout danach sehnen, von ihrem zugedachten ›Text‹ abzuweichen? Eine ganz ähnliche Frage, nur von ungleich größerem Format, eröffnet Clarkes dicken Roman JS&MN[10]. »Warum gibt es keine Zauberei mehr in England?«, will eine Versammlung von Gentleman-Zauberern zu Beginn ergründen, und einige unter ihnen sind nicht Willens, dieses Schicksal länger hinzunehmen. Diese Herren studieren zwar (allerweil streitend) die Geschichte der Zauberei, sind aber selbst zu keinerlei magischen Taten im Stande. Wegen des Rufes seiner exzellenten Bibliothek, treten die Gentlemen-Zauberer brieflich in Kontakt mit dem schrulligen und dauerschlechtgelaunten Bücherwurm Mr. Gilbert Norrell auf, der laut eigener Auskunft der einzige wahrhafte lebende Zauberer Englands ist. Nach einigem Zögern entschließt sich Norrell die Provinz zu verlassen und siedelt nach London über, um sich in den dortigen Salons darum zu bemühen, der englischen Zauberei zu neuem Glanz zu verhelfen., und mit ihr England im Krieg gegen Napoleon beizustehen. Mit seinen ersten magischen Kabinettstückchen überwindet Norrell das anfängliche Misstrauen der Entscheidungsträger aus Politik und Militär. Doch, ›Oh je!‹, der scheue Misanthrop findet sich dann, sehr zu seinem Missfallen, bedrängt von der aufgeregten Neugierde und den mannigfachen Begehrlichkeiten der besseren Gesellschaft, und begeht einen großen Fehler, als er eine junge Dame vor dem Tod errettet. Norrell sichert sich eifersüchtig und despotisch die Stellung des exklusiven Staatszauberers, ringt sich aber schließlich durch, seine Kenntnisse und Fertigkeiten mit einem Schüler zu teilen. Als solcher kommt verhältnismäßig spät, am Ende des erstens Drittels, Jonathan Strange in die Geschichte.
Der Kontrast der beiden Titelfiguren erinnert mich im besten Sinne an das Couplet, das Walter Matthau und Jack Lemmon in ihrer Laufbahn mehr als einmal grandios geboten haben: der Ältere ein emotionell harter und zerknautschter Griesgram, der Jüngere ein verplapperter und naiv-hochmütiger Hupfdibupfdi. Während Norrell in England bleibt um stets gereizt, verkrampft und paranoid das seine zum Krieg und der Magie-Renaissance beizutragen, begibt sich Strange ins Ausland zu den Truppen auf der iberischen Halbinsel[11]. Im diesem zweiten Drittel des Romans kommen nun auch Äktschn-Fans vermehrt auf ihre Kosten. — Überhaupt: Clarke steigert (für meinen Geschmack wunderbar) altmodisch sachte und subtil die Spannungs- und Spektakel-Dosis. Nicht selten schlendert der Romanfortgang scheinbar planlos herum, lässt sich athmosphärisch hie und da ein klein wenig treiben, schildert aber sonst mit der gewitzten Präzision die scharfer Beobachtung eigen ist, und die hier zudem gut Hand in Hand mit der (typisch) britischen Sitte einhergeht, Gemeinheiten und Tiefschläge zwischen feinen Ranken von spitzen Unterschneidungen zu platzieren. Zudem, und hier bedient Susanna Clarke ganz besonders meine speziefischen Phantastik-Gelüste, lässt sie gern auch mal kecke Büschel kleiner Groteskerien sprießen, oder balanciert souverän ganze Szenen auf einem schmalen Grad zwischen augenöffnender Plausibilität und prickelnder Abstrusität.
Als einer, dem mittlerweile einfach gestrickte Macho-, Strahle- oder Antihelden abhold sind, fand ich mein exquisitestes Vergnügen bei Clarkes feinem Amüsement über den Hang von Männchen zur geheimniskrämerischen Wichtigtuerei bzw. flamboyanter Prahlerei[12]. Keine Zweifel habe ich, dass sich Susanna Clarke mit ihren beiden Büchern jetzt schon in die Riege der ganz großen Vertreter der Phantastik geschrieben hat. Sie versteht vorzüglich, ihre Figuren als leicht übertriebene Karikaturen zu gestalten, und sie dennoch mit Würde und Einfühlungsvermögen zu behandeln — ein leider nur ziemlich selten zu findendes Lektürevernügen. All diese Qualitäten von Clarkes Schreibe, lassen mich der in Arbeit befindlichen (für sich stehenden) Fortsetzung von JS&MN entgegenfiebern. Immerhin: nach der feinen Salongesellschaft und ihrer Handlanger, will sie sich diesmal vermehrt mit den unteren Schichten der Gesellschaft auseinandersetzten. Ich hoffe nur, dass sie nicht nochmals 10 Jahre braucht.
•••
»Die Damen von Grace Adieu« (engl. »The Ladies of Grace Adieu«, mit Illus von Charles Vess, Bloomsbury 2006), übersetzt von Anette Grube, 300 Seiten;
Gebunden Bloomsbury Berlin (2006) ISBN-13: 9783827006882;
Taschenbuch bei Berlinverlag (2008) ISBN-13: 9783827006882.
»Jonathan Strange & Mr. Norrell« (engl. mit Illustrationen von Portia Rosenberg, Bloomsbury 2004), übersetzt von Anette Grube & Rebekka Göpfert, 1021 Seiten;
Gebunden Bloomsbury Berlin (2004) ISBN-13: 9783827005229;
Taschenbuch bei Berlinverlag (2005) ISBN-13: 9783833303333
•••
ANMERKUNGEN
[01] »Stoppe’d Clock Yard« in
»Book of Dreams«, Hrsg. von Neil Gaiman & Ed Kramer, Harper-Prism 1996 (HC), 1997 (SC).
»A Fall of Stardust« von Neil Gaiman & Charles Vess, enthält
»Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig«. Diese Geschichte wird als Umsonst-Bonbon auf der wunderschönen Promowebsite zu Clarke angeboten:
www.jonathanstrange.com
Leider —
ach Menno! — ist derzeit die deutsche Version dieser Promoseite derzeit kaputt.
