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Neil Gaimans »The Sandman« Band 3: »Traumland« mit »Hilfreichen Handreichungen« als PDF

Dritter Teil von Molos Empfehlungen von Neil Gaimans inkl. »Hilfreicher Handreiche« über mythologische, historische und literarische Anspielungen.

Eintrag No. 484 — Der dritte Band der zehnteiligen Großerzählung vom Wandel des Herrschers der Träume, »Traumland«, versammelt vier für sich allein stehende Kurzgeschichten, die 1991 als Einzelhefte Nr. 17 bis 20, und im Englischen als Sammelband 1995 erschienen sind.

Der kleine Wermutstropfen der ansonsten prächtig gelungenen Ausgabe von Panini Comics sei gleich zu Beginn abgehandelt: Leider wurde das im englischen Sammelband wiedergegebene Manuskript zu dem Heft »Kalliopie« nicht für den deutschen Band übernommen. Gaiman und sein Team gewähren darin ihren englischsprachigen Lesern einen interessanten Einblick in den Herstellungsprozess der Comic-Kunst, wenn sich die 39 Seiten Text-Skript vergleichen lassen mit den 24 Seiten Comic. Es ist aufschlussreich dort zu verfolgen, wie ausführlich der Autor Gaiman im lockeren Ton eines an die Zeichner gerichteten Briefes Beschreibungsaufwand leistet, um der Illustratorenarbeit möglichst hilfreich zuzuarbeiten. — Aber außer dem Fehlen dieses Manuskriptes gibt es wirklich nichts zu jammern über die Panini-Ausgabe. Wie schon ihre beiden Vorgängerbände »Präludien & Notturni« und »Das Puppenhaus« trumpft sie auf mit einem gestochen klaren Druck und der leuchtenden, nuancenreichen Digital-Kolorierung. Wahrlich, eine Augenweide.

»Traumland« bietet einen erfrischenden Sprung raus aus dem bisherigen großen Erzählstrom der Reihe. Von Beginn an war es eine Absicht von Gaiman bei der Gestaltung von »The Sandman«, zur Abwechslung zwischen den längeren Geschichten, deren Handlungsbögen sich über mehrere Kapitel/Einzelhefte spannen, abgeschlossene Einzelerzählungen zu bieten. Insgesamt aber werden alle Sammelbände und die Sandman-Geschichte im Ganzen geprägt, von dem auffälligen Merkmal des verschachtelten Ineinander von Geschichten in Geschichten. Strukturell steht Sandman damit solchen Potpourrie-Schatzkammern wie »1001 und eine Nacht« oder Jan Potockis »Handschriften von Saragossa« nahe, und kann sich ohne dass man übertreiben muss, als moderne, eben im Comicmedium dargereichte Variante derartiger ehrenvoll-wilder Fabulations-Klassiker gelten.

Zur Erinnerung: Band 1, »Präludien & Notturni« hat uns die manchmal nur am Rande auftretende Hauptfigur des Epos, den Herren der Träume, Morpheus, Dream, vorgestellt, und wie dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem englischen Scharlatanmagier beschworen und gefangen gesetzt wurde; wie Dream nach vielen Jahrzehnten erst in den Achtzigerjahren seinem Kerkermeister entkommt und langsam seine Kräfte wiedererlangt und sich auf eine Quest begibt, um die wichtigsten und machtvollsten seiner zwischenzeitlich verstreuten Herrschaftsartefakte einzusammeln. — In Band 2, »Das Puppenhaus«, kümmerte sich Morpheus dann um die Restauration des in seiner langen Gefangenschaft verwahrlosten Traumreiches. Vier der machtvollsten Traumreichbewohner waren ausgebüchst und sorgten in der Menschenwelt gehörig für Angst und Schrecken. Außer um diese Ausreisser, hatte sich Morpheus auch noch um einen alle Träume erfassenden Wirbel zu kümmern, der sich in Gestalt der jungen Frau Rose manifestierte. Nebenbei lernten wir zwei Geschwister von Dreams seltsamer Familie der ›Ewigen‹ kennen (eine siebenköpfige Sippe menschenförmiger, universeller Prinzipien deren Namen im englischen alle mit ›D‹ beginnen): seine ältere Schwester Tot (Death, die als überraschend gut gelauntes und bodenständiges Grufi-Chick daherkommt) und die/den gegen Morpheus intrigierende(n) geschlechtsneurtale(n) Begierde (Desire).

Mit Band 3 hat Gaiman seine bis dahin etwas tastende anfängliche Suche nach dem richtigen Ton und Rhythmus der Sandman-Comics endgültig abgeschlossen. Das soll nicht heißen, dass die Geschichten der ersten beiden Sammelbände misslungen sind, auch wenn dort noch bisweilen einige etwas umständliche Schlenker oder etwas unelegante Huppel im Erzählfluß bemerkbar sind. Immerhin ist die Ambition, die Gaiman bei seiner Saga antrieb, repekteinflößend und die gesteckten Ziele alles andere als Kinderspiele. So zeichnet sich Sandman von Beginn an durch eine äußerst eng gewobene und geschickte Mischung von alten Mythen, klassischer Literatur mit älterer und zeitgenössischer Popkultur aus, die miteinander verflochten eben nichts weniger ergeben, als eine große Geschichte über das Geschichtenerzählen selber, eine Geschichte über die Kraft von Mythen, jene trügerischen Wunschvorstellungen die mal als Orientierung, mal als Irreführung über die großen Zusammenhängen des Daseins berichten, hier vor allem über Erinnerung, Verlust und den Wunsch und die damit verbundenen Schwierigkeiten, wenn man sich verändern, formen will.

Zu den vier Geschichten von »Traumland« im Einzelnen.

»Kalliope«: Hier treten antike Gestalten in der modernen Welt auf, und eine unheimlich-spöttische Erzählung über das moderne Schriftstellerdasein wird geboten. Die Muse Kalliope wird als inspirations-liefernde Sklavin gehalten und von einem altem Schriftsteller in London an einen jungen Horror-Autoren für ein alchemistisches Artefakt eingetauscht. Von zwei der beklemmensten Schrecknissen aller Kreativen wird dabei berichtet: einerseits die Marter, wenn großer Tatendrang mit der Angst vor Ideenlosigkeit einhergeht und andererseits die ruhelosen Qualen eines überbordenden Ideenreichtums.

»Der Traum von 1000 Katzen« ist natürlich ein Fest für alle Katzenfreunde, wenn hier bei einem nächtlichen Treffen auf einem Friedhof eine versammelte Felidenschar einer Katzenerzählerin lauscht, die von ihrer Reise zum König der Träume erzählt (der sich in seiner Gestalt immer gemäß der ihm Begegnenden anpasst und hier als große schwarze Katze mit rotleuchtenden Augen auftritt). Diese Geschichte führt die Fähigkeit kraftvoller Phantastik vor wenn es darum geht, die menschliche Perspektive zu überwinden, und von ein paar Schritten Seitwärts der Wirklichkeit, in diesem Fall aus der Sicht von Katzen, über große Not und sinnstiftende Visionen (oder sind es nur scheinbar Hoffnung machende Truggebilde?) nachzudenken.

»Ein Sommernachtstraum«: Diese Geschichte ist für viele ein heißer Kandidat, wenn es um die Frage geht, welches der 75 Kapitel/Einzelhefte von Sandman die aller aller beste ist. Und tatsächlich erregte dieses herausragende Meisterstück der Sandman-Saga über die comiclesenden Phantastikzirkel hinaus für Aufsehen, als es 1991 den ›World Fantasy Award‹ als beste Kurzgeschichte gewann (woraufhin eine Regellücke des Wettbewerbs gekittet wurde, auf Drängen derer, die sich empörten, dass so eine ›unwürdige‹ Medienform wie eine Comicerzählung diesen altehrwürdigen Preis einheimsen konnte, und seitdem können nur noch Prosawerke diesen Preis gewinnen). — »Ein Sommernachtstraum« ist eines von zwei Sandman-Kapiteln, mit denen Gaiman dem großen William Shakespeare seinen Respekt zollt. Die zweite, »Der Sturm«, wird erst als letztes Kapitel den Sammelband »Das Erwachen« und damit als Epilog das ganze Epos abschließen. Shakespeare ist hier nun in Sussex unterwegs und gibt mit seiner Truppe eine exklusive Premieren-Sondervorstellung für eine illustrere Schar aus dem Feenreich, angeführt von niemand anderem als Titania und Oberon selbst, und der lustig-unheimliche Droll (auch als Puck bekannt) ist auch mit von der Partie und macht sich auf und davon für seine spätere, wichtige Rolle in der großen Sandman-Geschichte.

»Fassade«: Mit dieser Geschichte widmet sich Gaiman einer vergessenen Superheldin der 60er-Jahre, um ihr eine tragisch-melancholische Abschiedsvorstellung zu bereiten. Außergewöhnlich ist, dass Dream selbst gar nicht vorkommt in dieser tragischen Erzählung über Element Girl, die sich ängstlich zurückgezogen hat. »Fassade« ist eine sehr melancholische Geschichte über eine Person, die wegen ihrer Fähigkeit der Gestaltwandlung den Kontakt zur Außenwelt verloren hat, und die sich, da sie unsterblich ist, nach einem erlösenden Ausweg sehnt. Wie immer, wenn Sandman über unser Verhältnis zur Provokation des Sterben-Müssens sinniert, betritt Dreams Schwester Death die Erzählbühne um wie so manches Male einer in der eigenen Tragik gefangenen Figur den Kopf zurechtzurücken.

Besonders erwähnen muss ich die vier Cover des englischen Grafikmagiers und Gaiman-Kumpels Dave McKean. Okey, ich geb zu, ich folge fast allen Arbeiten von McKean mit treu ergebener Fan-Hingerissenheit, aber die vier Arbeiten der »Traumland«-Sammlung zählen für mich zu den allerfeinsten Bildern, die er je zusammengezaubert hat.

Ich kann verstehen, dass man als Neuleser zögert, ob sich die Anschaffung von zehn Sammelbänden lohnt. »Traumland« ist eine vorzügliche Möglichkeit, sich erstmal eine Kostprobe zu gönnen, denn die hier präsentierten Geschichten bereiten auch dann großes Lesevergnügen, wenn man keine Ahnung vom weiten Terrain der großen Sandman-Erzählung hat, und liefert dabei dennoch einen kraftvollen und sehr abwechslungsreichen Einblick zu diesem herausragenden Comicroman.

Und hier zum Schluß noch die deutsche Fassung der Anmerkungen zu Sandman für alle, die sich nicht mühen wollen mit der englischen Fassung, die sich dennoch aufmachen möchten, die tieferen Schichten dieses anspielungs- und zitatenreichen Comics zu ergründen. Viele Leser haben unter Leitung von Greg Morrow und David Goldfarb (und Websiten-betreut durch Ralf Hildebrandt) diese »Annotations« zusammengestellt, die ich bearbeitet, ergänzt und übersetzt habe und hier den deutschsprachigen Lesern als »Hilfreiche Handreichung« zu »Traumland« als PDF zum Download (ca. 211 KB) biete.

LINK-SERVICE: Frank Drehmel schwärmt für »Webcritics« über die Arbeit der Zeichner von »Traumland«:

Sei es Kelly Jones feiner Strich mit seinen tiefen, harten Schatten, Charles Vess’ luftig leichter Duktus oder Colleen Dorans merkwürdig zerrissen wirkende Linienführung, immer ergänzen sich Story und Zeichnungen in nahezu perfekter Weise.

Christian Endres jubelt für »Fantasyguide« ähnlich wie ich, über die besondere Güte dieses Bandes:

»Traumland« ist mit ziemlicher Sicherheit das »unepischste« der Sandman-Tradepaperbacks. Trotzdem — oder gerade deshalb — zeigt dieser dünne Sammelband alle Stärken (und Schwächen) von Gaimans einmaligem Comic-Kosmos um die Ewigen.

Und Christel Scheja bringt für »Literra« den besonderen Charakter der Erzählungen des Bandes auf den Punkt:

In keiner der Geschichten steht die Action im Vordergrund sondern eine intelligent erzählte eher stille Geschichte, deren tiefgründige Hinweise und Zitate erst bei genauerem Lesen und Betrachten deutlich werden. Wieder gelingt es Neil Gaiman und den Künstlern, eine unwirkliche, magische Atmosphäre zu erzeugen, die zu verzaubern weiß. Er spielt mit der düsteren Melancholie, die den Träumen unterliegt, und verzaubert durch seine übersprühende Phantasie, die Gewalt durch viel tiefer unter die Haut gehende Bedrohungen und den Blick in den Spiegel ersetzt.

Hal Duncan »The Book of All Hours 1: Vellum«, oder: Die Mythen-Jukebox voll aufgedreht

Für die Sammelrezi »Wonniglich verirrt im Labyrinth der Phantastik« in »Magira 2009« überarbeitet und erweitert worden.

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Hal DuncanEintrag No. 483 — Nicht vollends von der Hand zu weisen ist der Vorwurf, dass mit dem Schotten Hal Duncan (1971) ein junger Autor auf die Erzählbühne tritt, der sich geradezu versessen nach der ganz irre großen Bedeutung streckt und dabei die Gemütslaken von schamhafteren, zurückhaltenderen Lesern unflätig mit seinen Hirnwichsereien voll sudelt. Wer sich also nicht bekleckern lassen will, möge einen großen Bogen um »Vellum« machen. — Aber den Unentschlossenen und Neugierigen möchte ich folgendes zu bedenken geben (und die nach ästhetischen Exzessen Suchenden können’s als Empfehlung nehmen): stilistisches und ästhetisches Hirnwichsen ist eine sooo schändliche Sache nicht. Immerhin: wie soll und kann Literatur die Herausforderungen durch den Weltensturm an Verunsicherung, dem Scharaden- und Ränkespiel mit interessenstützender Großraumphantastik der Echtwelt begegnen, wenn nicht zum Beispiel mit einer schon ins Unanständige gesteigerten Fabulations- und Mythenmixmanie?

