Buchmesse 2006 (6): Mit oder ohne Buchschmuck: das neue Buch von Susanna Clarke bereitet Molosovsky…
… Freude!
Eintrag No. 303 — Schon in ein paar Tagen (am 06. Oktober) erscheint »Die Damen von Grace Adieu« von Susanna Clarke bei Bloomsbury Berlin.
Clarke hat ja mit ihrem voluminösen »Jonathan Strange & Mr. Norrell« (desweiteren: JS&MN) so richtig auf den Putz gehaun. Da finden sich die Realweltgeschichte vom beginnenden 19. Jahrhundert und alt-nordenglische Magiewelt-Mythen zu einer ganz verzüglichen Phantastik verzwribelt; zu edel (wie ich find), um das sprachlich wie auch begrifflich ungeschickt importierte Genre-Label ›Fantasy‹ draufzupappen; und doch wie keck von einer so vorzüglichen Autorin, es selbstbewußt dann doch zu tun!
Immerhin!: Leser ›richtiger‹ Romane, die sonst alle Gesichtsmuskeln verreißen wenn man ihnen mit ›Fäntäsy‹-Phantastik vor der Brille rumfuchtelt, entspannten sich willig anhand einer edelfederigsten Prosa, deren Haltung und Ton sich des ausgesprochen fruchtbaren Respekts & Insprisierenlassens von Frau Clarke für & von Klassikern der portraitierten Epoche, wie Jane Austen und Charles Dickens, verdankt. Und Lesern, welche sonst eher ziemlich Genre-Phantastik-lastig zu schmökern belieben (siehe ›die Markt-Marke Fantasy‹), wird eine feine Gelegenheit geboten, sich von eher altmodischen Prosa-Registern verführen (und hinreissen und bilden!) zu lassen.
Das ist eine gute Gelegenheit ein wenig über die Wonnen der englischsprachigen Literatur- und Geisteswissenschafts-Bloggerei zu jubilieren. Wenn sich z.B. 15 kommunikations- und diskrus-freudige Akademiker zusammengefinden, sich ihren Gruppen-Blog-Namen aus einem markigen Zitat vom großen Deutschen Immanuel Kant borgen, um fürderhin unter Crooked Timber mit anregenden Beiträgen großzügig die Blogosphäre zu bereichern… alles für umme zu lesen, wenn man sich nur des Englischen mächtig genug wähnt.
Grad den ›typischen‹ (mal polemisch imaginierten*) bezahlten deutschsprachigen 08/15-Literaturvermittlern möchte ich hiermit ganz besonders die Crooked Timer Seminare (unter ›book events‹ links weiter unten zu finden) zur inniglichen Orientierung nahelegen. — Nun sind die Geisteswusler vom krummen Holz von Beginn an Fans von JS&MN gewesen, und haben entsprechend eines ihrer Seminare diesem Roman gewidmet. Nur mal so als Beispiel, wie man intelligent, verständlich und verständnisvoll über ›Fantasy‹ schreiben kann hier eine kleine Übersicht: (jaja, schon richtig: bei Fantasy vom Qualitätskaliber eines JS&MN ists nicht so schwer, auch als in E-Gefilden konditionierter Literatur-Bespiegler was Gescheites zusammenzureflektieren):
• John Quiggin behauptet, daß der Roman an den eigentlichen Wurzeln der Science Fiction anknüpft, denn bei SF geht es im Grundbass um die Zeitenwende- und Wirkungen der Industrielle Revolution. • Maria Farrell meint, daß das buch ein Aufeinandertreffen zwischen dem von Jane Austen imaginierten Regency-England und ›romance novels‹ auf der einen Seite, und der tatsächlichen geschichtlichen Regency-Epoche auf der anderen Seite ist. • Belle Waring fragt sich, wer der/die Erzähler/in des Buches ist, und wohin die weiblichen Zauberer eigentlich sind (und mutmaßt, daß beide Fragen durch eine Antwort erhellt werden). • John Holbo untersucht Zauberei, Ironie und die Darstellung der Diener-Klasse. • Henry Farrell behauptet, daß die versteckte Handlung des Romans eine Kritik an der englischen Gesellschaft darstellt. • Und zuletzt antwortet Susanna Clarke (sehr aufschlußreicher Werkstatteinbick, sozusagen).