Bleibt zu hoffen, daß die »Sandman«-Antho nu’ irgendwann mal übersetzt wird (immerhin sind da u.a. Beiträge solcher Fantasy-Kapazunder wie Gene Wolfe, Steven Brust, und Clarkes Lebensgefährten Colin Greenland versammelt), jetzt da der Panini-Verlag seit dem ersten Quartal 2007 damit begonnen hat, eine »richtige« deutsche Ausgabe von
»Sandman« zu publizieren. Panini bringt mich zudem zum Jubeln, denn dort erschien nun auch endlich die mit 400 Zeichnungen von Charles Vess illustrierte Prachtversion von
»Stardust« (dt. »Sternenwanderer«).
Ach ja: da ich
Tad Williams’ Romane in der Vergangenheit
›mit Wonne‹ gedisst habe, hier ein vielleicht versöhnender Tipp: in der Debüt-Nummer des neuen Phantastikmagazins
»Pandora« aus dem Hause Shayol/Otherland-Buchhandlung findet sich eine schöne Übersetzung des Williams-Beitrags der »Sandman«-Antho:
»Das Schriftstellerkind«. Auf kurzer Strecke bereitet auch mir Williams Vergnügen. •••
Zurück
[02] Eine launische Spekuation: Ich habe die vorzügliche und streitbare Dame A.S. Byatt im Verdacht. •••
Zurück
[03] Der hier auch besprochene
Neal Stephenson hat das in seinem Roman
»Diamond Age« schön umschrieben:
Hackworth hatte sich die Mühe gemacht, einige chinesische Schriftzeichen zu lernen und sich mit den Grundprinzipien der fremden Denkweise vertraut zu machen, aber im großen und ganzen hatte er seine Transzendenz lieber unverhohlen und bloßliegend, so daß er sie im Auge behalten konnte — beispielsweise in einem hübschen Schaukasten aus Glas —, und nicht in den Stoff des Lebens eingewoben wie Goldfäden in Brokat.
Heyne 2001, S. 87, übers. von Joachim Körber. ••• Zurück
[05] In heller Begeisterung entbrannt habe ich eine (wie ich finde) Gemme in Sachen Genre-Beschäftigung der anglo-amerikanischen Blogosphäre ins Deutsche übersetzt: das Seminar des akademischen Gruppenblogs
»Crooked Timber« über und mit Susanna Clarke zu JS&MN, nachzulesen oder als PDF ausdruckbar unter:
http://molochronik.antville.org/stories/1511971/
und nachgereicht dazu eine kleine deutschsprachige Rundschau (zu Feuilleton-, Forums- und Blog-Rezis) unter:
http://molochronik.antville.org/stories/1513801/
•••
Zurück
[06] Einen willkommenen Werkstattbericht mit einigen Vergleichen zwischen Bleistiftentwurf und Tuschefederreinzeichnung kann man in
Vess’ Blog genießen:
http://greenmanpress.com/news/archives/59#
•••
Zurück
[07] Sidhe: Keltisches Wort für Elfen, das sich von
›Hügel‹ ableitet. •••
Zurück
[08] John Aubrey (*1625, †1697): Autor des kuriosen Buches
»Brief Lives« (
»Lebensentwürfe«, Buch 114 der Reihe
»Die Andere Bibliothek«, Eichborn 1994), von dem sich auch schon Gaiman den Titel für einen seiner »Sandman«-Sammelbände (Band 7 wird deutsch als »Kurze Leben« erscheinen) entliehen hat. •••
Zurück
[09] Geglückte Insekten/Elfen-Darstellung sah ich zuletzt im grandiosen
del Toro-Film »Pans Labyrinth«. Ebenfalls in »Magira 2007« enthalten ist eine ausführliche Würdigung dieses exzellenten Fantasy-Märchen-Films von
Uwe Kraus unter dem Titel
»Goyas Erben«. •••
Zurück
[10] Mit 1021 Seiten, 69 Kapitel
(abgepackt in drei Teile mit 22, 22, und 25 Kap.) und 184 Fußnoten wird dem Leser eine Menge Holz vor’n Latz geknallt. Laßt Euch nicht von den z.T. ausführlichen Fußnoten verwirren und ablenken, in denen Clarke meistens Erzählungspralinen aus der englischen Zauberei-Vergangenheit zum Besten gibt. Ich empfehle, immer zuerst dem Faden eines Kapitels unterbrechungslos zu folgen, und die Fußnoten nach dem Lesen eines Kapitals zu goutieren. Andere Möglichkeit: Man verdirbt sich keine Überraschung, wenn man nach Lust und Laune vorblätternd die kleinen Fußnotenerzählungen als Zwischendurchkonfekt genießt. •••
Zurück
[12] Wobei Clarke nicht den langweiligen Fehler begeht, nur die Männer als belächelnswerte Figuren zu präsentieren. •••
Zurück
Neal Stephenson: Der »Barock-Zyklus«, oder: »It’s the economy, stupid«, neben, ach, so vielen anderen Dingen
•••
Eintrag No. 430 — Die Zwickmühle ist erstmal, wie ich einen Autoren und sein neuestes Großwerk beschreiben soll, zu dem ich als Leser (und erst recht als noch schubladenbeliefernder Selberfabulierer) mit schon fast ehrfürchtigem Staunen aufblicke? Oder für alle, denen das zu weihrauchrig klingt: Was kann ich Stubenhockerdolm schon groß Kluges über so ein exorbitant reichhaltiges, vielstrangig- und gestaltig ausuferndes, klug und exzessiv recherchiertes, tolldreist-spekulierenden Firlefanz verbreitendes, entwaffnend facettenreich inspirierendes Ideengroßpanoptikum schreiben? Noch dazu, wenn es wahrscheinlich ist, dass empört oder zweiflend Einspruch erhoben wird aus Gründen der Genrereinheit , da der Barock-Zyklus strenggenommen ja ein historischer Roman und keine Fantasy ist. — Bitte, seid mal nicht sooo streng mit den Grenzkontrollen und laßt Euch davon beschwichtigen, dass es keine verrenkte Sichthaltung braucht, um manch enge verwandschaftliche Bande zwischen Historien- und (vor allem epischer) Genre-Phantastik erkennen zu können.
