molochronik

Jeff Vandermeer: »Die Stadt der Heiligen und Verrückten«, oder: Pilzsporen und Kalmartentakel

Eintrag No. 391

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2006 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter.}

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Ach gucke mal da!, dacht ich mir am Klett Cotta-Stand auf der Frankfurter Buchmesse 2005, als ich deren zweiten Phantastiktrumpf des damaligen Jahres entdeckte. Kommt nicht so oft vor, dass ein Buch neben seinen Konkurrenten auffällt wie ein Artefakt aus einer anderen Welt. Schwarz wie der berüchtigte Monolith auf dem Mond, aber vollgewimmelt mit weißem Text. Erst beim zweiten oder dritten Blick entdeck ich vorne ganz unten in gelb den Titel »Stadt der Heiligen & Verrückten« (The City of Saints & Madmen) von Jeff Vandermeer (1968), daneben der bescheiden posende rote Kett Cotta-Greif.

Schon der Buchrücken wird durch ein zentrales Gestaltungsmotiv des Autoren geprägt: die Collage, dem Mit- und Durcheinander von längeren und kürzeren Fitzeln und Fragmenten, die zusammen etwas gänzlich Neues ergeben. Unter dem Titel und dem Autorennamen prangt wie ein klassisches Emblem ein Detailausschnitt des Front-Covers: Eine sehende Hand mit Auge[01]. Darunter sieben programmatische Wörter, die für einen Dr. V von größtem Interesse sind: hochmütig Dunkelheit tapfer Last Flut Grauhüte Grimasse. Es folgt wiederum ein Bild, diesmal logohaft reduziert: ein grünlicher Kalmar, angeblich das Selbstportrait eines gewissen F. Madnok. Zuletzt eine figürlich-abstrakte, an urzeitliche Symbole erinnernde Männchen-Zeichnung mit dem Titel »Sporer Nr. 2« von Orim Lackpole, ausgestellt im Morhaim Museum. Vordere und hintere Schutzumschlagseite flirren, denn auf ihnen lesen wir in weißer Schrift zwei prosa-lyrische Szenen, die jeweils eine mittig platzierte Illustration umrahmen. Der Text der Vorder- und Rückseite ergibt bereits die erste kleine Geschichte von einem sich nachts in einem Boot auf dem Mott-Fluss der Stadt Ambra nähernden Reisenden, der im Gepäck unter anderem ein Exemplar des Buches »Die Stadt der Heiligen & Verrückten« hat. Der Reisende plumpst ins Wasser und hat eine unheimlich-visionäre Begegnung mit einem der großen Königskalmare.

Derart ist das ganze Buch, sogar für gewöhnlich harmlose Teile wie ›Andere Bücher des Autoren‹ und ›Biographie‹, von kreativer Devianz befallen. Da tummeln sich fiktive oder noch zu schreibende Bücher von Vandermeer[02], und der Lebenslauf franst ins Mysteriöse aus, wenn er angibt, dass der Autor für einige Zeit als spurlos verschwunden galt. Ein völliges Novum sind die ›Anmerkungen zu den Schriften‹, eine exemplarische Kostprobe von Vandermeers synästhetischem Humor, wenn es z.B. über die Caslon Old Face heißt:

»Nach feinem Leder duftend, nach Sandelholz und Zimt, ist die Caslon trocken, aber samten«;

und zur Times New Roman wird kommentiert, dass sie

»das grobe Fluidum eines zähen Bratens mit der Struktur von Kartoffeln (vereint), und ihrem steinernen Bukett eine feuchte Textur beigemischt (ist)«.

Grob gesagt, ist das vollkommen durchgeknallte, ziemlich elitär-feinsinnige Phantastik, sozusagen 72% Edel-Fantasy-Schoko.

Doch wie sieht es in dem Buch aus? Jede Übersicht muss hier gröblichst vereinfachen, denn der ›Collage-Roman‹ ist so geradeaus wie ein Korkenzieher für n-dimensionale Weinflaschen. Die erste Hälfte des Buches füllen vier längere Geschichten, die auf Amerikanisch 2002 erschienen. In »Dradin verliebt« erzählt ›ganz normal‹ ein auktorialer Erzähler von einem jungen Missionar des Religionsinstitutes von Morrow, der nach seinem Scheitern aus den südlichen Dschungeln nach Ambra zurückkehrt. Seine überreizte Verliebtheit in eine unbekannte Schönheit verquirlt sich mit dem Fieberwahn einer Geschlechtskrankheit und idyllisch-bitteren Erinnerungen an die Eltern. Schließlich stolpert Dradin, der Möchtegern-Ex-Missionar, durch nächtliche Widrigkeiten ärgerer Güte.

Es folgt als Zweites ein Sachtext, der »Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra«, die ein Duncan Shriek für das große Handels- und Verlagshaus Hoegbotten schrieb[03]. Ursprünglich hieß Ambra Cinsorium und war das blühende Kulturzentrum eines Volkes kleiner Pilzmenschen (die im späteren Buchverlauf sogenannten Grauhüte), bis der im mächtigen Mündungsdelta des Mott-Flusses gelegene Ort von Piraten-Kaufleuten (den Katten) entdeckt und in gut räuberisch-›merkantil-imperialer‹ Manier erobert wurde. Hier werden neben vielen anderen Dingen halluzinogen-gesättigte Berichte von Irrwanderungen durch die unterirdischen Gänge der gedemütigten Grauhutkultur vom Historiker abgeklopft; Shriek spekuliert, wie (wenn überhaupt) die Grauhüte besiegt wurden, oder ob sie nicht vielmehr langsam und subversiv Ambra zurückerobern.

Der dritte Text »Die Verwandlung des Maler Martin See« erzählt von der , der durch eine (Nabokov läßt grüßen) geheimnisvolle ›Einladung zu einer Enthauptung‹ in eine brutal-heikle Lage gerät. Der Zwischenfall traumatisiert ihn, macht aber seiner bis dahin brav-zahmen Malerei flotte Beine, und See geht als einer der großen Kunstheroen in die Geschichte der Stadt Ambra ein. Im Hintergrund liefern sich innige Verehrer und Verächter des verschwundenen Komponisten-Titans Voss Bender einen handgreiflichen Straßenkrieg. Zwischen diese wieder auktorial dargestellten Erlebnisse von See fügt Vandermeer Auszüge aus einem Essay über Sees Bilder von der gescheiterten Malerin, (dann) Galeristin und Kunstgeschichtlerin Janice Shriek[04]. Wunderbar der Kontrast zwischen den Schauer-Schilderungen der Abenteuer, Visionen und Alpträume die Martin See zu seinen gerühmten Gemälden treiben, und den in Monographiestilistik gehaltenen Deutungen über Sees Werk und Leben.

Als Viertes folgt »Der seltsame Fall von X«, und man begleitet (wieder auktorial) den ›Vernehmer‹ einer geschlossenen Anstalt Ambras bei seiner Arbeit mit dem Patienten X. Soweit ich das verstanden zu haben glaube[05], soll der Mann in der Zelle niemand anderes als der in seinem Lebenslauf als verschollen gemeldete Vandermeer selbst sein, der dem Verhörer/Arzt Rede und Antwort über seinen Wahn von der Fiktionalität/Realität der Stadt Ambra liefern muss.

Bestes Hin- und Her und Ineinander von echter Welt (hier) und Fantasy-Welt (dort) also. Das Motiv des in seine Fiktion hineingestülpten Autors (bzw. ›Helden‹) ist zwar jetzt nicht sooo brennend neuartig[06], aber Vandermeer traut sich, diese Narrationsschraube schwindelerregend weit zu drehen. Immer wieder, aufeinander verweisend, ineinander geschachtelt, variierend finden verwirrende Bild-, Sprach- und Wirklichkeitsscharaden statt: Über Menschen und Menschenförmiges; über Kalmare, deren Intelligenz der Menschlichen das Wasser reicht und über Menschen, die sich für Kalmare halten; über Zellen, Gefängnisse, Käfige, Labyrinthe und Verwandlungen, aber auch über Impres-sionen, Erinnerungen, Ängste, Träume und Visionen.

Die Frage, was genau ›das Rezept‹ von Vandermeers registerreicher ›Erzählweise‹[07] ist, ließe sich z.B. so präzisieren: Wie schafft Vandermeer es, sich einerseits im besten Sinne dem leidenschaftlichen Schwulst düster-dystopischer Empfindsamkeit hinzugeben, dem aber andererseits mit einer erfrischend trocken-lakonischen Stimmlage gegenzusteuern? Meine Antwort wäre: —Vor allem mit stilistischer Eleganz. So bringt Vandermeer die ureigene Überreiztheit und Hybris der Phantastik, ihre Neigung zu einer monströs-paranoiden Eskapistik der Faszinationen mal witzig, mal berauschend, mal träumerisch, aber immer lebendig zum Schillern. Vor welchem ›Hintergrund‹ könnte man solch schlierenbunte Phantastik-Ästhetik besser glänzen lassen, als vor einem passend-elegantem Strudel finster-undurchschaubarer Komplexität?

In der rätselhafteren zweiten Hälfte, dem »Annex«, um den das Buch in seiner Ausgabe 2004 ergänzt wurde, befindet sich die schriftliche Hinterlassenschaft, die man in der Zelle des verschwundenen Patienten X. gefunden hat, nebst Briefen seines Arztes und Manuskripten anderer Personen. Die literarische Technik, in kleinen Dosen ›hand outs‹ aus der Fiktions- bzw. Phantastikwelt einer Geschichte beizugeben, findet sich ja durchaus mal ein. Kommt schon in jedem Krimi vor, wenn z.B. Zeitungsartikel ›eins zu eins‹ wiedergegeben werden. Für einen Literaten, selbst für einen Phantasten, treibt Vandermeer aber auch diesen Kniff atemberaubend weit.[08]

Doch weiter mit der Buchbesichtigung des Vandermeer’schen Labyrinths. Ein Orientierungsverlust-Schub ergibt sich ab Annexbeginn schon aufgrund der fehlenden oder irreführenden Paginierung, aber wenn ich richtig zähle, dann sind hier elf unterschiedliche Dokumente, Buchauszüge, Broschüren, und sonstige Unterlagen versammelt, inklusive Werbeanzeigen wie:

»Erfahren Sie, warum der Strattonimsus Schwindel ist. (…) Werden Sie Ihr eigener ›Kampfphilosoph‹«

und:

»Strattonismus / Verehre das zweigekammerte Hirn (…) Du kannst die Stimmen in Deinem Kopf beherrschen«.

Der Leser versucht indes, das Stimmenwirrwarr des Buches in den Griff zu bekommen. Gutes Trainingsgerät, um die ›willing suspension of disbelief‹-Muckis bis zum Kribbeln zu reizen.

Für meinen Geschmack ist der ›abgefahrenste‹ Text des »Annex« ist »Der Königs-Kalmar / Als da ist eine kurze Monographie von Frederick Madnok (nebst einigen zusätzlichen Untersuchungen von dem Bibliothekar Candace Harpswallow)«. Hier gibt es eine monströse Bibliographie mit 265 fiktiven Titeln, die sich überwiegend mit Kalmaren befassen. Einige der aufgeführten Titel hat Madnok kommentiert oder zusammenfasst. Er versucht dabei, verschlüsselt von seinen eigenen dunklen Familienerinnerungen zu berichten. Und nebenbei gibt’s dann plötzlich in all diesem Durcheinander köstliche Parodien auf trashige Rumsbums-Genreserien, wenn Madnok die fetzige »Folterkalmar-Serie« einer gewissen (fiktiven) Vivian Price Rogers zusammenfasst und kommentiert.

Auf den »Annex« folgen ca. 50 Seiten mit 130 Glossar-Einträgen über Geschichte, Gesellschaft, Persönlich- und Eigentümlichkeiten der Welt von Ambra. Hier gönnt sich Vandermeer nun als Ausgleich nach all dem empfindsamen Wahnsinn, den aufdringlichen Halluzinationen und unheimlichen Verwandlungen die dicksten Kalauer[09]. Ich muss den euro-chauvinistischen Smutje meines Lese-Schiffs mit Rum ruhigstellen, um ihn davon abzuhalten, mit großem Gewese dem Amerikaner Vandermeer mittels Ordenanheften zum ›literarischen Europäer ehrenhalber‹ zu ernennen. Aber ist so ein Impuls erstaunlich bei einem Autoren, der von sich sagt, dass er am ehesten der Tradition des Magischen Realismus folgt, und der Nabokov und Kubin und Herzmanovsky-Orlando zitiert?

Jeff Vandermeers Debüt in Deutschland ist eines der wenigen Bücher der letzten Jahre, an denen nicht wenig Leser scheitern mögen, was aber die Qualität des Werkes keineswegs in Frage stellt. Okay, der Vorwurf, »Die Stadt der Heiligen & Verrückten« sei so ›artsy-fartsy‹- oder ›Kunstkacke‹-Phantastik, mag vulgär klingen, liegt aber nur im Ton, nicht sachlich daneben. Das Buch taugt nicht mal mit Schwimmflügeln und Schorchel als U-Bahn-Lektüre, und ich empfehle erregbaren Gemütern ausdrücklich, es nicht zum Einschlafen zu lesen[10].

Allen anderen kann ich nur wünschen, dass in ihnen ebenfalls dieses wunderbare Gefühl erblüht

»… für die unvergleichliche Pracht der Stadt – ihre Liebe zum Ritual, ihre Leidenschaft für die Musik, ihre unendliche Fähigkeit zu schöner Grausamkeit«
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[01] Das ›Handauge‹ oder ›occulta manus‹ wird in der »Emblemata« von Alciati (1550) als eine Hand, die…
»…nur glaubt, was sie sieht« (Ecce oculata manus credens id quod videt)

…beschrieben. Eine Mahnung zur Vorsicht gegenüber jeglichem trügerischen Schein. ••• Zurück

[02] Mit Titeln wie »Das trunkene, aber reuige Leben des Cadmion Signal«. ••• Zurück
[03] Annotations-Fetischisten aufgepaßt: Hier gönnt sich Vandermeer durch die Schrulligkeit der Figur Shriek sprechend tollen Fußnotenspaß. Dagegen ist Pratchett zahm! ••• Zurück
[04] Schwester des Historikers Duncan. ••• Zurück
[05] Immerhin liegt Ambra am Mott-Fluß, und ›Dr. Mott‹ hieß der Arzt, der Edgar Allan Poe in dessen letzter Phase womöglich mehr schlecht als recht behandelte. Angeblich mit zu laxer Hand, was Morphium, Opium oder sonstiges dunkelromantisches Rauschmittel betrifft. Jedenfalls verschwand Poe spurlos einige Tage, um völlig derangiert, verwirrt und todkrank wiederaufzutauchen und kurz darauf zu sterben. Niemand weiß, was damals wirklich mit ihm geschah. ••• Zurück
[06] Siehe z.B. »The Blazing World« (1658) der Herzogin Margaret von Newcastle, J. L. Borges, Fernando Pessoa, Michael Ende, Matt Ruff und jüngst im breitfließendem Genre-Mainstream Stephen King in seinem »Dark Tower«-Epos. Auch Cornelia Funkes »Tintenherz«-Trio lebt von diesem Motiv. ••• Zurück
[07] Hier könnte im ursprünglichen Sinne des Wortes ›Phantastik‹ stehen; was ich umständlich der Ethymologie des Wortes Phantasie folgend ›medial-narrative Modi, die sich besonders dadurch auszeichnen, daß sie beim Empfänger Bilder, Vorstellungen und Eindrücke sichtbar werden lassen, oder eben für ihn und/oder in ihm erscheinen lassen nenne. ••• Zurück
[08] Klassische Beispiele für literarische Texte, in denen Originalquellen aus der Fiktionswelt als ornamentale Ergänzungen zur Geschichte gereicht werden, sind z.B. Rudyards Kiplings »With the Night Mail – A Story of 2000 A.D.« (1909) und natürlich Karel Çapeks »Der Krieg mit den Molchen« (1936). Und sind nicht auch der von Bilbo Beutlin verfaßte Reise- und Abenteuerbericht »There and Back Again« (Der kleine Hobbit), sowie das von seinem Neffen Frodo und dessen Freund Sam fertig-geschriebene »Grosse Rote Buch der Westmark« (Der Herr der Ringe) ›Original-Manuskripte‹ aus der Mittelerdewelt, und sind entsprechend z.B. die Lieder und Gedichte nicht solche ›Authentizifizierungsfenster‹ in die Phantastikwelt? ••• Zurück
[09] Mit sprichwörtlichen Reinsteigerschenkelklopfern. Wo immer man das Buch in die Pfoten bekommt, ich empfehle als Kostprobe den Glossareintrag »Hyggboutten«, so um die vierzigstletzte Seite vom Buchende gezählt zu finden. ••• Zurück
[10] Außer natürlich, man liest auch sonst gerne solche Dinge wie Baudelaire-Verse, Bierce-Fabeln oder Hebbel-Tagebuchnotizen zum Einschlafen. ••• Zurück

Neil Gaimans »The Sandman« Band 1: »Prädludien & Notturni« mit »Hilfreichen Handreichungen« als PDF

Erster Teil von Molos Empfehlungen von Neil Gaimans inkl. »Hilfreicher Handreiche« über mythologische, historische und literarische Anspielungen.

Eintrag No. 389 — Schön langsam mutiert die Molochronik zu einem Neil Gaiman-Fanblog. Was soll ich auch machen? Gaiman ist nun mal einer der originellsten und fruchtbarsten Gegenwartsvertreter der Genre-Phantastik, und da durch so manches Ungeschick seine Werke bei uns bisher zumeist in nicht so dollen Ausgaben erschienen, werf ich mich gern ins Zeug um diesen ›modernen Multimedia-Ovid‹ lobzupreisen. Ich schätze Gaiman deshalb so hoch, weil er es (nicht immer aber eben immer wieder) schafft, einem Literatur-Ideal gerecht zu werden, daß mir durch solche respektablen Klassiker wie den Römer Horaz oder den Barock-Gelehrten Gracian schmackhaft nahegebracht wurde. Kein Zweifel: Literatur, Fiktionen, Fabulation sollten zu mehr nützen, als dem Publikum eine Wohlfühlmassage zu verschaffen. Leser von Romanen (egal ob in Prosa oder in graphischer Form) sollten auch zum Nachdenken angeregt werden. Doch zweiteres will nun mal besser schmecken, wenn die Belehrung nicht so dröge, steif und nur bildungshuberisch daherkommt. Zuerst einmal muß unterhalten werden, muß die Hemmung durch den Zweifel überwunden werden. Derart beschwingt ist es dann auch locker-flockiger möglich, den Lesern ernste Gedanken nachzubringen, auf die sie sich ansonsten nicht einzulassen die Lust gehabt hätten.

In den frühen 90gern lauschte ich auf einer Fantasy-Con Freunden beim Fachsimpeln über die »Sandman«-Comics. Es ging um die ›Endless‹, die Endlosen, jene 7-köpfige, dysfunktionale Familie anthropomorpher Personifizierungen, deren Namen auf englisch alle mit D beginnen (der ernste Destiny/Schicksal, die lockere Death/Tod, der vergrübelte Dream/Traum, der lebenslustige Destruktion/Zerstörung, die intrigante Desire/Verlangen, die selbstquälerische Despair/Verzweiflung und die jüngste im Bunde Delirium, die einst Delight/Entzücken war). — Als jemand, der schnell mal hingerissen ist, wenn philosophische Menschen- und Weltenlauf-Bespiegelung mit Äktschn, Spannung und Soap vermengt werden, spitzte ich die Ohren. Hmm, neue, neutrale ›Götter‹, eine moderner Pantheon für eine globalisierte Welt, dachte ich mir neugierig.

Worauf läßt man sich ein? Auf einen großen, zehnbändigen Epos über die Krise von Dream/Morpheus, seinen Niedergang und seine Wiederauferstehung; auf eine kecke Mischung aus Altem und Neuen, wobei Mythologien und Klassiker von frühester Zeit an und aus allen möglichen Weltgegenden Hand in Hand mit Neo-Mythen der westlichen Pop-Moderne einen abwechslungsreichen Reigen tanzen.

Entbrannt vor Begeisterung für Gaimans graphischen Wunderzyklus werde ich basierend auf den von Greg Morrow und David Goldfarb gesammelten, und von Ralf Hildebrandt betreuten englischen Anmerkungen zu »Sandman«, begleitend zur Neuauflage der Sammelbände, in der Molochronik künftig reichlich Material für bildungsinteressierte Freunde der Edel-Phantastik reichen.

Hier zum Download des PDFs der ersten Abteilung meiner »Hilfreichen Handreichungen« zu Neil Gaimans großartigen Comicroman. — 1000 Dank an lucardus für eine spendierte Runde Korrektur!

Der erste Band »Prädludien & Notturni« versammelt den aus acht Kapiteln/Heften bestehenden eröffnenden Handlungsbogen, dessen Arbeitstitel auf englisch »More than Rubies« (Mehr als Rubine) lautet.

Ein nach dem Vorbild des Scharlatan-Okkultisten Aleister Crowley gestalteter englischer Gurumotz hegt die alte Menscheitsambition den Tod zu überwinden zu wollen. Dazu zieht dieser Roderick Burgess Anfang des 20. Jhd. ein Beschwörungsritual mit seiner Kultgang durch, verhaut sich aber grob. Statt Death/Tod zu bannen, fängt Burgess deren ›kleinen‹ Bruder Dream/Traum in seinem Zauberkreis, wo der bleiche König der Traumlande über siebzig Jahre darbt. Durch Dreams Abwesenheit verfiel sein Reich, viele Traumlandbewohner haben sich auf und davon gemacht und treiben ihr Unwesen in unserer Welt.

<img src="molochronik.antville.org" title="»Sandman«, Heft 1, Seite 1, alte Kolorierung. Copyright by Vertigo/DC."align="right" style="margin-left: 10px; margin-bottom: 10px;">Erster und Zweiter Weltkrieg vertreichen, wie auch die Nachkriegsepoche, bis es Dream schließlich Ende der 80-ger gelingt seinen Kerkermeistern zu entkommen und in seine Heimatgefilde zurückzukehren. Soweit das erste Kapitel.

Der Rest von »Präludien & Notturni« erzählt dann ausführlich und abwechslungsreich, wie der geschwächte Morpheus Stück für Stück seine machtvollen Artefakte wiedererlangt und sein Reich halbwegs restauriert. Zu den Höhepunkten des ersten Sammelbandes gehört ein Ausflug von Morpheus in die Hölle, wo er sich mit einem gemeinen Dämon ein ›Duell der Realität‹ liefert; ein verstörendes Kapitel über Größenwahn und Maßlosigkeit, wenn ein Straßenrestaurant zum Hort tödlichen Gruppen-Irrsins wird; und natürlich das abschließende achte Kapitel des ersten Bandes, wenn dem selbstmitleidigen Morpheus von seiner überaus symphatischen Grufischwester Death der Kopf gerade gerückt wird.

Meine ersten »Sandman«-Einzelhefte las ich noch leihweise, bevor ich im September 1992 mit Heft 41 selbst anfing zu sammeln. Im Lauf der Zeit besorgte ich mir die zehn englischen Sammelbände von Vertigo/DC. Mit großer Verstörung beobachtete ich vor Jahren, wie diese Sammelbände in schrecklicher Art und Weise das erste Mal auf Deutsch herausgebracht wurden. In zu großem (europäischem) Albumformat auf viel zu schwerem Papier, und (was am rügenswertensten ist) oftmals wurden die Original-Sammelbände für die deutsche Ausgabe einst zweigeteilt veröffentlicht. Zudem wurde diese erste deutsche Ausgabe nie abgeschlossen. Sicherlich hat das für enorm viel Frust bei der Comicliteratur-Leserschaft gesorgt (und wieviele Jungleser durch diese ›Schlampausgaben‹ dazu getrieben wurden, gleich auf Englisch zu lesen, wage ich gar nicht zu spekulieren).