Und für jene, denen das zum am Bildschirm-, im Netz-Lesen viel zu viel Text ist, bietet Crooked Timber einen englischen PDF-Service-Link zum Ausdrucken. {15. Nov. ‘06: EDIT-NACHTRAG — Mittlerweile hab ich vor lauter »Ich Muß Was Nützliches In Meiner Zeit Tun« das ganze Seminar übersetzt. Hier geht’s zum entsprechenden Molochronikeintrag, und hier der Klick für ein deutsches PDF.}
Wieder zum neuen Buch mit Kurzgeschichten von Susanna Clarke.
Ungemein enttäuscht bin ich, daß Bloomsbury Berlin die durch höchste Kunstfertigkeit und Eleganz brillierenden 20 Illustrationen von Charles Vess NICHT dem deutschen Publikum von »Die Damen von Grace Adieu« offeriert. Nach dem guten Verkauf von JS&MN wär doch eine etwas aufwändigere Ausgabe drinn gewesen, oder? — Dass Heyne damals Neil Gaimans/Charles Vess »Stardust« ohne die Vess-Illus veröffentlichte, geht ja noch irgendwie in mein Produktions- & Gewinnmargenkalkül-verständiges Hirn. — Aber schluß jetzt mit Genöle.
Soweit ich bisher mitbekommen habe, sind die neuen Geschichten von Clarke in der selben (oder doch sehr ähnlichen) Welt wie JS&MN angesiedelt. Auch auf Deutsch gibts eine der Geschichten für umme auf der (sehr schönen!) Verlags-Site zu Clarke: »Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig«.
Viel Vergnügen mit all den Umsonstlektüren wünsch ich noch.
* — Und falls sich einige bezahlte Literaturvermittler und -bewerter arg auf den Schlips getreten fühlen: bitte nehmt dies schlimmstenfalls als meine anbiedernde Versuche, Euch alle anzuregen, mindestens so geschickt über Phantastik für's Feuillition zu schreiben, wie z.B. (um spontan einige willkürliche Namen zu nennen) Dietmar Dath, Marcus Hammerschitt, Denis Scheck, Thea Dorn und Georg Seeslen.
Buchmesse 2006 (5): Molosovskys erster Fund: Wiedersehen eines geschätzten Strichs nach langer Zeit
<img src="molochronik.antville.org" align="right"style="margin-left:10px;"> Eintrag No. 302 — Vor etwa 15 Jahren in Wien hatte ich einen Fantasy-Rollenspiel-Kumpel als WG-Kammeraden, und dank seiner Sammlung an englischen Regel- und Quellenbüchern, kam ich in den Genuß der wohl durchgeknalltesten Spielwelt aus dem »Dungeons & Dragons«-Universum. »Planescape« ist eine Gemme der Multikulti-Allesdurcheinander-Fantasy, mit einer Pizzawelt die in unterschiedlichste Segmente unterteilt ist, in deren Mitte eine spitze Bergspindel herausragt, über der eine Stadt in Doughnut-Form schwebt. (Im Netz find ich derweil leider ›nur‹ diesen englischen Wikipedia-Link zu »Planescape«. Gibt dort aber Karten über die Geographie dieses köstlich ungestümen Weltenbaus)
Aufgefallen und sehr gefallen hat mir »Planescape« damals vor allem wegen der wunderschönen Illustrationen von Tony DiTerlizzi (>>>hier zu seiner englischen Flash-lastigen Site, Ahh-ja, dort unter ›Art/Gaming‹ bis ca. ›Page 3‹ blättern und »Planescape«-Illus gucken.).