Zudem! Schon die schriftstellerische Entwicklung die Neal Stephenson (1959) bisher hingelegt hat, macht ihn von Beginn weg als einen Maximalliterarten kenntlich: seine beiden ersten nichtveröffentlichten Romane waren epische Fantasy-Versuche (einer davon mit Schwerpunkt Geologie). Stephenson debütierte erst mit seinem dritten Manuskript, dem ungestüm-munteren Campuskriegsreisser »The Big U« (1984), in dem bereits u.a. intelligente Ratten, fanatische Rollenspielfreaks und alternative Realitäten vorkommen. Mit seinem (stilistisch schon barock anmutenden) Cyberpunk-Flick »Snow Crash« (1992) erlangte Stephenson Kultautoren-Status, dank seiner Vision eines Internets mit 3D-Graphik, die angeblich so manches Sillicon Valley-Start Up-Unternehmen zum Geschäftsplan inspirierte (siehe »Second Life«), und verschmolz damit eine Einführung in die Meme-Theorie anhand babylonischer Mythologie/Frühgeschichte. Mit »Diamond Age« (1995), einer schwindelerregenden Nanopunk-SF-Achterbahnfahrt, diesmal mit der Viktorianischen Epoche als historischen Ideen-Wetzstein, spekuliert Stephenson merklich reifer als zuvor über die Möglichkeiten z.B. maßgeschneiderter Erziehung und die gesellschaftlichen Verwerfungen beim Eintritt in ein Zeitalter schier unbegrenzter Überflußökonomie[01]. Dann verabschiedete sich Stephenson von der klar bestimmbaren Genreschublade der SF und legte 1999 mit »Cryptonomicon« den ersten anständigen Abenteuerroman über das heutige, von Computern geprägte Informationszeitalter vor, und diesmal zeitnäher als bisher, dem 2. Weltkrieg als geschichtlichem Schallraum. »Cryptonomicon«, und der nun damit in loser familiärer Verbindung stehende »Barock-Zyklus« gehören keinem der normalen Phantastik-Genres an, auf den ersten Blick zumindest. Immerhin spielen diese Romane in unserer Welt (naja: einer leicht überhöhten Räuberpistolen-Mutation unserer Welt), und die phantastischen Elemente quellen einem nicht gleich mit großem Hallo entgegen, noch sind sie sonderlich zahlreich. Doch wie Stephenson erklärt, hat er sich in »Cryptonomicon« der Gegenwart der Internet-New Economy und der Geheimbotschaftskriege, und im »Barock-Zyklus« der Zeitenwende vom 17. zum 18. Jahrhundert, mit den sehr spezifischen Sensibilitäten eines (SF)Phantastik-Genreautors gewidmet. Das macht nun vor allem den umfangreichen »Barock-Zyklus« zu einem jener Bücher, die man völlig zurecht als phantastische Meta-Fiktion bezeichnen kann. Die wenigen Betrachtungsrahmen die genug Weitwinkelperspektive zulassen, damit die dieser Zyklus durchpaßt, sind zu komplex, um daraus griffige Vermarktungsettiketchen abzuleiten.
Andererseits läßt sich Stephenson aber damit locker einer Autorengruppe zusprechen, die sich eben herzlich wenig um das Eiteitei von Genregrenzen schert, und der (grad deshalb?) außerordentlich frische und kraftvolle Phantastik gelingt. Aufgrund meiner gehegten Schwäche für diese Grenzüberflieger empfiehlt sich mir Stephenson als einer der reizvollsten zeitgenössischen Fabulatoren. Auf meiner Lektürekarte liegt ›Mount Stephenson‹ an einem Lauf des schillernden Flußgeaders, von dessen Ufern auch Meta-Phantasten wie Umberto Eco, Matt Ruff, Michael Chabon oder Lawrence Norfolk ihre Romanschiffchen auf den Weg schicken[02]. Als jemand, der stets auch schon mit der Romanform selbst spielt und diese auszureizen trachtet, macht Stephenson auch im Vergleich mit solchen regelmäßig außer Rand und Band geratenden US-Romanciers wie Thomas Pynchon[03] oder T.C. Boyle (z.B. »Wassermusik«) eine gute Figur. Stephensons Romane eignen sich vorzüglich dazu, gedankenknoblerische Probleme zu bereiten[04], oder sich zu 1001 ertragreichen Recherechespaziergängen in Sachbuchgefilden anregen zu lassen.
Der »Barock-Zyklus« ist keine Trio, auch wenn der Handhabe wegen seine acht Einzelbücher in drei Bänden erschienen. Band 1 »QUICKSILVER« beginnt mit Buch 1 »Quicksilver« (27 Kapitel), widmet sich vornehmlich dem brodelndem Kessel der Vergangenheit. In der Gegenwartshandlung kommt Enoch Root, ein unsterbliche Alchemistenmeister, 1713 in die neue Welt nach Bosten, um dem alten (Ex-)Puritanier Daniel Waterhouse den Auftrag einer Prinzessin zu überbringen: Daniel soll nichts weniger, als den weltbilderschütternden Magier- äh Gelehrtenstreit zwischen Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz schlichten. Daniel regelt seine Familienangelehenheiten und bricht mit dem Schiff ›Minerva‹ nach Europa auf, und Stephenson versteht es meisterhaft, uns eine langwierige jedoch äußerst fingernägelgefährende maritime Verfolgungsjagd zu liefern, denn im Auftrag obskurantistischer europäischer Mächte will der für seine Grausamkeit berüchtigte Pirat Blackbeard Daniel aufhalten[05]. Vermengt damit wird dem Leser in längeren Rückblicken auf den Zeitraum von 1655 bis 1673 der Werdegang Daniels geboten. Abwechslungsreich wird davon erzählt, wie der Sohn eines radikal-fundamentalistischen Predigers als Jugendlicher zum Busenfreund des (im unheimlichen Sinne) engelsgleichen Newton wird; wie er sich mit diesem zusammen für die Naturphilosophie begeistert und Isaac z.B. bei schweißtreibenden Augenexperimenten behilflich ist. Überhaupt: die Einblicke in die Kindertage der Royal Society bieten haarsträubende und nervenaufreibende Passagen, weniger, wenn Isaac Sonnenuhrenschatten beobachtet, schon eher, wenn Robert Hooke durchs Mikroskop guckt, aber getollschockt hat mich dann doch, wie eine Handvoll Naturphilosophen Hunde bei lebendigem Leib sezieren. Über den gemeinsamen Mentor in Sachen symbolische Logik[06], den einzigartigen Bischof Wilkins[07], lernt Daniel auch Leibniz (›Das Monster‹) kennen und schätzen[08]. Daniel macht seine ersten wackeligen Schritte als politischer Hinter den Kulissen-Spieler im Ringen um Englands Verfassung in Sachen Religion und Thronfolge. Zudem gilt es den ersten Sabotageplott aufzudecken (Manipulation von Kanonenpulver, durch das englische Schiffe in die Luft fliegen).