Worum geht’s? Tja, puh, äh, diese Frage überfordert mich ein wenig, denn eine Handlung im üblichen Sinne (eine Geschichte wird von A nach Z erzählt) aus dem heftigen Mythen-Shake und dem fortwährenden Randomwechsel der Zeiten- und Welten-Jukebox herauszulesen, ist nicht so einfach, oh nein. Auf jeden Fall aber kann ich sagen, dass mich der Stil und die in »Vellum« zusammengeschmissenen Themen überwiegend bezaubern. Vom Gebaren her kommt Hal Duncans Roman für mich daher, als ob ein zum rotzig-romantischen Goth-Punk mutiertes »Finnegans Wake«[01] sich ‘ne Acid-Pappe geschmissen hat, um anschließend mörderheftig im Darkroom mit Grant Morrisons Comichelden aus »The Invisibles«[02] zu knutschten, wovon es sich dann erholt, indem es abwechselnd beim Wasserpfeifenblubbern chillt bzw. zu lebhafter Musik abzappelt. — Mit typographischen Besonderheiten, mal links, mal mittig, mal rechts stehende Zwischenüberschriften, werden verschiedene Wirklichkeits-Verfassungen gekennzeichnet, ebenso wie mit dem Wechsel zwischen zwei verschiedenen Serif-Schriftgestaltungen des Fließtextes. In der zweiten Hälfte von »Vellum« kommt es anhand in einer beeindruckenden SF/Cyberpunk-Szenerie auch zu informationstechnologischen Spielereien, die mit kurzen sans serif-Einschüben darstellen, wie sich ein Schwarm mit künstlicher Intelligenz gesegneter Nanopartikel, so genannte Bitmites, durch die verschiedenen Schizoschichten einer Anarchoterroristenpsyche zu hacken versucht.

Los geht alles mit einer brennenden Welt-Karte. Vereinfachend gesagt prallen Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftswelten aufeinander im großen Kampf ums Dasein. Das zentrale Phantastikelement sind die ›Unkin‹, sprich: engel-/dämonenhafte Wesen die es druffhaben, mit dem ›Cant‹[03] die Wirklichkeit zu formen. Außerdem werden höllische Tattoo- und Blutmagie sowie himmlische Chakra-Wummen und KI-Nano-Schwärme eingesetzt. Auf der einen Seite steht die Herrschaft der Erzengel, das Imperium, die Faschos, die kapitalistischen Unterdrücker; auf der anderen Seite die rebellischen Dämonen, die Anarchisten und Freiheitskämpfer, die Arbeiterbewegung. Das Ganze wird recht ungestüm durch Zeiten und Welten springend erzählt, von Babylons Inanna-, und Griechenlands Prometheusmythos, über verschiedenste historische Konflikte (Erster Weltkrieg, Spanischer Bürgerkrieg, Irlandaufstand, Irakkrieg, Terrorismus in der nahen Zukunft) bis hin zu Andersweltgebieten, durch welche die Flüchtlinge eines die Wirklichkeit verschlingenden Sturms zigeunern. Verstrickt in diesen Himmel-, Fegefeuer- und Höllestrudel finden sich drei Studikumpels und ein Mädel und ihr überirdischer Sohn wieder, deren Wege sich quer durch die Dimensionen im so genannten ›Vellum‹ kreuzen. Das Vellum ist die Welt als Buch, GOttes ultimative Gebrauchsanleitung für die Realität, das alle wahren Namen enthält, mit denen sich der besagte ›Cant‹ zwecks Wirklichkeits-Kontrolle bewerkstelligen lässt. Dieses ›Ewige Stundenbuch‹ löst sich aufgrund der unerhörten Eingriffe und Trinkereien der Konfliktparteien auf, beziehungsweise verwandelt sich drastisch, dort wo die entsprechend bratzigen Engel und Dämonen durchlatschen und aufeinandertreffen. Nur hat noch keine der Figuren einen wirklichen Plan davon, was eigentlich los ist; sie irren durch die Vellum-Welt(en), umflirrt von Traumfetzenwirbeln, Erinnerungen und Visionen, unterwegs auf Expeditionen um die älteste Kultur der Menschheit zu finden, in Irrenhäusern darbend, in Schlachtfeldgräben kauernd, in Pubs mümmelnd und in Hotelzimmern grübelnd.

Zwei Dinge dünken mir bei »Vellum«, im Guten, bemerkenswert. Erstens der gewollt rand- und bandlose Umgang mit Genregrenzen, wenn mythische und utopische Register wechseln, wenn sich klar verortbare Genre-Stimmungen, wie beispielsweise Kriegs- und Spionageabenteuer, mit vom magischen Realismus bekannter doppelbödigen Stimmungspoesie verquickt. Da lässt sich nicht auseinanderklamüsern wie die mythische Archaik aufhört, in modernen Horror übergeht und die fetzige Cyperpunk-SF beginnt, denn gemäß der alles ihren Weltenbrandstrudel ziehenden Logik gemäß ist hier alles stets im Übergang und ein Vor- oder Nachecho seines gewandelten Selbst. Sprachlich versteht sich Duncan zuallermeist vorzüglich darauf, Punk-Jargon mit sakralem Mythenton zu kreuzen, zwischen legendengesättgtem Fantasygeraune und Science Fiction-typischen Gadgetsprech zu wechseln, auf abgefahrene Traumbildcharaden Schilderungen von realistischen Echtweltszenen folgen zu lassen. Zweitens, und das geht mit eben ausgeführten Stil- und Genremix prächtig Hand in Hand, beziehungsweise ist eine Folge davon, meistert Hal Duncan erzählend ein Desorientungshütchenspiel mit den fundamentalen Wirklichkeitskathegorien Ort, Zeit und Identität. »Nix ist fix« scheint das Buch mir als Leser einflüstern zu wollen, und nachdem ich mich damit abgefunden habe, dass Mich-treiben-lassen ohne Orientierung von diesem Durcheinander von mir gefordert wird, traten um so deutlicher die starken Gefühle der Figuren und die spezifischen Orts- und Zeitstimmungen (ob historisch oder andersweltlich) als eigentlich bestimmende Motive hervor. Da kommt dann unter anderem zur Sprache: Der Schmerz derer, die Verfolgung, Ausgrenzung und Folterung erleiden (oder zufügen), oder deren geistiger Halt durch den Verlust des/der Geliebten zerrissen wurde; der rebellische Trotz derer, die dem Schöpfer- und Ordnungszwang der selbstgerechten Positivisten ein trotziges Nein entgegenstellen; die schamgepeinigte Einsamkeit der Verräter und Feiglinge; das Erschrecken von Liebenden über die Mächtigkeit ihrer eigenen Leidenschaft.

Ich will nicht verhehlen, dass »Vellum« mir streckenweise auch gehörig auf die Nerven ging, vor allen mit seinen lyrisch-idyllischen Passagen, wenn wenig los ist, aber sich viel angeschmachtet oder weltschmerzlich gelitten wird, oder auch, wenn liturgisch-rituelle Partituren zu schematisch absolviert wird. Aber das ist nun mal der Preis, den man entrichten muss beim Lesen eines Buch, dass sich intensiv und mit zum Teil aktionsreicher Wonne auf alle möglichen Extreme einlässt, Orientierungs-Sicherheiten gewollt meidet, Grenzen zwischen Welten, Zeiten, zwischen Ich und Du, Innen und Außen mit Schmackes missachtet. Immerhin dauernd die Nervpassagen nie lange, da das Buch in hunderte kurze Tracks unterteilt ist. Anders gestimmte Leser werden vielleicht gerade die rrrromantischen Schmachtpassagen der in verschiedensten Weibchen/Männchen-, Männchen/Männchen-Kombinationen der Liebenden zu schätzen wissen, oder begeistert die formelhaften Schritte der Ereignis-Abfolge von altbekannten Mythen genießen (vor allem wenn man diese Mythen eben noch nicht durch das Selberlesen der klassischen Quellen kennt). — Leider habe ich den zweiten Band »Ink« nicht mehr rechtzeitig mit der gebotenen Sorgfalt zu Ende lesen können, um hier zu berichten, wohin die Reise mit Hal Duncans wildgewordener Mythen-Jukebox führt, und ob sich diese Reise letztendlich lohnt oder nicht. Nachdem ich aber bei »Vellum« die größere Mühe aufbringen musste, weil ich den Roman beim ersten Mal auf Englisch las, werde ich mich bei »Ink« (Deutsch »Signum«) zurücklehnen und gleich die höchster Bewunderung würdige Übertragung von Hannes Riffel genießen.

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ANMERKUNG:

[01] »Finnegans Wake« (1939) ist das letzte Werk des Erzexzentrikers James Joyce. Darin wird der Traum eines Kneipenbesitzers erzählt, und das ganze dicke Buch ist in einer viele Sprachen zusammenmischenden Brabbelsprache verfasst, die Figuren wechseln ihre Identität und Gestalt und entsprechend vieldeutig interpretierbar ist das Ganze. Eigentlich ist dieses Buch nicht ernsthaft lesbar, es sei denn, man trinkt vorher und dabei ordentlich und lässt sich das ganze von einer entsprechend angeschickerten Person vorlesen, die des mit irischem Dialekt gefärbten Englisch mächtig ist. — Der lockere Vergleich scheint mir zulässig, weil auch Duncan in »Vellum« mit der mehrsinnigen Vielstimmigkeit von Sprache hantiert. So lauten die Titel der beiden Großabschnitte des Buches »The Lost Deus of Sumer« (Die verlorenen Götter/Tage des Sommers/der Sumerer) und »Evenfall Leaves« (Fall der Herbstblätter / Abschied vom Ort Evenfall), und der Übersetzer Hannes Riffel hatte sich in seiner exzellenten Übertragung zu entscheiden und destillierte diese sprachliche Schlieren zu »Sommertage« und »Herbstdämmerung«. ••• Zurück
[01] »The Invisibles« (erschienen 1994 bis 2000) ist ein 59 Kapitel starkes Comic, das von Grant Morrisson geschrieben (bei uns wohl bekanntesten durch seinen Batman-Band mit Dave McKean: »Arkham Asylum«) und verschiedenen Künstlern gezeichnet wurde. Darin wird der Kampf einer Guerilla-Zelle des Invisible College gegen finstere Schreckensmächte geschildert. Die Invisibles gehen dabei mit Zeitreisen, verschiedensten Magietraditionen bis hin zu Meditation und Tantra, sowie Wummen, Bomben und Kampfsportkünsten gegen die überdimensionalen Archons vor, welche bereits weite Teile der Menschheit ohne deren Kenntnisnahme versklaven konnten. Verschwörungs-Popkultur, psycho-spekulative SF und moderne Szene-Esoterik finden sich hier zu einem verspielten und äktschenreichen Abenteuer zusammen. — Erscheint seit 2008 endlich auch auf Deutsch Panini DC/Vertigo. Bisher sind von den fünf geplanten Monstereditions-Bänden erschienen: Band 1 »Revolution gefällig«; Band 2 »Ordnung und Entropie«. ••• Zurück
[03] Ein Wort, das im Englischen irgendwo im durch die Begriffe ›Fachsprache‹, ›Gaunersprache‹ und ›Frömmelei‹ umzirkelten Bedeutungsfeld herumschwirrt; zudem klingt deutlich das Lateinische ›Cantus‹, für ›Gesang‹, ›Melodie‹, an. ••• Zurück

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Hal Duncan: »The Book of All Hours 1 – Vellum«; 238 Abschnitte in 17 Kapiteln zu zwei Teilen auf 499 Seiten; Taschenbuch bei Pan Macmillan, 2005; ISBN: 0-330-44433-6
Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 1 – Vellum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 594 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Shayol / Golkonda, 2007; ISBN: 978-3-926126-72-6
Taschenbuch bei Heyne, 2008: ISBN: 978-3-453-52254-1
Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 2 – Signum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 648 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Golkonda, 2010; ISBN: 978-3-942396-00-4

Pratchett, Steward, Cohen: »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, oder: Expeditionen in die Wirklichkeit der geschichtenerzählenden Affen

Eintrag No. 478

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2007 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Hier exklusiv um einige weiterführende Links erweitert.
••• Hier gehts zum Trailer der Sammelrezi mit Introdubilo und Warentrenn-Überleitungen.}

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Ich weiß, ich weiß! Terry Pratchett ist einer der großen lebenden kapitalen Platzhirsche der Phantastik, vor allem der humoristsichen Fantasy, und da mittlerweile sogar öffentlich-rechtliche Sender[01] und überregionale Feuilletons und Buchmagazine bei Erscheinen eines neuen Pratchetts wohlwollend über den Scheibenweltschöpfer berichten, warum also hier in einem Fantasyjahrbuch ›unter Kennern‹ noch viele Worte über ihn und seine Bücher verlieren?[02]

Pratchetts Scheibenwelt hat sich seit 1983 zur einer der erfolgreichsten und prägendsten Fantasy-Institutionen entwickelt.[03] Als attraktivste Eigenheit der Entwicklung von Pratchetts Schreiben empfinde ich, wie er sich im Laufe der Jahre vom parodistischen Satiriker, der vornehmlich (allzu) liebgewonnene Eigenheiten der Genre-Fantasy genüsslich aufs Korn nimmt, zu einem humoristischen Moralisten entwickelte. Über den Kurs der (derzeit etwa) 40-ebbes Scheibenweltbücher zeichnet sich Pratchetts Auseinandersetzung mit geschichtlichen, gesellschaftlichen und philosophischen Problemen und Spannung immer deutlicher ab. Als markante Stationen dieses Erstarkens von Pratchetts engagierten Zeitgenossenschaftskommentaren verweise ich auf das Geschlechterrollengerangel zwischen Magiern und Hexen (»Equal Rites«, 1987), die Gräuel des fundamentalistischen Monotheismus (»Small Gods«, 1992), den Missbrauch von sowohl fremdenfeindlicher als auch Multikulti-Denke durch Diplomatie und Politik in Kriegszeiten (»Jjngo«, 1997). Eine thematisch-stimmungshafte »Verdüsterung« der Scheibenwelt hat sich endgültig ab »Night Watch« (2002) etabliert, immerhin werden hier Revolutionsunruhen, Bürgerkriegsmassaker und Serienmörderpathologien ausgebreitet. Anders ausgedrückt, schafft es Pratchett scheinbar so nebenbei, sich für seine Fantasywelt Epochen wie die Industrielle Revolution oder die moderne Konsum- und Mediengesellschaft als Material nutzbar zu machen. Entsprechend abwechslungsreich finden sich in den Scheibenweltbüchern die verschiedensten modernen Milieus ein, wird spielerisch-erzählend vorgeführt, wie die Identitäten von Minderheiten Eigenleben entwickeln, individuelle Weltbilder von der sozialen Einbettung geprägt werden, und wie schwer die Bemühungen (ja leider oft gewalttätig die Konflikte) um eine vermittelnde, umfassende Sicht auf die Wirklichkeit sind.