In Halle 3.0 beim Stand E 105 des cbj-Verlages seh ich dann das Supplement-»Handbuch für die fantastische Welt um Dich herum« (müßte es nicht ›über‹ statt ›für‹ lauten?) zur Arthur Spiderwick-Serie. Treue für die Serie gedenke ich erstmal keine zu investrieren. Aber ich hoffe sehr auf ein Rezensionsexemplar des Handbuches.
Wächter-Romane; Krise der SF; Malazan
(Eintrag No. 291: Forumsbeiträge, Phantastik, Woanders) — Weiter mit meinem Vorhaben, den Molochronik-Lesern Links zu meinem Forums-Gebabbel zu bieten.
Diesertage bin ich in pulpigen Lektüregefilden unterwegs, mit den »Wächter«-Romanen des Russen Sergej Lukianenko. Den ersten Band »Wächter der Nacht« (WDN) hab ich noch gelesen, bevor ich den Film auf DVD sah. Überrascht hat mich dann freilich, wie sehr Buch und Film sich unterscheiden. So beginnt der Film WDN mit einer Szene, die im Roman so gar nicht vorkommt, sondern mit vertauschten Geschlechterrollen den Prolog des zweiten Bandes »Wächter des Tages« (WDT) abgibt. — Aber ich bin begeistert von diesen hemdsärmeligen Urban-Fantasy-Reissern und vermelde bei SF-Netzwerk entsprechende Freude. Werd wohl gleich mit Band 3 »Wächter des Zwielichts« fortfahren, wenn ich WDT durchhab; und ich bange, daß der letzte und hoffentlich abschließende Band 4 »Wächter der Ewigkeit« noch auf Deutsch erscheint, bevor ich für nächstes Jahr die Serie für »Magira« bespreche.
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Ebenfalls bei SF-Netzwerk hab ich ein paar Meldungen mit Senf zum Thema »Krise der SF« gebracht. Jetzt merk ich erst, daß wenn, dann die Verlage und Literaturvermittler ein Problem mit dem Label SF haben (angeblich zieht das nicht mehr gut, und Fantasy, Horror, Krimi, Erotic usw läuft alles besser). In der ersten Meldung, schwätz ich über die Echtwelt-Probleme und -Entwicklungen, die so arg sind, daß die arme SF und die Roman- und Kurzgeschichtenform nicht nachkommen können; und über Autoren, die eher nicht aus dem Feld der Genre-SF kommen, aber erfreulich belebend zum SF-Terrain beitragen. In der zweiten Meldung kommt ich wiedermal auf Genre-Brillen. In der dritten Meldung lasse ich ein weniges zu ›Eskapismus‹ vom Stapel und stelle mal als Alternative fest, daß die SF gewonnen hat; und belobhudle Dietmar Dath.
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Und zuletzt: Bei Bibliotheka-Phantastika hab ich dreimal (1 | 2 | 3) über mein Ringen mit Steven Eriksons »The Malazan Book of the Fallen (1): Gardens of the Moon« berichtet.
Vladimir Sorokin: »Ljod. Das Eis«, oder: Herzen mit dem Eishammer aufklopfen
Eintrag No. 279 — Vladimir Sorokin (1955) war vor fast 20 Jahren für mich als Teen einer der ersten modernen, gesellschaftskritischen Gegenwartsautoren, die ich als Ergänzung und als Abwechslung zu meinen geliebten Phantastik-Lektüren entdeckt habe. Damals beeindruckten mich seine Romane »Die Schlange« und »Marinas dreissigste Liebe«, in denen Sorokin vom Moskauer Alltags-Wahnsinn der Perestoika-UdSSR erzählte. »Die Schlange« (1985, dt. 1990) schilderte ›in Echtzeit‹ (und konsequent mit weißen Seiten bei Bewußtlosigkeit der Hauptfigur) und sehr dramamäßig (nur mit direkter Rede) die abstrusen Ereignisse in einer der aberwitzig langen Warteschlangen vor einem Moskauer Lebensmittelgeschäft. Sorokin war von Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn an in seiner Heimat ein umstrittener Autor, dem z.B. von putintreuen Jugendorganisationen vorgworfen wird, ein obzöner, lästerlicher und moralzersetzender Autor zu sein. Der Schriftsteller als Nestbeschmutzer und peinigender Satiriker … was dabei herauskommt, wenn so einer Phantastik aufführt, konnte man schon in Sorokins burlesker Klon-Farce »Der himmelblaue Speck« (1999, dt. 2000) bestaunen.