Szenenwechsel und zurückgesprungen in der Zeit bis 1665, stellt Buch 2 »König der Landstreicher« (18 Kapitel) die zweite männliche Hauptfigur vor, Jack Shaftoe, der mit seinen Brüdern aus der Gosse Londons stammt. Als kleine Buben verdienen die Shaftoes ihr erstes Geld damit, unachtsame Freier zu beklauen, und sich als Gewichte an die Beine von Galgenvögeln zu hängen[09]. Kleiner Zeitsprung vorwärts und wir begleiten Jack als jungen Twen auf dem Weg zum Krieg gegen die Wien belagernden Türken. Die ca. 20 Seiten mit Jacks chaotischer Jagd eines Straußenvogels quer durch das türkische Lager und wie er die Haremssklavin Eliza mitten im Schlachtgetümmel aus den Fängen ihrer Henker befreit, gehört zu der Handvoll bester Äktschnpassagen, die mir in über 20 Leserattenjahren untergekommen sind. Als Kind wurden Eliza und ihre Mutter von einem französischem Sklavenschiff vom Strand ihrer (fiktiven) Heimatinsel Quwglm entführt. Jack und Eliza geben im »Barock-Zyklus« das melodramatische Liebespaar. Es ist eine Wonne, wie der tollkühne Jack von der hochintelligenten und verführerischen Manipulationsmeisterin Eliza gezähmt wird[10]. Die beiden schlagen sich durch das unheimliche und trübe Deutschland, das nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges immer noch als Wüstenei darbt. Es gibt: Hexensabbat auf dem Brocken; Kriechabenteuer in Bergwerksschächten (mit ›leuchtet im Dunklen‹-Superheldenhomage); nettes Geplausche mit Leibniz über Romane und Geheimbotschaftverschlüsselung; Jacks Kapriolen als Partyschreck die Ludwig XIV. einen schönen Party-Abend versauen; Elizas Begegnung mit Wilhelm von Oranien, der ihr einen geheimen Herzoginnenstitel verleiht, ihre Anfänge als durchtriebene Börsenbrokerin und schließlich das tragische Zerwürfnis zwischen Eliza und Jack, weil er sich naiverweise (ohne es zu ahnen) am Sklavenhandel beteiligt. Auf dem Schiff ›Die Wunden Gottes‹ reist er ins Unglück und wird von arabischen Piraten vor der Nordafrikanischen Küste gefangen genommen.
Buch 3 »Odalisque« (22 Kapitel) knüpft wieder an Daniels Geschichte weiter, wie er sich in den heruntergekommenen Whitehall Palace begibt, um James II. offiziell vom Ableben George II. zu unterrichten. Ansonsten steht Eliza im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wir begleiten sie von 1685 bis 1689 durch Norddeutschland, die Niederlande, und Frankreich, zu den inneren Kreisen des Versailler Sonnensystems mitsamt seinen vertrackten Intrigen und Eifersüchteleien, Big Brother-Überwachung und Satanisten-Machenschaften, Maskenbällen, Finanz- und Rohstoffproblemen. Eliza unterstützt als Spionin das geheime Großprojekt von Leibniz und Daniel (Baus einer Denkmaschine), wird von einem Bastard Ludwigs geschwängert und rettet eine Prinzessin.
Band 2 »CONFUSION« springt nun von 1689 bis 1702 zwischen Europa und Exotik hin und her, vermengt beides, ganz der Programmatik des Titel entsprechend. In Buch 4 »Bonanza« (14 Kapitel) sind wir mit Jack Shaftoe unterwegs, der wieder frei mit neun seiner Ruderbankkammeraden einen gigantischen Riffificoup durchzieht[11]. Die bunte Truppe verdeutlicht für mich sehr überzeugend, dass Aliens, Elfen und andere seltsame Humanoiden der Genre-Phantastik oftmals nix anderes sind, als dekorativ übertriebene oder vereinfachte Fremde und/oder Außenseiter[12]. Ostwärts geht's für Jack & Co einmal um den Globus, mit Straßenschlachten auf dem großen Markt von Kairo, Sprengstoffgewinnung aus Pisse in Indien, den Geheimnissen der Edelstahlfertigung, ausgeklügelten Quecksilberschwingungsfallen in einem japanischen Hafen, von Sturm und Feuersbrünsten heimgesuchten Pazifiküberquerungen, und als finsterer Höhepunkt münden die beiden Romane des zweiten Bandes in einer mark- und beinerschütternden Folter/Vergewaltigungs-Doppelpackung.
Derweil folgt Buch 5 »Das Komplott« (50 Kapitel) Elizas und Daniels Wegen. Eliza steigt zur Doppelherzogin auf und glänzt als Finanzmagiern, Beschützerin von Prinzessinen und leidgeprüfte Mutter. Ach ja: Peter der Große und sein Rudel poltern in diesem Band auf eine Art durch die Szenerie, dass mir ganz flau vor Lachen und Gruseln wurde. Newton und Leibniz (bzw. ihre Anhänger) debatieren sich in den großen Streit hinein, u.a. dazu, ob Newtons atomistisches oder Leibniz monadisches Weltbild stimmt[13]. Newton entschließt sich die Leitung der englischen Münze zu übernehmen, und das zu einem Gutteil auch, weil er aus alchemistischem Interesse äußerst erpicht darauf ist, dass von Jack & Co. geklaute spanische Gold in die Finger zu bekommen. Daniel schließlich bricht am Ende des Bandes ‘gen Bosten auf, um für die nächsten 17 Jahre (siehe Beginn des ersten Bandes) einen (fiktiven) Vorläufer des MIT zu betreiben, und sein ›Comenius-Wilkins-Leibniz'sches, Pansophisch, Arithmetisches Maschinenlogisches Vernunftalgebraisches, Automatisch Rechnendes Behältnis allen Wissens‹ voranzutreiben[14].