Pratchett gehört zudem einer (wie ich finde begrüßenswürdigen) Avantgarde der Fantasy an, da er sich nicht scheut wissenschaftliches Bildungsgut und die moderne Informationsgesellschaft deutlich erkennbar in seinen Fantasyweltenbau einfließen zu lassen, und das eben nicht nur, um nette kleine Kalauer auf die Tücken der Technik zu platzieren, oder gar um der Wissenschaft vorzuwerfen, dass sie sich vom Menschen hat missbrauchen lassen, und damit den schrecklichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts (die beiden Weltkriege, Rassenhygiene und atheistische Gulags) förderlich gedient zu haben.[04] Das prominenteste Requisit[05] dieser erfreulichen Offenheit der Scheibenweltbücher für die tatsächlich stattfindende Moderne ist Hex, ein in »Soul Music« (1994) debütierendes Konglomerat aus Glasröhren, Ameisen und Magie, das als einfache mit Lochkarten betriebene Rechenmaschine anhob, und sich zu einer immer mächtigeren Denkmaschine und schließlich Großrechenanlage gemausert hat.[06]

Zur Reihe der »GELEHRTEN DER SCHEIBENWELT« selbst: Der erzählende Prattchet-Anteil[07] ist deutlich geringer als die Sachtextportionen von Jack Cohen[08] und Ian Steward (1945). Wer also zuvörderst neue Scheibenweltromane erwartet, wird vielleicht enttäuscht. Die Schreibenwelthandlung dient hauptsächlich als lockerers Korsett und kurzweilige Intermezzi des großen Sachbuchbogens. Steward und Cohen glänzen zwar oft durch ihren Schalk, aber verglichen mit dem Humorvirtuosen Pratchett erscheint ihre Kalauerei ab und zu ein wenig zu harmlos oder zu willkürlich. Wer wilde Bücher mit herumschlenkernden Habitus, z.B. solcher Sachbuchphantasten wie Robert Anton Wilson, Douglas R. Hofstadter oder Rudy Rucker mag, wird mit der stellenweise blumig-albernen Ideenjoungliererei von Steward und Cohen seinen Spaß haben. Was das Hin und Her zwischen Scheibenwelt-Novelle und Sachtext-Argumentation betrifft: Ich selber habe (beim ersten Mal) nicht gewagt, mich dem schwindelerregenden Wechsel auszusetzen, und habe die beiden Stränge jeweils für sich am Stück genossen.

Terry Prattchet, Ian Steward, Jack Cohen: »Die Gelehrten der Scheibenwelt«In der Erzählung des ersten Bandes der Reihe, »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, beginnt alles mit Ponder Stibbons (Hex-Experte der Unsichtbaren Universität) Projekt der Spaltung des Thaums (= elementare magische ›X-Teilchen‹), gedacht als billige und effektive Energiequelle und Möglichkeit die Grenzen des Wissens zu erweitern. Da der Energieausstoß so gigantisch ist, dass er das Scheibenweltuniversum zu vernichten droht, leitet man die Energie in eine Glaskugel um, in der es keine Materie, keine Realität und, am wichtigsten, keine Magie gibt. Durch das neugierige Rummgefummel der Zauberer entsteht sozusagen als Unfall unser Universum. Die Zauberer haben ihren ›Videospielspaß‹ damit Materieklumpen aufeinanderzudonnern (= Sonnen zu schaffen), mittels des Schnellvorlaufs die aberwitzig langfristige Entwicklung des Universums auf etwa einen Monat zu verkürzen, und der allerweil hochstressierte weil überängstliche Zauberer Rincewind wird in einer Art ›Virtual Reality‹-Tauchanzug in unser Universum geschickt, um sich vor Ort genauer umzugucken. Die Zauberer verfolgen erstaunt das hartnäckig als Unwahrscheinlichkeit erscheinende Aufkommen von intelligenten Lebensformen. Andererseits drohen kosmische (es reichen auch globale) Katastrophen höhere wie niedere Arten mit Massenexitus. Das Buch klingt damit aus, dass die Scheibenweltgelehrten beobachten wie eine höhere Lebensform die Erde mittels eines Weltraumaufzuges verlässt, rechtzeitig bevor die nächste fiese Eiszeit zuschlägt.

Terry Prattchet, Ian Steward, Jack Cohen: »Die Philosophen der Scheibenwelt«In »Die Philosophen der Rundwelt« gibt es dann mit den parasitären Elfen und ihrer Königin richtige Bösewichter, die sich aus der Scheibenwelt in die Rundwelt eingeschlichen haben, um mit ihrer verführerischen und täuschenden Magie die Menschen in abergläubischer Ehrfurchtsdummheit dümpeln zu lassen und damit zu versklaven. Da die menschliche Gabe der Vorstellungskraft das empfindliche Einfallstor für die Elfenmagie ist, sorgen die Zauberer der Scheibenwelt bei ihrem ersten Rettungsversuch in der Steinzeit dafür, dass die Frühmenschen ihren Hang zum Aberglauben nicht entwickeln[09]. Dadurch aber bleiben die Menschen so beschränkt, dass sie sich nie über das kulturelle Niveau der Steinzeit hinaus entwickeln. Beim zweiten Rettungsversuch, diesmal zur Zeit der englischen Renaissance, trachten die Zauberer deshalb danach, mit der richtigen Art von Geschichten die Kreativität der Menschen über das anfängliche Maß hinaus zu steigern, um die Menschheit gegen die unheilbringenden Elfenverführungen zu immunisieren (wobei Shakespeare und sein Theater ›The Globe‹ eine entscheidende Rolle spielen).

Terry Prattchet, Ian Steward, Jack Cohen: »Darwin und die Götter der Scheibenwelt«Der dritte Band »Darwin und die Götter der Scheibenwelt« nimmt sich dann insbesondere die Evolutionstheorie vor, sowie die Kontroversen über sie, was nichts anderes ergibt, als ein gründlichen Exkurs über die Rivalität zwischen Wissenschaft und Religion. Die Gegner der Menschheit sind diesmal die Revisoren der Realität, ein Rudel ›himmlischer Bürokraten‹, die alle höheren Lebensformen hassen, weil die mit ihrer quirligen Umtriebigkeit nicht zum Ideal der Revisoren von einem wie ein perfektes Uhrwerk ablaufendes Universum passen. Durch die Eingriffe der Revisoren verfasst Charles Darwin statt seiner »Entstehung der Arten« eine »Theologie der Arten«, in der er darlegt, dass die Evolution von der ordnenden Hand eines Schöpfer geleitet wird. Leider führt das Werk zu einer stagnierenden Denkblockade der Menschheit, der Weltraumaufzug droht wieder nicht rechtzeitig zur gnadenlosen Eiszeit fertigzuwerden. Es kommt zu einem aberwitzigen Krieg der Zauberer gegen die Revisoren, in der beide Seiten wieder und wieder in den historischen Zeitenlauf eingreifen. Schließlich verschlägt es Darwin auf die Scheibenwelt, wo er seine Unschlüssigkeiten zur ihn selbst arg beunruhigenden Evolutionstheorie[10] im Gespräch mit dem Scheibenweltgott der Evolution überwindet.

Die Sachtextabschnitte erzählen vom Werdegang der wissenschaftlichen Durchdringung der Welt. Es gibt spannende Anekdoten über Forscher und Philosophen und ihre Heureka- und Homer Simpson-Momente. Berühmt-berüchtigte und nicht so bekannte Gedankenexperimente und Spezialmetaphern sprühen hier Funken und es wird (ziemlich aktuell) über den Stand von kontrovers verhandelten Fragen referiert. Löblich vor allem, dass Wissenschaft hier nicht als Hort absoluter Wahrheiten dargestellt wird. Immerhin, desto eingehender man sich mit irgendeinem wissenschaftlichen Thema beschäftigt, um so deutlicher wird, dass wir Menschen eben nicht genau wissen wie und warum etwas so oder so funktioniert oder beschaffen ist. In einem Podcast der BBC anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Albert Einsteins Publikations-Wunderjahr 1905, sprechen die drei Scheibenweltgelehrten munter über die Ambivalenz der Begriffe Technik und Magie[11], und dass die Phantasie ein eminent wichtiges Talent für jegliche Wissenschaft ist. Tatsächlich muss ja jeder Person, die nicht nicht hinreichend in die Mysterien der Technik eingeweiht ist, ein Mikrowellenherd, Lichtschaltermagie, Fernsehen und Telefon wie Zauberartefakte erscheinen. Banal umschrieben wurde Magie dann angewandt, wenn am Ende eines Prozesses augenscheinlich mehr Ergebnis / Produkt / Auswirkung geerntet wird, als man anfänglich Aufwand / Arbeit / Tat investiert hat. – Die Evolutionstheorie kann hierzu als Beispiel für konkurrierende Erklärungs-Phantasmen dienen. In ihren Rückzugsgefechten um die Deutungshoheit zur Beschaffenheit der Welt, berufen sich die fundamentalistischen Religiösen auf einen Schöpfergott (oder in kosmetischer Verschleierung: auf Intelligent Design), um hochkomplexe Hervorbringungen der Natur, wie das Auge oder den Menschen selbst mit seinem wundersamen Bewusstseinsvermögen, zu erklären. Solche Leute hängen ihre Argumentation an dem Himmelshaken ›Schöpfergott‹ auf, und Gott wird schlicht als wahr vorausgesetzt, basta.[12] Wissenschaftliche Denke aber ist zu der Erkenntnis gelangt, dass genügend Zeit und Variation in kleinteiliger, aufeinander aufbauender Krahnarbeit eben vollkommen ausreichen, um die wundersamen Höhen an Gestaltungsarbeit zu erreichen, als die wir Menschen uns selbst gerne wähnen. Und bezügliche menschlicher Selbsterhöhung hat mich der feinsinnigen Spott des Trios beeindruckt, wenn sie derartige allzumenschliche Schwächen bloßstellen und z.B. lausbübisch statt der selbstglorifizierenden Bezeichnung ›Homo sapiens‹ (Weiser Mensch) den – zumindest auch für mein Empfinden – zutreffenderen Begriff ›Pan narrans‹ (geschichtenerzählender Schimpanse) vorschlagen.

Abschließend ein paar Worte zur neuen deutschen Auflage der Reihe bei Piper-Taschenbuch. Gut übersetzt von Andreas Brandenhorst (Pratchett) und Erik Simon (Cohen & Steward); erfreulich, dass die Paul Kidby-Illustrationen für die Umschlagszier übernommen, und die Reihe schön einheitlich gestaltet wurde. Ein Ärgernis aber ist das Papier, bzw. die Untugend, durch schweres und dickes Papier das Volumen von Büchern künstlich aufzublähen.[13] Die englischen Taschenbücher kann man in der Gesäßtasche einer Jeans mitnehmen, für die deutschen Ausgaben braucht’s schon mindestens Military- oder Baggy-Klamotte mit großen Beintaschen. Zudem finde ich es betrüblich, dass die ausführlichen Stichwort-, Namens- und Werksregister der Originalausgaben nicht übernommen wurden. Nur schwachen Trost spendet da der bibliographische Anhang mit weiterführende Lektüre des dritten Bandes. So lästig diese Makel auch sind, mindern sie nicht die einzigartige Bereicherung, die diese Reihe Wissbegierigen zu bescheren vermag.

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»Die Gelehrten der Scheibenwelt« (»The Science of Discworld 1«) engl 1999, erweitert 2002; 528 Seiten; Piper Taschenbuch 2006; ISBN: 3-492-28616-X
»Die Philosophen der Rundwelt« (»The Science of Discworld 2 – The Globe«) engl. 2002; 478 Seiten; Piper Taschebuch 2006; ISBN: 3-492-28624-6
»Darwin und die Götter der Scheibenwelt« (»The Science of Discworld 3 – Darwins Watch«) engl. 2005; 430 Seiten; Piper Taschenbuch 2006; ISBN: 3-492-26622-3
Alle drei Bücher übersetzt von Andeas Brandenhorst (Pratchett), Erik Simon (Steward & Cohen) und mit Titelbildern von Paul Kidby.

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ANMERKUNGEN:

[01] Beispielsweise das ZDF in der »Aspekte«-Sendung vom 08. September 2006 zum Erscheinen von »Thud!«:

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[02] Zu Pratchett siehe auch »MAGIRA 2003«: »Welt und Spiegel aller Welten« von Lydia Eslinger, S. 267; Carsten Kuhr über »Der Zeitdieb«, S. 327. –/– »MAGIRA 2004«: Erik Schreiber über »Rettet die Rundwelt«, S. 252. –/– »MAGIRA 2004«: Michael Scheuch über die Hörbücher von »Gevatter Tod« und »Wachen! Wachen!«, S. 301. –/– »MAGIRA 2006«: Michael Scheuch über die Hörbücher von »Ein Hut voller Sterne« und »Pyramiden«, S. 405, 408. ••• Zurück
[03] Der moderne Volksmund der Engländer mutmaßt z.B., daß die Eisen-, S- und U-Bahnen auf der Insel dem ungeschriebenen Gesetzt folgen, daß kein Zug losfahren darf, ehe nicht mindestens ein den neuesten Pratchett lesender Fahrgast anwesend ist. ••• Zurück
[04] Menschen haben Menschen gedient, und sich bei Planung und Durchführung der Technik bedient. ••• Zurück
[05] Vielleicht doch genauer: der ›prominenteste Charakter‹? ••• Zurück
[06] Die Portrait-Skizze von Paul Kidby in dem prächtigen Bildband »Die Kunst der Scheibenwelt« (Heyne, 2006) läßt als Bestandteile von Hex u.a. erkennen: einen skeletierten Widderschädel; eine Tastertur mit Hebeln und kleinen Lochkartensteckschlitzen, nebst einem A4-Schreibfederplotter; einen Teddybären; ein nacktes, verknicktes Regenschirmgestell an dem Fische hängen; ein etwas schlapper Wasserball; ein Glockenwindspiel; eine wabbelige Dali-Kuckucksuhr; ein Aquarium; ein Miniatursteinkreis; ein traditionell-geflochtener Bienenkorb; eine Sanduhr an einer kräftigen Federwage; eine Mondphasenuhr, viele viele Zähnräder verschiedenster Größe und das allem zugrundeliegende ameisendurchwuselte (›Anthill inside‹) Gewirr aus Glasröhren, Retorten und Kolbenflaschen. ••• Zurück
[07] Etwa 30% in Band 1 & 2 und 25% in Band 3. ••• Zurück
[08] Ich muß einfach auf Jack Cohens »X-FILES« und »MILLENIUM«-Connection hinweisen. Neben vielen anderen Tätigkeiten arbeitet Cohen als Berater für die Filmindustrie, z.B. wenn möglichst realistische Aliens entwickelt werden sollen. Cohen hat die TV-Leute wohl gehörg beeindruckt, denn der durchgeknallteste Drehbuchautor der für die beiden Serien schrieb, Darin Morgan, hat mit der Figur des SF/Sachbuchautoren Jose Chung eine zum Kringeln lustige Homage auf Cohen geliefert, zu genießen in »Andere Wahrheiten« (»X-FILES«, Staffel 3, olge 20) und »Die Phantasien des José Chung« (»MILLENIUM«, Staffel 2, Folge 9). ••• Zurück
[09] Die schönste mir bekannte Klage über Aberglauben findet sich in Caesars erstem Tagebuchbrief an Lucius Mamilius Turrinus aus Thornton Wilders »Die Iden des März« (1948):
Dem Paket dieser Woche schließe ich ein halbes Dutzend jener unzähligen Berichte bei, die ich als Pontifex Maximus von den Auguren, Wahrsagern, Himmerlsbeobachtern und Hühnerwerfern erhalte. Was ist zu tun? Ich habe diese Last von Unsinn und Aberglauben geerbt. Ich regiere unzählige Menschen, muß aber anerkennen, daß ich von Vögeln und Donnerschlägen regiert werde. Das hemmt und hindert häufig die Staatsführung. {…} Vor allem wird durch diese Observanzen der wahre Lebensgeist im Gemüt des Menschen angegriffen und untergraben. Sie gewähren unsern guten Römern vom Kehrichtfeger bis zum Konsul ein unbestimmtes Gefühl der Zuversicht, wo es keine Zuversicht gibt, und flößen ihnen gleichzeitig eine Ängstlichkeit ein, die weder zum Handeln anspornt, noch den Geist erfinderisch macht, sondern nur lähmt. Mit den anderen Feinden der Ordnung läßt sich fertigwerden.