Für »Ljod. Das Eis« hat sich Sorokin eine bitterböse Parabel über Auserwähltheitswahn, unheimliche Untergrundsekten und lichtmystische Heilsutopien ausgedacht. Kein Tüdelkram, sondern ein richtiggehend fieses Buch für Leser mit starken Nerven und strapazierfähigen Geschmacks-Knospen (sowohl was Schilderungen, als auch was Ideen betrifft). Die ideologie-krtische Heftigkeit ist für manche Leser sicherlich zu doll; die ein oder andere Gewalt- bzw. Sex-Szene zu unerträglich; die pathetisch-übertriebene Bloßstellung von mythischem Mumbojumbo zu ätzend. Zarte Gemüter sind hiermit ausdrücklich gewarnt! »Ljod. Das Eis« liefert keine Entspannungsphantastik, sondern trachtet danach, dem Leser den Teppich der Gewißheiten unter den Füßen wegzuziehen. Passenderweise ist dem Buch ein Motto aus dem Buch Hiob vorangestellt.
Der erste von vier Teilen (21. Kapitel auf ca. 170 Seiten) ist ziemlich ›filmisch‹ und wechselt munter zwischen mehreren Handlungssträngen. Angesiedelt in einem Datums-technisch nicht näher bestimmten Gegenwartsmoskau, werden hier die ersten Tage-des-Übergangs im Leben von drei jüngst Initiierten ausgebreitet. Die Sprache ist knapp, oft protokollarisch, das beobachtende Auge unsentimental. Der Anfang liefert ein markantes Sound-Beispiel:
23:42 Mytischtschi bei Moskau, Silikatnaja uliza 4, Gebäude II. Neues Lagerhaus der Moskauer Telefongesellschaft Mosobtelefontrest.
Ein dunkelblauer Geländewagen, Marke Lincoln Navigator, fuhr ein. Stoppte. Im Scheinwerferlicht zu sehen: Betonfußboden, Ziegelwände, Trafokästen, Rollen mit Erdkabel, ein Dieselkompressor, Zementsäcke, ein Bitumenfass, eine zerbrochene Tragbahre, drei leere Milchtüten, ein Brecheisen, Zigarettenkippen, eine tote Ratte, zwei eingetrocknete Kothaufen.
Fünf Männer steigen aus dem Wagen. Zwei von ihnen werden einem buchstäblich schlagkräftigen Test unterzogen: mit einem großen Hammer dessen Schlagkopf aus Eis ist, haut man den beiden Entführten auf die Brust. Der Ältere entpuppt sich als ›hohl‹ und erliegt der Tortur. Ser Jüngere — Lapin, ein slacker-artiger Student, Internet- und Filmfreak — überlebt, denn sein Herz antwortet, wurde vom magischen Eishammer aufgeklopft. Nach der brutalen Aufnahme kümmern sich die Eis-Auserwählten um ihren ›Bruder Ural‹ (wie in so mancher Sekte pflegt man untereinander Ordensnamen). Noch zwei weitere Frischlinge des Eises begleitet der erste Teil: eine junge Frau zwischen Disko, WG und Hurerei; und einen ›modernen Geschäftsmann‹ zwischen Paranoia und Pragmatismus.