Nun — endlich! — mit großer Verspätung, dafür aber auch mit erfeulicher Sorgfalt gestaltet erscheinen seit Anfang dieses Jahres die Sammelbände bei Panini/Vertigo erneut. Panini hat Sandman neu übersetzten lassen lassen und folgt dabei der neusten Sammelauflage der Amerikaner, tischt uns damit also die neue digitale Kolorierung auf. Die alte Kolorierung ist freilich nicht gänzlich zu verachten; vor allem Freunde der klassischer Gruselrießer-Comics dürften daran Gefallen finden. Immerhin: die 75 Hefte der »Sandman«-Reihe, die von 1989 bis 1996 (fast immer) monatlich erschienen, dokumentieren nebenbei auch die Geschichte der Umstellung zum digitalen Einfärben der s/w-Linienzeichnung. Der Vergleich von Seite 1 in alter und neuer Kolorierung zeigt, wie Dank digitaler Bildbearbeitung feinere Farbnuancen & -verläufe möglich sind. Die Seiten sind zugleich dezenter eingefärbt, und wirken dennoch plastischer. Dadurch geht zwar der horror-trashige Charakter der ursprünglichen Koloierung verlohren, aber alles in allem finde ich die neue Farbgestaltung angenehmer, stimmungsvoller, kurz: schöner.

Zu den bezaubernsten Markenzeichen von Gaiman gehört, wie es ihm gelingt, kleine Geschichten in der großen Geschichte unterzubringen; wie er vor allem mit »Sandman« eine Geschichtenerzähl-Maschinerie anwirft, die im Besten Sinne an die berühmte Wendung aus Michael Endes »Die Unendliche Geschichte«

Aber dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden

oder auch an die labyrinthische Weberei von Schahrasads Erzählungen in »Tausendundeiner Nacht« erinnert.

Wie bei jeglicher ehrwürdiger Phantastik bietet »Sandman« seinen Lesern ein facettenreiches philosophisches Panoptikum an. Philosophisch im hehresten Sinne, eignet sich dieses Epos über Niedergang und Wiederaufstieg, über Sehnsucht und Zorn doch vorzüglich dazu, den Leser unaufdringlich die Kunst des Sterbens zu lehren, ohne Verzweiflung damit fertig zu werden, daß unser aller Leben auf ein unausweichliches Ende zustrebt, es also nur in unserer eigenen Verantwortung liegt, welche Welten wir für uns und unsere Mitmenschen bauen.

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LINK-SERVICE

  • In der deutschsprachigen Wikipedia schreiben Sandman-Leser fleißig, stellen Übersichten zu den zehn Sammelbänden und die Charaktere zusammen. Guter Einstieg, um in den Tiefen der Sandman-Comics zu gründeln.
  • Jürgen Weber lobt für »Buchkritik.at« und meint trefflich, daß…
    »Sandman« Ihnen erlauben {wird} besser zu träumen.
  • Björn Backes lobt in seiner Besprechung für »Buchwurm«:
    »Sandman« ist ein ehrenwerter Fundus abstrakter Poesie, düster, betörend, verwirrend und in seiner Form definitiv einzigartig.

    Leider stößt Björn aber auch wieder in das Horn, welches tutet, daß Gaiman verschreckend und verstörend ›brutal‹ ist. Liebe Leut: »Sandman« ist gedacht für ›mature readers‹. Trotz aller Auch-Eignung für aufgeweckte Teens, ist »Sandman« eben kein Kinderfantasykram, sondern beste Phantastik für reife Leser.

  • Für »Roterdorn.de« schreibt Arielen (Christel Scheja) über Sammelband 1., und lobt sehr trefflich:
    Einerseits kann man sich einfach nur von einer spannenden und ungewöhnlichen Geschichte unterhalten lassen - andererseits ist es auch möglich in die hintergründigen Szenarien einzutauchen, die in Text und Bildern erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Das macht die Serie zu Recht zu einem der Klassiker der Comic-Geschichte.
  • Blogger-Kollege Miko O. von »Screwtape’s« beschreibt das umfassende Staunen, das Sandman seinen Lesern bereitet.

Simon Spiegel: »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des SF-Films«, oder: Über plausiblen Luftschloßbau.

Eintrag No. 387Zur Einstimmung: Was ist eigentlich so besonders (im Guten wie im Schlechten) an der Phantastik-Sparte Science Fiction? Handelt es sich dabei nicht schlicht um eines jener Genres, in denen man noch in aller naiven Ruhe Cowboy und Indianer spielen darf, nur halt mit fesch ausgerüsteten Space Rangern und schleimig-befremdlichen Außerirdischen? Auch, ja, schon, aber zieht Euch mal folgenden Abschnitt aus »Girlfriend in a Coma« (1998) Douglas Coupland rein. Da wird knapp und virulent zur Sprache gebracht, welche roten Fäden das Grundgewebe der SF bilden. (S. 269 der TB-Ausgabe von Flamingo; Übersetzung von Molo):

Ask whatever challenges dead and thoughtless beliefs. Ask: When did we become human being and stop being whatever is was we were before this? Ask: What was the specific change that made us human? Ask: Why do people not particularily care about their ancestors more than three generations back? Ask: Why are we unable to think of any real futury beyond, say, a hundered years from now? Ask: How can we begin to think of the future as something enormous before us that also includes us? Ask: Having become human, what is it that we are now doing or creating that will transform us into whatever it is that we are slated to next become? {…} What is destiny? Is there a difference between personal destiny and collective destiny? {…} Is Destiny artificial? Is it unique to Man? Where did Destiny come from?
Was immer toten und gedankenlosen Glauben herausfordert, das frage. Frage: Wann wurden wir zu menschlichen Wesen und hörten aus zu sein, was immer wir zuvor waren? Frage: Welcher Wandel war es genau, der uns zu Menschen machte? Frage: Warum haben Menschen keine besondere Verbundenheit mit ihren Vorfahren, die weiter als drei Generation zurückreichen? Frage: Warum sind wir unfähig uns irgendeine echte Zukunft jenseits von, sagen wir, einhundert Jahren vorzustellen? Frage: Wie können wir damit anfangen, uns die Zukunft als etwas riesiges das vor uns liegt und das uns beinhaltet vorzustellen? Frage: Was von dem das wir, nachdem wir zu Menschen geworden sind, nun tun oder erschaffen, wird uns umwandeln, was immer vorgesehen ist, in das, was wir als nächstes werden? {…} Was ist Schicksal? Gibt es einen Unterschied zwischen dem Schicksal eines Einzelnen und dem Schicksal einer Gruppe? {…} Ist Schicksal etwas künstliches? Ist es etwas nur dem Menschen eigenes? Woher kommt Schicksal?

Weil die erzählten Vorstellungen von der Zukunft immer auch ein Jounglierspiel mit Aufputsch- und Beruhigungsreizen zwischen Hoffnungs-Versprechen und ›Teufel an die Wand‹-Malerei sind, gehört SF (und Phantastik allgemein) zur fordersten Front im Infowar um die Imagination der Massen. Kolonisierungsgerangel um die Konsumenten-Hirne nennt sich das dann.

Da ist es für mich eine außergewöhnliche Freude die Sachbuchneuerscheinung eines SF-Forum-Kumpels vorzustellen, bei der ich mit Lob kaum übertreiben kann. »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des SF-Films« von Simon Spiegel ist nicht das x-te Durchhechel-Lexikon, sondern bietet einen im besten Sinne abwägenden und klärenden Rundgang durch Geschiche und Eigenheiten des SF-Films, und liefert dabei ganz nebenbei so manch erhellende Einsicht zu Genre- und Verfahrens-Problemen der phantastischen Disziplinen.

Spiegel spricht dabei offen von der Herausforderung sich als ›Film-Fan‹ film- und medienwissenschaftlich objektiv mit seinem geliebten Genre auseinanderzusetzten. Doch er hat diese Schwierigkeit gemeistert, denn es bleibt immer kenntlich, wo Spiegel mit geisteswissenschaftlicher Distanz über den Gegenstand referiert, und wo er sparsam (sozusagen zur Auflockerung) seinen persönlichen Geschmack offenbart. Erfrischend persönlich, und einnehmend sympathisch sind schon Widmung und Motto: In der Widmung kommt die Tragik vieler männlicher SF-Begeisterten zur Sprache, daß SF Frauen überwiegend kalt läßt. Und statt einem klugen oder coolen Spruch, gibts einen (Tusch!) Gary Larson-Witz als Motto. Perfekt.

Das Buch ist zweigeteilt: die ersten 120 Seiten bieten eine (Schnell-)Übersicht der SF-Forschungsgeschichte, auf die Umzirkelungen der Definitionsbemühungen, und der (auch literatur-)geschichtlichen Entwicklung sowie der philosophisch-gesellschaftlichen Aspekte des SF-Genres folgen.

Für mich als Vertreter einer maximalphantastischen Genre-Sicht ist die Dilemmaschwemme des ersten Teils so vergnüglich zu lesen wie ein Intrigantenstadel, sozusagen beste Diskurs-Seifenoper, vor allem, weil ich Simon Spiegel die meiste Zeit schmunzelnd zustimmen kann. So ist die SF ein dauerhaft populäres Genre, wird zugleich aber von den vermeindlichen Kulturfuzzis (wenn überhaupt) überwiegend scheel beäugt. Macher und Leser der SF stehen in innigeren Austausch, als das in ›relevanteren‹ und ›wertvolleren‹ Fiktionsgefilden üblich ist. Nicht selten waren SF-Macher erstmal selbst Fans, und da die etablierten Akademiker nur langsam in die Puschen kamen, haben vor allem zu Beginn der SF-Kernepoche (das sogenannte ›Golden Age‹, etwa Ende der Dreissigerjahre bis zu den Fünfzigern des letzten Jhd.) die Fans selbst die Forschung erledigt. Spiegel erteilt dabei den oftmals peinlichen Adelungsabsichten von SF-Liebhabern, aber auch den auf idologiekritischen Vernageltheiten fußenden Schlechtreden von SF eine klare Absage. Vielmehr geht es dem Autor darum, genauer darauf zu achten, wie SF-Filme als Prozesse funktionieren, und welche Konstruktionsleistungen das Publikum anstellen muß, um SF-Filme verstehen und genießen zu können.

BOCKSPRUNG ÜBER TODOROV HINWEG

In seiner Übersicht zu den Definitionsanstengungen begeistert mich Simon Spiegel mit seiner Art, wie er die im deutschprachigen unseelig einflußreiche Arbeit »Einführung in die fantastische Literatur« von Tzvetan Todorov als Leiter nutzt, die man getrost vergessen kann, sobald mit mit ihrer Hilfe fruchtbarere Aussichtsplattformen auf Phantastikgenre erklommen hat. Warum hack ich so polemisch auf Todorov rum? Na weil sein Genre-Ansatz ein systematischer ist (es gibt auch normative, narratologische, historische, wirtschaftliche und rezeptionsorientierte), mit dem Genres anhand (S. 24) …

»›objektiver‹«, textueller, formal-semnatischer Merkmale bestimmt und voneinander abgegrenzt {werden}.

Todorov ist überhaupt nicht daran gelegen zu untersuchen, wie Phantastik in freier Wildbahn daherkommt, sondern es geht ihm um einen Idealtypus, nämlich: wenn der Leser bei einem Werk nicht klar entscheiden kann, wie die Wirklichkeitsverfassung geartet ist. Je nachdem, wie ein unerklärliches, übernatürliches Ereignis in einer ›realistischen‹ Fiktion aufgelöst wird (realitätskonform oder nicht), unterscheidet Todorov dann zwischen:

  • Reiner Phantastik: Übernatürliches wird weder als Lug und Trug rational aufgelößt, noch als wirklich Übernatürlich bestätigt. Der Leser bleibt am Ende zweifelnd zurück (z.B.: »Total Recall«);
  • Phantastisch-Wunderbarem: Übernatürliche Dinge werden am Ende als genau das, Übernatürlich, erklärt. (z.B.: »The Sixth Sense«);
  • Phantastisch-Unheimlichen: Was zuerst wie eine übernatürliche Unmöglichkeit scheint, wird rational erklärt (mein Beispiel: »Pakt der Wölfe«);
  • Unvermischt Wunderbares: Der Weltenbau ist unverhohlen von übernatürlichen Dingen geprägt (mein Beispiel: »Harry Potter«);
  • Unvermischt Unheimliches: Viele als realistisch verortete Krimis bieten Spannung, indem eine Tat präsentiert wird, die sich augenscheinlich nur mittels ›Magie‹ vollbringen ließ. Exemplarisch z.B. das Motiv des Ermoderten im von innen verschlossenen Zimmer, bekannt durch Kriminalerzählungen von z.B. Agatha Christie und Arthur Conan Doyle.

Diese systematische Einteilerei steht und fällt mit dem Gegensatz zwischen ›realistisch‹ (im Sinne von wirklichkeitskonform, was der Fall ist) und ›unrealistisch‹ (im Sinne von Hirngespinst und was nicht der Fall sein kann, z.B. eierlegende Wollmilchschweine). Und was Autoren und Leser, sprich: Menschen überhaupt für realistisch und unrealistisch nehmen, hängt nun mal sehr von der jeweiligen Sicht auf Welt und Leben ab. Zudem ist Todorov herzlich Wurscht, ob die in einer Geschichte gegebene (oder nicht gegebene) Aufklärung lediglich eine formale Konvention ist oder nicht (Ätsch, war alles nur geträumt). Als Begriffssteigeisen für die ersten Dutzend Höhenmeter taugen Todorovs fünf Begriffe durchaus, alle anderen Wörter seine »Einführung…« kann man jedoch getrost dem Vergessen anheim fallen lassen.

Spiegel kommt zur nützlichen Einsicht, daß Phantastik weniger ein fixes Genre ist, daß sich mittels inhaltlicher Merkmale bestimmen läßt, sondern vielmehr ein Modus, eine Art und Weise der Vermittlung von Fiktionen ist, und Spiegels Versuch einer Definition trägt dem mit gebotener Umsicht Rechnung, wenn er schreibt (S. 41):

Der phantastische Modus definiert sich duch die Dominanz eines phantastischen Elements. Ein phantastisches Element liegt dann vor, wenn ein unaufgelöstes, durch einen Realitätskompatibilitäts-Klassifikator als solches markiertes, nicht-realitätskompatibles Ereignis oder Phänomen in einem klassisch erzählten Film oder Text auftritt, der sonst keinen Hinweis auf eine ›nicht-wörtliche‹ oder ›poetische‹ Leseweise gibt.

Dabei sind die Übergänge und Heftigkeiten fließend und es ist durchaus keine endgültig objetive Sache, ob man als Leser ein Werk eher dem Gebiet der reinen Phantastik, des Unheimlichen oder des Wunderbaren zuordnet. Wer z.B. als überzeugter Gläubiger von der Existenz von Engeln, Dämonen und Magie überzeugt ist, wird andere Grenzen zwischen Phantastik, Unheimlichem und Wunderbarem ziehen, als ein skeptischer Naturalist.

GESCHICHTLICHES & PHILOSOPHISCHES

Im historischen Teil bietet Spiegel die sinnvolle Betrachtungsschwerpunkt-Unterscheidung zwischen der Entwicklung einzelner SF-typischer Motive, der Entstehung SF-typischer Vermittlungsmethoden und dem Auftreten der SF als eigenständiger Marktsparte an. Typische SF-Motive finden sich ja zuhauf schon in Werken, die lange vor dem Aufkommen des Begriffs SF entstanden sind. Als Mutter der modernen Phanatstik wird deshalb auch korrekterweise die Gothic Novel genannt (nur in etwa dem deutschen Begriff Schauerroman entsprechend). Ausgangspunkt sind Reaktionen von Autoren des späten 18./frühen 19. Jhd auf die Umwälzungen der im Aufstieg befindlichen Moderne, der erblühenden Wissenschaften und der Industriellen Revolution. Die Widersprüche zwischen alten und neuen Wegen der Weltbildgewinnung bilden das Spannungsfeld, auf dem bis heute die SF wie auf einem Trampolin seine Fabulationssprünge leistet. Spiegel führt das anhand von Horace Walpoles Ambition seinen Roman »Das Schloss Otranto« (1764) betreffend vor. Bis heute aber ragt Mary Shellys Roman »Frankenstein – Der moderne Promeutheus« (1818) aus dem Feld der Gothic Novels hervor, denn hier wird eindrücklich Heil und Unheil der menschlichen Ambition behandelt, sich als Schöpfer und Macher von naturgegebenen Grenzen zu befreien, und typisch SF ist bei diesem Roman eben, daß ausdrücklich Medizin und Wissenschaft (siehe frühe Forschung zur Elektrizität) als Glaubwürdigkeitsstützen für die Schilderung widernatürlicher Machenschaften und unnatürlicherVorfälle herangezogen werden.

Als zwei weitere bis heute prägende SF-Strömungen läßt Spiegel dann den französischen Kintop-Pionier Gerge Méliès, und den amerkanischen Verleger Hugo Gernsback auftreten. Bei Méliès ist klar zu sehen, wie wunderbare Effekte erstmal für sich stehen, nur lose zu Handlungen verknüpft werden und seine Filme mehr mit marktschreierischem Tingeltangel-Spektakel als z.B. mit erzählendem Theater gemein habe. Gernsback ist ein Paradebeispiel für die Ambition, vergnüglich-unterhaltene ›romances‹ mit wissenschaftlichen Fakten und prophetischen Visionen (sic!) zu vermengen (Das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal!!! Soviel steht auch fest: Bescheidenheit ist selten der SF größte Zier … To infinity and beyond!).

Im philosphischen Teil zeigt Spiegel dann, daß moderne Phantastik sozusagen eine Verweltlichung religiöser Sprech- und Weltdeutungspraktiken ist. Die Rede von der Zukunft war bis zum Aufbruch der Moderne religiösen Darstellungen vorbehalten und unterlag heilgeschichtlichen Imperativen. SF (und andere Genre-Phantastik) kommt dagegen als Kunst-Mythos von allen für alle daher, genauer: als Neu-Aufbereitung und Wiederverwurschtung von althergebrachten Mythen, oder wie Spiegel knapp ausdeutet (S. 103):

In der oft beschworenen nüchternen Wissenschaftlichkeit der SF steckt nämlich auch der ganz und gar irrationale Wunsch nach Erlösung durch den technischen Fortschritt: Die Geschichte dieses Fortschritts ist für die SF gernbackscher Prägung eine Heilsgeschichte.

Das Spektrum des Geschichtenerzählens über die Zukunft und den technischen Fortschritt kennt nun freilich mittlerweile nicht nur die diese Propaganda- und Verführungsfabulas der Gewinnerauch sie immer noch prägender sind (und sich besser verkaufen lassen) als pessimistische und kritische SF-Weltenbauten (was natürlich darauf ankommt, was ich hier genau mit ›pessimistisch‹ und was mit ›Verführungsfabulas der Gewinner‹ meine. Dazu nur soviel: die Bugs sind auch nur Menschen! Don’t join the Spacecore.)

Klärend arbeitet Spiegel heraus, daß SF ein Modus ist, in dem Zukunfts-Ängste und -Hoffnungen dargestellt und verhandelt werden (S. 111):

SF ist also weniger der Mythos der Moderne, sondern der Modus, in dem sich moderne Mythen vorzugsweise manifestieren und im Film zur Sichtbarkeit gelangen.

Die erste Hälfte endet damit, indem Simon Spiegel seinen Lesern Einblick gewährt in den von vielen Köchen umgerührten Hexenkessel der flottierenden neu-religiösen und neu-mythischen Haltungen des SF-Fandoms. Das ist eine nette Gelegenheit für einen Fußnoten-Gastauftritt des Wissenschaftsphilosophen (und Bright) Daniel C. Dennett, der in seinem Buch »Breaking the Spell – Religion as a Natural Phenonemon« schreibt (S. 392, Fn 5. Übersetzung von Molo):

May the Force Be With You! Is Luke Skywalker religious? Think how differently we would react to this incantation if the Force were presented by Geroge Lucas as satanic. The recent popularity of cienmatic sagas with fictional religions — The Lord of the Rings and The Matrix offer two other examples — is an interesting phenomenon in its own right. It is hard to imagine such delicate topics being tolerated in earlier times. Our growing self-consciousness about religion and religions is a good thing I think, for all its excess. Like science fiction generally, it can open our eyes to other possibilities, and put the actual world in better perspective.

Um eine Unterscheidung von Dennett aufzugreifen, bietet SF wie alle moderne Genre-Phantastik spirituelle Erlebnisse an, ohne daß man gleich in religiöse Haltungen verfallen muß. Es ist dieser der SF innewohnende transzendeniere Drive, der für Fans so attraktiv ist, und der viele SF-Fans mit einem gewissen Elitenbewußtsein speißt. Spiegel scheut sich dabei nicht, zu erwähnen, daß im SF-Fandom deshalb heikle, fließende Übergänge zwischen wissenschaftlicher Spekulation, esoterischer Grenzwisschenschaft (ich selbst nenne das grad heraus ›Aberglauben‹) und Verschwörungstheorien zu beoabachen sind. Aber Spiegel macht daraus keine Häme oder Denunziation des SF-Fandoms und rückt die SF auch nicht gleich in die Depperlecke. Diese mythisch-spirituelle Macht der SF bietet, meiner Ansicht nach, erfeuliche Handhabe zur Befreiung vom instrumentalisierenden Apparate- und Insitutionenen-Weltbild; aber ich stimme Simon Spiegel zu, wenn er auf die sich aus dem gleichen Quell nährenden, beunruhigenden Monsterentwicklungen wie Scientology und Aum-Sekte verweist. Man denke auch an die quasi-religiöse Erregtheit von unheilbringenden Utopie-Eroberungsunternehmung, die z.B. als fundamentalistische Kommunismus-, Nationalismus- und Kapitalismus-Heilslehren herumwüsten.

WILLKOMMEN IN DER MONTAGEHALLE

Im etwa 200 Seiten umfassenden Hauptteil seines Buches nimmt uns Spiegel dann in sieben Kapiteln mit in die Werkstatt der SF, und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen SF (aber zu einem Gutteil eben die ganze moderne Phantastik) ihre Werke zusammenbosselt. Es geht dem Autor dabei nicht darum zu postulieren, wie gute SF zu sein hat, sondern Spiegel will genauer herausstellen, was SF-Werke auszeichnet, die als gelungen angesehen werden. Dies beginnt er erstmal mit der Erörterung narratologischer Fragen, also Fragen dazu, wie Geschichten erzählt werden und wie sie warum funktionieren. Nun kann man lernen, was genau fiktionale Welten sind, wie sie auf unserem Verstädnis und Wissen die reale (faktischen) Welt aufbauen, und wann sie in besonders in Filmgestalt ihre Zuschauer simpel gesagt überwältigen und kidnappen (ich sag nur Klangwelten & Heftigkeits-Steigerungs-Spirale).