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[10] Apropos: Eine alternativ-historische Fantasy-Auseinandersetzung mit der vielleicht großartigen Idee aller Zeiten, der Evolutionstheorie, legte der von mir letztes Jahr für »Aether« (»The Light Ages«) gelobte Ian R. McLeod 2005 mit »House of Storms« vor. ••• Zurück
[11] Zum Übersicht der Podcast-Reihe »Relatively Einstein« der BBC. ••• Zurück
[12] Etwas origineller ist das Manöver der transzendenten Metaverkettung von Himmelhaken. Wenn der buchstäblich im Nichts hängende Himmelshaken an einem übergeordneten Himmelhaken befestigt ist, und dieser wieder an einem noch höheren Himmelshaken … ad infinitum. ••• Zurück
[13] Auch der Heyne-Verlag ließe sich da wegen seiner Aufbereitung der »WÄCHTER«-Tetralogie von Lukianenko rügen. Legt die gewichtige Mehrheit der (womöglich überwiegend jugendlichen, leichtblendbaren?) Leser tatsächlich Wert auf solche ›Ich tu so, als ob ich dicker (= wichtiger? seriöser?) wär‹-Ausgaben? Ist das so ein haptischer Fetischismus? Bestehen richtige Genre-Leser womöglich auf derartig aufgeblähte Mimikri-Ziegel? ••• Zurück

Wieder mal: Fantasy und Phantastik und was die wert sein sollen

Eintrag No. 476 — Ein Artikel erregte meinen Unmut, bzw. regt mich an, ein wenig ›Notizenmaterial zum Kapieren‹ oder auch des Widerspruchs unters Volk zu streuen.

In dem umständlich benamsten Artikel »Warum ein Jugendbuch literarisch noch viel bedeutsamer ist als das Lob der Kritiker erkennen lässt und der Buchbranche als Wegweiser dienen könnte« von Buchmarkt-Chefkolumnist Gerhard Beckmann, werden zwei Anliegen miteinander ungeschickt vermischt und dabei entsprechend wischi-waschi m.E. Blödsinn verbreitet. — Zum einen steht er dort als begeisterter Empfehler Wieland Freunds und dessen Phantastik-Roman für junge Erwachsene »Jonas Nichts« bei. Ich hab das Werk noch nicht angeschmeckt, aber wenn ich Beckmanns Ton den er anschlägt lausche, scheint das Buch bisher nicht so dolle angekommen zu sein. So legt sich Beckmann ins Zeug »Jonas Nichts« anzupreisen und zu loben, und tut (das allein ist ja noch nicht rügenswert) in dem er dieses Buch abgrenzt gegen vermeindlich Schlechtes und Zeihenswertes. Und so nennt er zum anderen das Übel pauschal ›Fantasy‹ und haut munter drauf ein, wenn er schreibt…

Denn die Fantasy-Literatur spielt in fiktiven übernatürlichen, magischen Reichen, die als (in sich) real geschildert werden. Kulturell, politisch wie sozial spiegeln sie — natürlich stark idealisiert — gewöhnlich eine weit zurückliegende Epoche, rückständige Gesellschaftsordnung und archaisch religiöse Verhältnisse. So etwas fällt unter den allgemeinen Begriff Fantastik. Seit Fantasy gegen Ende des vorigen Jahrhunderts aber zu Massenbuchware wurde, seit sie zu einem eigenen populären Genre geworden ist, werden ihre Titel – häufig serienweise – zunehmend noch aus immer gleichen Versatzstücken zusammengeschustert.
Erwachsene Leser, die für ihre Sehnsüchte in der modernen Realität keine Befriedigung finden und sich in solche Lektüre flüchten, riskieren, dass die schon entwickelten Keime und Energien schöpferischer Phantasie sich zurückbilden. Für Kinder aber besteht die viel größere Gefahr, dass diese kreativen Energien und Fühler sich gar nicht erst entwickeln und damit auch ihre Fähigkeit zu spielen verkümmert. So paradox es klingt: Die Fantastik der Fantasy-Literatur nimmt ihnen die Phantasie.

Das ist in mehrfacher Hinsicht so falsch, dass ich es als Gag so stehen lasse.

Mich ärgert was anderes: Phantastik wird bei sehr vielen unterschiedlichen Namen gerufen: ›Horror‹ oder ›Science Fiction‹ zum Beispiel, und schon immer wichen jene, denen diese Ettiketten (oder andere) zu lasterhaft dünkten, darauf aus, dass sie feinere Bezeichnungen heranzogen, wie z.B. eben ›Phantastik‹ oder ›Magischer Realismus‹ (mensch kann dieses Nobilitierungsspiel auch am Pärchen ›Comics‹ = Bäh und ›Graphic Novels‹ = Edel-edel beobachten). Und richtig wirr wird es, wenn ein holistischer Larifari wie ich zu Bedenken gibt, dass ›Phanastik‹ auch oftmals zum Schimpfwort verkommt, wenn man damit z.B. Parteiprogrammtiken (siehe ›christliche Wurzeln Europas‹ a la Söder und Co.) oder die reichlichen Erzeugnisse ideologischer und theologischer Dichtung als Blumen im Beet der Phantastik bezeichnet. Da schwingt dann deutlich der Vorwurf ›Hirngespinst‹ mit ›Täuschung‹ mit.

Im Anglo-Amerikanischen hat sich erst in der vergleichsweise jüngeren Vergangenheit in einem Prozess von ca. Mitte der Fünfziger bis Anfang der Achtziger des 20. Jhds. der Begriff ›Fantasy‹ für eine gewisse Fiktions-Spielart eingeschliffen; ein Begriff, der gerade durch seine oft undifferenzierte und den Vermarkungsschubladen der Verlagsprogrammatik naiv folgenden Nutzung m.E. mehr Verwirrung als Orientierung stiftet. In den letzten Jahren kommt es auch im Anglo-Amerikanischen wieder zu Wortmeldungen, die an die nicht so enge (Genre-)Bedeutung des Begriffs ›Fantasy‹ erinnern, an eine Zeit bevor vor allem die mächtigen Werke Tolkiens das Terrain erschütterten und eine Schar Nachfolge-Pfadfinder ermunterten, Derivative von unterschiedlichster Güte zu produzieren. (Auch der Aufstieg von Rollenspielen darf hier nicht unterschätzt werden. Rollenspiele kommen mit ihren Regelapperaten nicht umhin, die ›Sekundärwelten‹ die sie als Spielraum aufziehen, zu sortieren, schematisch zu unterteilen.) China Miéville, M. John Harrison oder Neil Gaiman geben Beispiele für derartige kritisch-genre(selbst)bewußte Reflektionen zum Begriff ›Fantasy‹.

Als ›Gegengift‹ zu Beckmanns Pauschal-Klatsche möchte ich deshalb ein Zitat des englischen Edel-Literarten Ted Hughes anbieten, der in seinem Essay »Mythen und Erziehung« von 1976! (aus »Wie Dichtung entsteht«, Insel Verlag, 2001) über den grundlegenden Sinn und Zweck von Phantastik schrieb, und besser ausdeutet, was die Attraktion und den Wert dieses fabulatorischen Modus ausmacht.

Das Wort ›Phantasie‹ bezeichnet gewöhnlich nicht viel mehr als die Fähigkeit, ein Bild von irgendwas in unserem Kopf zu erschaffen und dieses dort festzuhalten, während wir darüber nachdenken. Da dies die Grundlage beinahe aller unserer Handlungen ist, kommt es zweifellos sehr darauf an, ob unsere Phantasie eher stark oder schwach ist. Die Erziehug vernachlässigt diese Fähigkeit vollkommen.
{…} Der dämonisierte Zustand unserer Welt ist millionenfach spürbar geworden. Wie kommt es, dass Kinder sich so zu ihr {der Phantastik} hingezogen fühlen? Jedes Kind ist eine Chance der Natur, die Fehler der Kultur zu korrigieren. Kinder sind ihr {der Welt} gegenüber höchst sensibel, weil sie am wenigsten durch wissenschaftliche Objektivität für ein Leben in der Kameralinse konditioniert wurden. Sie haben ein doppeltes Motiv, aus der Linse auszubrechen. Sie wollen der Häßlichkeit der entspiritualisierten Welt entfliehen, in welcher sie ihre Eltern eingesperrt sehen. Und sie sind gewahr, dass diese innere Welt, die wir von uns gewiesen haben, mehr ist als nur ein Inferno verkommener Impulse und verrückter Explosionen verbitterter Energie. Unser wahres Ich liegt da unten. Da unten, vermengt mit all dem Wahnsinn, liegt alles, was einst das Leben lebenswert machte. All die verlohrene Bewußtheit und die Kräfte und Bindungen unseres bilogischen und spirituellen Seins. Die Versuche, dieses verlorene Erbe wieder anzutreten, nehmen viele Formen an, und sind das Hauptanliegen eines Schwarms von Kulturen.
{…}Objektive Phantasie {welche die Äußere Welt betrachtet und erforscht und aneignet} also, so wichtig sie ist, riecht nicht aus. Wie wäre es mit einer ›subjektiven Phantasie‹? … Das eigentliche Problem kommt mit dem Umstand, dass die äußere und die innere Welt jederzeit voneinander abhängig sind. Wir sind einfach der Ort ihrer Kollision. Zwei Welten, mit einander widersprechenden Gesetzten oder Gesetzten, die uns als solche erscheinen, prallen jede Sekunde aufs neue aufeinander, kämpfen um friedliche Koexistenz. Ob es uns gefällt oder nicht: unser Leben ist das, was wir aus dieser Kollision und diesem Kampf machen.
Was wir also offensichtlich brauchen, ist eine Fähigkeit, die beide Welten gleichzeitig umfasst. Ein großes, flexibles Verständnis, eine innere Vision, die wie ein großes Theater die Wettkampfarena weit offen hält und die beiden Seiten gleichzeitig Respekt zollt. Die, wie Goethe sagte, der der Dinge und der Geisterwelt gleichermaßen die Treue hält.

Beckman tut mit seinem Artikel Wieland Freund m.E. keinen Gefallen. Welche potentiellen jungen oder erwachsenen Phanatstik-Freund werden nach seinem tollpatischen Rumpeln gegen ›DIE Fantasy‹ noch Bock haben »Jonas Nichts« eine Chance zu geben? Wer so mit dem Oberlehrer-Zeigefinger wedelt, macht keine Laune. Da bleibt mir nur, entsprechend mit dem Zeigefinger zurückzuwedeln.

Für mich als gnadenlos von den phantastischen Literaturen und Modi Hingerissener besteht der Wert der Phantastik ganz allgemein darin, dass dieser Modus des phantastischen Erzählens, Reflektierens und Spekulierens über die Welt die stärksten und mächtigsten Instrumente eben dazu liefert um über sich selbst, ›Gott und die Welt‹ nachzudenken und zu verhandeln. Zugestanden: zugleich gehen damit aber auch intensivere Gefahren einher, da die Phantastik der Psychagogen, Demagogen, Schwarzmagier, (Stimmungs-)Giftmischer und Schadenszauberer dazu führen kann, dass die Leute und die Gesellschaft ihre kostbaren Tat- und Denk- und Empfindungs-Ressourcen verschwenden für Verwirrung, Missverständnisse, Täuschung, Illusionen, Zwist & Tatenlosigkeit. — Ich halte es jedoch für kreuz-fatal, wenn man angesichts dieser mit der Phantastik verbundenen Gefahren zusammenzuckt und sich auf ein (vermeintlich) sichereres Terrain des so genannten (puristsichen) ›Realismus‹ zurückzieht, oder Klein-Klein-Gefechte aufführt indem man verschiedene Ettikettenworte, die alle unter ›Phantastik‹ subsummiert werden können, gegeneinander auszuspielen trachtet.

Nicht, dass man mich falsch versteht: Natürlich lässt sich über Wert und Unwert einzelner Phanatstik- oder Kunst-Strömungen trefflich streiten, und das sollten wir (die Leser, Autoren und Kritiker) auch. Aber Werten hängt immer vom jeweiligen Standpunkt, der jeweiligen Lebenslage, Welt-Erfahrung und Befindlichkeit ab. Meiner Meinung nach kommt man also auch beim Versuch, möglichst objektiv über diese Dinge Aussagen zu tätigen nicht umhin, den Empfängern faire Einblicke in die eigene subjektive Sender-Verfassung zu gewähren, damit der Empfänger ‘ne Ahnung davon bekommt, von wo aus und zu welchem Zweck mensch Aussagen und Wertungen anstellt.

Dazu nochmal eine kleine Schau auf ein Gegensatzpaar in das mensch, wenn mensch will, die Bedeutungs- und Werte-Ebenen auseinander sortieren kann. (Ich mixe dabei munter den bereits erwähnten Ted Hughes mit Fetzen aus den Werken von Peter Sloterdijk und dem Ethnologen Hans Peter Duerr … Fetzen, die sich halt in meinem Hirn sinnfällig zusammengefunden haben):

  1. Die intimere, intensivere Ebene der eigenen Person, der eigenen Gruppe oder Kultur (der kleineren und mittleren ›Blasen‹). Das sind die Werte der überschaubaren Gruppe, des Stammes, Clans, der Familie, des Dorfes und der Kleinstadt usw. Man nennt das auch die tribalistischen Werte der Untergruppen gegenüber der Welt. Die entsprechenden Zusammengehörigkeits-Mythen werden oftmals als spießig, altmodisch, beschränkt und einengend bezeichnet oder empfunden (man denke an die ständige Beäugung durch die eigene ›Peer Group‹, den eigenen Stamm, die starken Spannungen, Vergleichs-Animositäten und wilden Gerüchte dieser ›Bei uns hat man das immer schon so gemacht‹- und ›Wo kämen wir denn dahin‹-Werte).
  2. Die konfusere, relativistischere Ebene des Verbundes oder der Summe von Gruppen (die kleinen, mittleren und größten ›Blasen‹ die zusammen als ›Schaum‹ gesehen werden können … maximal eben der Schaum der globalen Menschheit, der sich aus den vielen vielen Untergruppen-Blasen mit ihren jeweiligen Traditionen und Interessen zusammenfügt). Die entsprechenden, arg in Verhandlung und deshalb Wandlung befindlichen Global-Mythen werden oftmals als flach, beliebig, leer, degradiert und herabsetzend bezeichnet (man denke an den Vorwurf gegenüber der Moderne oder Postmoderne, nur Wischiwaschi zu liefern, an die Gefahren des Nihilismus, der Entmutigung angesichts von Entfremdung durch Zweckrationalismus).