Hat man bisher geglaubt, dass Stephenson schon sein Limit an kleinteiliger Ausbreitung historischer Feinheiten erreicht hat, wird von »PRINCIPIA« (engl: »The System of the World«) (Januar bis Oktober 1714) wohl nochmal überrascht werden. Die Detail- und Lebensfülle mit der London, vor allem der berüchtigte Tower und das Newsgate-Gefängnis beschrieben werden, hat mich schlicht geplättet (Oh, welch Wonnen der lustvollen Überforderung!). Zugegeben: ohne einem zumindest ansatzweise vorhandenem Interesse für Stadt- und Gebäudearchitektur und/oder Sozial- und Kulturgeschichte ist das sicherlich nicht sooo aufregend, wie ich hier juble. Aber es tut sich ja auch ordentlich viel, so kommt in Buch 6 »Salomons Gold« (29 Kapitel) der alte Daniel in Südengland an, und bestaunt die ersten Versuche des Dampfmaschinenbaus. Irgendwer trachtet entweder ihm oder Isaac mit Höllenmaschinen (Bomben mit Uhrwerkzeitzündern) nach dem Leben, und in Buch 7 »Währung« (29 Kapitel) und Buch 8 »Das System der Welt« (41 Kapitel & 5 Epiloge) geht es dann richtig rund mit bürgerkriegsartigen Unruhen in London, verbissenen Kämpfen bei denen die Gegner wie Gozillas ganze Häuser platt machen, einem Duell zwischen Sklaven und Sklavenhändler mit Kanonen, und es schließt sich der Kreis des großen Hauptthemas ›modernes Finanz- und Währungswesen‹, dass in Buch 1 mit einem jugendlichen Newton anhob, als dieser über das unübersichtliche Münzdurcheinander seiner Heimat bass erstaunt ist. Zuletzt gipfelt alles in einem philosophischen (sic) Showdown zwischen Newton und Leibniz, bei dem Globen rollen.
Diese Zusammenfassung ist freilich eine lächerliche Peinlichkeit, denn selbst doppelt oder dreimal so viel Worte könnten nur einen vagen Überblick des enorm stoffreichen Zyklus bieten, und ich komme mir vor, wie ein Kandidat, der an dem von Monthy Python erfundenden Wettbewerb teilnimmt, Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlohrenen Zeit« in einer Minute nachzuerzählen.
Schon mit seinen SF-Romanen hat mich Stephenson überrascht, mit der angenehm flüssig zu lesenden Kurzweiligkeit seiner erklärenden Prosa, denn unspannendes Technikblabla ist auch für mich eine lästige und ermüdende Plackerei, durch die mir SF-Lektüre schnell zu anstrengend und freudlos wird. Nicht so bei Stephenson, dem ich zutraue, dass sogar von ihm verfasste Mobiltelefongebrauchsanleitungen noch eine spannendere Lektüre für mich abgäben, als der x-te Band eines Genre-Franchise.
Für die Leser bleibt eigentlich nur die Möglichkeit sich dem Zyklus zu ergeben, hineinfallen und von seinen Strömungen mitnehmen zu lassen, und wie so manche begeisterte Rezensenten zu jauchzen: »Zu viel, denkt man, zu konfus, mehr davon!«[15], oder diese drei Bücher eben zu meiden. Da ich hier ausdrücklich Lese- und keine Kaufempfehlungen gebe, sei empfohlen, auf die (nicht ganz so schmerzlich kostspieligen) Taschenbücher abzuwarten, oder mal bei Freunden und Büchereien zu lugen, und in den ein oder anderen Band des »Barock-Zyklus« reinzulesen, denn ich wage zu versprechen: findet man hinein in dieses gewundene Labyrinth, bleibt man erstmal darin hängen, ist das Vergnügen ein auf Jahre prägendes.
•••
Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist.
•••
»Barock-Zyklus I: Quicksilver« (engl. 2003 / dt. gebunden 2004, Taschenbuch 2006), Karte vorne: Europa; Karte hinten: London im Jahre 1666 nach dem großen Feuer; Personenverzeichnis, Stammbäume und einige Abbildungen; 62 Kapitel, ca. 1152 Seiten; ISBN: 978-3-442-46183-7
»Barock-Zyklus II: Confusion« (engl. 2003 / dt. gebunden 2006, Taschenbuch 2008); Karte vorne: Europa, Afrika, Vorderer Orient / Nordsee; Karte hinten: Indischer und pazifischer Ozean / Mittelamerika; 64 Kapitel, ca. 1024 Seiten; ISBN: 978-3-442-46662-7
»Barock-Zyklus III: Principia« (engl. 2004 / dt. gebunden 2008); Karte vorne: London / Fleet-Gefängnis; Karte hinten: Die Themse und Umgebung / Tower von London; 104 Kapitel, ca. 1120 Seiten; ISBN: 978-3-442-54607-7.
Alle drei Bände brillliant übersetzt von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller.