(Peergroup-Druck mal beiseit) entscheidet letztendlich und wertet jeder Konsument einer Fiktion für sich selbst, wann ihm eine ausgedachte Geschichte oder gar Welt zu abgedreht, beleidigend, übertrieben ist. Solche Entscheidungen hängen davon ab, über welches Fakten-Wissen die Wirklichkeit betreffend der Leser verfügt, welche Art von Genuß er aus einer Fiktion ziehen will, welche Methoden der Darstellung, welche Themen und welche Handlungswendungen im vertraut und genehm sind, und wie flexibel die Vorstellungskraft und das Hineinsetzvermögen des Lesers ist. Um es kurz zu machen: gerade am Beispiel der in den letzten Jahren aufgekommen ›Virtuel Reality‹-SF-Sparte führt Simon Spiegel vor, wie vermeidlich Reales sich als Täuschung, Traum oder Halluzination entpuppt. Der Eigentümlichkeit von Filmen wie »The Matrix«, »eXistenZ« und »Vanilla Sky« beruht nach Spiegel darauf (S. 162),

daß wir vorrübergehend keine Aussenansicht auf die fiktionale Welt erhalten und deshalb nicht sicher sein können, auf wie vielen Realitätsebenen sich die Handlung bewegt.

Und zu den Glanzstücken von Spiegels Buch gehört eine genaue Analyse der Gefängniszellen-Szene von David Lynchs Film »Lost Highway«. Hier zeigt der Autor sehr gewitzt, wie ein willentlich äußerst rätselhafter Film plausibel aufgedröselt werden kann, wenn man bestimmte Konventionen, z.B. der SF (Beam me up), als Erklärung heranzieht.

Zum wesentlichen Werkzeug von SF (wie aller Phantastik) gehört die Metapher, also das Kostümieren von Gedanken und Inhalten. Metaphern zeitigen Erkenntnis, indem sie locker Gemeinsamkeiten und Verbindungen herstellen, und somit neue Blickwinkel befördern. Achtung: Metaphern funktionieren nicht so streng wie Allegorien, denen immer fixe Entsprechungsregeln zugrunde liegen. Eine Metapher bietet mehrere Deutungsmöglichkeiten an, eine Allegorie nur eine (eine Frau mit Augenbinde, Schwert und Wage ist immer Justitia; das böse Imperium aus »Star Wars« kann man deuten als Anspielung auf die Nazis, oder auf den militärisch-industriellen Komplex Amerikas, oder auf die kommerzielle Hollywoodmaschinerie). Interessant ist, wie Spiegel zeigt, daß sich bei Metaphern im Kleinformat die Spannung zwischen Konvention (Vertrautem) und Abweichung (Originellem) wiederholt, von der auch die Entwicklung eines Genres angestrieben wird. Grob gesagt: Was heute ungewöhnlich ist, schleift sich schön langsam zu etwas Üblichen ein und verkommt schließlich zur langweiligen Rezeptur (und mit etwas Glück und der Hilfe vieler dienstbarer & begeisterter Geister kann ein Revival den Kreisel neu andrehen).

Die folgenden Kapitel beschreiben nun im einzelne SF-spezifische Ästhetikfragen (wie Naturalisierung und Verfemdung, Erhabenes und Groteskes) und absolvieren dabei quasi nebenbei auch philosophisch-anthropolgisch Steifzüge, am deutlichsten im Kapitel über (konzeptionelle) Durchbrüche, wenn Simon Spiegel seinen Leser einen Diskurs zur Frage »Was ist der Mensch?« offeriert. Das ist für mich wahrhaftige Sachbuchwonne, denn alle Phantastik wird zutiefst von ›philosophischen Energien‹ durchströmt.

ERLEUCHTUNG DURCH FABULATIONEN‹

Bisher habe diesen enorm wichigen Begriff der SF, Sense of Wonder, ausgespart, obwohl er sich wie ein Leitmotiv mit Variationen (das Novum, der Conceptual Breakthrough) durch Simon Spiegels Buch verteilt. In seinem knappen, dafür aber sehr persönlich gehaltenen Schlusswort legt Spiegel die Haltung des nach strenger Distanzierung trachtenden Wissenschaftlers ab, und schildert richtiggehend ergreifend seine Kino-Sense of Wonder-›Initiation‹, wenn er sich erinnert, wie er als Sechzehnjähriger zum ersten Mal »Blade Runner« sah (S. 331f):

…nichts hatte mich auf das vorbereitet, was ich in den folgenden zwei Stunden erleben sollte — denn ein Erlebnis war diese Vorführung in der Tat. Ich sah nicht einfach einen Film, ich wurde vielmehr von ihm in Bann geschlagen, verfolgte mit offenem Mund die Geschehnisse auf der Leinwand, tauchte ganz in das düstere Los Angeles des Jahres 2019 ein. {…} Am nächsten Tag war ich immer noch wie benommen. Mir war klar, daß ich etwas Besonderes gesehen hatte, daß »Blade Runner« mehr war als ›bloß ein Film‹. Auf der Kinoleinwand hatte sich eine neue Welt entfaltet, wurden große Themen und tiefe Gedanken verhandelt, die ich zwar kaum artikulieren, dafür umso intensiver fühlen konnte. Kino war mit einem Mal mehr als reine Unterhaltung, es war zu etwas Wichtigem un Kostbaren und Wunderschönem geworden.

Wenn ich nun ›Sense of Wonder‹ schlicht mit ›umfassenden Staunen‹ übersetzte, kann ich hoffentlich überzeugend meine Ansicht unterstreichen, daß Phantastik-Genres mit nichts weniger hantieren, als eben der grundmenschlichen Sehnsucht und Fähigkeit, sich vom eigenen Leben und der Welt an sich hingerissen verblüffen zu lassen. Die SF bedient sich zum Herstellen glaubwürdiger Einbettung für dieses umfassende Staunes vornehmlich des Fundus, den Wissenschaften und Technik zur Verfügung stellen. Diese Fähigkeit zum Staunen ist es, die Menschen einerseits davor bewahrt, von den niederziehenden und beengenden Tatsachen des wirklich stattfindenden Lebens vollends entmutigt zu werden; aber (leider) kann andererseits dieses Staunen mißbraucht werden, um daraus betäubende, entmündigende Verführungskarotten zu machen, denen Spektakeljunkies willig hintergerzockeln.

Simon Spiegel schafft es Dank klaren Stils, gewissenhafter Recherche sowie einem guten Händchen für griffige Zitate und augenöffnende Beispiele (dem Buch liegt eine DVD mit wundervollen Exempeln bei!), seinen Leser ein aufgewecktes Gespür für dieses Staunen zu vermitteln, vor allem natürlich, was SF-Filme angeht, aber auch Phantastik und Geschichenerzählen überhaupt betreffend. Die argumentative Schärfe und umsichtige Art Spiegels essentialistischen, idealistischen und (durch welche Motive auch immer) ›willkürlich‹ bestimmten Wertungs-Hierarchien auszudribbeln, macht darüberhinaus das Buch zu einer unverzichtbaren Lektüre für alle, die sich für SF, Film und Medien interessieren.

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Simon Spiegel: »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films« Zürcher Filmstudien 16; Schüren Verlag; Marburg 2007; 33 z.T. farb. Abb., DVD mit Filmbeispielen, 385 Seiten.

Neil Gaiman & Charles Vess: »Sternenwanderer«, oder: Geh’ und fang eine Sternschnuppe

Eintrag No. 385 — Ich wage mal zu prophezeien, daß innerhalb des nächsten Jahres der Name Neil Gaiman endlich auch bei und zu einer endgültig strahlenden Größe der Mainstream-Phantastik wird (freilich nicht so ein gewichtiger Magnet wie Tolkien oder Rowling, aber deutlich bekannter als bisher).

Immerhin: er war 2006 (und davor auch schon) auf Lesetour im Deutschsprachigen unterwegs; sein großes Hauptwerk, das 10-bändige Comicepos »Sandman« erscheint in neukolorierter und neuübersetzter Fassung endlich in einer schönen Ausgabe; und — last but not least — drei Filme nach Gaimans Stoffen stehen ins Haus (mehr darüber in meinem Bericht der Buchmesse-Leibzig-Lesungen von Gaiman). Als erstes kommt am 18. Oktober 2007 »Stardust« zu uns.

Die Berichte von Testvorführungen in den englischsprachigen Webgefilden lassen mich hoffen, daß ›Besser-Fantasy-Freunde‹ gehörig auf ihre Kosten kommen. Die Verfilmung fährt mit einem Reigen z.T. länger nicht mehr gesehener Stars auf (neben Claire Danes, Jeremy Irons und Robert de Niro u.a. Michelle Pfeiffer und Peter O’Toole). Auch der wohlwollende Vergleich den begeisterte Testgucker zwischen der »Stardust«- und der »Die Braut des Prinzen«-Verfilmung ziehen, läßt zumindest mich hoffnungsvoll fibbern. Handelt es sich doch bei Williams Goldmans Klassiker »Die Braut des Prinzen« doch um einen modernen Klassiker der leichtfüßigen, munter fabulierfreudigen Fantasy, in der das Genre zwar nicht so bierernst und ›äpisch‹ daherkommt wie bei den geliebten Schlachtenpanoramen, die (zumindest meiner Meinung nach) unseeligerweise das Bild von dem was Fantasy leisten kann dominieren. Aber dafür brilliert »Stardust« wie auch schon Goldmans Meisterwerk mit lebendigen, lebensechteren Figuren, die im Gegensatz zu Heilgeschichtenfantasy nicht »sprechen und agieren, als ob sie Marmor scheißen würden« (um in etwa einem Ausspruch den fiktiven Herrn Mozart aus dem Drama/Film »Amadeus« zu zitieren). Dabei nehm ich die »Der Herr der Ringe«-Romane & Verfilmung mal in Schutz, denn diese überragen, trotz aller Epik-typischen Schwächen & Eigenheiten, solch oberöde und peinlich anzuschauende Abklatschwahre wie »Eragon« und »Narnia« bei weitem.

Und dennoch: auch Gaiman fühlt sich aufgerufen, sich abzugrenzen vom übergroßen Einfluß Tolkiens und seines Mittelerde-Ringkrieges auf das, was man im englischen Raum heute ›Fantasy‹ nennt. So erzählt er Quint von »Aint It Cool News« seine Ambition zu »Stardust« (Übersetzung von Molo):

GAIMAN: Tolkien ist wundervoll. Ich bin ein großer Fan von »Der Herr der Ringe«, aber trotzdem: es hat etwas auf sich damit, wie sich das Fantasy-Verständis aller hinsichtlich von »Der Herr der Ringe« seit dessen Erscheinen gewandelt hat. Mich fasziniert nun mal diese Zeit vor 1930, wenn ab und an Menschen Fantasy, also Märchen- und Elfen-Geschichten schrieben. Man schrieb damals magische Erzählungen und das waren einfach nur ganz normale Romane. Es gab da nicht etwa eigene Regale für Fantasy. Man schrieb Romane, die halt in Form von Märchen auftraten.
So war auch meine Einstellung als ich »Stardust« schrieb. Ich wollte etwas machen, daß ganz für sich stehen kann, das anders war und sich doch wie Fantasy, wie ein Märchen anfühlen sollte. Dabei war mir von Beginn an klar, daß es eine ›Romanze‹ {engl. ›romance‹; die Übersetzung mach daraus nict ungeschickt ›zauberhaftes Abenteuer‹ — Anmerk. Molo} werden sollte. Auch beim Schreiben selbst hatte ich die Liebesgeschichten alter Screwball-Komödien als Vorbild im Sinn. Sachen wie »Es geschah in einer Nacht« {Dem Frank Capra-Klassiker von 1934 mit einem jungen Clake Gable und der bezaubernden Claudette Colbert in den Hauptrollen — Anmerk. Molo}: da sind Heldin und Held gemeinsam unterwegs, und die beiden können sich zuerst gar nicht ausstehen, verlieben sich aber aber schließlich ineinander und werden ein romantisches Pärchen.

Für mich immer schön, wenn statt Epik weniger pathetiklastiges Zeug als Inspirationsquell herangezogen wird. Aber was bietet nun »Stardust« das Buch?

Der Phantastik-Weltenbau geht so: Seit mindestens sechshundert Jahren gibt es in England das Örtchen Wall, und dort befindet sich eine Mauer deren einzige Lücke von den Dorfbewohnern bewacht wird. Denn: diese Lücke ist ein permanenter Übergang in die Elfen-, Zauber-, Märchenwelt. Jenseits der Mauer befindet sich eine Wiese, an die grenzt ein Wald an und was dahinter kommt, kann man sich als Leser munter selbst ausmalen (Gaiman würzt zwar seine Erzählung munter mit Terrain-Namen der Elfenwelt, aber es gibt — mutiger- und für mich erfeulicherweise — keine Karte.)

Im ersten von zehn Kapiteln lernen wir noch nicht den eigentlichen Helden kennen, sondern bekommen erstmal die erotischen Jugendabenteuer seines Vaters Dunston Thorn geschildert. Alle neun Jahre im Mai findet nämlich ein Markt auf der Elfenwiese statt. Wir lernen Wall und einige Bewohner kennen, genauer: das Dorf Wall der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa um 1837-1839 (so mache Rezischreiber/innen haben das nicht gerafft und verorten die Geschichtlich zeitlich grob zu früh oder zu spät), als Königin Victoria regierte und Charles Dickens in Fortsetungen seinen »Oliver Twist« in »Bentley’s Miscellany« veröffentlichte. Am Ende des ersten Kapitels ›erntet‹ Papa Thorn neun Monate nach seiner Markt-Liebesnacht seinen Elfen/Menschen-Mischlings-Sohn Tristran.

Jahre vergehen, und wir begleiten Tristran als liebesblinden Verehrer der Dorfschönheit, der er eines Nachts verspricht, ihr eine Sternschnuppe als Beweis seiner ergebenen Liebe zu bringen. Das Dumme: die Sternschnuppe kam auf der Elfenseite der Mauer runter und entpuppt sich dort als junge, eigenwillige Frau. Auf seiner Queste steht Tristran diesem Stern in Menschengstalt bei, denn die Arme hat sich bei ihrem Sturz einen Fuß gebrochen. Zudem sind andere hinter der Gefallenen her. Die Anführerin eines Hexentrios, der Lilim, hat vor, der Sternenfrau das Herz rausschneiden, damit die Lilim weiteren Zauber zum Erhalt ihrer Jugendlichkeit wirken können. Und die lebenden (und toten) Söhne des verstorbenen Königs des Elfenlandes kabbeln und itrigieren darum, den gestürzten Stern in ihren Besitz zu bringen, denn damit wird die Thronfolge entschiedenen.

Mir gefällt vor allem das Neben- und Ineinander, mit dem der große Bogen des Romantik-Ping-Pongs und die episodenhaften Stationen der verschiedenen Questen miteinander verwoben sind. Und ich liebe wie immer die Kunstfertigkeit, mit der Gaiman kleine Geschichen in der Geschichte unterbringt und anschneidet. So erzählt die Lilim-Anführerin in einer Szene nächtens am Lagerfeuer (S. 116):

»Man hat die Lilim schon des Öfteren für tot erklärt, aber es war jedes Mal gelogen. Das Eichhörnchen hat die Eichel noch nicht gefunden, aus dem die Eiche wachsen wird, die das Holz für die Wiege des Kindes liefert, das mich erschlagen wird.«

Und eine Seite weiter endet dieser Abschnitt so:

Zögernd hoppelte ein Eichhörnchen in Licht des Feuers. Es nahm eine Eichel, hielt sie einen Moment in seinen handartigen Pfoten, als wollte es beten. Dann rannte es davon, um die Nuss zu vergraben und zu vergessen.

Diese Art von Phantastik-Tollerei begeistert mich ja auch bei Tolkien (ich denke an den über die lärmenden Hobbits grollenden Fuchs). Kurz: Derzeit kenne ich keinen Phantasten, der es so hervorragend versteht, zugleich gradlinig und auf Umwegen zu erzählen, wie Gaiman.

ACH, GEJAMMER

So. Nun will ich meine klagenderen Töne nicht länger zurückhalten, denn manchmal ist es eben zum Verzweifeln.

Da werden im anglo-amerikanischen liebevoll gestaltete Sachen vorgelegt, so richtig dolle altmodisch mit fetten Illustrationen und Vignetten, Federzeichnungen in schwarz-weiß, mal flüchtiger (150 Vignetten und Rahmen), mal aufwändiger (4 doppelseitige und 19 ganzseitige Bilder) gearbeitet, davon ganzseitige, Arbeitsskizzen. Einige schöne Beispiele kann man im Greenmanspress-Blog von Charles Vess bewundern. Aber die Lizenzheinis von Heyne haben sich bei der deutschen Erstausgabe die ›Nur Text‹-Version andrehen lassen. Ob Stephen Kings »Dunkler Turm«, Susanna Clarkes »Die Damen von Grace Adieu« oder eben Gaimans »Sternenwanderer«, für uns deutschsprachige Trottelkunden reichts billig und unzierlich. »Ist ja nur Fantasy und Genrequatsch«, scheint man in den Kalkulationsabteilungen zu denken. Das mag für einige Genre-Leser gelten, aber ich werde weiterhin nölen und mosern, wenn ich über solche Schwachmatik stolpere, und ich werde mich hüten solche schmucklosen Deutschausgaben zu kaufen (aber: als Unterwegslektüre ist die ›Nur Text‹-Ausgabe freilich besser geeignet).

Insofern also: Lob und Jubel über Vertigo/Panini! Vertigo hat in den letzten 15 Jahren seines Bestehens die Genre-Phantastik in Comicform ordentlich reloaded. Ich bin von Beginn an ein richtiggehender Fan dieses Labels und werde in Zukunft sicherlich noch mehr gelungene neue Phantastik dieses Verlags hier vorstellen.

Dann aber leider: Die Übersetzung von Christine Strüh schwächelt z.B. was den Umgang mit kursiven Stellen betrifft. Was ist so schwer daran, im Deutschen konsequent kursiv zu formatieren, was auch im Englischen kursiv ist?

Auch sind (wohl wegen Stress, Hektik, Fußpilz) veloren gegangene Stellen zu beklagen. Einmal habe ich sogar einen ganzen fehlenden Absatz erspäht (S. 61 sowohl in dt. wie angl. Ausgabe):

A small, yellow bird in a cage sat on its perch outside the house. It did not sing, but sat, mournfully upon its perch, feathers ruffled and wan. There was a door to the cottage, from which the once-white paint was peeling away.
Ein kleiner, gelber Vogel saß auf seinem Ast vor dem Haus. Er sang nicht, sondern hockte auf seinem Ast, die Federn zerrauft und blass. Eine Tür führte in das Häuschen, von der die einstmals weiße Farbe abbröckelte.

Bei anderen Gelegnheiten stelle ich fest, daß die deutsche Ausgabe deutlich ausführlicher als meine englische Edelausgabe von Titan Books. (Das kann aber auch Gaimans eigenem Durcheinander liegen, denn es gibt im englischsprachigen eben auch Nur-Text-Ausgaben — und auf dieser beruht die Übersetzung von Christine Strüh — für die Gaiman hie und da den Text bearbeitet hat. Schönes Durcheinander wieder mal. Immer diese Kreativen!)

Aber aus, weg ihr Nörgelgedanken, denn immerhin ist nun was »Stardust« angeht der Not-/Mißstand behoben, noch dazu, weil die schmuckvolle Ausgabe einen bemerkenswert günstigen Preis hat (Neupreis ca. 20 Euro).

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SERVICE: LINKSAMMLUNG

  • Michael Drewnik für Phantastik-Couch (›nur Text‹-Ausgabe): »Ein modernes Märchen mit scharfen Zähnen.«Genau! Und Krallen, die sowohl zu kratzen wie zu streicheln vermögen.
  • Götz Piesbergen für Splashbooks (›nur Text‹-Ausgabe): »Neil Gaiman hat nämlich ein paar Szenen eingestreut, die, sagen wir mal, nicht für Leute mit schwachem Magen geeignet sind. In diesen Szenen wird ziemlich detailliert gestorben und geschlachtet, was dann eher unpassend wirkt.

    Das heißt nicht, dass das Buch bierernst ist. Einige Figuren und Szenen haben einen schönen schwarzen Humor, den sie mit sich tragen.« — Woher kommt diese refelxhafte Pfui-Bäh-Abneigung von Fantasy-Fans gegen Härten? Warum sollte in Fantasygeschichten irgendwie lieber und süßer gestorben werden als in anderen Genres? Da kann ich ja gleich Teletubbies gucken und den lieben langen Tag mit der Sonne lachen. NeNe, lieber Götz: richig gute Phantastik wie die von Gaiman bietet eben neben dem Bezaubernden, Romantischen, Lustigem auch das Unheimliche, Brutale und Gemeine.

  • Mistkäferl für Bibliotheka Phantastika (›nur Text‹-Ausgabe): »Der Autor benutzt die genreübliche, leicht anachronistische Sprache äußerst virtous und versteht es, komische Szenen gekonnt einzubauen … enormer Ideenreichtum.«Auch hier werden Gaimans »typisch(e) abgedrehte Horrorelemente« besorgt vermerkt. Ja sind denn die Grimm-Geschichten nur Friede, Freude, Eierkuchen. Unheimliches und blutiges gehören nun mal zu einem richtigen Märchen.
  • Michael Matzer für carpe librum (›nur Text‹-Ausgabe): »Dies ist ein wirklich zauberhaftes und ironisch erzähltes Garn, das uns Gaiman da vorsetzt. Und man unterhält sich auch wunderbar dabei, wartet doch an jeder Ecke eine neue Überraschung.«
  • Arielen (Christel Scheja) für Rotern Dorn (illustrierte Ausgabe): »Der Roman ist jedoch kein Märchen für Kinder, dazu sind die angesprochenen Themen zu komplex und die Figuren zu bösartig. »Der Sternenwanderer« richtet sich eher an Erwachsene, die die kleinen Anspielungen und leisen Zwischentöne in den Zeilen herauslesen können und sich voll und ganz auf dem magisch mythischen Text einlassen wollen.«Nichts für Kinder! Also ich mochte als ›Noch Nicht‹-Teen und Frühteen solche blutigen, facettenreichen Sachen.

Abschließend also meine Leseempfehlung: »Sternenwanderer« ist was für aufgeweckte Jungleser (so ab 10 bis 12 würd ich sagen), und die illustrierte Ausgabe kann man meiner Meinung schon gewitzten Noch-Jüngeren in die Hand drücken.

China Miéville: »Der Eiserne Rat« und Bas-Lag, oder: Wenn die ›Weird Fiction‹ revoluzzt

Eintrag No. 379

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2006 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter.}

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Vorweg der Offenbarungseid: Seit meiner ersten Reise zur »Perdido Street Station«[01] New Crobuzons in der ›Weird Fiction‹[02]-Fantasywelt Bas-Lag bin ich von China Miéville (1972) und seinem Schreiben in zappeliger Fan-Manier begeistert. In noch heftigeres Erstaunen versetzte mich die zweite, diesmal maritime Ausfahrt mit »The Scar«[03]. Entsprechend besorgt und her-ausgefordert bin ich deshalb, ob’s mir denn dermaßen heftig infiziert überhaupt gelingen kann, nicht-peinlich über »Der Eiserne Rat« zu schreiben. Immerhin ist Miéville einer dieser Autoren, die Leserschaften polarisieren. Noch vor wenigen Jahren, im Umfeld des Erscheinens von »Perdido Street Station« und »The Scar«, hat Miéville rabaukig über die ›ausgelatschten‹ Touristik-Pfade in tolkienartige ›Fäntäsyländs‹ gemosert.[04]

»Jüngstes Superduper-Genie der anspruchsvollen Genre-Zunft!«, jubeln durch die Phantastikbeete ondulierende Hurra-Schlümpfe wie ich; »›Nett‹, jedoch störend verhunzt durch renitente Marxistenprophetenpolemik«, meinen Skeptiker, und deuten dazu jetzt besonders bei »Der Eiserne Rat« auf die befremdende politische Heftigkeit von Miévilles verdrehter Fabuliererei hin. Später mehr zu diesen ›Vorwürfen‹.