Zwischen diesen beiden Ebenen gibt es eine Barriere, einen Zaun, und alle Menschen sind mehr oder weniger ständig auf einer ›Queste‹ zwischen dem Hüben und Drüben zu vermitteln, einen persönlichen Ausgleich zu schaffen.

Herr Beckmann als Chef-Kolumnist des angesehenen Branchenblattes »Buchmarkt« inokkuliert seinen Beitrag leider nur ungeschickt. Statt sich darüber aufzuregen, dass die Verlage und Marketingleute uns ärgerlicher weise zuschütten mit schlechter oder auch nur seichter Serien-Phantastik, sollte er sich lieber weiterhin (wie er es lang schon macht) für eine bessere Ausbildung der Buchhändler einsetzten. Phantastik (und Fantasy) ist ein riesiges Terrain. Da tut’s so ein plattes Zitieren überkommener Vorurteile kaum. So hätte Beckmann z.B. ruhig den Mut haben können, auszudeuten, dass es schon die Werke der ehrwürdigen ›Fantasy‹Klassiker Lewis und Tolkien sind, die nur so strotzen vor platt-naivem Mittelalter-Nostalgik, und dass es aber heutzutage durchaus ›Fantasy‹-Novitäten gibt, die — obwohl sie einige Aspekte dieser Strömung weiterführen — von einem sehr modernen Weltverständnis ausgehen, wie Hal Duncan, Steven Erikson oder eben mein persönlicher Favorit China Miéville.

Das kontrafaktische, fabulatorische Preisausschreiben zu Thomas Pynchons »Gegen den Tag«

Eintrag No. 470 — Am 01. Mai 2008 wird bei Rowohlt die deutsche Ausgabe von Thomas Pynchons neuestem Wahnwitz-Schmöker »Against the Day« (2006) auf Deutsch unter dem Titel »Gegen den Tag« erscheinen. — Nikolaus Stingl (Übersetzer von u.a.: John Irving, Cormac McCarthy, Neal Stephenson) und Dirk van Gunsteren (Übersetzer von u.a.: Philip Roth, T.C. Boyle, Jonathan Safran Foer, Oliver Sacks) haben den 1760 Seiten starken Roman übersetzt, und für mich steht jetzt schon fest: da kommt ein wahrhaft alle einfachen Rahmen sprengendes Prosaspektakel über uns.

Thomas Pynchon gilt ja als einer, der sich sich noch nie groß um die tradierten Grenzen zwischen hoher Kunst und niederen Popkulturgelfilden gekümmert hat, und der deshalb wohl zurecht den unausgesprochenen Titel ›wildester Nobelpreis-Anwärter‹ verdient. — Zum ersten Mal hat der Autor selbst einen orientierenden Klappentext verfasst, der in gekürzter Form auch verschiedentlich auf Deutsch vorliegt. Ich habe mir erlaubt, diesen ›Waschzettel‹ um die gekürzten Stellen (= blau) zu ergänzen.

Gegen den Tag umspannt den Zeitraum zwischen der Weltausstellung in Chicago 1893 und den Jahren kurz nach dem Ersten Weltkrieg und führt von den Arbeiterunruhen in Colorado über das New York der Jahrhundertwende, London und Göttingen, Venedig und Wien, den Balkan, Zentralasien, Sibirien zur Zeit des Tunguska-Ereignisses und Mexiko während der Revolution ins Paris der Nachkriegszeit, Hollywood während der Stummfilmära und an ein, zwei Orte, die auf keiner Landkarte zu finden sind.
Während sich die weltweite Katastrophe schon am Horizont abzeichnet, beherrschen hemmungslose kapitalistische Gier, falsche Religiosität, tiefe Geistlosigkeit und böse Absichten an hohen Stellen das Bild. Verbindungen zur Gegenwart sind weder beabsichtigt, noch sollten sie gezogen werden.
Das umfangreiche Figuren-Ensemble umfasst Anarchisten, Ballonfahrer, Spieler, Industriekapitäne, Drogenenthusiasten, Unschuldige und Dekandente, Mathematiker, verrückte Wissenschaftler, sowie Bühnenmagier, Spione, Detektive, Abenteurerinnen und gedungene Schützen. Es gibt Gastauftritte von Nikola Tesla, Bela Lugosi und Groucho Marx.
In einer Zeit, da eine Epoche der Sicherheit ihnen mit Getöse um die Ohren fliegt und eine unvorhersagbare Zukunft anhebt, versuchen diese Leute lediglich ihrem Leben zu folgen. Ab und zu bleiben sie am Ball; manchmal ist es ihr Leben, das sie verfolgt.

Derweil treibt der Autor sein übliches Spiel. Figuren unterbrechen ihr Tun, um größtenteils alberne Liedchen zu singen. Seltsame und abseitige Sexualpraktiken werden ausgeübt, obskure Sprachen gesprochen, und das nicht immer idiomatisch richtig. Kontrafaktische Ereignisse finden statt. Vielleicht ist dies nicht die Welt, aber mit ein, zwei kleinen Änderungen könnte sie es sein. Einigen zufolge ist dies eine der Hauptaufgaben von Fiktionen.
Die Leser mögen entscheiden, und Vorsicht walten lassen. Viel Glück.
— T.P.

AUFGABE:

Es ist eine feine Sache, wenn Romane — also ausgedachte Geschichten die mitunter bestrebt sind, die ganze Welt und das menschliche Leben in toto in eine erzählende Form zu pressen — sich geflissentlich bemühen, als realistische Spiegel der Gegenwart bzw. der Vergangenheit und etwaiger Zukunft zu dienen. Doch in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Illusion und Wahrheit, zwischen Propaganda und Bescheuklapptheit durch den tobenden Informationskrieg durcheinander geraten sind, erscheint (mir zumindest) es für das packende Erzählen bisweilen angebracht, das allzu enge Beet des Tatsächlichen zu erweitern um die Gefilde des spekulativ Phantastischen. Das »Literaturwelt«-Blog und die »Molochronik« rufen daher alle mutigen Fabulierer auf, eine knappe jedoch möglichst tolldreiste Schau auf die Weltenläufte der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft einzureichen.

Alles ist erlaubt! — Vermengt Faktisches mit Fiktiven, erfindet unmögliche, wundersame Gadgets und Monster, skizziert haarsträubende Intrigen und Konflikte zwischen echten und erfundenen Fraktionen, schildert die Übergänge von den Reichen des Tatsächlichen zu denen des Unmöglichen.

••• EDIT-Ergänzung zur Art der einzureichenden Wettbewerbs-Beiträge: Da alles erlaubt ist, gibt es keine bestimmten zu erfüllenden Kriterien, was für eine Art von Text eingereicht werden muss. Erlaubt ist also alles, was sich ausdenken und niederschreiben läßt, egal ob dabei ein Expose (für einen fiktiven Roman), ein Langgedicht, eine dramatische Szene, eine Kurzgeschichte herauskommt, oder noch exotischere Textsorten, wie z.B. Klappentexte einer (fiktiven) x-teiligen Serie, die Schaltplanskizze eines Möglichkeitsbaums eines Abenteurspielbuches, eine Auswahl von Einträgen eines fiktiven lexikalischen Werkes — wie gesagt: ALLES ist bei diesem Wettbewerb erlaubt.

MODALITÄTEN:

Mindestens zwei, maximal vier Din-A-4-Seiten (mindestens 4000 Zeichen, maximal 8000 Zeichen inkl. Leer- & Satzzeichen.)

Einzureichen als PDF, als RTF oder als Text in einer eMail. Formatierungen sind erlaubt. Zur Sicherheit sollten jedoch fette Passagen mit Unterstrich, und kursive Passagen mit Sternchen markiert werden.

Text oder Text-datei per eMail einschicken an:

*molosovsky*@*yahoo*.de* (Sternchen weglassen) Betreff: Aktion GEGEN DEN TAG

Einsendeschluss ist der Tag des Erscheinens der deutschen Ausgabe, Donnerstag, der 01. Mai 2008.

Zu gewinnen gibt es eine englische US-Taschenbuchausgabe von »Against the Day«. — Zugegeben: das Exemplar krankt an einem leichten Knickschaden des vorderen Umschlages (wurde halt aus dem Ramsch gefischt), aber als Gutmachung für diesen Makel wird dem Exemplar eine von Molosovsky selbst erstellte Kapitel- und Abschnitt-Übersicht beigegeben, die zugleich als Lesezeichen dient.

Vergesst nicht, Eure schneckenpostalische Adresse anzugeben, damit Euch (falls Ihr gewinnt) das Exemplar von »Against the Day« zugeschickt werden kann.

Als Jury fungiert Molosovsky selbst, der aus den eingesendeten Fabulations-Skizzen die ihm am besten gefallende küren wird. Die Teilnehmer stimmen mit dem Einsenden ihres Textes zu, dass ihr Text sowohl im »Literaturwelt«-Blog, als auch in der »Molochronik« veröffentlicht wird. Auf Wunsch des Gewinners kann sein Realweltname geheim bleiben und durch ein entsprechendes pseudonym ersetzt werden. Und so die Musen mir hold sind, werde ich den Gewinnertext illustrieren und die Originalzeichnung ebenfalls als Preisgabe stiften.

Also auf auf, wagemutige Phantasten. Hals und Beinbruch und viel Vergnügen wünscht

Alex / molosovsky

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EINIGE WEGWEISENDE LINKS:

»Peter’s Friends« & Hugh Laurie als Fabulator

(Eintrag No. 459; Film, Woanders, Phantastik & Komödie, Geheimagent) — Heute habe ich mich zum Jubel von Oli über »Peter’s Friends« in seinem Blog dazugesellt. Im Folgenden mein Kommentar von dort, plus einer kleinen Kostprobe des zum Niederknien dollen Räuberpistolen-Romanerstlings von Hugh ›Dr. House‹ Laurie.

Abgesehen vom Spaß den »Peter’s Friends« für’s Publikum bietet, finde ich, dass dieser Film (wie auch einige vergleichbare Werke von Woody Allen) jedem selbst-kreativen Phantasten als beherzigenswerte ›unphantastische‹ Inspiration dienen kann. Hier gibts keine Magie, nichts Wundersames, keine Gadgets, aber eben erfrischend, schockierendes, komisches, absurdes und weises Geschmenschel hochkonzentriert. — Unter anderem die Latte, die dieser Film vorlegt läßt mich (noch) zögern, selber als Fabulatur (professionell) hervorzutreten. Wenn, dann würde ich selbst zu gerne etwas vorlegen können, was Ernst und Alberei wunderbar versöhnt wie »Peter’s Friends«. Allein die Idee, wilde (Genre-)Phantastik zu betreiben, die aber zugleich so berührend einfach nur vom Auf und Ab des ›Person-Sein‹ erzählt, treibt mich seit Jahren um.

Im weitesten Sinne des Wortes ›Phantasie‹ (= sehen machen, erscheinen lassen) finde ich nämlich solche menschlich, allzu menschlichen Dramen überaus ›phantastisch‹, denn in bester Theatermanier werden hier unsichtbare, innere Vorgänge (Ängste, Hoffnungen, Irrungen und Überzeugungen) anschaulich gemacht.

Und nicht zuletzt brilliert Branagh ja auch mit seiner Regie, bzw. bietet der Film atemberaubende (Steady Cam-)Bildarbeit, z.B. bei der großen Ankunftsszene auf der Eingangstreppe zu Peters Haus.

Was Branaghs Ruf und Stellung angeht: an den Vorwürfen, dass dieser umtriebige irische Energiebolzen an einer übergroßen Portion Eitelkeit krankt, ist ja was dran; und auch, dass er nicht immer ein gutes Händchen bei seinen Projekten hatte. Ich für meinen Teil aber verzeihe diese Schwächen gerne einem, der es immer wieder so gut versteht seine Zuschauer mit seiner Begeisterung anzustecken. Wo ich echte Leidenschaft zu spüren meine, bin ich milde mit Kritik.

Und natürlich ist dieser Film für mich Kult, weil Hugh Laurie hier als Mundtrompeter brilliert.

Apropos Laurie: sehr empfehlenswert ist dessen (ich glaub) bisher einziger Roman »Der Waffenhändler« (antiquarisch als Haffmans-Buch zu haben; gut übersetzt von Ulrich Blumenbach! Aber was die Preise angeht, spinnen die Damen/Herren Anbieter da wohl derzeit heftig. Neuauflage als Taschenbuch tut Not, liebe Inhaber der deutschen Rechte.)

Mit »Der Waffenhändler« (»The Gun Seller«) reicht Laurie seinen Lesern einen betörenden Mix aus James Bond und P.G. Woodehouse, wenn Thomas Lang, Ex-Geheimagent, in eine üble Intriegenkiste verstrickt wird und sich zudem noch in die Tochter des Kerls verliebt, den er killen soll.

Da der Roman ja dereit schwerst vergriffen ist, hier als Trost und Probestückerl der Anfang:

Stellen Sie sich vor, Sie müssen jemandem den Arm brechen.
Den rechten oder den linken — spielt keine Rolle. Wichtig ist, Sie müssen ihn brechen, denn wenn nicht … egal, das spielt auch keine Rolle. Sagen wir einfach, wenn nicht, passiert etwas Furchtbares.
Nun frage ich Sie: Brechen Sie den Arm schnell — knacks, hoppla, ‘tschuldigung, kann ich ihnen beim improvisierten Schienen behilflich sein —, oder ziehen Sie die Sache genüßlich in die Länge, erhöhen ab und zu in winzigen Stufen den Druck, bis der Schmerz rosa und grün und heiß und kalt und ganz generell brüllend unerträglich wird?
Jawohl. Genau. Das Richtige, das einzig Richtige ist, daß Sie es möglichst schnell hinter sich bringen. Brechen Sie den Arm, holen Sie den Brandy, seien Sie ein guter Bürger. Eine andere Antwort gibt es nicht.
Außer.
Außer außer außer.
Was ist, wenn Sie die Person am anderen Armende hassen? Und ich meine hassen, richtig hassen.
Diese Überlegung mußte ich jetzt in Betracht ziehen.