•••
ANMERKUNGEN:
[01] »Diamond Age« ist immer noch mein persönlicher SF-Lieblingsschmöker eines Zeitgenossens. Warum? Hier nachzulesen:
http://molochronik.antville.org/stories/766431/ •••
Zurück
[02] Umberto Ecos in der Zeit von Barbarossa spielender
»Baudolino« verarbeitet die Fantasy-Propaganda über fiktive christliche Reiche im Orient; Matt Ruff legt mit
»Ich und die Anderen« eine Innenwelt-Psycho-Fantasy-Quest-Romanze im heutigen Amerika vor; Chabon erzählt in
»Die unglaublichen Abenteuer von Kevalier und Clay« über zwei fiktive Comic-Pioniere und ihren eskapistologischen Superhelden und Norfolk hat in
»Lamprier's Wörterbuch« und
»In Gestalt eines Ebers« köstlich über Confusionen von Fakt und Phantasie fabuliert. •••
Zurück
[03] Was Willi Winkler in der
»Literaturen« vom März 2007 über Pynchons neusten Wahnwitzschmöker
»Against the Day« schreibt, scheint mir auch bis auf I-Tüpflechen auf Stephensons Romanen passen:
»Diesen Autor treibt das studentische Bedürfnis, die Welt nicht nur zu durchschauen, sondern auch noch zu retten. {…} Er ist Bastler, Ingenieur und möchte nichts Geringeres, als dem Welträtsel auf die Spur zu komen.«
••• Zurück
[04] Jedoch: Probleme bieten Gelegenheiten fürs Raffinessezeigen. Knoten wollen gelöst werden und Geschichtenerzählen ist immer Knüpfkunst bzw. -handwerk. •••
Zurück
[05] Erste
›Cliffhanger‹-Zumutung, und typisch für ein derart ambitioniertes Werk: erst nach über 1000 Seiten wird dieser Handlungsfaden zu Beginn des dritten Bandes wieder aufgenommen. •••
Zurück
[06] Grob gesagt Vorläufer u.a. moderner zeichentheoretischer, mathematischer & steuerungstechnischer Disziplinen wie Kybernetik, Programmierung und Informationstheorie. •••
Zurück
[07] Mit
»Mercury, or the Secret and Swift Messenger« (1641) der erste Sachbuchautor in Sachen Geheimcodes, zudem mit seinem satirischen Mondfahrtabenteuer von 1634 ein SF/Phantastik-Pionier. Wilkins dient Stephenson auch als Anschauungskandidat, wie elendig in der damaligen Zeit Leute an so einer
›Kleinigkeit‹ wie Nierensteinen verreckt sind. Wie betet doch Samuel Pepys (dessen
erotische Tagebücher von Helmut Krausser herausgegeben jüngst bei Eichborn erschienen sind) so schön ehrfürchtig:
»Herr des Universums, … Preis und Dank sei Dir dafür, dass Du uns die Gaben der Vernunft geschenkt hast, dank deren das Verfahren der Lithotomie erfunden wurde…«
Aus: »Confusion«, S. 623. Siehe auch Fußnote 10. ••• Zurück
[08] »Es gibt zwei berühmte Labyrinthe, in denen sich die menschliche Vernunft oft verwirrt« wie Leibniz meint. Der eine Irrgarten hat mit dem Wiederspruch zu tun, ob der Mensch bei seinen Entscheidungen und Meinungen Willensfreiheit genießt, oder ob er nicht doch gemäß göttlicher Vorherbestimmung (Predestination) handelt. Das zweite Labyrinth bezieht sich auf das Problem der Kontinuität oder des Unendlichen, was sich auch als Frage formulieren läßt, die in ihrer Einfachheit schon wieder mystisch klingt: Was ist der Raum? •••
Zurück
[09] Köstlich, wie die Knaben den Verurteilten mit einer theatralischen Werbung augenfällig vorspielen und singen, welchen Todesqualen verkürzenden Wert ihre Dienstleistung bietet. •••
Zurück
[10] Unter anderem durch Elizas Tantra-Gaben, mit denen sie Jacks vom Druck jahrelang angestauter »gelber Gallenflüssigkeit« befreit. Jacks Geschlecht wurde nämlich bei einer schiefgelaufenen, besoffenen Syphilis-›Operation‹ durch ein glühendes Eisen verbrutzelt, was ihn den Spitznamen
›Schuß-in-den-Ofen-Jack‹ (Half-Cocked Jack) bescherte. •••
Zurück
[11] Guckt Euch mal
»Oceans 11«, 12 und 13, oder entsprechende Klassiker wie
»The Sting« durch die Fantasy-Genrebrille an; Einbruchsmagische Künststüchcken in leicht überhöhter Echtweltwirklichkeit. •••
Zurück
[12] Bei den Schwarzalben der Edda überkommt mich kein Elfenschauer, sondern die Vermutung, daß die alten Nordeuroäer damit wohl die dunkelhäutigeren Südeuropäer, Afrikaner und Araber meinten. Und wenn ich daran denke, daß im Bergbau der Altvorderen bis hin ins junge 20. Jahrhundert sich Kinder kaputtschufteten, erscheinen mir die typischen McFantasy-Zwerge beunruhigend schal und verlogen. Aber warum sollte es bei Phantastik anders sein, als bei Wurst- und Gesetztmacherei? Weiß man erstmal, wie Wurst und Gesetzte fabriziert werden, kann einem der Appetit, bzw. der Glaube zum aktuellen Stand des Parlamentarismus vergehen.
Hier sozusagen als Trailer Jacks Meisterdiebande (
»Confusion«, S. 42):
1) Jewgeni, der Raskolnik, auch der
›Rus‹ genannt;
2) Mr. Foot, ehemaliger Inhaber des
›Bombe & Enterhaken‹ in Dünkirchen und jetzt Unternehmer ohne Portfolio;
3) Dappa, ein Negerlinguist und Anti-Sklavereipamphletautor;
4) Jeronimo, ein unflätiger, aber hochgeborener Spanier;
5) Nyazi, ein Kamelhändler vom oberen Nil;
6) Moseh de la Cruz, der Kohan mit
dem Plan;
7) Gabriel Goto, ein Jesuitenpriester aus Japan und Samuraischwertmeister;
8) Otto van Hoek, ein holländischer Seemann und Piratenhasser;
9) Vjej Esphahnian, Spross einer in aller Welt verstreuten armenischen Händlerfamilie.
•••
Zurück
[13] Leibniz im Zwiegespräch mit Newtons Fanboy Fatio:
»Perzeption (Wahrnehmungsvermögen, A.d.Molo) und Denken sind Eigenschaften der Seelen. zu postulieren, dass der Grunbaustein des Universums Seelen sind, ist nicht abwegiger, als zu behaupten, es seien kleine Stücke harten Stoffes, die sich im leeren Raumumherbewegen, welcher von geheimnisvollen Feldern durchdrungen sei.«
Aus: »Confusion«, S. 388). ••• Zurück
[14] »Confusion«, S. 755. Auf englisch:
›Comenius-Wilkins-Leibniz Arthmetickal Engine-Logick-Mill-Algebra of Ratiocination-Autopmatic Computation-Pepository of all Knowledge project‹ (S. 624). •••
Zurück
Gordon Dahlquist: »Die Glasbücher der Traumfresser«, oder: Drei Aussenseiter gegen okkultistische Weltverschwörer
Eintrag No. 420 — Der bisher als Dramatiker und Filmemacher produktive New Yorker Gordon Dahlquist konnte mit »Die Glasbücher der Traumfresser« (»The Glass Books of the Dreameaters«) letztes Jahr einen veritablen Überraschungshit für sich verbuchen. Kaum veröffentlicht wurde dieser Roman zu einem begeisterten Tipp bei Freunden kurzweiliger und eleganter Alternativwelt-Romantik und Krimi-Phantastik und fluggs hatte Dahlquist einen lukrativen Fortsetzungs- und Verfilmungsvertrag in der Tasche.