Allein das Kuddelmuddel an Widersprüchen, in die sich Miéville verstrickt, wenn er über die empfohlene Lesereihenfolge der Bas-Lag-Romane spricht: Mal sagt er, dass jeder der drei Bas-Lag-Romane für sich allein genommen ›rund‹ sei; als Text Genuss verschaffen, als Story Substanz, und als Statement Virulenz haben soll. Dann aber nennt er die drei Bücher auch mal locker ›Anti-Tolkien‹-›Anti-Trilogie‹-Trilogie, deren Teile sich in beliebiger Reihenfolge lesen ließen. Und schließlich, dass in der Folge ihres Erscheinens (die auch dem Verlauf der Bas-Lag-Chronologie entspricht) nach »Perdido Street Station« und »The Scar« nun »Der Eiserne Rat« so was wie ein Abschlussstein ist. In mehrfacher Hinsicht wird damit diesem Dritten im Bunde strukturell und programmatisch die Aufgabe aufgebürdet, kulminativer Höhepunkt zu sein. Wurscht, was man sonst über das Fantasy-Genre zu wissen glaubt, sicher ist immer: Der letzte Teil einer Trio lässt die Fetzen nur so fliegen!

Jetzt wäre China Miéville nicht dieser unverschämt talentierte Ideen-Lausbub der er ist, wenn er nicht schon bei der Komposition der Struktur einer Trilogie ›Unsinn‹ anstellte. »Perdido Street Station« und »The Scar« ähneln einander, sind beide noch verhältnismäßig konventionelle Romane. Beide schildern auktorial die Handlung linear von A nach Z. »Perdido Street Station« bietet kleine Intermezzi einer, »The Scar« mehrere Ich-Erzähler-Stimmen, von denen eine auch in längeren Briefauszügen zu Wort kommt. »Perdido Street Station« ist ausschließlich in New Crobuzon (der bratzigsten Industriemetropole der Welt Bas-Lag) angesiedelt und umspannt einen Zeitraum von einem halben Jahr[05]. »The Scar« setzt nur wenig später ein, erstreckt sich über etwa ein Jahr[06] und begibt sich auf eine weite Rundreise durch die östliche Hemisphäre von Bas-Lag mit der schwimmenden ›Gestalt‹-Großstadt Armada (EIN Konkurrent von New Crobuzon beim Rennen um Macht und Reichtum).

Buch drei schlägt nun aus der Art. »Der Eiserne Rat« springt zwischen New Crobuzon und den westlichen Weiten des Kontinents Rohagi hin und her. Es gibt diesmal keine Ich-Erzählerstimme, alles wird aus einer Art auktorialer Vogelperspektive geschildert. Eine lange Rückblende steckt wie ein Fremdkörper im Gewebe des linearen, chronologischen Erzählverlaufs. Der Kernzeitraum der Gegenwartshandlung schildert die Ereignisse eines Jahres[07], die bis zu den Ereignissen der beiden Vorgänger reichende Rückblende aber umfasst einen Zeitraum von etwa 20 Jahren. Obwohl man die beiden Vorgänger nicht gerade als ereignisarm bezeichnen kann, überbietet »Der Eiserne Rat« — das kürzeste der drei Bücher — in fast schon beängstigender Manier die Geschehnisdichte von »Perdido Street Station« und »The Scar«.

Kurzum: »Der Eiserne Rat« ist als Bas-Lag-Einstiegslektüre nur Lesern anzuraten, die als waghalsige Freeclimber ohne Sicherung gern gewillt sind, die schwierigsten Hänge zu erklimmen. Man sollte schon ›einen leichten Schuss‹ haben, oder über so etwas wie ›robuste Lesegeschicklichkeit‹ oder ›Aufnahmeflexibilität‹ verfügen, wenn man mit »Der Eiserne Rat« seine Freude haben will.

Mit einer gewissen ›musikalischen Lesart‹ aber lässt sich diese widersprüchlich daherkommende Trilogie-Partitur als klassisch-dreisätzige Symphonie nehmen. In den einzelnen Sätzen greift Miéville thematisch und bezüglich des Settings auf ein jeweils anderes historisches Vorläufer-Genre der modernen Phantastiksparten zurück. Und jeder der drei Romane beschäftigt sich mit einer anderen Facette zum Thema Magie, die in Bas-Lag größtenteils als Thaumaturgie bezeichnet wird.

So gibt »Perdido Street Station« als urbaner Horrorthriller das Allegro ma non troppo, und ein freischaffender Querbeet-Thaumaturg baut einen Transformator, mit dem sich ›die Macht‹ der allgegenwärtigen Krisis-Energie nutzen lässt. Als Adagio in exile schildert dann »The Scar« eine Entdeckungsabenteuerfahrt von Piraten, und setzt sich anhand arkaner Möglichkeitsmagie mit den quantenphysikalischen Eigenschaften der Thaumaturgie auseinander. »Der Eiserne Rat« darf nun das Finale allegretto extravaganza sein und als großangelegtes, aus den Nähten der üblichen Romanform platzendes Potpourrie dem Eisenbahn-Western seine Referenz erweisen.

»›Once Upon A Time In Bas-Lag‹, mindestens!« könnte ich flapsig trailern. Denn das Superbreitwandpanorama des Romans erzählt davon, wie das Vorankommen eines Dampfrosswundermaschinendings die Entfernungen nichtet; wie einst isolierte Orte durch Schienen vernetzt werden; und dass mit dem Anschluss an das pumpende Herz des monströsen Zivilisationsmolochs New Crobuzon nicht nur Fortschritt, Neues, Nachrichten und lebhafter Handel in einstige Ödnisse strömen, sondern auch Korruption, Ausbeutung, Intrigen, sowie soziale und bellezistische Konflikte. Ganz ähnlich wie in dem melodramatischen Todestanz von Sergio Leone kann man anfangs ‘ne ganze Weile die ungewöhnliche Informationsfülle an Kleinigkeiten und die angespannten Situationen von »Der Eiserne Rat« nur rätselnd mitverfolgen. Da ich glaube, dass die Komplexität und Tiefe des Romans schier undurchschaubar sind, wage ich es, in folgender Inhaltsskizze einige hoffentlich hilfreiche Spoiler zu platzieren.

Nach einem kurzen ›raunend‹-lyrischem Intro über einen Mann, der weiß, dass seine Pläne heilig sind, wird der Leser mitten in die Äktschn des ersten von drei großen Handlungssträngen in den Wald geschickt. Dort erwartet Cutter, ein Ladenbesitzer in den Dreißigern aus dem Gelehrtenviertel, in einer Hahnenkampfgrube seine Revoluzzerkameraden aus dem nahen New Crobuzon. Das Stadtimperium führt Krieg gegen das ferne und quecksilbrig-rätselhafte Tesh. Wie der Krieg losging, weiß niemand mehr so wirklich, sicher ist aber, dass der Konflikt für New Crobuzon bitterer und zäher verläuft, als das herrschende Stadtparlament und dessen Milizia erwartet haben. Die sechs Revoluzzer folgen der Spur des von ihnen allen verehrten, von Cutter sogar sehnsüchtig geliebten Judah, einer Art Guru der Dissidentenszene, der selbst auf der Suche nach dem legendären Eisernen Rat ist. Cutters und Judahs homoerotisch-, tragisch-romantische Liebesgeschichte erzählt von der Asymmetrie des Verlangens, mit für erfolgreiche Fantasy ungewöhnlicher Offenheit und ›Härte‹. Wer Schwulitäten in der Fantasy nicht abkann, sei ein wenig beruhigt. Der diesmal überwiegend knorrige, ›an kurzer Leine gehaltene‹ Sprach- und Szenenrhythmus bewahrt solche Leser davor, seitenlanges Auswalken von Homo-Herzeleid und Sexszenen ›erleiden‹ zu müssen. Alle anderen, denen es wie mir auch piepegal ist, zwischen wem oder was sich eine bewegende Liebesgeschichte abspielt, können Cutters Leiden an seiner eigenen be-dingungslosen Treue zu Judah als gute Darstellung von universellen Problemen lesen, die sich nun mal aus intimer Nähe ergeben. Doch Romanze beiseite, kommt Cutter mit am weitesten herum in der Welt des Romans. Seine ersten fünf Kapitel ist er mit seinen Revoluzzerkumpeln auf sich gestellt. Man reist mal zu Fuß, mal in einem Luftvehikel, mal übers Meer, und es ereignet sich auf diesen ersten 80 von 680 Seiten mehr Äktschn und Hatz, als anderswo im ersten von fünf dickleibigen Büchern.

Der zweite Handlungsstrang begleitet den jungen Dissidenten Ori auf seinem Weg durch die radikale Untergrundszene von New Crobuzon. Zugegeben, Ori vertritt sehr deutlich den Typ des tatendurstigen ›zornigen jungen Mannes‹. Man lernt ihn kennen bei einem außer Rand und Band geratenen Auftritt der Nuevisten, einer Gruppe kritisch-provokativer Agitprop-Aktionskünstler. Ein bissiges Marionettentheaterstück über die Hinrichtung des legendären Volkshelden Jack Gotteshand vor zwanzig Jahren wird gegeben. Ein Zensor der Stadtregierung hat ein wachsames Auge auf diese Michael Moores, und die extrem rechten Schlägerjungs von der Spitzen Feder Partei wollen den linken Provokateuren ans Leder: Tumult, Saloon-, pardon: Vaudeville-Schlägerei par excellence. So cool Ori die kreativen Sticheleien, Aktionen und Happenings der Nue-visten findet, ist er dennoch auf der Suche nach zupackenderen Tatgemeinschaften. Ori hat keinen Bock, seinen Gestaltungsdrang für eine gerechtere und bessere Zukunft mit Diskutierereien zu vertrödeln, und folgt lieber den wirren Weisungen eines alten Fuzzis aus einem Obdachlosenasyl. Dieser irre Alte, Spiral Jacobs, hat Jack Gotteshand noch gekannt und hilft nun Ori, das heikle Initiationsritual der Aktivisten-Zelle von ›Toro mit dem Stierkopf‹ antreten zu können. Nur fair und billig, in heutigen Zeiten die gute alte ›Knappe wird zum Ritter‹-Queste mal mit fanatischen Terrorzellen zu inszenieren (und: dieser Handlungstrang kommt mir zudem vor, wie eine sehr auf den Kopf gestellte Verarbeitung des minoischen ›Minotaurus im Labyrinth‹-Mythos).

Im dritten Gegenwartsabschnitt sind wir wieder mit Cutter unterwegs, diesmal durch die Randzonen des Krieges zwischen New Crobuzon und Tesh. Nach diesen Kriegsgräuel und Flüchtlingsschicksalen folgt die Unterbrechung, die große Synkope der ›Anti-Trilogie‹: Judahs Vorgeschichte, oder genauer, die »Anamnese«[08] vom ewigen Zug. Judah hat vor vielen Jahren als Kundschafter für den visionären Industriekapitän Wrightby das Sumpfland des Stiltspear-Volkes erforscht. Wrightby wollte das Unmögliche schaffen und eine Eisenbahnlinie westwärts quer durch den ganzen Kontinent errichten. Als die Bautruppen den Sumpf erreichten, konnte Judah nichts ausrichten und Wrightbys Unternehmen verdrängt die Stiltspear, wie alles andere, was sich dem Zug in den Weg stellt. Judah versucht verzweifelt, so viel wie möglich von der Stiltspearkultur zu bewahren und zu lernen. Dazu gehört die seltsame Kunst, Zeit zu manipulieren, welche schon Kinder üben, indem sie kleine, ungeschickte Matschmännlein machen. Nach der Zerstörung des Lebensraums der Stiltspear will Judah nichts mehr mit Wrightby und seinem ›Trancontinental Railway Trust‹ zu tun haben, kann sich jedoch dem Sog des Zuges nicht entziehen und bleibt so in dessen wuseligem Umfeld. Hier gibt es nun ordentlich viel Wilden Westen, und mittendrin Judah als Mann vieler Karrieren in den schnell entstehenden und wieder verfallenden Orten am Rande der Gleise, zwischen Kopfgeldjägern, Eisenbahnräubern, Spielern, Duellisten und Streckenbauern. Judah lässt sich auf ein junges wildes Landei ein, Ann-Hari, die sich lebenshungrig als Hure dem Eisenbahn-Tross anschließt. Für einige Zeit gehen die beiden nach New Crobuzon, und Judah beginnt sich intensiv mit Golemetrie zu beschäftigen.

Dieses bewusste Eingreifen in den Lauf der Dinge, diese Unterbrechung und Neuausrichtung von Vorgefundenem ist das magische Hauptthema dieses Bas-Lag-Romans. Judah wird zu einem Genie in der Kunst des thaumaturgischen Formatierens von ›Etwas‹ zu einem meist menschenförmigen Wesen und dem Programmieren dieser Wesen zu selbsttätig handelnden Agenten. Atemberaubend, woraus Judah im Lauf seines Lebens alles Golems macht[09], oder wie er diese Kunst mit Uhrwerken zu Zeit-bomben und Fallen ›verfeinert‹.

Zu den aufregenden Gedankenspielen Miévilles über Golemetrie gehört etwas, das man Judahs ›inneren Moral-Golem‹ nennen könnte. Diese ›Gutheit mit eigenem Willen‹ hat ein alter Stiltspear in Judahs Brust als Abschiedsgeschenk erweckt. Eine bewegende Szene und typisch für Miévilles zerschartete Idyllik: Die Rückmeldung der vom Fortschritt Überrollten ist hier nicht blinde Rache, sondern eine Gabe, die man ›Gewissen‹ nennen könnte. Gäbs ‘ne Hall of Fame für Metaphern, würde ich diesen Moral-Golem in der Abteilung vermuten, in der auch die goldene Kugel aus »Picknick am Wegesrand« der Strugatzki-Brothers ausgestellt wird. Atemberaubend auch, wenn in einem der längeren Großkämpfe des Buches Golemetrie und die am anderen Ende des thaumaturgischen Tat-Spektrums angesiedelte Elementarbeschwörung aufeinanderprallen: Wilde, ungezügelte Begierde von Feuer-, Fleisch- und Mond-Elementardämonen gegen mehrere Golems aus Eisenbahnbestandteilen und einen Lichtgolem.

Ich geh mal die Gefahr ein, als blauäugiger oder unentschlossener Depp dazustehen. Ich kann nicht erkennen, dass der bekennende Trotzkist und ›politische Aktivist‹ China Miéville mit solchen thematischen Melodien über bewusstes Manipulieren und leiden-schaftliches Draufloshandeln dem Leser wie auch immer geartete Propaganda für allgemeine oder extrem linke Programme auftischen will. Alle drei Bas-Lag-Romane führen am Ende ihrer argumentativen Verläufe allerdings zu vielstimmigen Fragestellungen, zu Aussichtsposten auf einschüchternd große und komplexe Probleme. Die Geschichten aus Bas-Lag sind eben kein Manifest und versuchen nicht, dem Leser das ein oder andere DU SOLLST! MANN MÜSSTE! reinzureiben, oder das sich dem menschlichen Komplettverständnis immer entziehende Echtwirklichkeits-Tohuwabohu in griffige Vereinfachungen zu pressen. Freilich werden Miévilles Bücher durch seine persönlichen Interessen und Vorlieben geprägt. So berechtigt eine gewisse Paranoia gegenüber der fabulierenden Zunft auch ist, ›vertraue‹ ich Miéville aber soweit, seine Romane als seine erzählende ›Kür‹ zu verstehen, in der er sich als Weird Fiction-Freak austobt. ›Nebenbei‹ zu seinen Romanen arbeitete Miéville an seiner akademischen ›Pflicht‹ in Form der Abschlussarbeit (über Theorie und Geschichte des Völkerrechts aus marx-istischer Sicht) »Between Equal Rights« an der London School of Economics. Seine Sympathien sind deutlich zu erkennen, wenn man sich z.B. die Milieu-Architektur seiner Dramaturgie anschaut: Die eigentlichen Machthaber, und die sonst oftmals im Zentrum von Genre-Stoffen stehenden Reichen und Schönen spielen meist nur am Rande eine Rolle, die tragenden ›Helden‹ der Bas-Lag-Bücher aber sind Außenseiter, Abweichler, oftmals aus den unteren Gesellschaftsschichten und entsprechend arm und durch’n Wind.

Die kräftigste Einzelillustration Miévilles für die Probleme, die sich aus der Um-zingelung des Menschen durch den Menschen ergeben, sind dabei vielleicht die ›Remade‹ von New Crobuzon. Die Rechtssprechung des imperial-merkantilen Stadt-staates verurteilt ihre Delinquenten zu einer Behandlung in den thaumaturgisch ausgestatteten Straffabriken, in denen die Körper der Verurteilten mit allen Kniffen der Kunst einer meist abartigen Umgestaltung unterzogen werden. Die Umgemodelten sind in den schlechteren Gegenden der Stadt zuhause und bilden neben den Armen und Immi-granten den verachteten und ignorierten Bodensatz der Gesellschaft von New Crobuzon. ›Glück‹ haben dabei noch jene Remade, die speziell für ihre jeweiligen Tätigkeiten als Kampf- oder Arbeitsmaschinen hergerichtet werden, oder als Sklaven in den fernen Kolonien und für andere Großprojekte schuften. Richtig arm dran sind die Remade, an denen sich ihre Richter kreativ ausgetobt haben. Dann werden aus den Verurteilten lebendige Skulpturen gemacht, ihre Körper zu perversen, bescheuert-grausamen ›Sinnbildern‹ der jeweiligen Verbrechen umgeformt.

»Die Moral von der Geschicht?« Na, einer tragischen Kindsmörderin werden halt die Arme ihrer toten Tochter wie Fühler auf die Stirn gepflanzt, oder einem Verräter die Zunge durch ein gefräßiges Meeresvieh ersetzt. Für Liebhaber von Grotesquerie-Revues ist das freilich für sich schon ‘ne feine Monsterparade, doch die Remade sind mehr als nur das: nämlich bitter-brilliante Phantastik über die finsteren Gepflogenheiten in allen Kulturen, wenn eben jene mit Deutungs- und Gestaltungshoheit, wie es ihnen richtig erscheint oder beliebt, Leben, Psyche und Physis der ihnen Ausgelieferten zurechtkneten. Die Utopien vom neuen Menschen (bzw. die Träume vom unverdorbenen Menschen) entpuppen sich in der Welt Bas-Lag als die Schokoladenseite der Untaten, die Menschen einander antun, oder die sich antun zu las-sen sie bereit sind. Doch es gibt auch Remade, die sich auflehnen, die in New Crobuzon untertauchen oder ins Umland fliehen, zu ›fReemade‹ werden, sozusagen Freigemodelte.

Der oben erwähnte Jack Gotteshand[10] wurde in Perdido Street Station als solch ein krimineller Volksheld vorgestellt und hatte dort einen Heldenauftritt[11]. Jack war ein Mann der Tat, der Miliziaspione und Hinterzimmerschreibtischtäter in bester Vigilantenart meuchelte oder bloßstellte, den Reichen Geld stahl und an Arme verteilte. Nach seinem Tod ist die Stelle des Volkshelden vakant, und in »Der Eiserne Rat« geht’s es zu einem Gutteil darum, wie dieser Posten eines hoffnungsspendenden Widerstandsmythos neu besetzt wird. Nachdem Judah und Ann-Hari zum ewigen Zug zurückkehren, verschärfen sich dortz in der Anamnese die Zustände. Nachschub und Lohnzahlungen stocken, die Stimmung lädt sich auf und es kommt zu einer Rebellion der Trosshuren, einiger nichtumgemodelter Arbeiter und der Remadesklaven gegen die Aufseher des TRT. Der ewige Zug macht sich frei von New Crobuzons Kontrolle, flieht westwärts in die Wildnis und wird für die Bewohner von Rohagi schnell zum sagenhaften Eisernen Rat. Als Barde für die Sache des Eisernen Rates wird Judah später wieder nach New Crobuzon zurückkehren und den dortigen Widerstandgruppen vom unerhört erfolgreichen Aufbegehren das sich in der fernen Fremde zutrug berichten. In dieser Zeit wird er Cutter kennen lernen, und sich dann in der zuspitzenden Krise des Krieges New Crobuzon gegen Tesh aufmachen, den Eisernen Rat zu suchen.

Ganz passend empfiehlt Kolja Mensing für Deutschlandradio Miéville als »Begleitlektüre für die globale Katerstimmung zu Beginn des 21. Jahrhunderts«[12]. Vor allem »Der Eiserne Rat« wendet sich trotz all seiner Vernarrtheit für genrespezifische Steckenpferde eher an eine Fantasy-, Horror- und SF-Leserschaft, die sich bei allem ›Eskapismus‹ gern und heftig mit der Echtweltwirklichkeit konfrontiert, und/oder auch beim geliebten Genre-kram avantgardistischen Anspruch mag. In zwei jüngeren Interviews hat Miéville sein literarisches ›Programm‹ umschrieben:

»Es gibt mehrere Werte — das avantgardistische Fein-gefühl, die realistische Schilderung von gesellschaftlichen Strukturen, ein reißerisches Garn zu spinnen — und es ist unklar, bis zu welchem Maß diese Werte in einem Text miteinander fruchtbar auskommen.«[13]

und:

»Mein Ziel wäre also, genau dieses reißerische Garn zu spinnen, das gesellschaftlich ernsthaft und stilistisch avantgardistisch ist. Meiner Meinung nach ist das doch der Heilige Gral.«[14]

Für mich eine Wonne, dass es Genreautoren gibt, die sich, obwohl sie ihre Leserschaft im Blick haben, dennoch trauen auf ästhetische Gralssuche zu gehen, und nicht ›nur‹ den Markt zu bedienen trachten.