Jaques Cazotte: »Der verliebte Teufel«

VIERTE FOLGE VON MOLOS WANDERUNGEN DURCH »Bibliothek von Babel«-Banner, klein. DER BÜCHERGILDE GUTENBERG

Jaques Cazotte (1719 - 1792 guillotiniert). Klick auf das Bild führt zu einer größeren Ansicht des Portraits.Eintrag No 456Entgrenzter Beginn: wie sehr treibt mich die Sehnsucht, mich immer und immer wieder der süßen Illusion hinzugeben, ich könne mich zurücklehnen, die Welt wie ein Gemälde betrachten, und zugleich hineinfallen lassen, mit all dem mitempfinden, was sich da im Laporello meines Panoramablicks tummelt. Ich weiß, dass diese Spielart des ›Kuchen essen, und Kuchen behalten‹ ein Ding der Unmöglichkeit ist. Aber es ist diese Spannung, dieses Pendeln, was mich auf Trapp hält bei all meinen Wanderungen durch die Gefilde der Literaturen, Künste, Medien: einerseits der Schönheitsrausch angesichts der Vielfalt und Seltsamkeit der Erscheinungen des Universums, andererseits die Skepsis gegenüber den Verlogen- und Beschränktheiten des Menschen (inklusive meiner eigenen Person).

Ein hilfreicher Rat gegen die Gefahren eines enthemmten Holismus scheint mir da das Sprüchlein: »Der Teufel steckt im Detail«[01], besonders dann, wenn mensch interpretiert. Es ist bestimmt keine exzentrische Übertreibung, wenn ich als Liebhaber der phantastischen Künste der Meinung bin, dass gerade die Phantastik manniglich zu schaffen hat mit einem besonders verknotungs- und verirrungsgefährdetem Gefizzel beim Auseinanderklamüsern von Wahrheit und Lüge, Illusion und Ent-Täuschung, richtig- und daneben-liegen beim Interpretieren. — Ein kleiner Zitatenkranz als Einstimmung.

In meiner ersten Wanderung durch die von Jorge Luis Borges zusammengestellte Anthologiereihe habe ich mittels eines Schlenkers auf Ecos Roman »Der Name der Rose« ein Beispiel für eine harsche Weisung zu Problemen der Wahrheitsnavigation gegeben:

Wer zweifelt, wende sich an eine Autorität, befrage die Schriften eines heiligen Vaters oder Gelehrten, und schon endet jeder Zweifel.

Diese Art von streng hierarchischer Formatierung der Zugänge zur Wahrheit ist charakterisch für vormoderne Gesellschaftsverfassungen. Und wiederum bei Eco (in seinem Vortrag »Mögliche Wälder«) fand ich eine exemplarische Aussage dazu, was nun den Umgang mit Wahrheitsspannung seit dem Aufbruch der Moderne, spezieller, seit dem Anheben des pluralistischen Spiels der erzählenden Fiktionen betrifft, wenn er auf den Punkt bringt:

Indem wir Romane lesen, entrinnen wir der Angst, die uns überfällt, wenn wir etwas Wahres über die Welt sagen wollen.

Bereits ganz und gar weltliche Äußerungen über die Welt, über Vergangenheit und Zukunft und andere nicht(an)fassbare Phänomene wollen da auf ihren Wahrheits- und Vorgaukelei-Gehalt abgeklopft werden. Wie arg potenziert sich diese Notwendigkeit aber erst, wenn wir das Gebiet der Phantastik betreten? Die sich dabei (nicht für alle locker zur lustvollen) Spannung aufschaukelnden Bredoullien des Durchblickenwollens, umschreibt Ludwig Wittgenstein ganz treffend, als er schrieb[02]:

Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides, nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen.
Die stillschweigenden Abmachungen zum Verständnis der Umgangssprache sind enorm kompliziert.

»Bibliothek von Babel«, Band 6: »Der verliebte Teufel« von Jaques Cazotte; Edition Büchergilde Gutenberg; Umschlagszier von Bernhard Jäger.Zu den stillschweigenden Abmachungen bei Interpretationen gehört im Allgemeinen, dass man sich Werke nicht zurechtbiegt, oder dass man sich nicht nur jene Stellen aus ihnen herauspickt, die zur eigenen Sicht der Dinge passen (oder zumindest, dass man derartig einseitigen Beispiel-Gebrauch eingesteht und erklärt). Gemäß einer der (leider) immer noch einflußreichsten Theorien zum ›Phantastischen‹, Tzetvan Todorovs »Einführung in die fantastische Literatur«, liegt

… das Fantastische im Moment der Ungewissheit …

und dabei wird Jaques Cazottes bekanntester Text als Beispiel für typische ›fantastische Literatur‹ im Todorov-Sinne herangezogen[03].

Für mich dabei Ärgernis: alle Beispiele die Todorov aus Cazottes »Der verliebte Teufel« pflückt, stammen aus Abschnitten des späteren Verlaufs des Buches, in denen sich der Held der Erzählung, der junge Adelige Alvares, tatsächlich nicht ganz sicher ist, ob seine aufgegeilten Sinne nur verrückt spielen und ihm die wildesten Einbildungs-Streiche spielen, oder ob die junge Verführerin Biondetta wirklich der Leibhaftige in Frauengestalt ist. — Ja, Alvares mag sich sich ungewiss sein, aber als Leser bin ich’s nicht einen Moment und wundere mich, wie Todorov die deutlichen Hinweise auf den wundersamen, märchenhaften Charakter der Erzählung unter den Teppich kehrt. Der Roman beginnt immerhin damit, dass Held Alvares in Neapel bei einem lockeren Abend mit Wein und Plausch die Bekanntschaft mit von Alchemie und Geisterbeschwörung raunenden Fremden macht. Im zweiten Kapitel begibt man sich in die nahen Ruinen von Portici und mit Kerzen, Zauberkreisen und Beschwörungsformeln zitiert Alvares den Anleitungen der Fremden folgend Beelzebub herbei, und für mich gibt es hier keine Ungewisseheit darüber, ob der Text lediglich ein Scharadenspiel schildert, oder ob tatsächlich Magisches geschieht. Ein Fenster des Gewölbes öffnet sich und[04]

… ein Lichtstrom bricht durch die Öffnung, glänzender als das Tageslicht; ein Kamelskopf, ebenso scheußlich durch seine Dicke wie durch sein Aussehen, zeigt sich am Fenster; übergroß sind seine Ohren. Das häßliche Gespenst öffnet seinen Rachen und antwortet in einem der übrigen Erscheinung angemessenem Tone:
»Was willst du?«

Und zauberhaft-grotesk geht’s wenige Zeilen später weiter, als[05]

… das anstaunenswürdige Kamel seinen sechszehn Fuß langen Hals aus{reckt}, sein Haupt in die Mitte des Saales {neigt} und ein weißes Löwenhündchen mit feiner, glänzend-seidener Wolle aus{spie}…

Der Hund spricht dann auch noch, und statt seiner steht dann plötzlich ein junger Page am Ort der Teufelsbeschwörung. Der Page ist eigentlich ein junges Mädel (Biondetta eben), das Mädel ist eigentlich eine Sylphe, ist eigentlich der Teufel.

Freilich kann man diese Teufelsbeschwörung und die damit zusammenhängenden Okkult-Fuzzis unter anderem auch als Metapher lesen. Die gewagteste Deutung dazu von mir läßt mich an Mädchenhandel denken. Aber ausdrücklich nahegelegt wird diese oder andere Deutungen, die Zauberhaftes ausschließen und stattdessen tatsächliche Echtweltmacheleukes als Erklärung nahelegen, nicht. Dazu gleich mehr.

Entsprechend gepfeffert war eine Retourkutsche des polnischen Phantasten Stanislaw Lem gegen Todorovs strukturalistische Zurechtbiegung in »Science Fiction Studies«. Lem greift in seinem Essay dabei selber — mit phantatischem, also verdeutlichenden, ›sehen machenden‹ Kniff — auf eine Metapher zurück, nämlich ›das Bett des Prokrustes‹ und mokiert sich zurecht über die äußerst enge Kropusauswahl, auf die Todorov seine Thesen zum ›fantastischen Genre‹ stützt.

Hinfort nun mit diesem kleinteiligen Einblick in das Hin- und Her zum Nutzen und Übel von über’s Ziel hinauspreschendem Strukturalismus und entsprechend polemischem Zurückgegrunze, und lieber hingewandt zu der ertragreichen und fruchtbaren Internet-Ressource des Romanisten Erich Köhler, der sich in seinen »Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur« (Aufklärung, Teil II, Hrsg: Dietmar Rieger; Seite 111 bis 120) mit Umsicht und Einsicht Jaques Cazottes verliebtem Teufel widmet.

Dort kann man lernen, dass Cazotte als Monarchist und gläubiger Kathole zwar ein streitbarer Gegner der Aufklärung (insbesondere Voltaires) und der Französischen Revolution war, dass er aber als Künstler und phantastischer Hallodri durchaus genug Eigenwilligkeit im Blut hatte, um mit »Der verliebte Teufel« ein Werk vorzulegen, dass sich als Übergangsbrückchen zwischen die älteren Märchenerzählungen (Conte merveilleux) und den sich neuerdings aufmachenden phantastischen Erzählungen der Romantik deutschen Schlages (Conte fantastique) positioniert. Zudem ragt »Der verliebte Teufel« als anti-aufklärerisch-philosophische Erzählung (Conte anti-philosophique) hervor.

Dazu eine kleine Interpretationsphantasie von mir: Sehr deutlich klingt bei Cazotte an einer Stelle an, dass es einst die Mathematik war, deren Ausraffinierung für das Finanz- und Versicherungswesen binnen einer Genration während der Renaissance dafür sorgte, dass die Astrologie vom wahrscheinlichkeitsberechnenden Risikomanagements verdrängt wurde[06]. Das liest sich dann so, wenn Alvares sich mit Biondetta syphilischer Expertise im Casino vergnügt[07]:

Nichts in der Welt geschieht zufällig. Alles war und ist eine Folge notwendiger Berechnungen, welche nur die Wissenschaft der Zahlen verstehen lehrt, deren Grundsätze so abstrakt und so tief sind, daß sie einen Lehrer erfordern, den man auffinden und sich zu eigen machen kann.

Bei Erich Köhler erfährt man desweiteren genaueres über die von Cazotte in im Nachwort nur angedeuteten zwiefachen allegorischen Schichtung von »Der verliebte Teufel«. Zum einen schildert die Erzählung da, auf der Ebene der individuellen Person, den Kampf der Tugenden und Laster um die Seele von Don Alvares, was in der Sprache der mittelalterlichen Gelehrsamkeit ›Psychomachia‹ genannt wird; und zum anderen, auf der Ebene der gegeneinander strebenden gesellschaftlichen Kräfte, versucht Cazotte das Hauen und Stechen der alten, sich im Rückzugsgefecht befindlichen Ordnung (kirchliche und aristokratische Authorität mit ihren Glaubens- und Offenbahrungswahrheiten) gegen die neuen, aufstrebenden weltlichen Tendenzen der Aufklärung (Bank- und Handelswesen, Empirie, Naturwissenschaft, Pluralität mit ihren klassenübergreifenden Lustbarkeiten) zu fassen.

Nicht zuletzt aber hat mich, trotz der ideologischen Gräben die Cazotte und mich trennen, der blumige Zauber indirekt zur Sprache gebrachter Erotik und wild wallender sinnlicher Begierden begeistert, der (im schönsten Sinne) leidenschaftliche Schwulst des Buches. Da wird ›Ach‹ und ›Oh‹ geseufzt und gestöhnt, da zupfen Whippets gar sehr bedeutungsschwanger an Männerröcken und wird mit einer metaphorischen Lust (wenn auch für heutige Zeiten empörend einfältig) über die Rollenbilder von Männlein und Weiblein fabuliert, dass man das Spitzentüchelchen rausholen möchte um sich Luft zuzufächeln. Nicht immer tönt das dann anachronistisch oder flasch, zum Beispiel wenn Ich-Erzähler Alvares sinniert:

Der Mann entstand aus Ton und Wasser. Warum das Weib nicht aus Tau, Dünsten, Lichtstrahlen, aus einem verdichteten Regenbogen? Was ist möglich, und was ist es nicht?

In diesem Sinne wünsche ich den aus Regenbogendunst gepressten Molochronik-Lesern ein schönes Wochenende.

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ANMERKUNGEN:

[01] »Der liebe Gott steckt im Detail – Mikrostrukturen des Wissens«, so nannte der Kunstgeschichtler und Kulturhistoriker Aby Warburg 1925 seine Hamburger Vorlesungen, und irgendwer hat fluggs den entsprechenden Austausch von ›Gott‹ mit ›Teufel‹ getätigt. Vielleicht ringen die beiden ja ›im Detail‹ miteinander, so wie die zwei mythologischen Wölfe, ein guter und ein böser, laut den Legenden nordamerikanischer Indianer im Herzen eines Mannes miteinander ringen. — Zur Bedeutung von Details siehe auch: John Irving: »Witwe für ein Jahr«, bzw. die Verfilmung dessen erster Hälfte »The Door in the Floor«It's the small details. ••• Zurück
[02] »Tractatus logicus-philosophicus« (1918, erschienen 1921), edition suhrkamp, 23. Auflage 1992, Seite 32.••• Zurück
[03] »Einführung in die fantastische Literatur« (fr. 1970; dt. 1972), Kap. 2 »Definition des Fantastischen«. Freilich kann man aus Todorovs Großgedankenspiel-Vorlage durchaus Nützliches machen, wie Simon Spiegel mit seinem Buch »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des Science Fiction Films« (2007) beweist. In meiner Empfehlung dort biete ich auch einen kurzen Überblick zu Todorov durchaus orientungsspendender Phantastik-Einteilung in die fünf verschiedenen Geschmacksrichtungen (i) Reine Phantatsik; (ii) Phantastisch-Wunderbares; (iii) Phantastisch-Unheimliches; (iv) Unvermischt Wunderbares und (v) Unvermischt Unheimliches. — Die Gleichung ›Fantastik = Ungewißheit‹ erscheint mir zudem sprachlich ungeschickt, weil es z.B. mit ›Ambivalenz‹ einen viel gebräuchlichern Begriff für die Schwebe des Unentschiedenen gibt. ••• Zurück
[04] »Der verliebte Teufel« dritte Fassung von 1776, Büchergilde Gutenberg, S. 21. — Nebenbei: »Babylon 5«-Freunde werden das Böse erkannt haben an seiner typischen Verführungsfrage, wie in der SF-Serie die ›Shadows‹ stellen. Die Guten fragen dort ja: »Wer bist du?« Und beide bekommen ja dann für ihre ideologische Verbohrtheit von den Menschen gehörig die Leviten gelesen. ••• Zurück
[05] Ibid. S. 23. ••• Zurück
[06] Mehr zu diesem gigantischen aber etwas im okkulten dümpelden Epochenwendethema findet sich abenteuerlich aufbereitet in Neal Stephensons »Barock Zyklus«, wenn der jesuitische Agent de Gex im Band »System of the World« (Heyne Manhattan, angekündigt für Herbst 2008) über die alle Hierarchien auflösenden Kräfte des Kommerzes flucht; und erzähl-philosophisch aufbereitet in Peter Sloterdijks »Die letzte Kugel – Zu einer philosophischen Geschichte der terristsichen Globalisierung« in »Sphären II – Globen« (Suhrkamp 1999), erweitert gesondert erschienen als »Im Weltinnenraum des Kapitals« (Suhrkamp 2005). Auch der leider immer noch zu sehr übersehene Wolf von Niebelschütz kommt in seinem galantem Roman »Der Blaue Kammerherr« (Suhrkamp 1949), mit einer schwummrig machenden Passage auf das Getrickse fiskalischer Zahlen zu sprechen, im vierten Band »Die Bürgerin Valente«, dort im elften Kapitel (»Der Traum vom Brunnenschacht, plutonisch«). ••• Zurück
[07] »Der verliebte Teufel«, Büchergilde Gutenberg, S. 49. ••• Zurück

Matt Ruff: Lesetour Februar 2008 in Deutschland. Berlin. Hamburg. Frankfurt/M

KEIN RICHTIGER EINTRAG, DER EINE NUMMER BEKOMMT … … denn wenn die Tour vorbei ist, wird dieser Eintrag gelöscht.