Teil zwei (ca. 40 abschnitte, ca. 150 s.) bietet die ich-erzählerische Lebenserinnerungs-Rückblende einer heute alten Frau. Sie erzählt von ihrer Kindheit auf dem Land, von deutschen WW II-Besatzern, ihrer Eishammer-Initiation durch einen SS-Offizier, ihrer Lehre in der Sprache des Herzens, bis zu ihren andauernden Missionen im Namen des Eises. — Hier erfährt der Leser nun mehr über die geheimnisvolle Sekte der Eishammerklopfer. Ein sagenhafter Brocken des jungen 20. Jahrhunderts darf die Quelle des magischen Eises spielen: der sibirische Tunguska-Meteorit. Er ist das heilige Zentrum einer weltumspannenden Jagd und Suche nach den wenigen reinen Herzen, die, wenn sie erstmal alle beieinander sind, kosmische Wunden zu heilen beabsichtigen. Für die Ottonormalsterblichen freilich wäre diese Heilung kaum zu unterscheiden von einem Weltuntergang.
Teil drei beginnt mit einer Gebrausanleitung und läßt auf ca. 30 seiten sechzehn unterschiedlichste Personen zu Wort kommen. Ein verwirrendes Panoptikum vom Filmregisseur, Duma-Abgeordneten, Renter, über einen Arbeitslosen, einen Studenten, einen Anarchisten bis hin zu einem Priester, einer Verkäuferin und einem Webdesigner gehts einmal quer durch die Mileus. Diese Leute babbeln wie ihnen der Schnabel gewachsen ist drauf los, und wer Auslandsnachrichten und Reportagen über das heutige Rußland (bzw. die Ex-UdSSR) auch nur oberflächlich verfolgt, kann wie ich vielleicht ebenfalls schmunzeln über diese O-Ton-Kolportage. Wie ein guter Kabarettist (oder unbestechlich gewitzte Moral-Fackeln wie Karl Kraus) führt Sorokin hier vor, und zwar — trotz all des durchaus ernsten Engagements — köstlich, wie ich finde.
Der vierte Teil mit seinen nur 5 Seiten mag einem einleuchten oder auch nicht. — Ich finde es aufregend, wie Sorokin hier ganz zart mit einem unschuldig vor sich hinspielenden Kind einen schaurigen Blick in Abgründe inszeniert. Beim ersten Fertiglesen dachte ich mir nach diesem vierten Teil spontan: »Jau, das ist fetzige Kunst«, — auch wenn das so hingeschrieben nun ein bischen überzogen klingt. Die Art wie »Ljod. Das Eis« mich beunruhigt, empfinde ich als spannend, deftig und nährstoffreich.
Nur ein paar Mal waren mir Handlungsverlauf, Milieuschilderung und Tonfall zu rotzig-gallig. Spannend geschrieben sind vor allem Teil eins und zwei. Mit den kürzeren Teilen drei und vier haut Sorokin dem unbedarften Leser mächtig auf'n Dötz. Ich mag solche durchaus gröberen Dimensionssprünge zwischen verschiedenen Stilen, Betrachtungswinkeln und Erzählhaltungen. Sorokin ist halt ein talentierter Stimmenimitator, und warum sollte so einer gemäß altbewährter Achterbahnroutinen seine Plot-Linien oder Roman-Strukturen absolvieren, wo dies doch bei vorsichtigeren (oder lahmeren) Autoren mit weniger artistischen Mumm eh Gäng und Gebe ist? — So kann man als Leser sein Vergnügen daraus ziehen, die vier eigenständig-unterschiedlichen Teile selber zu einem großen Bild zusammen zu setzten.
Wer zudem Sympathie für künstlerisch-unterhaltsame Querulanten erübrigt, oder ebenfalls immer neugierig auf Darstellungen ›des Bösen‹ (bzw. entsprechend kontrastierend: ›des Heiligen‹) ist, hat eine gute Chance, mit »Ljod. Das Eis« gewinnbringend zurechtzukommen.
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Vladimir Sorokin: »Ljod. Das Eis«; (Ersterscheinungs-Jahr des Originals 2002); Berlin Verlag (gebundene Ausgabe, 2003), BTB (Taschenbuchausgabe 2003); Übersetzt von Andreas Tretner; ca. 352 Seiten.