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[01] Siehe »Magira 2003«: Besprechungen von Werner Arend (S. 23) und Molosovsky (als Alexander Müller) (S. 91). ••• Zurück
[02] ) Übersetzte ich mir mit ›verdrehte, verrückte, seltsame, befremdende Fiktionen‹. (Nebenbei. Bemerkenswert, daß am ethymologischen Brunnen des Wortes ›weird‹ wiederum drei alte Zauberweiber rumhängen.) Um den Begriff New Weird gabs und gibts in ›der Szene‹ sowohl angeregte wie auch aufgeregte Diskurse. So ganz kann ich auch (noch) nicht nachvollziehen, wie der neue Subgenrebegriff aufkam, aber als einer der ersten die ihn gebrauchten, wird immer wieder M. John Harrisson genannt, von dem Freund China ja bekennender Fan ist. Von Harrisson hat Miéville sich das Ettikett New Weird geborgt und sich selbst und vielen anderen — von denen nicht alle darüber glücklich waren — ans Revers geheftet. Wichtig erscheint mir, daß mit ›New Weird‹ ein Begriff da ist, mit der sich die heutigen Strömungen brauchbar umschreiben lassen, die weniger an die ›klassische‹ (High Fantasy) Phantastik eines J. R. R. Tolkien, C. S. Lewis, Lloyd Alexnder oder E. R. Eddison anknüpfen, als vielmehr auf Werken von Autoren wie Mervyn Peake, Stefan Grabinski, Bruno Schulz, den jungen H. G. Welles und den Papst des Old Weird H. P. Lovecraft aufbauen. — Die derzeit verlässlichste Auskunft zur ›New Weird‹-Entwicklung gibt Thomas P. Weber in »Fischer Kompakt: Science Fiction« (Fischer Taschenbuch, November 2005), S. 81 ff. Dort heißt es z.B. knapp und einleuchtend über Miéville, daß er »… die Möglichkeiten der SF und Fantasy {und des Horrors. – Molo} zu nutzen {versucht}, um die in einer neoliberalen Welt verkümmerte soziale Phantasie wiederzuerwecken.« ••• Zurück
[03] Siehe »Magira 2004«: Besprechung von Manfred Roth, S. 191. ••• Zurück
[04] Siehe in »Magira 2003« Miévilles ›toughes‹ aber nicht ›roughes‹ politisches Abklopfen des großen Genre-Propheten-wider-Willen Tolkien in »Mittelerde trifft auf Mittelengland«, S. 165., mittlerweile im Netz nachzulesen auf der Bas-Lag-Fansite. — Anbei noch ein Lektüretip: Eine wunderbare lexikalische Analyse und Parodie auf die ausgelatschtesten Spaziergängerrouten in formalistische Fantasyparks liegt mit Diana Wynne Jones »Einmal Zaubern, Torusitenklasse« (Tough Guide to Fantasyland) vor. ••• Zurück
[05] Von Chet (April) bis Thatis (Juni) des Jahres ›Anno Urbis‹ 1779. ••• Zurück
[06] Von Rinden (Oktober) 1779 bis Tathis 1780. ••• Zurück
[07] Von Chet 1805 bis Lunary (Januar) 1806. ••• Zurück
[08] Bedeutet allgemein ›zur Sprache gebrachte Erinnerung‹; medizinisch ›Vorgeschichte‹; liturgisch der Teil einer Messe, in der man der Toten (und besonders der Märtyrer) gedenkt. ••• Zurück
[09] Erde, Fels, Leichen, Giftgas, Schwarzpulver, Schatten, um ein paar Beispiele zu geben. Auch spekuliert Judah, ob sich aus Hoffnung, Angst und Ähnlichem Golems schaffen lassen. ••• Zurück
[10] Jack Half-a-Prayer im Original. Der Spitzname bezieht sich auf Jacks rechten Unter-arm, der durch eine übergroße Gottesanbeterschere ersetzt wurde. ••• Zurück

[11] »Ein versteckter Schlüssel?«, trau ich mal in einer Fußnote drauflos zu spekulieren, denn mit der Story »Jack« reicht China Miéville in seinem Kurzgeschichtenband »Looking For Jake« (»Andere Himmel«, Bastei 2007) ein Zuckerl über diesen legendären fReemade-Rebellen. Darin erzählt ein Mitarbeiter der Straffabriken nach Jacks Tod seine Meinung zu diesem fReemade im besonderen und den Remade im Allgemeinen. Die Kurzgeschichte »Jack« liest sich wie eine grimmig-kritische Meditation über Heldentum und die Sehnsucht nach großen Gestalten und deren typischen ›Trieb‹, ihren wahren Gefühlen um scheinbar jeden Preis gestaltend Ausdruck zu verleihen, also Zeichen und Markierungen in der Welt zu hinterlassen. ••• Zurück

Unbekannte Gefilde

EDIT vom 14. Okt. 2007: Schöneres Cover-Img eingepflegt.

Eintrag No. 378Frank Weinreich hat mich schon beeindruckt, mit seinen umsichtigen Artikeln zu Tolkien. Klar, für mich als Tolkien-Skeptiker schreibt Frank zwar immer noch zu nachsichtig über JRR, aber dennoch gehört Frank zu den klügeren deutschen Tolkien-Exegeten und Fantasy-Erklärern.

Da freut es mich, daß im neuesten (Juno-)Magazinteil der Phantastik-Couch eine zusammenfassende Vorschau auf sein neustes Buch geboten wird, in dem es um nichts weniger gehen wird, als eine »Einführung in die Fantasyliteratur«.

Oftmals fühle ich mich wie ein querulantischer Kobold, wenn ich meine literaturgeschichliche Maximalsicht auf »Fantasy« (ich rede halt lieber von »Phantastik«) verbreite und auf dieser meiner Sicht beharre;— und es taugt mir deshalb enorm, daß Frank eine ganz ähnlich unverschämte Weitwinkelobjektivsicht auf das Genre pflegt, wenn er z.B. schreibt (Hervorhebung von Molo):

Vielleicht wäre es am treffendsten, die Fantasy als nicht geglaubte Mythen zu bezeichnen. Das zeigt dann auch, dass die Geschichte der Fantasy nicht erst mit muskelbepackten Schwertschwingern wie Conan beginnt, sondern schon mit muskelbepackten Schwertschwingern wie Achilles. Nur dass Homers Geschichten über den Letzteren allgemein als Fanal für den intellektuellen Aufschwung des Abendlandes gehalten und als erster glänzender Höhepunkt der Literatur im speziellen und der Kreativität im allgemeinen interpretiert werden, während man Conan auch ganz gerne als Symbol für kulturellen Trash empört in die Höhe hält. Und auf hohem homerischen Niveau geht es ja weiter, wenn man schaut, welche namhaften Menschen Fantasy schrieben, auch wenn man es zu ihrer Zeit natürlich nicht so nannte: Dante, Chaucer, Shakespeare, Goethe und und und. Der Autor hält sich jedoch nur kurz bei der Geschichte der Vorläufer der eigentlichen Fantasy auf und legt den Schwerpunkt der Darstellung auf die moderne Fantasy, die im 19. Jahrhundert mit den Werken George MacDonalds und William Morris´ beginnt.

Schade nur, daß in der Vorschau das Trösten und Sinnmachen für meinen Geschmack zu einseitig betont. Nix gegen den Sinnmach-Aspekt der Phantastik, aber neben dem Trösten gibts halt noch viel anderes, was »Fantasy« kann. Nicht umsonst fransen die drei Hauptgenre der Phantastik — Fantasy, Horror, SF — an den Rändern aus und werden von entsprechenden Kreativen miteinander munter verflochten.

Fantasy/Phantastik übertreibt und fuhrwerkt mit Zauberdingen, Wunderorten, Monstern, Halbmenschen und vielerlei anderen Extotismen. Sie bedient also zuallererst unsere Neugier bzw. unseren Sinn für das Wundersame (Sense of Wonder), unser menschliches Verlangen danach, das Gesichtsfeld zu erweitern, Neues zu entdecken (und dieses Neue kontrolliert zu erschließen, zu beherrschen).

Die echte Welt ist zuallermeist eben banal, eintönig und langweilig, und die Gravitationskräfe des Daseins ziehen uns alle in Richtung Vergänglichkeit und Auflösung. Die Phantastik bietet nun mit ihrem als Eskapismus übel beschimpften Moment einer raumerschließenden Horizontserweiterung eine Milderung zu dieser alles niederziehenden Schwerkraft des Daseins an. Und ohne einem entsprechenden Talent zum Selberstiften solcher Fluchtbewegungen ist keine Kultur denkbar (siehe das Nietzsche-Zitat am Ende).

Was ich aber gerne betone ist, daß so wie die Fantasy Sinn zu stiften vermag, so kann sie auch alle sicher geglaubten Sinngerüste zum Wanken bringen; und so wie sie zu trösten vermag, kann Phantastik eben auch beunruhigen. Mit Namen wie George McDonals, William Morris und JRR Tolkien wird eine bestimmte Spielart der modernen Phantastik betontz, die ihre Stimme überwiegend als kritisch-romantische Gegenstimme zur ach so bösen Moderne erhob. Bin schon neugierig, ob (und wenn wie) Frank hier einer gegen die Übel der Moderne anwetternden Fantasy das Wort redet, oder nicht. — Aber so im Großen und Ganzen macht die Vorschau auf Frank Weinreichs Buch einen guten Eindruck bei mir.

So zum Beispiel, wenn er sich auf das Übernatürliche als Definitionsfundament beruft. Gespannt bin ich auf das kommende Buch, denn schon bei der Aufdröselung des für die Fantasy grundlegenden Übernatürlichen bekomme ich ein wenig Schwindelgefühle, wenn es heißt (Hervorhebung von Molo):

Meist wird das Übernatürliche in Form von drei charakteristischen, ebenfalls auf der inhaltlichen Ebene zu findenden Motiven in Szene gesetzt: durch das für die Geschichte bestimmend wirkende Vorhandensein von Heldinnen und Helden (die können auch mal negativ gezeichnet sein), durch eine imaginäre Welt als Haupthandlungsort (dies kann auch ein irrealer Teil der realen Welt sein, wie die Zauberschule Hogwarts) und durch die Ausübung von Magie (im Sinne von Praktiken, die den Verlauf von Ereignissen auf übernatürliche Weise beeinflussen) als für die Erzählung selbstverständliches Faktum.

Magengrummeln bereiten mir die Helden, bzw. daß pauschal alle Protags der Fantasy gleich als Held bezeichnet werden. (Andereseits kann man freilich alle Protagonisten aller Genre-Felder als Helden bezeichnen. Hat sich halt so eingeschliffen.) Aber wahrscheinlich bin ich da voreingenommen, weil ich nun mal den Begriff Held mit großer Vorsicht und Skepsis nehme. Helden sind die Figuren der großen Taten, sind die Burschen und Mädels, die der Welt ihre Meinung/Haltung aufprägen müssen. Helden sind zwielichtige/zweischneidige Figuren, was deutlich wird wenn man beobachtet, daß die eigenen Krieger, Beschützer, Eroberer und Trickser gefeiert & verehrt, die Helden der anderen aber als Monster, Unholde und Kriegsverbrecher gefürchtet & verachtet werden.

Weiter: gern les ich, daß Weinreich sich in seinem kommenden neuen Buch mit den literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Helmut Pesch und Northrop Frye auseinandersetzten wird. Ersterer (Pesch) hat die bis heute ergiebigste deutschsprachige Arbeit zu Geschichte und Wesen der Fantasy (1982/2001, »Fantasy—Theorie und Geschichte«) geschrieben; zweiterer ist ein englischer Literaturwissenschaftler, der für die Güte seines Buches »Analyse der Literaturkritik« (1957, »Anatomy of Criticism«) hierzulande sträflich-beschämend unbekannt ist (Meine Meinung lautet ja, daß die Germanisten den Anglisten und Amerikanisten was Literaturbeschäftigung betrifft ca. 20 Jahre hinterherhinken. Allein wie die bereichernden Entwicklungen der Genre Studies und Cultural Studies hierzulande nicht in die Puschen kommen {¿dürfen?}, läßt mich wähnen, in einem kirchturmfixierten Dorf zwischen Runkelrüben und Kühen zu weilen). — Aber ich gräme mich, daß auch Weinreich den unsäglichen, zu nichts außer zur Abschreckung zu gebrauchenden Tzvetan Todorov aus der Mottenkiste verschwurbelter Siebzigerjahredenke vervorzerrt (1970, »Einführung in die fantastische Literatur«), in der Todorov einem die entweder/oder-Pistole auf die Brust setzt, und für die Phantastik nur einen ziemlich kleinen Raum übrig läßt, der von kläglich wenigen Genre-Texten eingenommen werden kann. Klassisches Beispiel einer Theorie, die am Gegenstand vorbeitüdelt und damit vielleicht als Denkschwulst beeindruckt, aber als Leitfaden und Werkzeug völlig versagt.

Gespannt bin ich auf Weinreichs Behandlung des innigen Zusammenhangs von Phantastik und Mythos. Immerhin kannten die alten Griechen schon zwei Begriffe für Wort: einerseits nannten sie die vernünftige Rede, das Be-sprechen Logos, das ›unnüchternde‹ Reden in Sagen- und Legendenformat aber nannten sie Mythos. Man sieht also: so neu ist das Alternativkultur-Thema des ›Wilden Denkens‹ (und Fabulierens) gar nicht. Und es ist, wie Nietzsche so trefflich sagte, ein ›umhüllender Wahn‹ der Kulturgemeinschaften bindet. Phantastik ist nicht zuletzt wegen seiner Auseinandersetzung mit diesen Wahn ein so wertvolles und wohl auch heikles Genre.

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Zuckerl:

Nietzsches Wort vom ›umhüllenden Wahn‹ findet sich in seinen »Unzeitgemäßen Betrachtungen«, 1974):

Aber selbst jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht einen solchen umhüllenden Wahn, eine solche schützende und umschleiernde Wolke; jetzt aber hasst man das Reifwerden überhaupt, weil man die Historie mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphirt darüber, dass jetzt »die Wissenschaft anfange über das Leben zu herrschen«: möglich, dass man das erreicht; aber gewiss ist ein derartig beherrschtes Leben nicht viel werth, weil es viel weniger Leben ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt, als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch Instincte und kräftige Wahnbilder beherrschte Leben.

Ian R. MacLeod: »AETHER« oder: Vom melancholischem Leben im Takt der Maschinen

Eintrag No. 376

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2006 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter.}

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2006 und Klett Cotta trumpft auf, die Erste! Der Großmeister Robert Borrows — noch kein alter Knacker, aber auch nicht mehr der Jüngste — begibt sich vom Nobelviertel Northcentral aus auf einen Spaziergang durch das nächtliche London. Von der ersten Seite weg ist merklich, daß es in diesem Buch steampunkig, bzw. alternativ-historisch zugeht. Das ist nicht das Viktorianische England unserer tatsächlichen Echtwelt-Vergangenheit Ende des 19. Jahrhunderts, sondern eine Abzweigungswelt im Fiktionsraum, in der kurz nach Cromwells Revolution im 17. Jahrhundert ein Joshua Wagstaffe den Aether entdeckt hat. Auf seinem Weg zu einem ›Wechselbalg‹ in den herunter-gekommenen Easterlies kommt Großmeister Borrows statt an der Westminster Abbey an einem Westminster Park mit hohen Bäumen vorbei. Er sieht ›magisch‹ umgeformte Modehunde dünnbeinig, gefiedert und mit fluguntauglichen Flügeln, mit reptiliengleichen Kämmen[01], lässt Straßenbahnstationen hinter sich, begegnet einer Kinderbande, die ihn mit billigen Illusionszaubereien auszutricksen versucht. Der Großmeister erreicht die Ruine einer Themse-Brücke, findet dort die schäbige Unterkunft von Niana, einer Wechselbalgfrau. Ein seltsames Treffen, das sich zu einem rätselhaften Gespräch und schließlich zu einem undurchschaubaren Handel entwickelt, bei dem Robert sich daran zu erinnern hat, was ihn zum Menschen machte.

So beginnt »Aether« (The Light Ages) des aus Birmingham stammenden Ian R. MacLeod (1956). Dabei sei gleich davor gewarnt, daß dieser auktorial erzählte Rahmenhandlungsanfang erst nach dem Höhepunkt des Buches am Ende wieder geschlossen wird. Den Löwenanteil des Buches bildet die Icherzählerrückblende von Hochmeister Borrows.

—So Charles Dickens mit Fantasy und Steampunk halt ist allerdings ist ein reichlich vager ›in etwa so‹-Vergleich. Nur weil etwas in England und überwiegend in London spielt, sowie arme, reiche und einige kuriose Leute auftreten, ist etwas noch lange nicht so ähnlich wie Charles Dickens, der deutlich sprunghafter als MacLeod erzählt und zwischendurch auch immer wieder gern dick aufträgt, übertreibt oder abschweift. MacLeod selbst ›gesteht‹ in einem Interview[02], sich nu’ auch weniger an Dickens orientiert zu haben, sondern daß vielmehr Autoren wie D. H. Lawrence (für die Schilderung von Roberts Kindheit) oder Henry James (bei den Passagen über gesellschaftliche Zusammenkünfte) als bewusst gewählte ›Paten‹ dienten. Das zeugt dann Prosa, die sich an geduldigere Leser wendet, die mit dem Tonfall von ›klassischen‹ Edelfedern froh zu werden verstehen. Das soll nicht bedeuten, daß MacLeod verkopft schreibt, umständlich erzählt, oder sich gar zu angegilbten Sentimentalitäten hinreißen lässt.

Einige englischsprachige Rezensenten umschreiben den Roman ganz vorzüglich, indem sie sich den deutschen Begriff ›Bildungsroman‹ ausleihen. Immerhin wird eine spannende Lebensreise vom jungen zum alten Menschen ausgebreitet. Um so besser, wenn wie bei »Aether« die Lebensentwicklung des Helden viele Aspekte ihrer Zeit, ihrer Kultur, kurz: der Welt und Wirklichkeiten des Protagonisten streift, wenn er also als exemplarischer Repräsentativmensch plastisch erscheint. —Ich habe das bedrückende Leid der Armen geteilt, und an den Luxustafeln der Reichen gespeist, könnte ich Hochmeister Borrows übermütig in den Mund legen. Ian R. MacLeod alternative Aether-Welt bietet zwar genug von der Echtweltwirklichkeit abweichende Eigenschaften, daß sich in ihr spektakuläre Achterbahnfahrten veranstalten ließen oder übergroße Helden und Schurken auftreten könnten, aber der Autor hat mit seiner Alternativwelt anderes im Sinn, als große Spektakel aufzuführen.

Das Arbeiterkind Robert Borrows schwingt sich also nicht zum strahlenden Kämpfer für eine gerechtere Welt auf, auch wenn ihn u.a. derartige Ambitionen antreiben. Sein Weg durch die Gelleschaft ist aber auch ohne Hetzjagden und Gefechte aufregend, abwechselungsreich und damit interessant. Robert wächst in Bracebridge auf, einer kleinen aber geschäftigen Industriestadt in Nordengland, in der Aether aus dem Boden gewonnen wird. Wir lernen ihn dort als Jungen kennen, wie er in der Schule ein Initiations-Ritual der von Gilden beherrschten Aethergesellschaft über sich ergehen lässt. Wie bei einer Schutzimpfung bekommt er ein Mal am Handgelenk verpasst, und solange es erhalten bleibt, ist alles ›normal‹ und in Ordnung mit Robert. Mit Aether lassen sich nämlich nicht nur Materialien veredeln, Werkstoffe und Produkte mit außergewöhnlichen Eigenschaften versehen oder magische Taten vollbringen. Zu starke Aetherdosierung oder heftige Kontamination können Übles und Unheimliches bewirken. Der Aether lässt giftiges Unkraut (Kuckucksnesseln) wuchern und fies mutiertes Ungeziefer (Drachenläuse) kreuchen. Köstlich im Jugendabschnitt von Roberts Lebensreise, wie der Knirps in der Schulbibliothek mehr über die vergangenen Aetherzeitalter herauszufinden versucht; wie den Kindern von der Pfarrkanzel gepredigt wird, daß Gott im Laufe der Aetherzivilisation selbst zu einem Gildenmann wurde.

Dann dämmert dem jungen Robert langsam, daß mit seiner Mutter etwas nicht stimmt. Bei einem Arbeitsunfall vor vielen Jahren wurde sie mit Aether ›verseucht‹ und leidet seitdem an einer schleichend kulminierenden Veränderung zu einem Wechselbalg, einem wilden Aether-Geist. Diese beklemmenden Kindheitserlebnisse hab ich als originelle Variation des Jekyll & Hyde-Motivs gelesen. Wechselbälger, Trolle und andere Aethergeschädigte werden von den Gilden kassiert, mit schwarzen Kutschen und Wägen in geschlossene Anstalten gebracht, um ein tristes Dasein zu fristen und als Probanten der Aether-forschung zu nützen. Hauptsache, sie verschwinden aus den Augen der Öffentlichkeit. Ein Schicksal, dem Roberts Mutter mit dem tragischsten aller Mittel zu entkommen sucht.

Moment, ich will nicht[03] andeuten, daß »Aether« eine entmutigende Depri-Lektüre ist. MacLeod gönnt dem Leser schon auch längere Passagen mit idyllischen Szenen, z.B. wenn Robert den Märchengeschichten über das magische ›Arkadien‹ Einfell lauscht oder mit seiner Mutter einen Ausflug nordwärts unternimmt. Per Eisenbahn und zu Fuß suchen die beiden die aufgegebene Aethermine Redhouse auf und treffen dort zwei vom Aether Veränderte, die sich dem Zugriff durch die Gilden entziehen konnten: die alte Kräutermeisterin Summerton und Anna Winters, die etwa so alt wie Robert ist. Summerton und Anna sind jedoch keine hässlich-furchterregenden Monster, im Gegenteil wurden sie durch die seltsame Natur des Aethers in so etwas wie ›Lichtalben‹ verwandelt, die allerdings auf ihre Art ebenfalls nicht ganz geheuer sind.

Wieder nix mit einfacher Töpfchen-Kröpfchen-Verteilung von Gut und Böse, dafür ein atmosphärisch dichtes und glaubwürdiges Durcheinander von Abhängigkeiten, Widersprüchen, Faszinationen und Impressionen. So mag es zumindest ich.

Man erwartet von Robert, der Karriere seines Vater zu folgen und als Angehöriger der Niederen Gilde der Werkzeugmacher in der Aetherfabrik von Bracebridge zu arbeiten. Nun wäre kein Bildungsroman komplett ohne vertuschte Geheimnisse, und entsprechend stolpert auch Robert als Gildenlehrling über beunruhigende Spuren und Gerüchte aus der Vergangenheit, die mit dem Arbeitsunfall seiner Mutter zusammenhängen. Im Dritten der sechs Abteilungen des Romans flüchtet Robert aus der ihm zu engen Provinz nach London. Hier schließt er bald Freundschaft mit dem Taschendieb Saul, dem Sohn der Betreiberin eines Traumhauses, einer Art Bordell und Rauschgifthöhle, nur auch mit Aether-Drogen statt Opium. Saul und Robert engagieren sich für eine revolutionäre Bürgerbewegung, die gegen die Missstände der Gildenherrschaft antritt, und sie liefern bissige und beflügelnde Beiträge für die Zeitung ›Der Neue Morgen‹.

Ian R. MacLeod schafft es bewundernswert, auf mehreren Ebenen spannend zu erzählen und anregende Phantastik aufzuführen. »Aether« lässt sich als Abenteuergeschichte lesen, mit Robert als Helden, der die Geheimnisse seiner Herkunft, des Aethers und der Gildenherrschaft aufdecken will. Da die buchstäblich zauberhafte Anna Winters (neben anderen Herzensdamen) in Roberts Leben eine große Rolle spielt, macht »Aether« zudem als Qualitäts-Schnulze vor phantastisch-alternativhistorischen Hintergrund eine gute Figur. »Aether« lässt sich aber auch als kritische Auseinandersetzung über Themen wie Technologie, bzw. Magie, Hoffnung und (Ohn-)Macht, Klassenhegemonie und Revolution lesen. So verführerisch rätselhaft die Aether-Welt mit all ihrer Detailliertheit bleibt, zeichnet sich als eine klare Botschaft des Buches vielleicht folgende Prämisse ab: Obwohl wir glauben, die Maschinen und Dinge, die wir herstellen und betreiben zu beherrschen, liefern wir uns ihnen eigentlich größtenteils aus. Die Wurzel des Übels sind dabei weniger diese heikle Beziehung zwischen Natur, Kultur und Technologie (oder wie hier eben: Aethermagie), sondern die gesellschaftlichen Hierarchien und die ihnen eigentümlichen Verführungen, Ungerechtigkeiten und Zwänge.

Wunderbar versetzt MacLeod die Leser in die ›Froschperpektive‹ Roberts, der erfreulicherweise kein flacher oder lascher Charakter ist, vielmehr eine plausible Mischung aus aufmüpfiger Eigenwilligkeit und naiver Kurzsichtigkeit. Schön ist es, mitgehen zu können, wenn Robert z.B. von quasi-marxistischer Kapitalismus-Kritik begeistert wird; oder mit ihm über die mannigfachen Besonderheiten der Aetherwelt zu staunen; oder sich mit ihm in eine junge Dame aus bester Gesellschaft zu verlieben. Auch wenn die Rahmenhandlung des alten Großmeisters einen gebrochenen Helden zeigt, der verzweifelt seinen Träumen nachspürt, und Roberts Lebensgeschichte einen tragischen Bogen spannt, schimmern immer wieder wundersame Hoffnungslichter im üppig-›realistischen‹ Weltenbau auf. Abgesehen von seinen unterhaltenden Qualitäten verführt »Aether« dazu, über die Begriffe Magie und Technik nachzudenken.