Ich glaube, zuletzt war Matt Ruff bei uns im Lande auf Lesetour anläßlich seines zweiten Romanes »G.A.S.« (das müßte dann so um ca. 1998 gewesen sein?).

Jetzt kommt er und liest aus seinem neuesten Werk »Bad Monkeys«, über das ich mir schon einen Haxen vor Begeisterung ausgekugelt habe.

Hier noch die frischen Links zur…

Montag, 04. Februar , 19:00 Uhr — Berlin Kennedy Museum Pariser Platz 4a, 10117 Berlin Reservierung unter: Tel. (030) 8305-1161 or IRCBerlin@state.gov

Dienstag, 05. Februar, 18:00 Uhr — Hamburg U.S. Consulate General Alsterufer 27, 20354 Hamburg >>>> Anmeldung erforderlich!!!: Tel. 040-41171-414 oder mierswasilvag@state.gov Gültiger Reisepass oder Personalausweis nötig!

Mittwoch, 06. Februar 6th, 19:30 Uhr — Frankfurt The English Theatre Kaiserstrasse 34, 60329 Frankfurt am Main Tickets: € 7 Reservierung: Tel. +49 (69) 242 316-20 or e-mail: Box-office@english-theatre.org

Wissenschaft und Fantasy

Eintrag No. 437Frank Weinreich, Autor der erfeulichen Einführung zur »Fantasy«, hat für die Phantastik-Couch unter dem Titel »Äxte am Stamm der Moderne — Fantasy und Romantik« einen lockeren und lesenswerten Essay geschrieben. Unter anderem reagiert er dabei auf das Buch »Romantik« von Rüdiger Safranski.

Im dazu erblüten Thread »Fantasy — Stiefbruder der Romantik« der »Bibliotheka Phantastika« geht man den Banden zwischen Romantik und Fantasy nach und sinniert u.a. über den (vermeindlichen) Gegensatz von Wissenschaft & Magie, von Moderne und Fantasy.

Vor allem meine Lektüren von China Miévilles Bas-Lag-Romanen (z.B. »Perdido Street Station« und »Der Eiserne Rat«), Neal Stephensons »Barock-Zyklus« und Susanna Clarkes wunderbaren Fantasygeschichten die in der Regency-Epoche angesiedelt sind, haben mich in den letzten Jahren heftig über solche Fragen grübeln lassen.

Hier auch für die Molochronikleser meine Ergenisse des Google-Orakels zum Thema.

Und ganz allgemein erhellend zum Thema sind die »Fantasy World Building Questions« von Patricia C. Wrede.

Ebenfalls sehr ertragreich und abseits des üblichen Fantasy-Mainstreams (wo, zumindest meiner Wahrnehmung nach, eine gewisse romantische Affinität für Magie und Neuheidentum vorherrscht) ist die Reihe »Die Gelehrten der Scheibenwelt« von Meisterfabulator Terry Pratchett und der Wissenschaftler Ian Steward & Jack Cohen. Meine Rezi dazu wird erst in den kommenden Monaten hier eingepflegt (hier derweil mein Trailer). Bis dahin bleibt nur, entweder das aktuelle »Magira — Jahrbuch zur Fantasy 2007« zu lesen, oder auf diese exzellente Besprechung von Andreas Müller beim Humanistischen Pressedient auszuweichen.

Susanna Clarke: »Jonathan Strange & Mr. Norrell« / »Die Damen von Grace Adieu«, oder: Ein edles Tröpfchen des berauschenden Weins der Magie

Eintrag No. 434

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2007 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Hier exklusiv um einige weiterführende Links erweitert.
••• Hier gehts zum Trailer der Sammelrezi mit Introdubilo und Warentrenn-Überleitungen.}

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Das gute Stöffche der Susanna Clarke’schen Phantastik wurde mir zum ersten Mal in der von Neil Gaiman herausgebenen Anthologie mit Kurzgeschichten aus dem Universum seiner »Sandman«-Comics kredenzt, und später lag einer Gallery-Mappe zu Gaimans und Charles Vess »Stardust« eine weitere Kurzgeschichte von Clarke bei[01]. In der Autorenbio der »Sandman«-Antho von 1996 heißt es (Übersetztung von Molo):

Derzeit arbeitet sie an einem Roman, der im England des 19. Jahrhunderts spielt, in dem Zauberei eine mehr oder minder angesehene Profession ist.

Gute zehn Jahre hat Clarke an »Jonathan Strange & Mr. Norrell« (= JS&MN) gefeilt, bis der Roman 2004 erschien.

Welch eine Freude! Was für eine Wohltat, wie JS&MN mittlerweile aufgenommen wurde, sowohl bei den Genre-Lesern, als auch von der Zunft der berufsmäßigen Literaturmeinungsverbreiter in Großmedien und Feuilletons. So jubelt beispielswiese Denis Scheck für die TV-Sendung »Druckfrisch«:

Susanna Clarke hat eines jener raren Bücher geschrieben, die uns daran erinnern, dass die Realität nur der Ort des Eskapismus derjenigen ist, die für das Reich der Magie nicht stark genug sind

und Nina May für »Die Zeit«:

Mit einer wunderschönen Bildersprache hat Susanna Clarke ein Buch für lange Herbstschmökerabende geschrieben, ein Buch, auf dessen honigfarbene Seiten einfach Schokoladen- und Kaffeeflecke gehören.

Aber, in beiden Lagern (bei Fantasylesern und Literatuuurverköstern) äußerte man verschiedentlich auch Befremden oder Unwohlsein über einige Eigenschaften von Clarkes Roman. Befremdet zeigte sich auch eine angesehene englische Literatin[02], die Clarke im Vorfeld der Veröffentlichung von JS&MN zwar begeistert bescheinigte, einen außergewöhnlich guten Roman vorgelegt zu haben, aber Clarke solle das Buch doch besser nicht selbst freimütig als ›Fantasy‹ bezeichnen, dass würde ja die anspruchsvolle oder ernste Leserschaft auf falsche Fährten locken und verschrecken. Diese Denkfigur ist ja bekannt: wenn ein Buch gute Literatur ist, dann kann es keine Genre-Fantasy sein. (Und ergänzend das andere in meinen Augen genauso dumme Vorurteil: Fantasyleser können eigentlich niemals wirklich ›ernsthafte‹ oder ›anspruchsvolle‹ Leser sein.)

Natürlich sind Einwände gegen die prägnanten Eigenschaften solch guter Literatur wie JS&MN nicht immer gänzlich kraftlos. Wer auf einen zügigen Fortlauf und klaren Bezug von Ereignissen wert legt, wer positive, leicht zu handhabende Rollenverteilung bevorzugt, wer mehr eine Schwäche (oder grad eben eher Gelegenheit) für ›Auf Sie mit Getöse‹-Äktschn und verlässliche Achterbahn-Thrill- und/oder Gefühlskissen-Einlagen hegt, wird hart und wohl weitestgehend freudlos an JS&MN zu knabbern haben, und nach einigen hundert Seiten beiseit legen. Wem es so ergeht, ist nicht automatisch ein schlechter oder dummer Leser. Man outet sich halt nur, ein ungeduldigerer Leser[03] in Sachen ›Worum geht’s denn nu?‹-Haltung zu sein.

Da ist es bequem, dass sich mittlerweile die nicht oft bietende Gelegenheit auftut, und man sich wie bei einem guten alten Rollenspiel-Buch[04] auf, in diesem Fall, zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen in eine Fantasywelt begeben kann:

  1. »Möchtest Du lieber in einem munter ausufernden dicken Roman versinken, dann greife zu ›JS&MN‹;
  2. Wenn Du elegant geschnürte Kurzgeschichten vorziehst, dann gib Dich den ›Die Damen von Grace Adieu‹ hin.«

Da JS&MN bereits mit einiger Aufmerksamkeit bedacht wurde, stelle ich im Folgenden »Die Damen von Grace Adieu« (= DVGA) ausführlicher vor[05].
DIE KURZGESCHICHTEN

Leider wurde für die deutsche Ausgabe nur das ornamentale Blumenmotiv des Umschlags übernommen, die restlichen, entzückend anmutigen Illustrationen von Charles Vess[06] der hiesigen Leserschaft aber traurigerweise vorenthalten. Da blühen Prunkwinden, Sterne und Vollmond kehren mehrmals wieder, Eulen im Flug; zwei der drei Damen von Grace Adieu halten sich beschwörend an den Händen, die dritte betet, alle tragen typische Regency-›Elfenkleidchen‹ mit Kaschmirschultertuch, Puffärmeln und gesogten Bündchen; aus einem Buch klettern kleine Kobolde und ranken sich belaubte Ästchen; ein kleiner Junge steht auf der Mauer einer Turmruine umflattert von einem Rabenschwarm; nächtliche Hügel mit Hirsch, Hundemeute und rufenden Gestalten im Nebel; eine junge Frau mit Haube und Korb guckt in einem dichten Wald durch einen schmalen Ausblick auf einen Weg der zu Steinkreisen und einem ummauerten Turm führt; an einem Kirchturm fliegt ein kleines Schiffchen mit drei fröhlich musizierenden Engelsmännekens vorbei; Mary of Scottland sitzt vor einem Gobelin und stickt mit finsterem Blick; drei Heilige schauen ehrfurchtsgebietend auf den Betrachter herab.

Zuerst spricht ein gewisser Prof. James Sutherland (im Jahre 2006 Direktor für Sidhe-Studien[07] an der Uni Aberdeen) zu uns, als Autor des Vorwortes und Herausgeber der Kollektion, später noch mal als Erzähler/Bearbeiter einer der Geschichten. Die magisch-historische Alternativwelt von Clarke umfasst sich nicht nur die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vergangenheit bis zum Regency. Laut Sutherland soll DVGA zum einen helfen, die Entwicklung der Zauberei auf den Britischen Inseln zu verstehen, zum zweiten dem Leser einige Einblicke und Rat liefern betreffs des Umgangs mit Elfen sowie deren schwer durchschaubaren Manipulationen menschlicher Angelegenheiten.

In dem Roman JS&MN ist Zauberei ja zuvörderst eine Männer-, genauer gesagt eine Gentleman-Angelegenheit, und der Erzählungsreigen ergänzt vorzüglich, da uns (nicht nur) durch die titelgebende Eröffnungsgeschichte »Die Damen von Grace Adieu« (1996) etwas von den weiblichen Zauberkünsten gezeigt wird. Hier lernt man die vielleicht drei fähigsten Zauberinnen des Regency-Englands zur Zeit von JS&MN kennen, die in dem kleinen (fiktiven) Kaff Grace Adieu leben, und sich bei ihren abendlichen Unterhaltungen über ihre männlichen ›Kollegen‹ Norrell und Strange uffregen, ansonsten sie als Kindermädchen auf Weisen aufpassen (Miss Tobias), als Witwe ein angenehmes Dasein pflegen (Mrs Field) oder mit Unbehagen über Heiratsfragen grübeln (Cassandra Parbringer). Der illustre, jüngere Meisterzauberer im Dienste Englands, Jonathan Strange, besucht zusammen mit seiner etwas überdrehten Frau Arabella deren Bruder Henry, von dem es heißt, er wolle die junge Cassandra ehelichen (die dazu lieber nix sagt). Wie überall, wo Jonathan weilt, ist er die Attraktion des Ortes, und er begegnet nächtens den drei zauberhaften Damen zwischen Wald und Hügel. Zugleich werden die Damen von unangenehmen Zeitgenossen heimgesucht, und ›Eulen sind nicht das, was sie zu sein scheinen!‹

In »On Lickerish Hill« (1997) lesen wir die dialektgefärbten Aufzeichnungen von Miranda, einer schlauen jungen Dame aus einfachen Verhältnissen, die mit dem wenig umgänglichen Sir John Sowreston verheiratet ist. Zum einen schildert die Geschichte eine Variante des Rumpelstilzchen-Märchens, und wie Miranda sowohl ihren Gatten als auch den spinnenden Elfen austrickst. Andererseits ist Miranda auch Gastgeberin eines wuseligen Gelehrtengrüppchens (die Royal Society ist noch in ihren Kindertagen), zu denen auch John Aubrey gehört[08]. Die Herren Gelehrten tummeln sich als Elfenkundler im moorigen Umland, entwerfen Fragenkataloge, für den Fall, dass sie mal einen Elfen erwischen, streiten natürlich immerfort leidenschaftlich und versuchen sich im Beschwören von Elfen.

Venetia, die Heldin der Geschichte »Mrs. Mabb« (1998) ringt mit dem Wahnsinn, denn ihr Geliebter weilt mit seinem Regiment in der Ferne im Kampf gegen Napoleon, oder doch nicht? Fiel er nicht vielmehr der Becircung der geheimnisvollen Mrs. Mabb anheim? Insekten spielen eine wichtige Rolle[09] und Venetia verbreitet bei ihren Versuchen die Schliche von Mrs. Mabb zu ergründen Unruhe unter deren Gästen und Familienangehörigen. Ins Irrenhaus eingeliefert zu werden dräut der Verzweifelten als Schicksal.

»Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig« (1999) ist der kürzeste Beitrag der Sammlung und lässt den große Helden (eine Art Rockstar seiner Epoche) Lord Wellington triumphieren, indem er es versteht, mit Nadel, Faden und Schere um sein Leben zu kämpfen.

»Mr. Simonelli und Der Elfen-Witwer« (2000) kommt in Form von Tagebuchauszügen der Titelfigur daher. Mr. Simonelli, ein junger Protestant italienischer Abstammung, nimmt, um den unaufhörlichen Intrigen Cambridges zu entkommen, eine Stelle als Landpfarrer an. Dort lernt er John Hollyshoes kennen, einen ihm bisher unbekannten Verwandten, der in dem heruntergekommenen Anwesen Allhope lebt. Hier treibt Clarke das Scharadenspiel zwischen Elfenprunk und tatsächlichem Verfall am weitesten, und Simonelli findet sich zu seiner Überraschung in der Rolle es beherzten Frauenretters wieder.