Kein Wunder, denk ich mir da, haben doch Autoren der Phantastikgenre-Gefilde in den letzten Jahren wieder vermehrt jüngere Zeitalter als die üblichen mythischen Vorzeiten oder aufgehübschten Mittelalterversionen als Material für wundersame, magiegetränkte Geschichten entdeckt.
So orientiert sich Dahlquist gekonnt an der Sprache, dem dramaturgischen Fluß und der Sensibilität von Klassikern des Kriminal-, Mystery- und Alternativweltfeldes. — Die schnelle Ettikettierung geht in etwa so: »Die Glasbücher…« ist eine hinreissend-elegante Räuberpistole, mit viel spannendem Geschleiche, Gekämpfe, Doppel- und Mehrfach-Intrigieren und einem aufreizenden Anteil Samt und Seide. Wer eine Schwäche für Jules Verne, H.G. Wells, Arthur Conan Doyle und Anthony Hope (»Gefangene von Zenda«) hegt, wird (so trau ich mich fast zu 100% garantieren) sich mit Wonne an diesem abwechslungsreichen Roman laben. Was magisch-historische KriminAlternativwelten angeht, erinnert mich das Buch zudem an den großartigen Randell Garrett und seine Die Lord Darcy-Geschichten; und es freut mich, in diesem Zusammenhang auch passenderweise auf das im Frühjahr 2008 bei Feder & Schwert erscheinende und im magischen München um 1860 angesiedelten Elfen-, Vampire-, Dämonen-Abenteuer »Das Obsidianherz« der von mir verehrten Ju Honisch empfehlend hinweisen zu können.
Zum Aufbau: Der klingt komplizierter, als er sich lesen läßt. Jedes der zehn Kapitel widmet sich mit auktorialer Erzählperspektive abwechselnd mal der Heldin, Miss Temple, mal einem der beiden Helden ›Cardinal Chag‹ und Dr. Svenson. Dabei kommt es immer wieder zu szenischen Überlappungen bzw. zeitlichen Sprüngen der sich über etwa zweieinhalb Tage erstreckenden Handlung. Dieser wunderbar altmodische Kunstgriff sorgt schon für fingernägelgefährdende Suspense. — Den verschleiernden Alternativweltcharakter des Weltenbaus bemerkt man meistens kaum, außer, man sucht z.B. den Namen der Metropole in der neben einigen ländlichen Adelssitzen die Geschichte angesiedelt ist. Die Stadt bleibt namenlos, aber der Autor gab in Interviews preis, dass die erfundene Metropole ein Amalgam aus dem London, Paris und Brüssel der fin de siècle-Epoche ist.
Zum Spaß: Am bezaubernsten fand ich den eleganten Stil des Romans, wobei ich nicht sagen kann, wie gut oder schlecht der plauderhafte Tonfall in der deutschen Version getroffen wurde. Wie es sich für die von ständehierarchischer Formalität geprägte Welt der vorletzten Jahrhundertwende gehört, gibt es für alles tradierte oder stillschweigende Anstandsregeln des Auftretens und Umgangs. Da kommt es schon mal vor, dass die Bösen den mit dem Rücken zur Wand stehenden Helden großmütig ‘nen Drink anbieten.
Das Abenteuer beginnt mit Miss Temple, einer jungen Dame vom fertigen Geld, Tochter eines karibischen Plantagenbetreibers, die zusammen mit Dienstmädchen und Anstandstante im komfortablen Hotel Boniface residiert, auf der Suche nach einem passenden Gemahl. Den dachte Miss Tempel mit Roger Bascombe, einem aufstrebenden Beamten des Außenministeriums, geangelt zu haben, doch auf einmal, noch dazu nur in Form eines vagen Briefes, bricht Roger jeglichen Kontakt ab. Um herauszufinden warum, macht sich Miss Tempel auf, Roger nachzuspionieren. Lehnt Roger sie einfach nur ab, weil er doch lieber allein leben möchte? Oder will sich Roger lieber auf seine Ministeriumskarriere konzentrieren und eine Frau wäre da für ihn nur hinderlicher Ballast? Oder hat Roger sich in eine andere Frau verknallt? Je nachdem, aus welchem Grund Roger sich von ihr getrennt hat, stünden Miss Temple nämlich andere Rollen im Gesellschaftsringelei der Salons, Teeparties und anderer öffentlichen Anlässe besser zu Gesicht. — Bei ihrer Hobbydetektivmission mischt sich Miss Tempel unter die im Zug anreisenden Gäste eines geheimen Maskenballs, wird in den Räumen eines großen Adelslandsitzes Zeuge einer beängstigenden Menschendressur-Vorführung, überrascht mehrere Damen beim erotischen Techtelmechtel mit einem Herren, stolpert über die Leiche eines Offiziers, und ehe das erste Kapitel vorbei ist und Miss Tempel in ihr Hotel zurückgekehrt ist, hat sie sich bereits mit den mörderischen Handlangern eines Verschwörunggeflechtes herumzuschlagen.
Die beiden männlichen Helden werden ebenfalls zuerst durch Neugierde und Mißtrauen in den Strudel der Vesrchwörungsmachenschaften gezogen. Im zweiten Kapitel folgt das Buch ›Cardinal Chang‹, tödlicher Meister des Rasiermesserkampfes, der seine durch Narben fernöstlich anmutenden Augen hinter einer runden Sonnenbrille verbirgt und einen roten Ledermantel sowie (tada!) einen Stockdegen trägt (daher der Spitz- und Deckname dieses aus der Arbeiterschicht stammenden freiberuflichen Auftragskillers- und Agenten, der sein Gemüt mit Lyriklektüre beruhigt). Irgendwer hat einen Offizier den Chang meucheln sollte bereits gekillt, und der Ordnung halber will Chang herausfinden wer. Chang klappert unterschiedlich gediegene Bordelle nach Infos ab, erfährt dabei, dass ihm selbst mehrere Parteien bereits auf der Spur sind, und platzt schließlich in den unterirdischen Forschungsräumlichkeiten des (fiktiven) Royal Institute of Science and Exploration mitten hinein in ein bizarres Experiment und das erste von vielen Handgemenge des Romans.