Was man als Magie und was als Technik betrachtet hängt entscheidend vom jeweiligen Wissensstand, bzw. Einweihungsgrad ab. Unsere Echtweltzivilisation blühte in den letzten Jahrhunderten durch die Perfektionierung des Einsatzes von fossilen Energielieferanten auf. Ist es Schicksal der Natur, oder hat sich die Menschheit damals freiwillig z.B. für den Verbrennungsmotor als Genius der Kultur entschieden? In MacLeods Welt gibt es Magie — Elektrizität und Automobile befinden sich noch im experimentellen Stadium — und dennoch nimmt die gesellschaftliche Entwicklung einen Verlauf, der unserer echten Welt mit ihrer bösen Moderne erstaunlich ähnlich ist. Anglo-phile Phantastikreisende werden diesen politischeren Ton sehr wahrscheinlich wiedererkennen, und man darf sich entsprechend freuen, wie gut sich Ian R. MacLeod einreiht zu den Herren Engländern, die vorzügliche, anspruchsvolle und verführerische London- und Königreich-Fantasia schreiben[04].

NACHTRAG, Mai 2007:

Es ist immer ein Glücksfall, wenn Übersetzungen ganz besonders gelingen, grad im sonst oftmals so schluderig gehandhabten Feld der Genre-Phantastik. Es hat mich also besonders gefreut, daß Klett-Cotta Barbara Slawig für die Übersetzung von MacLeods deutschem Debut gewonnen hat. Was ich seit Erscheinen von »Aether« aus dem Gerüchtedschungel erlauschen konnte, läßt mich bangen: »Aether« soll sich nicht so dolle verkauft haben, was ich sehr schade finde, denn dieses Buch bringt alles mit, um sowohl Fantasy/Steampunk-Genrespezialisten zu sättigen, als auch Leser zu erfreuen, die sich nicht speziell für Fantasy, aber eben für England, die Industrielle Revolution, einen gut geschriebenen Roman interessieren. Ich hoffe sehr, daß eine Taschenbuchauflage von »Aether« noch kommt und mit mehr Interesse aufgenommen wird, und ich bange darum, daß die quasi-Fortsertzung »House of Storms« (2005) dem deutschen Publikum noch gereicht wird. »House of Storms« spielt ca. 100 Jahre nach den Geschnehnissen von »Aether« im gleichen Weltenbau, und behandelt u.a. eine Queste um die Evolutionstheorie, einen Bürgerkrieg zwischen West- und Ostengland sowie herausragende Passagen aus der Sicht eines Wechselbalges. Ich persönlich fand diesen zweiten Roman aus der Aetherwelt noch besser, weil eleganter, abwechslungs- und auch äktschnreicher als seinen Vorgänger, und es wäre schade, wenn er hierzulande nur Gesprächsstoff für solche Leser bleibt, die ihre Lektüre auch englisch goutieren.

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[01] Seite 9. ••• Zurück
[02] In einem Interview, das Klett Cotta als Infomaterial zu »Aether« auf seiner Verlags-Site anbietet. ••• Zurück
[03] ERRATA: Dieses nicht hat durch meine Schlamperei in der Druckfassung dieser Rezension gefehlt, was leider diesen Satz auf den Kopf gestellt hat. Hier also nun korrigiert. ••• Zurück
[04] Eine willkürliche Auswahl: Ian Sinclair, Michael Moorcock, Michael De Larrabetti, Peter Ackroyd, Clive Barker, Kim Newman, Glenn Duncan, Geoff Nicholson; sowie die hier ebenfalls besprochenen Herrn Gaiman und Miéville. ••• Zurück

Tobias O. Meißner: »Das Paradies der Schwerter«, oder: Wenn der Autor auch mit dem Würfel schreibt

Eintrag No. 371

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2006 – Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter.}

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Tobias O. MeißnerWenn man die üblichen Grenzen zwischen ›Trash‹ und ›Literatuuur‹ mal vergisst, ist es erstaunlich festzustellen, dass hierzulande gescheiter und lustvoller Genre-Fantasy betrieben wird, als man bei übler Laune schlecht reden kann. Da geb’ ich lieber Zeitung von einer mir neuen heimischen Fantasy-Hoffnung, und freue mich denn ‘nu auch besonders, wenn Lorenz Jäger für die noble FAZ den ›Schwert aber Nix-Magie‹-Fantasyroman eines jungen Berliner Buch- und Comicautors lobt. Der immer nach neuen Krassheiten gierende Äktschn-Freak in mir nimmt Jägers ›Warnung‹[1], dass …

»… {n}iemand dies Buch ohne Verstörung lesen können (wird), …«

… hoffnungsvoll als Kauf- und Leseanreiz.

Das Geständnis vorweg: Ein endgültiges Urteil zu »Das Paradies der Schwerter« will ich nicht wagen. Ich schwebe, was diesen sowohl inhaltlich wie auch sprachlich sehr durchmischten Roman betrifft, in einer Ambivalenz irgendwo zwischen gackernder Kleinjungenbegeisterung und skeptischer Verkopftheit. Ich bewundere Tobias O. Meißner (1967) aufrichtig für seine Chuzpe und Experimentierfreude. Aber ich bin völlig unsicher, ob ich seinen Roman als abenteuerliche Fantasy ernst nehmen kann, vom ›Meisterwerk‹-Ettikett ganz zu schweigen. Zu viele Stilblüten und schiefe Unplausibilitäten türmt er (scheinbar?) munter-unbekümmert aufeinander. Jäger lag also richtig: ich bin verwirrt. Aber ich wollte es ja nicht anders.

Zweifellos bietet aber, wie schon der Titel verspricht, »Das Paradies der Schwerter« zumindest Fresseschläge satt. Üppige Tabelaux mit testosteronprallen Kämpfer-Typen schrecken mich nicht, im Gegenteil. Ich bin so frei, mir durchaus zuzutrauen, solche Geschichten über triebstarke und tatendurstige Kriegerhelden so lesen zu können, dass sie mehr hergeben als lediglich platte Propaganda für bestialisch-›faschistische‹ Männermythen.[2]

Der Bischof der befestigten Stadt am Grünen Fluss im Tal der Glocken lässt ein großes Kampfturnier auf Leben und Tod veranstalten. Sechzehn Kämpfer sollen paarweise in vier Runden gegeneinander antreten. Als Preis wartet ein goldener Stirnreif im Wert von 1000 neuen Talern auf den Turniersieger. Meißner hat also ein kräftiges und altbewährtes Handlungsgerüst gewählt, hochprozentiger lässt sich die große Erzählung über das Dasein als Wettkampf aller gegen alle kaum destillieren.[3]

Die erste Hälfte (Kapitel 1 bis 17 des Buches) kommt als Episoden-Collage daher und stellt dem Leser in sechszehn Strängen erst mal die Teilnehmer des Turniers vor. Das bietet reichlich Anlässe für Stil- und Kulissenwechsel. Eine passende Stelle, um meiner Begeisterung darüber Ausdruck zu verleihen, dass Meißner es wagt, die ästhetische Herausforderung anzunehmen, die die neuen Medien wie z.B. PC- und Konsolenspiele für das schriftliche Erzählen darstellen.

Literatur bleibt im Grunde immer einer linearen Programm-Natur verhaftet, wurscht wie gekonnt der Text den Leser in die Erzählung eintauchen lässt, egal wie gut es dabei gelingt, überzeugend in Mehrdeutigkeiten zu flackern, oder wie sehr auch immer mit Kunstkniffen versucht wird, vieldeutig ›ins Offene‹ zu zeigen. Turniere sind ein klassisches Daddel-Genre, das sich entscheidend dadurch auszeichnet, dass man als Spieler zwischen einer bunten Schar verschiedener Figuren wählen kann, mit denen (bzw. gegen die) man sich dann misst. Auf allzu detaillierte Hintergrundgeschichten wird dabei selten Wert gelegt. Vielmehr helfen bei Spielen (aber auch schon bei Rumsbumsfilmen) mehr die fetzigen Namen, das Styling und Design der Figuren, sowie ihre jeweils eigentümlichen Eigenschaften, Gebärden, Waffen und Tricks, sich verführen zu lassen und in die Charaktere, die Welt und die Äktschn einzutauchen. Dabei generiert jede Spielsession immer wieder eine neue Story-Variante, auch wenn sich diese ›Stories‹, bedingt durch die Begrenzungen des Möglichkeitsraums der Spielarchitektur, bis jetzt noch immer ziemlich ähnlich sind. Hier kann nun, wie Meißner zeigt, Literatur den interaktiven und adrenalinreizenden Spielen Paroli bieten, indem sie tiefere Hintergrundgeschichten statt oberflächlichem Detailreichtum bietet. Prickelnd ist zudem, wie die Leserschaft als Zeuge des ganzen wahnwitzigen Brot-und-Spiele-Irrsinns positioniert wird. Klar sind Romane auf ’ne lahmere Art ›interaktiv‹ als komplizierte virtuelle Digital-Realitäten. Ich nehme schon an, dass Meißner mit »Das Paradies der Schwerter« durchaus mehr anpeilt, als sich nur auf dem Feld der Literatur behaupten zu wollen. Ich vermute, er hatte wohlüberlegterweise im Sinn, sich mit dem Roman auch intermedial an Filmen, Comics und eben digitalen Genrewelten zu messen. —Knackige Äktschn mit Anspruch, wa? Ganz richtig, und ich nähere mich solchen Ambitionen gern mit neugierigem Wohlwollen.

Allerdings brachten mich andererseits Sprachseltsamkeiten des Romans oft zum Stirnerunzeln und Augenbrauenlüpfen, und rabiat-ungestümes Zusammenzimmern von Unterschiedlichstem ließ mich zudem grübeln, ob ich mich ›im Sinne des Buches‹ amüsierte, oder doch eher als ›gegen den Strich-Leser‹ meine Freude damit hatte. Beispielsweise als Piraten nächtens ein Schiff nahe der Küste des Tals der Glocken überfallen, und der junge Wandermönch Wei Guan Zhou, der aus fernen Landen im Osten stammt, Verdana rettet:

»›D … danke …‹, keuchte die junge Frau, eine Einheimische in knapper, Bewegung ermöglichender Abenteurerkleidung.«[4]

Solch moderner Versandhauskatalog-Sound klingt für mich wie ein alberner oder unpassender Anachronismus. Oder ist sowas als satirische Geste, als Insiderjoke auf Rollenspielklischees gedacht? Ich bin nicht sicher. Doch es gibt auch n’hübsches Büschel frech-origineller Anachronismen in Meißners namenloser Prügel-Welt, z.B. drogensüchtige, sprich an der Nadel hängende Glücksritter, oder westernmäßige Shootouts mit kleinen Armbrüsten.

Ein weiteres Beispiel für ein irritierendes Sprachtrumm bietet ein Kapitel mit Waisenkinderschar. Die kleine Lilin rennt aufgeregt durch den Wald, um ihren großen Brüdern von der Turnier-Einladung zu berichten:

»Sie war schnell wie ein Reh. Die Bäume zuckten vorüber, ein Wechsel von Dunkel und Grün, einzig verbunden durch ihre wehenden blonden Haare.«[5]

Leider keine neue Ent-Variante (obwohl hier Bäume mit blonden Haaren zucken), sondern nur eine missverständliche Bezüglichkeit. Ist das nun ‘ne echte Schlamperei des Autoren bzw. seines Lektorats? Oder soll das ein gewollt ›ungewöhnliches‹ Bild sein, vielleicht sogar zu verstehen als Diss gegen allzu impressionistisch-lyrische Töne, die in der Fantasy gern mal zu picksüßer Intensität anschwellen? Nun, ich ärgere mich nicht, sondern bin erstaunt und belustigt und eben unschlüssig. Aber immerhin: es ist durchwegs viel los. Die Tiefe des Weltenbaus, mit seinen manchmal haarsträubenden Vereinfachungen[6], bleibt durchwegs auf Marionettentheater-Niveau. Dafür überschüttet Meißner die Leser mit einem munteren Schwall an (ab und zu platten, doch überwiegend spritzigen) Ideen und Ereignissen. Grober atmosphärischer Kurs dabei: immer schön ordentlich rumscheuchen die Sprache, sowohl zu den niederen Pfaden, wenn’s grimmig, dreckig, martialisch, zornig zugeht, als auch hinauf zu idyllischen Wiesen, wenn Empörung, Mitleid, Sehnsucht und Trauriges zur Sprache kommt. —Haut‘s ummanand, ihr Metaphern, wu-ha!

Taschenbuchausgabe bei PiperDie zweite Hälfte des Romanes widmet sich dem Turnier selbst, das mit seiner ›programmhaft‹-linearen Szenenfolge einen schönen Kontrast zur Sprunghaftigkeit der ersten Hälfte bildet. Mit großem Gestus schließt Meißner gekonnt das Zusammenlaufen der Schicksalsfäden beim Auslosen der ersten Runde ab. Beeindruckend, wie viele mögliche Entwicklungen nun vom Ausgang der Kämpfe abhängen. Da wird naiv, verbissen oder fatalistisch gehofft. Pragmatischere Teilnehmer nehmen das Ganze mehr als Job, andere als spirituelle Prüfung, oder kompensieren mit der Konkurrenzgeilheit ihre verworrenen Triebe. Einige Nebenfiguren aus den Vorgeschichten der Teilnehmer sind mit von der Partie, in den feinen Logen, inmitten des launischen Pöbels, oder auch hinter den Kulissen. Da sind freilich welche, die versuchen, ihr eigenes krummes Ding durchzuziehen, andere geraten in immer tiefere Verzweiflung im Verlauf des ›Einer wird gewinnen‹-Tages.

—Jetzt geeehts loo-oos!, denn mit Turnierbeginn nimmt Meißner neben dem Schreibzeug auch das Rollenspielwürfel- und Tabellenwerkzeug zur Hand, um die Geschichte erst mal auszuspielen, bevor er – selbst zum ohnmächtigen Zuschauer und Analytiker ›degradiert‹ – die Ereignisse des Kampfprotokolls schriftstellerisch aufbereitet.[7] Da nutzt ein Autor die Praxis und das Werkzeug des Rollenspielgenres, aber nicht um eine Serie loszutreten, oder als eines von vielen Rädchen den steten Produktausstoß einer Marke zu gewährleisten, sondern um einen Roman lang sein eigenes Experiment aufzuführen: —Hut ab! Als Leser schaute Meißner neugierig und gespannt dabei zu, welche ungewöhnlichen Handlungskurven durch die Zufallsentscheidungen der Würfelei gekratzt werden. Allerdings ragen auch hier wacklig-ungebändigte Sprachornamente aus dem Erzählfluss, z.B. vor dem Schlussakkord des ersten Kampfes:

»Über Grotyn Terentius Craos Kopf detonierte die Sonne und überschüttete das trichterförmige Universum mit hochbeschleunigten Magmanadeln.«[8]

Und im dritten Kampf werden Waffen ziemlich unbekümmert vermenschlicht:

»Wieder stöhnte das Schwert auf, schien die Erlösung des Zerbrechens zu erwägen.«[9]

—Doch hinfort mit euch, ihr dummen Nörgelgedanken eines Sprach- und Klangfetischisten.

Für das Publikum besteht die Gaudi eines Turniers zu einem Gutteil darin, dass sich unten in der Arena erbarmungslos eliminiert wird, während sich von oben das Schicksalsgeschehen wunderbar ungeschoren verfolgen und bewerten lässt. Auch diesen Aspekt von Turnierereignissen zapft Tobias O. Meißner auf anregende Art an, und versteht zumeist überzeugend, die Arena als Kessel der Gemütserregungs- und Enttäuschungs-Dynamiken zu inszenieren. Zwischen den Kämpfen kommentieren zwei berühmte Wettkönige in Sportmoderatoren-Manier die Duelle, stellen Prognosen auf und bemühen sich, den zunehmend chaotisch-herben Verlauf des Wettkampfes durch Gewitzel aufzulockern. Durchaus gekonnt unheimlich dabei, wie leicht es diesen beiden Kennern fällt, ›tödliche Spiele‹ als sportiv-ästhetische Darbietung zu genießen. Meißner spottet erfreulich ätzend über z.B. das hysterische Gewese, das in den Massenmedien um Show-Wettkämpfe, Ekel-Tests und Superstar-Erwählungen veranstaltet wird.

Die Arena als Brennglas eines Fantasy-Spektakels über Spektakel, Spektakelindustrie und Spektakel-Lüsternheit. In Sachen Stilsouveränität eine vielleicht etwas schmutzige Linse, die nicht immer die richtige Sprachklang-Tiefenschärfe findet, aber die ›Unbescheidenheit‹ Meißners wiegt das für mich locker auf. So klug und selbstgewahr, wie er sich in dem oben erwähnten Interview äußert, kann er dem Rezensenten und anderen Lesern vielleicht nachsehen, wenn deren ›innere Literaten‹ sich finster grummelnd unter Deck verkriechen. Der Posse von ›inneren Trash-Freaks & Metallern‹ wird mit »Das Paradies der Schwerter« reichlich Gelegenheit geboten, mitzujohlen und headzubangen. Das Buch mag mit enervierenden Makeln gesprenkelt sein, aber das ist nun mal der Preis dafür, wenn man es darauf ankommen lässt, dass Literatur ›rocken‹ soll. Wer sich dafür interessiert, welch interessante Pfade die zeitgenössische, zudem die deutschsprachige, Fantasy einschlagen kann, sollte mal ein Exemplar des Buches in die Hand zu nehmen und ankosten. Subjektiv bin ich nicht sicher, ob der Roman ein krasser Spaß oder alberne Akrobatik ist, aber wenn ich den Inhalt Revue passieren lasse, muss ich innerlich grinsen. Und selbst wenn meine Belustigung nicht immer ›im Sinne des Autors‹ sein mag, nehme ich sie als Hinweis dafür, dass das Buch objektiv betrachtet wohl durchaus was taugt, trotz aller Geschmacks-Grätschen. —Good fight. Good night.

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[1] »Warnung vor einem MeisterwerkDas Leben ist ein Turnier: Tobias O. Meißners Kunst der Grausamkeit« in der FAZ vom 27. März 2004.
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[2] Man ›gönne‹ sich z.B. die bestenfalls lapsige, schlimmstenfalls arrogante Begründung von Rainer Zondergeldt, Fantasy und nichteuropäisch-westliche Werke weitestgehend aus seinem »Lexikon der Phantastischen Literatur« (Suhrkamp Verlag 1983; erweiterte Neufassung zusammen mit Holger E. Wiedenstried, Erdmann Verlag 1998) auszuklammern, wie auch seinen ›tendentiösen‹ (sprich: geringschätzigen) Eintrag zu Robert E. Howard dort.
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[3] Oder wie es der berühmt-berüchtigte ›Medienphilosoph‹ Peter Sloterdijk in seiner großen Menschheitserzählung umschreibt:
»Die Faszination von Turnieren {…}: Bei ihnen wird, analog zur Tierzucht, das Eliminationsverfahren zu einer menschgemachten Selektion. Er oder ich, wir oder sie – das wird in der Arena wie in einer Versuchsanordnung künstlicher Selektion eingeübt. {…} Wenn das griechische Leitwort lautete: Erkenne dich selbst, so heißt das römische: Erkenne die Lage.«

Aus dem Exkurs »Später sterben im Aphitheater. Über den Aufschub, römisch« in »Sphären: Globen – Makrosphärologie«, Suhrkamp 1999, Seite 330 ff.

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[4] Kapitel 2, S. 11.
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[5] Kapitel 3, S. 18.
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[6] Kapitel 24, S. 277: Eine junge Landadelige, die um einen Teilnehmer (ihren namenlosen Retter aus einer der Vorgeschichten) bangt, und ihren Vater dafür haßt, sie zum Turnier geschleift zu haben, damit Heiratswillige die ›Ware‹ beschauen können. Meißner schreibt:
»Angrica hätte darüber nachgedacht, ihren Vater aus Zorn und Verachtung zu ermorden, aber ihre Erziehung legte ihr den Gedanken an Selbstmord näher.«
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[8] Kapitel 18, S. 239. Die Sonne explodiert freilich nur metaphorisch.
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[9] Kapitel 20, S. 251.
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Jorge Luis Borges: »25. August 1983«

Eintrag No. 366

ERSTE FOLGE VON MOLOS WANDERUNGEN DURCH »Bibliothek von Babel«-Banner, klein. DER BÜCHERGILDE GUTENBERG

01. Oktober 2007: Eine Runde Fehlermerzung.

Hurrah, es tut sich etwas in Sachen Phantastik! Nein, ich meine nicht die Schwemme an Genre-(Jugend-)Phantastik, diesen (leider meistens) läppischen Franchisevehikeln, die mit Zauberlehrlingen und Drachenreitern als McHelden Konsumententreue an sich binden wollen. Der junge Borges.Ganz im Gegenteil: Ich bin sehr zufrieden, wie die Büchergilde Gutenberg mit ihrer Neuauflage der von Jorge Luis Borges zusammengestellten Anthologie-Reihe »Die Bibliothek von Babel« vorführt, daß man auch auf löbliche Weise auf den gegenwärtigen Phantastik-Hype aufspringen kann.[01]

Traut Euch ruhig, liebe Leser, und folgt mir auf meinem ersten Streifzug durch das Borges'sche ›Fantasyland‹ und lest…

NATÜRLICH, EINE ALTE HANDSCHRIFT (naja, ein Roman aus den frühen Achtzigern)

Den Lyriker, Essayisten und Erzähler Jorge Luis Borges (1899-1986) habe ich als Teen mittels der Lektüre von Umberto Ecos (1932) Roman »Der Name der Rose« (1980 / dt. 1982) entdeckt.

Eco hatte sich bereits in den 60ger- und 70ger-Jahren einen guten Ruf als gründlicher, streitbarer und gewitzter Intellektueller erschrieben. Einerseits trat er mit (nicht gerade immer leicht lesbaren, aber ungemein lehr- & aufschlussreichen) Fachbüchern zu Semiotik hervor (z.B. »Lector in fabula« und »Das Offene Kunstwerk«), andererseits brillierte er durch gewitzt-muntere und jedermensch zugängliche Essays und Kolumnen (z.B. »Sämtliche Glossen und Parodien«). Nicht zuletzt sorgten dann die politischen Wirren der Siebzigerjahre dafür, daß Eco 1978 den Wunsch entwickelte einen Mönch zu vergiften, und »Der Name der Rose« ist die Frucht dieser Mordlust.

Nun ist, wie ich zweifelsohne annehme, Eco ein großer Fan von Borges. Beide darf man als Edelfedern bezeichnen, doch beide pflegen (bzw. pflegten) auch eine Schwäche für Triviales, für Krimis und keck Phantastisches; beide also (für mich) meisterhafte Grenzüberschreiter, die es vorzüglich verstehen (bzw. verstanden) kurzweiliges Fabulieren köstlich mit inspirierender Gelehrsamkeit und philosophischen Kalorien zu vereinen.

Bei ›uns‹ begeisterten Genrelesern ist es nicht selten der Fall, daß sie die Bösewichter reizvoller finden als die Guten. So sind die liebenden Helden von Wilkie Collins »Die Frau in Weiß« fade Pappfiguren verglichen mit dem schillernden Count Fosco[02]. Die Möchtegernweltherrscher — ob Le Chiffre, Goldfinger oder Bloomfeld — der James Bond-Geschichten stellen, was Glamour und Faszinationskraft angeht, den Agentenhelden zumeist locker in den Schatten. Zumindest für einen Genrefreak wie mich ist es da keineswegs verwunderlich oder ungebührlich, wenn Eco seine Verehrung für Borges dadurch zum Ausdruck brachte, daß er Jorge Luis zum ›Vorbild‹ für den Strippenzieher der tödlichen Machenschaften seines mittelalterlichen Kriminal-Schauer-Schlüsselromans erwählte.Umberto Eco: »Der Name der Rose«; Ausgabe der Büchergilde Gutenberg; Umschlagszier von Klaus Böttger Zwar sind mir keine Stellungnahmen von Borges zu Ecos »Der Name der Rose« bekannt, aber ich stelle mir gerne vor, daß der alte Borges seine stille Freude daran hatte, wie Eco ihn in der Figur des Jorge von Burgos liebevoll ›negativ portraitierte‹.