»Tom Brightwind oder Wie die Brücke in Thoresby gebaut wurde« (2001) ist die munterste Geschichte, mit den tollsten Zaubereikunststückchen. Herausgeber James Sutherland erzählt auktorial (mit Fußnoten) von einem im Jahre 1780 spielenden Abenteuer der Freunde David Montefiore, einem betont vernünftigen jüdischen Arzt, und Tom Brightwind, einem wohlhabenden Elfen, geschlagen mit einer quirligen Rasselbande junger Prinzessinstöchter.

»Antickes & Frets« (2004) handelt von der Konkurrenz zwischen Elizabeth I. und Mary von Schottland. Mary sinnt auf Rache und Thronübernahme und gibt sich zu diesem Zwecke alle Mühe, von der Heiratskarrieristin Bess Hardwick zu lernen, wie man mittels Stickereien Leute killt.

Zuletzt widmet sich Clarke/Sutherland mit »John Uskglass und der Cumbrische Kohlenbrenner« (2006) dem legendären Rabenkönig, dem mittelalterlichen Champion der englischen Zauberei, der schon in JS&MN eine wichtige und verrufene Rolle inne hat. Der junge Rabenkönig Uskglass verbreitet leichtfertig Chaos auf einer Waldlichtung, dem Zuhause eines einfachen Kohlenbrenners und seines Schweins. Der Kohlenbrenner will Vergeltung und klappert dazu die nächstgelegenenen Kirchen ab, wo die Heiligen (St. Kentigern, St. Barbara & St. Oswald) aus ihren Glasmalereihimmeln herabsteigen, um mit perfiden Zauberein dem aus Leichtsinn rücksichtslosen Uskglass erzieherische Lektionen zu erteilen.

Letztes Jahr habe ich gemosert wegen zu schnell und unbedacht gezogener ›Typisch Englisch, halt so wie bei Charles Dickens‹-Vergleiche. Bei Clarke kann aber auch ich solchen Vergleichen mit den üblichen Verdächtigen zustimmen: Clarkes alternativgeschichlich-magischer Weltenwurf verdankt nicht wenig den Romanen von Dickens und Jane Austen, denn Charakterzeichnung und die Schilderungen komplexer Standes- und Gesellschaftsregeln ist mehr Raum gewidmet, als knalliger Äktschn, und sind auf anregend durchdachte Art mit den magischen Vorgängen verbandelt. Clarke zeigt sich in ihrer Kurzgeschichtensammlung als meisterhafte Stimmenimmitatorin, die scheinbar mühelos die manchmal formelhaften Schematas von Märchen zu überraschend zu varieren und neuzubeleben versteht, mit dem für Kleinigkeiten aufmerksamen Alltags-, Konversations- und Sehnsuchtshin- und her, durch das eben die Romane von z.B. Thackery, Austen oder der Brontegeschwister zur Weltliteratur aufstiegen. Zwischen diesen beiden Erzählkonventionen pendelnd (Märchenfantasy hie, realistische Gesellschaftsprosa da), gelingt es Clarke spielerisch, ihre Leser und Protagonisten amüsant an der Nase herumzuführen und zu überraschen.
DER ROMAN

Spätestens seit Shakespeare ist ja bekannt, dass die Welt eine Bühne, und wie wichtig es deshalb ist, sich gemäß des eigenen Platzes in der Gesellschaft zu verhalten. Doch wer verteilt die Rollen und wie ergeht es Personen, die sich partout danach sehnen, von ihrem zugedachten ›Text‹ abzuweichen? Eine ganz ähnliche Frage, nur von ungleich größerem Format, eröffnet Clarkes dicken Roman JS&MN[10]. »Warum gibt es keine Zauberei mehr in England?«, will eine Versammlung von Gentleman-Zauberern zu Beginn ergründen, und einige unter ihnen sind nicht Willens, dieses Schicksal länger hinzunehmen. Diese Herren studieren zwar (allerweil streitend) die Geschichte der Zauberei, sind aber selbst zu keinerlei magischen Taten im Stande. Wegen des Rufes seiner exzellenten Bibliothek, treten die Gentlemen-Zauberer brieflich in Kontakt mit dem schrulligen und dauerschlechtgelaunten Bücherwurm Mr. Gilbert Norrell auf, der laut eigener Auskunft der einzige wahrhafte lebende Zauberer Englands ist. Nach einigem Zögern entschließt sich Norrell die Provinz zu verlassen und siedelt nach London über, um sich in den dortigen Salons darum zu bemühen, der englischen Zauberei zu neuem Glanz zu verhelfen., und mit ihr England im Krieg gegen Napoleon beizustehen. Mit seinen ersten magischen Kabinettstückchen überwindet Norrell das anfängliche Misstrauen der Entscheidungsträger aus Politik und Militär. Doch, ›Oh je!‹, der scheue Misanthrop findet sich dann, sehr zu seinem Missfallen, bedrängt von der aufgeregten Neugierde und den mannigfachen Begehrlichkeiten der besseren Gesellschaft, und begeht einen großen Fehler, als er eine junge Dame vor dem Tod errettet. Norrell sichert sich eifersüchtig und despotisch die Stellung des exklusiven Staatszauberers, ringt sich aber schließlich durch, seine Kenntnisse und Fertigkeiten mit einem Schüler zu teilen. Als solcher kommt verhältnismäßig spät, am Ende des erstens Drittels, Jonathan Strange in die Geschichte.

Der Kontrast der beiden Titelfiguren erinnert mich im besten Sinne an das Couplet, das Walter Matthau und Jack Lemmon in ihrer Laufbahn mehr als einmal grandios geboten haben: der Ältere ein emotionell harter und zerknautschter Griesgram, der Jüngere ein verplapperter und naiv-hochmütiger Hupfdibupfdi. Während Norrell in England bleibt um stets gereizt, verkrampft und paranoid das seine zum Krieg und der Magie-Renaissance beizutragen, begibt sich Strange ins Ausland zu den Truppen auf der iberischen Halbinsel[11]. Im diesem zweiten Drittel des Romans kommen nun auch Äktschn-Fans vermehrt auf ihre Kosten. — Überhaupt: Clarke steigert (für meinen Geschmack wunderbar) altmodisch sachte und subtil die Spannungs- und Spektakel-Dosis. Nicht selten schlendert der Romanfortgang scheinbar planlos herum, lässt sich athmosphärisch hie und da ein klein wenig treiben, schildert aber sonst mit der gewitzten Präzision die scharfer Beobachtung eigen ist, und die hier zudem gut Hand in Hand mit der (typisch) britischen Sitte einhergeht, Gemeinheiten und Tiefschläge zwischen feinen Ranken von spitzen Unterschneidungen zu platzieren. Zudem, und hier bedient Susanna Clarke ganz besonders meine speziefischen Phantastik-Gelüste, lässt sie gern auch mal kecke Büschel kleiner Groteskerien sprießen, oder balanciert souverän ganze Szenen auf einem schmalen Grad zwischen augenöffnender Plausibilität und prickelnder Abstrusität.

Als einer, dem mittlerweile einfach gestrickte Macho-, Strahle- oder Antihelden abhold sind, fand ich mein exquisitestes Vergnügen bei Clarkes feinem Amüsement über den Hang von Männchen zur geheimniskrämerischen Wichtigtuerei bzw. flamboyanter Prahlerei[12]. Keine Zweifel habe ich, dass sich Susanna Clarke mit ihren beiden Büchern jetzt schon in die Riege der ganz großen Vertreter der Phantastik geschrieben hat. Sie versteht vorzüglich, ihre Figuren als leicht übertriebene Karikaturen zu gestalten, und sie dennoch mit Würde und Einfühlungsvermögen zu behandeln — ein leider nur ziemlich selten zu findendes Lektürevernügen. All diese Qualitäten von Clarkes Schreibe, lassen mich der in Arbeit befindlichen (für sich stehenden) Fortsetzung von JS&MN entgegenfiebern. Immerhin: nach der feinen Salongesellschaft und ihrer Handlanger, will sie sich diesmal vermehrt mit den unteren Schichten der Gesellschaft auseinandersetzten. Ich hoffe nur, dass sie nicht nochmals 10 Jahre braucht.

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»Die Damen von Grace Adieu« (engl. »The Ladies of Grace Adieu«, mit Illus von Charles Vess, Bloomsbury 2006), übersetzt von Anette Grube, 300 Seiten; Gebunden Bloomsbury Berlin (2006) ISBN-13: 9783827006882; Taschenbuch bei Berlinverlag (2008) ISBN-13: 9783827006882.
»Jonathan Strange & Mr. Norrell« (engl. mit Illustrationen von Portia Rosenberg, Bloomsbury 2004), übersetzt von Anette Grube & Rebekka Göpfert, 1021 Seiten; Gebunden Bloomsbury Berlin (2004) ISBN-13: 9783827005229; Taschenbuch bei Berlinverlag (2005) ISBN-13: 9783833303333

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ANMERKUNGEN

[01] »Stoppe’d Clock Yard« in »Book of Dreams«, Hrsg. von Neil Gaiman & Ed Kramer, Harper-Prism 1996 (HC), 1997 (SC). »A Fall of Stardust« von Neil Gaiman & Charles Vess, enthält »Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig«. Diese Geschichte wird als Umsonst-Bonbon auf der wunderschönen Promowebsite zu Clarke angeboten: www.jonathanstrange.com Leider — ach Menno! — ist derzeit die deutsche Version dieser Promoseite derzeit kaputt.
Bleibt zu hoffen, daß die »Sandman«-Antho nu’ irgendwann mal übersetzt wird (immerhin sind da u.a. Beiträge solcher Fantasy-Kapazunder wie Gene Wolfe, Steven Brust, und Clarkes Lebensgefährten Colin Greenland versammelt), jetzt da der Panini-Verlag seit dem ersten Quartal 2007 damit begonnen hat, eine »richtige« deutsche Ausgabe von »Sandman« zu publizieren. Panini bringt mich zudem zum Jubeln, denn dort erschien nun auch endlich die mit 400 Zeichnungen von Charles Vess illustrierte Prachtversion von »Stardust« (dt. »Sternenwanderer«).
Ach ja: da ich Tad Williams’ Romane in der Vergangenheit ›mit Wonne‹ gedisst habe, hier ein vielleicht versöhnender Tipp: in der Debüt-Nummer des neuen Phantastikmagazins »Pandora« aus dem Hause Shayol/Otherland-Buchhandlung findet sich eine schöne Übersetzung des Williams-Beitrags der »Sandman«-Antho: »Das Schriftstellerkind«. Auf kurzer Strecke bereitet auch mir Williams Vergnügen. ••• Zurück

[02] Eine launische Spekuation: Ich habe die vorzügliche und streitbare Dame A.S. Byatt im Verdacht. ••• Zurück
[03] Der hier auch besprochene Neal Stephenson hat das in seinem Roman »Diamond Age« schön umschrieben:
Hackworth hatte sich die Mühe gemacht, einige chinesische Schriftzeichen zu lernen und sich mit den Grundprinzipien der fremden Denkweise vertraut zu machen, aber im großen und ganzen hatte er seine Transzendenz lieber unverhohlen und bloßliegend, so daß er sie im Auge behalten konnte — beispielsweise in einem hübschen Schaukasten aus Glas —, und nicht in den Stoff des Lebens eingewoben wie Goldfäden in Brokat.

Heyne 2001, S. 87, übers. von Joachim Körber. ••• Zurück

[04] Ich sag nur: »Der Einsamer Wolf«- oder die Steve Jackson Games-Reihen. ••• Zurück
[05] In heller Begeisterung entbrannt habe ich eine (wie ich finde) Gemme in Sachen Genre-Beschäftigung der anglo-amerikanischen Blogosphäre ins Deutsche übersetzt: das Seminar des akademischen Gruppenblogs »Crooked Timber« über und mit Susanna Clarke zu JS&MN, nachzulesen oder als PDF ausdruckbar unter: http://molochronik.antville.org/stories/1511971/ und nachgereicht dazu eine kleine deutschsprachige Rundschau (zu Feuilleton-, Forums- und Blog-Rezis) unter: http://molochronik.antville.org/stories/1513801/ ••• Zurück
[06] Einen willkommenen Werkstattbericht mit einigen Vergleichen zwischen Bleistiftentwurf und Tuschefederreinzeichnung kann man in Vess’ Blog genießen: http://greenmanpress.com/news/archives/59# ••• Zurück
[07] Sidhe: Keltisches Wort für Elfen, das sich von ›Hügel‹ ableitet. ••• Zurück
[08] John Aubrey (*1625, †1697): Autor des kuriosen Buches »Brief Lives« (»Lebensentwürfe«, Buch 114 der Reihe »Die Andere Bibliothek«, Eichborn 1994), von dem sich auch schon Gaiman den Titel für einen seiner »Sandman«-Sammelbände (Band 7 wird deutsch als »Kurze Leben« erscheinen) entliehen hat. ••• Zurück
[09] Geglückte Insekten/Elfen-Darstellung sah ich zuletzt im grandiosen del Toro-Film »Pans Labyrinth«. Ebenfalls in »Magira 2007« enthalten ist eine ausführliche Würdigung dieses exzellenten Fantasy-Märchen-Films von Uwe Kraus unter dem Titel »Goyas Erben«. ••• Zurück
[10] Mit 1021 Seiten, 69 Kapitel (abgepackt in drei Teile mit 22, 22, und 25 Kap.) und 184 Fußnoten wird dem Leser eine Menge Holz vor’n Latz geknallt. Laßt Euch nicht von den z.T. ausführlichen Fußnoten verwirren und ablenken, in denen Clarke meistens Erzählungspralinen aus der englischen Zauberei-Vergangenheit zum Besten gibt. Ich empfehle, immer zuerst dem Faden eines Kapitels unterbrechungslos zu folgen, und die Fußnoten nach dem Lesen eines Kapitals zu goutieren. Andere Möglichkeit: Man verdirbt sich keine Überraschung, wenn man nach Lust und Laune vorblätternd die kleinen Fußnotenerzählungen als Zwischendurchkonfekt genießt. ••• Zurück
[11] Ich weiß von einigen Fantasyfreunden, dass sie schon Boromirs, äh, dem »Sharpe« seine Abenteuer als Scharfschütze in genau dieser Szenerie genossen haben (als Romane von Bernard Cronwell, oder englische TV-Serie mit Sean Bean). ••• Zurück
[12] Wobei Clarke nicht den langweiligen Fehler begeht, nur die Männer als belächelnswerte Figuren zu präsentieren. ••• Zurück
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