Als dritter im Bunde gerät Dr. Abelard Svenson, der Leibarzt des Macklenburgischen Prinzen, in das Garviationsfeld der finsteren Intrigen der geheimnisvollen Traumfresser-Cabale. Der Prinz, ein allen Genüßen zugewandter charakterschwacher Hallodri, hat sich eigentlich in das Alternativweltengland begeben, um die Tochter eines einflußreichen Lords zu heiraten. Doch der Prinz absentiert sich, bzw. wurde womöglich entführt, und auf der Suche nach ihm merkt der kettenrauchende Dr. Svenson bald, dass etwas faul ist im Staatsgefühe von Macklenburg.
Zum Gehalt: Die zentrale phantastische Besonderheit des Romans ist der mirakulöse Rohstoff Indigo-Lehm, mit dessen Hilfe sich magische Glasbücher und -Karten schaffen lassen. In diesen Glasartefakten können Erinnerungen aufgezeichnet und wieder konsumiert werden (ganz ähnlich wie die Bewußtseins-Technik in SF-Filmen wie »Strange Days« und »Projekt Brainstorm«). Doch zum erweiteren Fundus der Indigo-Lehmalchemie gehören Wundheil- und Unsterblichkeits-Elexire, Mittel und Verfahren, um Frauen in willige Sexmarionetten zu verwandeln, oder um Menschen mittels gesprochener Programmcodes für geheime Missionen abzurichten. — Gewitzt finde ich dabei, dass Dahlquists Roman selbst in indigoblauer Aufmachung daherkommt, sich also augenzwinkend als Eintauch-Spaß und Miterleb-Achterbahnfahrt präsentiert (wenn auch nicht aus Glas). Ganz passend lautet ein zwiespältiger Cover-Spruch der englischen Ausgabe:
»Reading of an adventure is a much more respectable pursuit than having one.«
Oder in Moloübersetung:
»Es ist ein weitaus schicklicheres Unterfangen ein Abenteuer zu lesen, als selbst eines zu erleben.«
Ausser natürlich, man vereitelt, indem man ein Abenteuer besteht, die üblen Pläne von obscuranten Verschwörercliquen.
Ein Molochronik-Eintrag ohne Gemoser? Mitnichten, aber ich will ganz klein krtiteln. Im Gegensatz zu den meisten anderen Lesern bin ich so gar nicht hingerissen vom deutschen Format. Die Idee, die zehn Kapitel gesondert zu binden und in einem Schmuckschuber anzubieten ist im Grunde ja eine famose Sache. Da gibts zehn plus eine Umschlagsfläche für edelstes Typo- und Retro-Design. Leider aber ist das Format meiner Ansicht nach zu klobig-groß geraten und auch der Preis wurde durch diese Extrawurst unnötig in die Höhe getrieben. Ich hoffe, mensch wird nicht zu lange warten müssen, bis es eine kostengünstigere einbändige Taschenbuchausgabe bei uns geben wird.
•••
»The Glass Books of the Dream Eaters«(2006); Penguin Paperback; 760 Seiten; ca. 10 €; ISBN: 978-0141-03465-2.
»Die Glasbücher der Traumfresseer«; Victorian Edition, Blanvalet 2007; Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kempen; 896 Seiten; € 24,95; ISBN: 978-3-7645-0278-2.
•••
REZILINK-RUNDSCHAU
Für »SpiegelOnline« hat Mark Pitzke den Autor in einem New Yorker Kaffeehaus getroffen.
In der »Die Welt« stellt der Titel von Elmar Krekelers Artikel fest: »Dahlquist Orgien sind wilder als Kubriks«. Krekelers Bericht seines Besuches bei Dahlquist in New Yorks Stadtteil Hells Kitchen ist — find ich — bessser als der SpOn-Beitrag. Elmar bezeichnet das Buch völlig korrekt als Groschenheft für die gehobenen Stände. Unter der Teilüberschrift »Die Bahnbrechende Computerrevolution« zieht Dahlquist dort selbst eine Verbindung zwischen der Glasbuch- und Gläsener-Bürger-Metapher.
Peter Henning hat den Roman unter der Überschrift »Ballett der bösen Buben« in der »Die Zeit« besprochen und gibt ebenfalls Portraitbröckchen zum Autor zum Besten. Lustig fand ich die Info, dass…
…indes in diesem Buch nahezu unentwegt {gefochten wird}. Kein Wunder: Der Autor selbst übt regelmässig die Fechtkunst — mit selbstgebasteltem Degen …
»Brigitte« empfahl den Roman in der Bücher-Beilage anläßlich der Frankfurter Buchmesse 2007.
»Glaube Aktuell« greift auf den DPA-Artikel von Gisela Ostwald zurück.
Bernd Sperber lobt (trotz einer Abstriche) in seinem »Bücher Blog«:
die sprache des autors und seine fähigkeit, den leser auf eine grandiose art und weise in seine atmosphärisch dichte welt zu entführen, fand ich äußerst bemerkenswert. das ganze liest sich außerdem weg wie nix, letztendlich ist dies also der perfekte schmöker für triste herbstabende.
Jessebird jubelt für »Planet 9«:
Ich kann »Die Glasbücher der Traumfresser« jedem empfehlen, der einen wahrhaft historischen (aber nicht historisch wahrhaften) Roman lesen möchte, der nicht zimperlich ist was Blut & Tod angeht und der das viktorianische England mag.
Im Blog »Alltagswahn« widmet sich eine ›weibliche Anhängerin des totalen Chaos‹ dem Roman:
Am Anfang war es etwas verwirrend, doch man liest sich schnell in die Geschichte ein. Eine Fantasygeschichte mit nem Touch Sherlock Holmes und Erotik.