Immerhin: Wer möchte nicht gern der Dungeon-Master und alleinige Geheimnishüter eines mit Fallen gespickten Bibliotheksirrgartens sein, der stimmungsmäßig vielleicht noch am ehesten an die Kerkerphantasien von Piranesi erinnert (die ja tatsächlich dem genialen Filmarchitekten Dante Ferretti als Vorbild für die Bernd Eichinger-Produktion dienten)?

Und dieser (wie Borges selbst auch) blinde Fanatikergreis Jorge von Burgos ist ein zum Niederknien beeindruckend-schröcklicher Bösewicht. Bester Philosophen-Horror, wenn Jorge im Disput mit William von Baskerville das Lachen als teuflisch verdammt. Wunderbar die Volte, wenn Jorge störrisch auf die Deutungshoheit des kirchlichen Machtapperates beharrt[03]:

»Wer zweifelt, wende sich an eine Autorität, befrage die Schriften eines heiligen Vaters oder Gelehrten, und schon endet jeder Zweifel.«

›Volte‹, weil Borges selbst eher (wenn schon denn schon) den fröhlicheren Strömungen eines anarchistischeren Katholizismus etwas abgewinnen konnte[04]:

»{I}ch {hänge} keinem philosophischem System {an}, außer, und hier könnte ich mit Chesterton übereinstimmen, dem System der Ratlosigkeit.«

Schon vor über zwanzig Jahren als Jugendlicher, war ich (wie heut noch) hin- und hergerissen zwischen Größenwahn und genau dieser Ratlosigkeit, und dank der Hinweise des Buches »Das Geheimnis der Rose entschlüsselt« (Klaus Ickert & Ursula Schick, Heyne 1986) als Kompass, fand ich damals eben bald schon zu meinen ersten Borges-Büchern. Und da ich mich sonst gern und heftig in die Pose des kritischen Lesers/Rezensenten werfe, der bei trostspendenden Literarturen verächtlich abwinkt, freu ich mich ausgleichend gestehen zu können, daß die ›Relevante Phantastik‹ eines Borges zu den wenigen Narrationen gehört, deren tröstende Töne ich gerne vernehme. Vergänglichkeit als Chance sehen, das ist der ganze Trick, so unheimlich er auch anmutet.

DIE GROSSE TRADITION DES DISREPEKTIERLICHEN

Allzu gerne erinnere ich immer wieder an den manchen wohl so gar nicht schmeckenden Umstand, daß Phantastik nicht weniger bezeichnet, denn alles Reden in Metaphern, Allegorien, Symbolen, Sprachbildern, Anwend- und Übertragbarkeiten, eben alles ›sehen machendes‹ und (vor dem inneren Auge) ›erscheinen lassendes‹ Schildern und Erzählen.

Aber Phantastik kann man auf viele verschiedene Arten betreiben. Das fängt im Kleinen und Alltäglichen mit solchen Metaphern wie »Schmetterlinge im Bauch« (fürs Solar Plexus-& Magenkribbeln beim Verliebtsein) oder »Das Glas ist halb voll / halb leer« (für optimistische / pessimistische Realitätstunnelperspektiven) an und geht im Großen und Weltbewegenden weiter, wenn politisch vom »vollen Boot« oder dem »Haus Europas« gebabbbelt wird, oder wenn die Wissenschaften uns mit neuen Fabeltier-Allegorien wie Schrödingers Katze, Pawolows Hund oder Hilberts Hotel die Kompliziertheit des Universums zu erklären trachten. (Und ja: ich mag die Vorstellung, ein Hotel als Fabeltier zu nehmen.)

Das einfache Alltags-Metaphernregister, mit dem wir der Innenwelt unserer Gedanken und Empfindungen Ausdruck verleihen, oder mit denen wir uns die schwer zu fassenden und beobachtbaren Vorgänge der Außenwelt gegenseitig erklären, hat sich schon vor langer Zeit hochverfeinert zu kleinen Erzählungsformen, die sich zuhauf bereits in den Versepen der Altvorderen, in heiligen Texten und Märchen finden lassen. Wie groß ist allein schon das Phantastik-Repertoir der Fabeln, mit ihren königlichen Löwen, kriegerischen Hunden, eitlen Pfauen, diebischen Raben, verschlagenen Füchsen, faulen Musikergrillen und fleissigen Arbeitsameisen. Alles menschliche Eigenschaften, die wir auf die Tiere übertragen, um auf unterhaltsame Weise z.B. moralische Lektionen weiterzugeben. Kaum Einwände vernehme ich, wenn respektable Erzphilosophen sich mit Phantastik behelfen, um ihre welterklärenden Gedanken auszubreiten, wie es der Initiator des ›Ideenkrieges um das Sein‹ Platon mit seinem berühmten Höhlengleichnis und dem nicht ganz so berühmten Sonnengleichnis tat.

Also immer gern her damit, wenn sich nun die Büchergilde Gutenberg mit Jorge Luis Borges einem der großen Phantasten des 20. Jahrhunderts annimmt, indem man von April 2007 bis April 2008 in 5 Staffeln die von Borges ausgewählten 30 Bände der »Bibliothek von Babel« endlich wieder für deutsche Leser zugänglich macht[05]. Ich konnte nicht umhin, den »Die Welt«-Autoren Henrik Werner mit meinem Literturwelt-Eintrag »Die vermeindliche Wirklichkeitsflucht« zu rügen, wenn er dieses mutige Unterfangen der Büchergilde gedankenschwach in einen Topf wirft mit dem oben angesprochenen McFantasy-Hype. Mit großer Freude aber las ich Thomas Klingenmaiers löblich verständnisvolle Jubelmeldung »Der Tod und weitere unseriöse Bekanntschaften« in der Stuttgarter Zeitung. Fast möcht ich meinen, daß Klingenmaier die beiden Schlußabsätze seines Artikels aus meinem Knochenmark abschrieb, so treffend, knapp und überzeugend klärt er die verzwickte Lage der Phantastik wenn es bei ihm heißt (Hervorhebungen von Molo):

Dass Fantasy und Horror nicht nur bei jungen Lesern Lektürefieber entzünden, geht in die Klagen über den Verfall der Lesekultur nicht ein. Die Reputation moderner Fantastik beim literarischen Establishment ist verheerend. Mit Nachsicht kann einzig ausgewiesene Kinder- und Jugendliteratur wie »Harry Potter« rechnen. Ihr wird das Potenzial gutgeschrieben, zur Literatur im Allgemeinen hinzuführen. Liest der Interessierte dann aber Tad Williams statt Martin Walser, gilt die Leseförderung wieder als gescheitert. Gegen solche Arroganz kann »Die Bibliothek von Babel« helfen, auch wenn sie moderne Fantastik nicht umfasst. Das wenig Respektierliche hat eine große Tradition.
Genrefreunde können in Jorge Luis Borges’ Sammlung Texte in anderen Farben als den gewohnten entdecken. Und mancher Rationalist, der angesichts von Elfen, Zwergen und Drachen in der modernen Fantasy erst einmal reflexhaft in Verteidigungsstellung zum Schutz der Vernunft geht, kann sich hier entspannt daran erinnern, das Literatur nicht unbedingt das verdoppeln muss, was wir jeden Tag vor Augen haben, dass es ihr auch erlaubt ist, mit dem zu spielen, was jede Nacht durch unsere Träume geistert.

Phantastik kann eben schnell langweilig und schal werden, wenn das Metaphernregister zur Formelhaftigkeit verkommt, sich aufdröseln läßt wie ein simples Zuordnungsspiel oder ein »Malen nach Zahlen«-Bild. Spannend, aber eben auch schwerer einzuordnen, ist aber Phantastik, bei der die Unmöglichkeiten sowohl für sich stehen, als auch einen Bezug zur tatsächlichen Wirklichkeit anklingen lassen.

»25. AUGUST 1983«

Zu Meister Borges selbst, von dem fünf Erzählungen im fünften Band (erste Staffel, April 2007) der »Bibliothek von Babel«-Anthoreihe geboten werden, nebst einem Vorwort von Martin Gregor-Dellin[06],»Die Bibliothek von Babel«, Band 5: »25. August 1983« von Jorge Luis Borges; Edition Büchergilde Gutenberg. Umschlagszier von Bernhard Jäger einem Borges-Interview mit Maria Ester Vásquez und einer bio/bibliographischen Zeittafel.

Glücklich macht mich allein schon, daß die 30 Babelbände Lesern (mit Ausnahme einiger Novellen wie z.B Beckfords »Vathek«) ein abwechslungsreiches Potpourrie an Kurzgechichten aufspielt. Völlig zurecht jammert man ja kläglich darüber, daß es in den Mainstream-Printmedien fast gar keine Plattform mehr für Kurzprosa gibt, und daß sich diese Textform auch als Buch bei uns schwer tut.

Da kann ich mich nur verdutzt fragen: Warum eigentlich?

Immerhin eignen sich Kurzgeschichten wie kaum etwas als Unterwegs-, Zu-Bett-geh- und Zwischendurchlektüre, sie bieten stilistischen, strukturellen und perspektivischen Abwechslungsreichtum und anders als Romane, konzentrieren sie sich zumeist auf das zündende Aufblühen einer Idee. Wer hat schon allerweil Lust auf ganze Torten, wenn doch das Naschen verschiedener Pralinee- & Konfektstückchen ebenfalls höchste Genüße bereitet?

Gleich mit der ersten Geschichte der Auswahl, (von der die Antho-Reihe auch ihren Titel entliehen hat), »Die Bibliothek von Babel«[07] wird mit den eröffnenden Worten…

{…d}as Universum, das andere die Bibliothek nennen{…}

…eine riesige Phantastikbühne aufgefahren, ein Gedankenspiel, das so ähnlich allen bibliomanen lesenden Weltenwanderen vertraut sein dürfte. Ein namenloser Einwohner schildert uns das Leben in dieser Bibliothekswelt. Wie er als junger Mensch den Katalog aller Kataloge gesucht hat; daß es…

{…}in der ungeheuer weiträumigen Bibliothek nicht zwei identische Bücher {gibt…}

…und er erzählt von den verschiedenen, z.T. im Streit miteinander lebenden Fraktionen der Bibliothekare: den Mystikern, den Inquisitoren, den Lästerern, den Pietätslosen. Grob trau ich mich zusammenfassen, daß diese Geschichte eine stoisch anmutende Meditation ist, die unerschrocken über Phänomene wie Unendlichkeit, Variationsvielfalt, und die Rätsel von Raum und Zeit spricht. — Literarisch reizvoll ist diese Geschichte auch, weil Borges sich hierbei sozusagen als Fanfiction-Schreiber verhält, oder wie er selbst in einem Interview erklärt[08]:

»Diese Story habe ich geschrieben, als ich besonders versessen darauf war, Kafka nachzuäffen«

Der alte Borges. Die zweite Geschichte, »25. August 1983« [09], zeigt nun, wozu sich Phantastik vorzüglich eignet: Borges fabuliert hier mit sich selbst als Protagonisten, mit Spengseln eines feinen zart-bitterem Humors aber durchaus ernst, über die sehr dunkle menschliche Erfahrung des Selbstmorders, bzw. des Selbstmordgedankenspiels. Ich will die Depression nicht verherrlichen, bin aber der Meinung, daß es zu den fundamentalen Aspekten des Lebens gehört, mit dem Gedanken zu flirten der eigenen Existenz ein Ende zu setzten. Immerhin sind wir alle der Sterblichkeit ausgeliefert, und gerade in der Zeit z.B. des Übergangs vom Jugendlichen zum Erwachsenen können erschreckende Vor- & Hinter-den-Kulissen-Erfahrungen mit der Schlechthinigkeit der (Menschen-)Welt dazu führen, daß man auf die Idee kommt, der Misrere des Ausgeliefertseins zum Leben mit eigener Gestaltungsmacht entgegenzuwirken. Borges inszeniert sich hier als Doppelgänger. Ein junger Borges begegnet in einem Hotel einem alten Borges, der sich selbst vergiftet hat, nun sterbend im Bett liegt und mit seinem jüngeren Ich plaudert. Ich finde es zum schmunzeln (aber auch unheimlich), wie die beiden sich gegenseitig ausloten, um herauszubekommen, wer sich da in wessen Traum verirrt hat, oder ob gar beide träumen. Auch wird offen über die Erfahrung des Ekels vor sich selbst gesprochen, wenn der junge Borges zum alten sagt:

»Ich hasse dein Gesicht, das meine Karikatur ist, ich hasse deine Stimme, die mich nachäfft, ich hasse deinen geschwollenen Satzbau, der der meine ist.«

Tja, mit sich selbst kann man langfristig wohl nur dann im Reinen bleiben, solange mensch sich als alte Person erträglich vorzustellen vermag.

Die kürzeste Erzählung der Auswahl, »Die Rose des Paracelsus«[10], führt nun den bekannten Renaissancegelehrten als Magier vor. Der hätte gerne einen Schüler, und es folgt eine seltsam-komisch schiefgelaufende Initiationsprüfung. Harry Potter-Fans aufgepasst: es geht um den Stein den Weisen, den der Schüler finden möchte, und von dem Paracelsus meint, daß der Weg zum Stein der Weisen bereits der Stein selbst ist. Außerdem kann man lernen, was man von einem Wunderwirker niemals verlangen darf.

»Blaue Tiger«[11] bietet eine passende Gelegenheit, meiner heftigen Begeisterung für die wunderschönen Titelaquarelle von Bernhard Jäger Platz eimzuräumen, sowie darüber, daß die Büchergilde diesen exzellenten Illustrator über die Herausforderung sprechen läßt, dreißig Bände Phantastik mit Umschlagszier zu versorgen. Und gerade dieser Band 5 mit den Borges-Erzählungen ist für Illustratoren keine leichte Sache, denn wie Jäger schön erklärt:

Borges {…} ist hoch-intellektuell, schwer zu illustrieren. Man muss sich eine Erzählung herausnehmen, ein Schlagwort oder ein Kürzel, und darüber arbeiten. Der Schlaf und der Traum spielen eine große Rolle. Es sind Geschichten, von denen man nicht weiß, sind sie Traum oder Realität. Das realistisch darzustellen, ist unmöglich. Von allen, die ich bisher gelesen habe, ist Borges der intellektuellste, einer, der auch mit dem Genre spielt. Das ist schon toll, das ist große Literatur.

Auch ich hätte mich bei der gegebenen Auwahl für »Blaue Tiger« entschieden, denn hier legt Borges noch am ehesten sowas wie eine ›normale‹ Mystery-Abenteuergeschichte vor, wenn er Alexander Craigie, Prof. für abend- und morgenländische Logik in Lahor, berichten läßt von seiner Queste nach dem Blauen Tiger im Ganghes-Delta. Klassischer Abenteuer- & Phantastik-›Trash‹ geht noch ab, wenn der Europäer auf einen Dschungelstamm abrgläubisch raunender Geheimnisträger trifft; der Borges'sche Sonderpowerboost aber zündet, wenn Craigie statt des gewünschten Tigers rätselhafte blaue Kieselsteine findet, die sich gänzlich unerhört verhalten, auf eine Weise, die vor allem mathematisch angehauchten Gemüthern richtiggehend Lovecraft'schen Kosmischen Schrecken einjagen dürfte. Der Protag aber entpuppt sich als echter Jedivorläufer, da er einen ungewöhnlichen gewaltfreien Weg findet, sich vom Wahnsinn der Steine zu befreien. Da schimmern dann doch die sozialistisch-kommunistischen Wallungen durch, die den jungen Borges durchwallt haben mögen, und von denen er sich einst befreit zu haben glaubte, als er zwei entsprechend tendentiöse Frühwerke vernichtete, ehe er nach einem längeren Europaaufenthalt nach Südamerika zurückkehrte.

Die letzte Geschichte ist die beunruhigende, aber (wie immer bei Borges) mit scheinbar müheloser Elegenaz ausgebreitete Traumdystopie »Utopie eines müden Mannes«[12]. In dieser Geschichte tritt Eudoro Acevedo auf, ein mittlerweile steinalter Prof. für englische und amerikanische Literatur, der selbst Phantastik schreibt, und sich (ohne daß dies große erklärt wird) in einer öden fernen Zukunft der Erde wiederfindet, und sich mit einem der dortigen Bewohner unterhält. Da gibts freche Rempeleien gegen religiöse Scholastenphantastik (…

»Ich entsinne mich«, antwortete er {dem Zukunftsmenschen}, »zwei phantastische Erzählungen ohne Mißfallen gelesen zu haben. Die ›Reisen des Käptäns Lemuel Guilliver‹, die viele für wahr halten, und die ›Summa Theologica‹.«

…) und vermittels einer Platzierung des Namens Adolf Hitler kurz vor Schluß, dämmert wohl auch dem letzten Leser, was für eine düstere Gesellschaftskritik das Geplauder der Erzählung birgt.

Einen munteren und interessanten Blick auf Borges gewährt das abschließende Interview des Autoren mit Maria Esther Vasquez (das leider keine Jahres & Quellenangabe hat, aber ich vermute, daß dieses Gespräch zum Ersterscheinen der Anthoreihe 1973 entstande ist). Borges erzählt über seine frühen Jahre, seine Jugendzeit in Europa, seinen Blick auf das eigene Werk, seine immer wiederkehrenden Themen (Labyrinth, Spiegel, Vielfalt des Ichs, wiederkehrende Zyklen, Tiger, Messer- und Mut-Sekte, Buenos Aires, Säbel), über Politik, Ehrungen & Vorlieben, nordische Sprachen, Leben, eigene Fehler & Tugenden sowie Musik, Malerei & Tod. — Da vergnüg ich mich freilich, wenn Borges und ich ein wenig Geschmack gemein haben, und er freimütig über das Gekleckse eines El Greco lästert, oder Johannes Brahms als einen ihn berührenden Komponisten lobt.

Resummee: ich bin mehr als glücklich über die Großunternehmung der Büchergilde Gutenberg, uns diesen Schatz der ›literarischen Phanatstik‹ neuauflegt wieder zugänglich zu machen (kann man auch als Nicht-Büchergildenmitflied in der Edition Büchergilde erstehen; einzeln oder auch mit ermäßgten Staffelpreisen). Ich gebe zu: man braucht für die ganzen 30 Bände schon einen bessertrainierten Geldbörsenmuskel. Aber für was gibts Feiertags- und Geburtstagsschenkerei?! Diese 30 Bände sind eine Anschaffung fürs Leben.

Ich begebe mich weiter mit Major Grubert-Hut auf Exkursion in die Babelgefilde, verabschiede mich für jetzt, bevor meine Weiterlesetips zum Thema ›Borges-artige moderne Phantastik‹ beginnt, und danke allen, die so ausdauernd meiner Schreibe zu folgen Freude bereitet hat, und hoffe, daß mein Geschmack vielleicht als willkommene Orietierung in Sachen ›Qualitäts-Phantastik‹ dienen konnte.

Bis zur nächsten (zweiten) Folge meiner Babel-Reihe, etwa Mitte Juno

Euer Molosovsky / Alex

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ALLE WEGE FÜHREN NACH BABEL

Im Lauf der Zeit bin ich immer wieder auf phantastische Lektüren gestoßen, in denen ich entweder vermeinte, den Einfluß von Borges zu spüren, oder die (Zufall) eine sehr Borges-ähnliche Athmosphäre und Stimmung vermitteln. Viele, ach allzuviele Werke könnte ich anführen, denn das postmoderne erzählerische Spiel mit Mythen, fingierten Artefakten und Schriften aus erdachen Welten und andere Eigentümlichkeiten des Werkes von J. L. Borges lassen sich (zumindest für mich) zuhauf finden. Weiter weg vom Gebiet des guten Geschmacks, aber deshalb nicht minder respektabel spekulativ, ist da z.B. so ein SF-Mystik-Horror-Thriller wie »Cube«, oder auch der düster stimmungsvolle »Dark City«. Aber von Filmen sei hier nicht die Rede. Hier aber eine kleine Übersicht meiner entsprechenden literarischen Favoriten.

  • In Werk von Helmut Kraussers Werk tummeln immer wieder obskure und unheimliche Doppelgänger durch die Geschichten (z.B. in »Fette Welt« und »UC«) und/oder verlaufen sich die Protagonisten in verstörenden Verknäulungen wahrgewordener und wahrgeglaubter Mythen (z.B. »Melodien«, »Thanatos«). Die mythische Lebendigkeit von Phantastik hat Helmut Krausser wie kaum einer sonst in meiner bisherigen Lebenszeit so schön poetisch auf den Punkt gebracht wie er es in seinem ›Stimmengemenge vom Veteranenstammtisch‹ »Denotation Babel« (1999) tat. Drei Männerstimmen vom Babelturm erzählen in diesem Gedicht z.B. vom ›Seifenopern‹-, ›Groschenheft‹- und ›Räuberpistolen‹-Charakter der alten Phantastikklassiker:
    Unsere Lieblingsmythen hießen:      »Labyrinth des Minotaurus«,           »Kampf um Troja«, »Herakles« (der Superheld für unsere Kleinen)      »Salomo und seine Frauen«           (der Höhepunkt im Spätpropgramm) Zehn schöne Jahre haben wir      »Odysseus' schräge Fahrt« verfolgt           und uns beinah bepisst vor Lachen. Beim »Brand von Sodom und Gomorrah«,      dem Machwerk eines Radikalen,           haben wir uns abgewandt.

    Kann sein, daß HelK die Hände überm Kopf zusammenschlägt wenn ich ihn derart mit Borges verknüpfe, und/oder aufgrund meiner flappsigen Lesart als exzellenten Phantasten preise. Aber für mich als Leser sind die thematischen Ähnlichkeiten kaum zu übersehen.

    »Denotation Babel« empfehle ich besonders allen, denen z.B. solche dunklen und überernsten Mythos-Werke wie »The Waste Lands« von T.S. Eliot zu steif und humorlos sind.

  • Derzeit (ich bin auf Englisch ca. auf S. 200 von über 700) verirre ich mich genüßlich in dem Wunder-, Schauerkammerbuch von Mark Z. Danielewski »House of Leaves«, daß als »Das Haus« im Herbst 2007 bei Klett-Cotta im allgemeinen Programm erscheinen wird. Schön, daß dieses erzphantastische, sprachlich vielstimmig-brilliante Buch von der exquisiten Übersetzerin Christa Schuenke ins Deutsche übertragen wurde. Immerhin hat diese Meisterin schon solche respektablen Klassiker wie John Donne, Jonathan Swift und Herman Melville und moderne Edelfedern wie John Bannville und Robert McLiam Wilson glänzend übersetzt. Beim Lesen der Originalausgabe von »House of Leaves« frug ich mich oft: »Wie kann man das wohl knackig ins Deutsche wuppen?«Worum gehts? Bisher trau ich mich sagen, daß Danielewksi mit seinem Debutroman ganz klassisch und zugleich auf der Höhe heutigen Romanschreibens einen unheimlichen Großroman abgeliefert hat. Wer die großzügigen ca. 100 Leseprobeseiten von Klett-Cotta überfliegt, merkt anhand der komplizierten Typographie, daß hier mehrere Handlungs- und Erzählebenen miteinander vermengt sind. Da ist der kalifornische Mitzwanziger und Tatooladengehilfe Johnny Turant, der in den Besitz des äußerst merkwürdigen Manuskrips ›Der Navidson Record‹ gelangt. Ein alter, blinder Exzentriker (sic) namens Zampano, hat über Jahre hindurch an diesem Schriftstück gebosselt. ›Der Navidson Record‹ ist eine erschöpfende Analyse über den gleichnamigen fiktiven Film des Dokumentarfilmers Tom Navidson. Der wollte seine wilden Tage hinter sich lassen, mit seiner Familie ein ruhiges Leben in einem alten Landhaus beginnen, und diese neue Phase mit Videokameras dokumentieren. Doch dann entdeckt er einen Durchgang in dem Haus, der sich alles andere als normal verhält. Die räumliche Exzentrik des Hauses wird langsam zu einer bedrohlichen Unheimlichkeit. Wie kann es sein, daß ein Haus von innen größer ist als von außen? Was ist das für ein Wesen, dessen Grollen Tom bei seiner ersten größeren Expedition in diese räumliche Annomalie kalte Panik einjagd? Zampano hat den nüchternen Sachtext der Filmanalyse von Navidson mit Fußnoten versehen, und Johnny Turant befußnotet Zampano und vermerkt dabei seine eigenen unheimlichen Abenteuer, die ihn heimsuchen, seit er das Zampano-Manuskript liest. Im hinteren Teil des Buches finden sich z.T. Fragment gebliebende Anhänge, in denen man mehr über die Buchpläne von Zampano und die Familiengeschichte von Johnny erfährt, und der Wahnsinn des kosmischen Grauens ist niemals weit, steigert sich meisterhaft sachte und ich beginne mich abseits der Lektüre bereits hektisch nach Zeichen der Invasion des Übernatürlichen umzugucken … so gut ist Danielewski. — Blinde Mystiker, fiktive Werke über fiktive Werke und vor allem die prominente Rolle die der mythische Minotaurus spielt, dürften reichen, damit Borges-Freunde bei »Das Haus« aufhorchen. Wenn Borges eine Neigung zur langen Strecke des Romans gehabt und sich in Arno Schmidt'scher Manier für Schriftgestaltungsspielerein begeistert hätte, so wäre ihm womöglich ein Buch gelungen, daß sich wie Zwilling von Danielewskis beeindruckendem Debut ausnimmt.
  • Die frankoberlgischen Comic-, äh, Graphiknovellen- & Weltenbau-Magier Francois Schuiten (Illus) und Benoit Peeters (Text) bieten üppige Ausflüge in Welten, die in vielerlei Hinsicht an die Borges'sche Phantastik anknüpfen. Die für sich stehenden und auf lockere Weise einen großen Zyklus ergebenden Einzeltitel der Reihe »Les Cities Obscures« (Die Geheimnisvollen Städte) verführen bei uns seit ca. 20 Jahren zu Reisen in eine von Architektur und Bücherwahn geprägte Parallelwelt. {In geschwungenen Klammern und kleiner Schrift stehen die Titel, die ich noch nicht genauer kenne, weil sie zu teuer sind, als daß ich sie meiner Sammlung derzeit einverleiben könnt}.
    • In »Der Turm« (Feest Verlag, 1988). S/W mit einigen farbigen Sprengseln. Der Turm ist alt, der Turm ist gigantisch. Weit unten darbt der Instandhalter Giovanni Baptista und ärgert sich. Lange schon bekommt er keine Rohrpost-Nachrichten aus den höheren Gefilden der Turmbauern; seine benachbarten Kollegen sind verschwunden oder gestorben und Giovanni kommt nicht mehr zurande, die bröckelnden Stellen des Turmes auszubessern. Er macht sich auf die Suche nach den Turmbauern, und entdeckt auf seiner Reise durch die Turmwelt, daß die alte Hierarchie kaporres ist.
    • »Das Fieber des Stadtplaners« (Feest Verlag, 1989). S/W. Der Urbitekt Eugen Robik ist ein ungeselliger Technokrat, der niemand außer sich selbst für fähig genug hält, die verwinkelte Altstadt von Urbicande zu modernisieren. Doch Robiks Leben gerät völlig aus den Fugen, als er ein mysteriöses Würfelgitter findet, das unaufhaltsam und in unvorhersehbaren Schüben wächst, und schließlich auch das Gefüge von Urbicande selbst völlig durcheinander wirbelt.
    • »Die Mauern von Samaris« (Feest Verlag, 1990). Farbig. Franz Bauer wird von den Stadtführen Xhystos in das ferne Samaris geschickt, da keiner der dorthin entsannten Botschafter Rückmeldung gab. Samaris entpuppt sich als unheimliche Kulissenstadt und Franz ist bald nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, was Maskerade ist und was Wirklichkeit.
    • {»Der Archivar« (1991). Großer S/W & farbiger Prachtband. Hier ist ein Doppelgänger von Borges selbst die Hauptfigur. Als Archivar will er den Mysterien der Welt der Geheimnisvollen Städte auf den Grund gehen. Hier der entsprechende Eintrag aus dem englischen Obscure Dictionary zu der Reihe (Stegreifübersetzung von Molo):

      }
    • »Der Weg nach Armilia« (Feest Verlag, 1992). Farbig. Ohne zuviel verraten zu wollen, hat diese Story über eine Luftschiff-Reise quer durch die Welt der Geheimnisvollen Stadt eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Cyberpunk-Thema, das z.B. in »Welt am Draht« und »The Matrix« behandelt wird.
    • »Brüsel« (Feest Verlag, 1993). Farbig. Hier treten Schuiten & Peeters am deutlichsten als Kritiker des modernen Städtebaus auf, wenn sie in ihrer fiktiven Doppelgängerstadt des realen Brüsel einen einfachen Blumenhändler durch intrigenreichen Gesellschaftswirren stolpern lassen. Inklusive elektrischer Kuren und Bombenlegerinnen. Womöglich der flotteste Band der Reihe.
    • {»Das Stadtecho« (1994). Großfarmatiger quasi-dokumentarischer Prachtband mit vielen S/W, Farb und Photoabbildungen.}
    • »Mary« (Feest Verlag, 1996). S/W und manipulierte Photographien. Zwei Wege kreuzen sich: In der Welt der Geheimnisvollen Stadt gerät das persönliche Gravitationsfeld der jungen Dame aus bestem Hause, Mary, aus dem Lot, und von da an schräg daherkommend fäll sie aus ihrem Milieu. In unserer Welt findet ein Maler in einer verlassenen Villa einen Übergang in die Welt der Geheimnisvollen Städte.
    • »Der Führer zu den Geheimisvollen Städten« (Feest Verlag, 1998). Quasi-enzyklopädisches Nachschlage- und Schmökerbuch mit ausführlichen Städteportraits, Dossiers über Geschichte der Geheimnisvollen Städte-Welt und einigen ihrer berühmten Persönlichkeiten, zu zu denen auch irdische Leute wie Jules Verne und eben J. L. Borges gehören.
    • »Der Schattenmann« (Feest Verlag, 2000). Farbig. Albert Chamisso ist ein höherer Manager und verliehrt während einer alptraumdurchfieberten Krankheit seinen Schatten, genauer: er wird durchscheinend. Dieser Band erzählt, was der Gute aus seiner Misere macht.
    • »Jenseits der Grenze 1 & 2« (Edition Moderne, 2002-2004). Farbig. Der junge Karthograph Roland von Cremer trifft bei dem kolossalem Kuppelbau der großen karthographischen Zentrums ein. Im Lauf der beiden Bände kommt es zu einer informationstechnischen Revolution und einem Staatenkrieg. Wunderbar wird hier mit dem Borges-Motiv der ›Karte des Reiches im Maßstab 1:1‹ gespielt (naja, nicht ganz 1:1, aber aberwitzig detailierter Maßstab halt).

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ANMERKUNGEN:

[01] Nebenbei: Mein Plan ist, jeden Monat einen Band der »Bibliothek von Babel«-Reihe vorzustellen. Dieses Unterfangen ist mein Versuch, zu zeigen, wie man sich als Blogger aus Begeisterung und Spaß an der Freud einer ›Mission‹ widmet. Ich Danke der Büchergilde für ihre Unterstützung und den Mut, sich auf einen unprofessionellen Daherschreiber wie mich einzulassen. ••• Zurück
[02] Oder wie es der gute Arno Schmidt knackig umschreibt in einerm seiner unvergleichlichen Radiodialoge. Aus »Der Titel Aller Titel ! Betrachtungen zu Wilkie Collins & seiner ‹Frau in Weiß›« (1966), Haffmans 1991, Werkgruppe II, Band 3, S. 271.
Sprecher A {Berichterstatter}: {…} damals mußte ein Autor halt, hell-angestrahlt in Bühnen=Mitte, 2 Menschen=Attrappen hinstellen, die süß=unbeholfen Hand' & Füß' umeinander legen: als Alibi ! Das wirklich=Wichtige aber spielt sich in, beziehungsweise dicht vor der Culisse ab. Sind dort doch angeblich nur Statisten-Comparsen am Werk; zum Teil ausdrücklich als Bösewichtier & =Wichterinnen deklarriert; Denen man ergo einiges — recht Vieles — : viellecht sogar Alles ! ? — verzeihen kann; ohne sich ob der Sympathie mit, der Freude an, ihnen moralisch belastet vorkommen zu müssen.
Sprecher B {Fragen & Einwände} (begreifend): Achso ! — Durch das chemisch gereinigte Haupt-Paar in Vordergrunds Mitten, wird das ‹Über=Ich› des Lesers auf's respektabelste beruhigt; so daß dann im breiten Rahmen=Rankenwerk allerlei Schalkisches vor sich gehen darf : ‹da Wir ja doch nur träumen, kommt's darauf auch nicht an›.
Sprecher A (bestätigend): Ergibt sich der Satz : ‹Im Viktorianischen Roman sind die Neben=Figuren immer die Haupt=Figuren›.

Arno bringt hier etwas auf den Punkt, daß nicht nur für den Viktorianischen Roman, sondern (da diese Epoche den heutigen Publikumsroman bis heute stark prägt) auch für viele viele Mainstream-Narrationen immer noch gilt. Jüngstes mir genehmes Blockbusterbeispiel gibt da die »Piraten der Karibik«-Trio ab. Keira Kneightly und Orlando Bloom geben die sich anhimmelnden Lämmerlein treffend, und bleiben doch für mich nebensächliche flache Figuren, da die eigentlich interessanten Helden die zwielichtigen, irren und monstösen Figuren sind wie Jack Sparrow, Davy Jones, Barbosa & Co. ••• Zurück

[03] »Der Name der Rose«, Hanser, S. 170. ••• Zurück
[04] »25. August 1983«, Büchergilde Gutenberg, S. 98. ••• Zurück
[05] Ursprünglich 1975 beim italienischen Verlag Ricci erschienen. Es dauerte bis 1981 bis der Wagenbach-Verlag eine deutsche Ausgabe veröffentlichte, die aber bald vergriffen war. Nun endlich also, nach 16 langen Jahren kann eine neue Generation diese prächtige Antho-Reihe für sich entdecken. ••• Zurück
[06] Martin Gregor-Dellin (1926-1988): Schriftsteller, Lektor und Herausgeber. Mir zum Beispiel positiv aufgefallen durch seine Antholgien klassischer (Schauer-)Phantastik »Die Gespenstertruhe« (1964) und »Das Wachsfigurenkabinett« (1974). ••• Zurück
[07] Aus der Sammlung »Fiktionen« (1942-1944). ••• Zurück
[08] Quelle: Anmerkung zur Geschichte in »Fiktionen«, Hrsg. von Gisbert Haefs & Fritz Arnold, Fischer Taschenbuch 1992, S. 179. ••• Zurück
[09] Aus der Sammlung »Shakespeares Gedächtnis« (1980/83). ••• Zurück
[10] Aus der Sammlung »Shakespeares Gedächtnis« (1980/83). ••• Zurück
[11] Aus der Sammlung »Shakespeares Gedächtnis« (1980/83). ••• Zurück
[12] Aus der Sammlung »Das Sandbuch« (1975). ••• Zurück

Neil Gaiman in Leipzig als Gedächtnisprotokoll mit Skribbels

Eintrag No. 357 — Donnerstag war Neil Gaiman auf der Leipziger Buchmesse, um die deutsche Ausgabe seines neuesten Roman »Anansi Boys« vorzustellen. Hier einige Spökes vom Nachmittagstermin auf dem ›Schwarzen Sofa‹ in Halle 2, und der abendlichen Lesung im Spizz (hab dort gute Bandnudeln mit Riesengarnelen gegessen; angenehmes, lebhaftes Lokal mit Jazz- und Lesungskeller).

Gaiman ist ein Musterknabe was Buchpromotion, bzw. Kontakthalten zu seiner Fan-Base angeht. Üblicherweise geht er dabei so vor: »Zuerst lese ich ein Stück aus meinem neuen Roman, dann spielen wir ›Frage und Antwort‹ – wobei Ihr die Fragen stellt und ich antworte – und schließlich werde ich signieren bis mir die Hand abfällt.« Beim Signieren malt er in jedes Buch andere Kringel und ›dumme Sprüche‹. Für einen Kumpel habe ich ein »Good Omens«-Exemplar mitgenommen: »Sebastian, burn this book – Neil Gaiman« steht nun drin.

Gaiman wollte als Jugendlicher Rockstar werden, und wenn das nicht aufgehen sollte, dann halt Comicautor & Schriftsteller. Zum Rockstar hats nicht gereicht, aber Gaiman gehört zu jenen wenigen Schriftstellern, für den sich seine Zuhörer im anglo-amerikanischen eng in großen Räume zusammendrängen. Das lohnt sich, denn das sanfte, klare Englisch Gaimans ist eine Wonne für die Ohren; er wirkt wie jemand, der eigentlich im Herzen immer noch ein wild vor sich hinfabulierender Bub ist, und so versteht es vorzüglich, selbst die ödesten Dinge irgendwie kurzweilig zu erzählen (z.B. das Hin- und Her um zustande kommende Verfilmungen seiner Drehbücher).

Im folgenden nun ein Gedächtnisprotokoll einiger Frage & Antwort-Ping Pongs vom Leipziger Donnerstag.

Nachdem Gaiman lange den mit zweifelhafter Ehre behafteten Titel inne hatte, der Autor zu sein, der die meisten noch nicht verfilmten Drehbücher und Lizenzen in Hollywood verkauft hat, kommen nun in kurzer Folge bald drei neue Filme nach Stoffen von Gaiman in die Lichtspielhäuser. Seit gestern ist der Trailer zu »Stardust« online, einer romatischen Abenteuer-Komödie, in der ein junger Mann für seine Liebste einen Kometen holen will, nur entpuppt sich der Komet als junge Dame. Michelle Pfeiffer, Robert de Niro und Claire Danes spielen in dem ab Oktober laufenden Film mit. Bald darauf im November kommt dann der aufwändige CGI-Film »Beowulf« von Robert Zemeckis zu uns, und u.a. zogen sich Angelina Jolie und Anthony Hopkins dafür Motion Capture-Anzüge an und verliehen den Figuren ihre Stimmen. Und nächstes Jahr trumpft dann nach »Nightmare Before Christmas« und »James und der Riesenpfirsich« der exzellente Puppentrickzauberer Henry Selnik auf, mit der Verfilmung des gruseligen Kinderbuches »Coraline«, diesmal mit Musik und Songs von They Might Be Giants.

Viele Fans der Terry Pratchett und Neil Gaiman-Cooperation »Good Omens« würden sich über eine weitere Zusammenarbeit der beiden freuen, doch lange hieß es: »Nein, Terry ich werden keine Fortsetzung schreiben.« Aber vor einiger Zeit haben sich die zwei nach Langem wieder mal getroffen und sich dabei aus Fadesse auszumalen begonnen, was die »Good Omens«-Protagonisten mittlerweile wohl treiben könnten. Beide haben also schwer Laune darauf, die Abenteuer von Teufel Crowley und Engel Aziraphale weiterzuspinnen. Falls also Terry und Neil mal 3 bis 4 Monate gemeinsame Zeit (im gleichen Land) übrig haben, könnte vielleicht mal eines Tages ect pp ff … was ja besser ist, als »nie«.

An kommenden Projekten steht an…

  • …das nächste Kinderbuch: Arbeitstitel »Graveyard« (Friedhof), von dem Neil meint, es sei bisher sein gruseligstes Werk. Ein Baby verliehrt seine Familie und wird von den untoten Einwohnern des naheliegenden Friedhofs großgezogen. Später, als das Kind größer ist, soll der Friedhof einem Bauvorhaben weichen, und die Lebenden entpuppen sich als weitaus furchterrender als die Friedhofstoten. Übrigens: auf der ganzen Welt hätten laut Neil die deutschen Reporter und Rezensenten am meisten Magengrummeln gehabt, mit dem Gruselfaktor von »Coraline«. Was die wohl erst zu »Graveyard« sagen, fragt sich Neil.
  • …das nächste Comic: nach »1602« und »Eternals«, die Neil auf Wunsch von Marvel geschrieben hat, möchte er nun lieber als nächstes wieder ein Comic machen, daß auf seinen eigenen Ambitionen beruht.
  • …und dann wird am nächsten Roman für Erwachsene gearbeitet. Inhalt noch unbekannt. Neil erzählt, daß er sich vorkommt, wie ein Flugverkehrs-Dirigent. »Am Himmel kreisen mehrere Ideen in der Warteschleife, und die schwierige Aufgabe ist, daß ich mich entscheiden muß, welches dieser vielen Flugzeuge ich als lächstes einer Landebahn zuweise«. Neil wünscht sich, entweder mehr Zeit, oder mehrere Körper zu haben, um all die Projekte durchziehen zu können, die ihn interessieren. Auf die Frage, ob der nächste Roman eine Fortsetzung (z.B. von »Neverwhere«, »Stardust« oder »American Gods«) oder etwas ganz neues wird, antwortete er: »Gewöhnlicherweise, vor die Wahl gestellt, entscheide ich mich dafür, etwas neues zu machen. Falls ich damit dann zu große Schwierigkeiten habe, kann ich immer noch zu bereits bestehenden Stoffen zurückkehren.«

Am Abend im Leipziger Spizz dann eine wirklich schöne Lesung, mit einem hochaufmerksamen Publikum, das an den richtigen Stellen gelacht hat. Abwechselnd lasen Gerd ›The Piano Has Been Dringking‹ Köster und Neil englisch/deutsch aus »Anansi Boys«. Der schüchterne Fat Charlie und sein neu in dessen Leben trudelnder bisher unbekannter Bruder Spider brechen zu Wein, Weib und Gesang auf, um ihren grad verstorbenen Vater zu betrauern. Großen Applaus gabs für Gerd Köster, der wie ich finde, Gaimans Prosa sehr treffend las.

Die meisten Fragen der abendlichen Lesung drehten sich um Verfilmungen, geplante und geplatzte. Neil erzählt ja gern von seinen Erfahrungen mit Hollywood, einer ganzen Stadt (nicht nur einem Haus, we im »Asterix erobert Rom«-Film), die Leute verrückt macht. Nichts läuft dort so, wie man denkt, und wenn etwas zustande kommt, dann völlig unverhergesehen. Beispiel: Vor einigen Jahren schon, haben Roger Avery und Neil zusammen ein Drehbuch nach der altenglischen Sage »Beowulf« geschrieben, Avery sollte Regie führen, eine Herzensangelegenheit für ihn. Schnell war alles beisammen für Dreamworks mit Robert Zemeckis als Produzenten, das Budget stand, es konnte losgehen, bis ein Anruf von ganz oben den Film kippte. Jahre später nimmt Zemeckis wieder Kontakt mit Neil und Roger auf, und meint, er selbst würde »Beowulf« gerne als CGI-Film machen, das Drehbuch ginge ihm nicht mehr aus dem Kopf. Neil erzählt: »Das ist ja schön, sagte ich zu Robert, aber Roger träumt schon seit seiner Jugend davon ›Beowulf‹ zu verfilmen. Nu, meint Robert, wir heben Euch einen Heuwagen mit Geld. Okey, sagte ich, ich werde versuchen Roger zu überzeugen. Roger hörte sich das Angebot an und wir teilten dann Robert mit, daß Roger als Regiesseur für ›Beowulf‹ vorgesehen ist, immerhin ist es sein sehnslichster Wunsch usw. Also gut, sagte Robert, zwei Heuwagen mit Geld. Ja, also, meinte Roger darauf, das ist schon sehr verlockend, tja, wenn außer mir jemand den Film machen sollte, dann wärest Du Robert unser erster Wunschkandidat, aber ich möchte doch selber dringend diesen Stoff verfilmen. Robert: Drei Heuwagen. Roger: Okey.«

Eine Leserin, die »Neverwhere« drei mal angangen mußte, bis sie hineinfand und den Roman dann mit großem Genuß fertiglas, fragte, wann Neil ein Buch aufgibt und weglegt. Tatsächlich hat Neil erst spät gelernt, schwache Bücher abzubrechen. Er hat sich immer vorgestellt, daß ein strenger Engel, der zugleich Bibliothekar ist, eine Liste führt, und einen bösen Vermerk einträgt, wenn Neil ein Buch nicht brav fertigliest. Dann aber, 1991 oder so, war Neil einer der Juroren für den Arthur C. Clarke-Award und mußte deshalb alle in diesem Jahr in England erschienenen neuen SF-Bücher lesen. Da hat er dann gelernt, Bücher wegzulegen, nein, sogar lustvoll in die Ecke zu pfeffern. »Ein Buch das nach dem ersten Kapitel nicht in die Pötte gekommen ist, wird wohl auch nicht mehr viel besser werden.«

Pflichtfrage, da Neil in Leipzig weilt: Ob er schon mal was von Goethe gelesen habe. »Oh ja«, sagt Neil. »Aber nicht etwa, weil ich mir Goethe speziell vorgenommen hätte, sondern weil ich ein inniger Bewunderer des irischen Illustrators Harry Clark bin, und eben rauskriegen wollte, worum es im »Faust« vom Goethe geht, den Clark so wunderschön bebildert hat.«

Meine Frage schließlich bezog sich auf Neils Praxis, seine Erstentwürfe händisch in Blanko-Kladden zu schreiben. Ganz früher hat Neil mit Schreibmaschine gearbeitet, und manchmal Probleme damit gehabt, schöne weiße Papierbögen zu zerstören, indem er sie mit Buchstaben volltippte. Als Neil auf Textverarbeitung umstieg, fand es gar nicht mehr problemtisch auf dem Computer zu schreiben, denn da werden ja nur so Elektronen herumgeschubst. Aber, irgendwann machte es Neil zu schaffen, daß es auf einem Computer keine richtigen Schritte mehr zwischen der ersten und der letzten Fassung mehr gibt, sondern er an einer sich ständig wandelnden x-ten Fassung rumfuhrwerkte. Außerdem fand er es bedrückend, den schönen weißen Bildschirm zu zerstören. So sei er also wieder zum Schreiben mit der Hand zurückgekehrt, was den nicht zu unterschätzenden Vorteil mit sich brachte, daß in einer Kladde keine iChat-Fenster aufgehen, oder Links von Freunden 20 superinteressante und von der Arbeit ablenkende Websites aufpoppen lassen.

Hat Spaß gemacht, mal Fan zu spielen und einem verehrtern Künstler entgegenzureisen. Idolen zu begegnen endet ja schnell mal als Enttäuschung. Neil Gaiman aber bestätigte und stärkte den Zauber, den er aus der Ferne schon seit über 10 Jahren nur mit Worten auf mich wirkt.

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