Lovecrafts Träumereien
Eintrag No. 274 — Und wieder blüht ein neues, lesenswertes Phantastik-Blog auf, denn Hannes Riffel (Übersetzer, Phantastikbuchladen-Inhaber, Mitbetreuer der Hobbit-Presse bei Klett Cotta und Shayol e.V-Vorsitzender) ist mit »Blumen für Algernon« unter die Blogger gegangen. Jemand wie er, der »Moby Dick«, Arno Schmidt, Lovecraft und Vandermeer hoch schätzt, der Lanzen für die Kurzgeschichte bricht und lustige Fantasy/SF/Horror-Phantastik Top 100-Listen veranstaltet, über die Imho-itis stöhnt, kann mir nur sympathisch sein.
Schon zum dritten Mal seit Blogjungferneintrag berichtet Hannes mit »Aus der Pestzone« von seiner derzeitigen Lovecraft-Wiederlesephase (hier zu Teil 1 »Immer wieder« und Teil 2 »Das Grauen«). Da ich mir die ganzen tollen englischen Editionen z.B. wie »From the Pest Zone. The New York Stories« und »Letters from New York« von S. T. Joshi nicht leisten kann, les ich die Leseeindrücke von Hannes um so interessierter. Hannes erwähnt dabei erfeulicherweise Lovecrafts rassistisch-›faschistoide‹ Verirrungen, die eben durch Joshis Ausgaben deutlich werden. Ich staune nicht schlecht, wenn Hannes dann raunt:
Natürlich folgt daraus nicht, dass es irgendwie verwerflich sein könnte, Lovecraft zu lesen und zu schätzen. Aber es ergeben sich doch einige interessante Gedanken über den einflussreichsten Horrorautor des 20. Jahrhundert und den Ursprung seines "kosmischen Schreckens" in äußerst banalen Alltagsängsten. Nicht umsonst hat Suhrkamp vor Jahren die -- bereits fertig übersetzte! -- Lovecraft-Biographie von de Camp nicht veröffentlicht; zu unangenehm erhellend waren die darin enthaltenen Lovecraft-Zitate (nachzulesen in der 2002 bei Festa erschienenen Ausgabe).
Wenn das stimmt, dann frag ich mich, für WEN aus Suhrkamps Sicht die de Camp-Bio zu ›unangenehm‹ gewesen wäre. Für ›naive‹ Phantastik-Kunden vielleicht, die Lovecraft als Kultautoren bussi-butzi-mäßig verehren und von etwaigen Beschmutzungen bewahrt sehen möchten? Was auch immer Suhrkamps Gründe gewesen sein mögen, stimme ich Hannes Riffel auf jeden Fall zu, {daß} es keinen Grund {gibt}, Lovecraft auch nur entfernt in Schutz zu nehmen. — Zweifelsfrei war Lovecraft ein großartiger Phantast, ein moderner Vertreter außenseiterischer Gnostik, dessen Leben und Werk als verqueres Ineinander von Selbstkultivierung und Umweltentfremdung daherkommt, mit eben einer Vielzahl an verschieden hellen und düsteren Facetten.
Hier nun ein paar exemplarische ›unangenehme‹ Stellen aus de Camps-Bio (EA Originalausgabe 1975), von der ich eine Taschenbuchausgabe aus Ullsteins Reihe »Populäre Kultur« aus dem 1989er Jahr hab (und in der steht nix von Kürzung. NACHTRAG: Hannes Riffel hat mich in seinem Blog darüber informiert, daß die Ullstein-Ausgabe doch gekürzt ist. Nun, daß die Abbildungen fehlen wußte ich, doch dachte ich, damit wär's das {und Abbildungen weglassen ist ja auch eine Kostenfrage}. Eine ungekürzte Fassung liegt seit 2002 bei Festa vor). Kapitel 17. Verquere Gedanken mag für unbedarfte jedoch quitesch-innige Lovecraft-Beschöniger problematisch sein, denn da finden sich Absätze:
(S. 265): Lovecrafts Rasissmus, der nachgelassen hatte, kam wieder voll zum Ausbruch. In seinen Briefen aus den Jahren 1933 finden sich zahllose Beispiele für seine anti-ethnischen Triaden. Er zog gegen den »fremartigen und emotional abstoßenden Kulturstrom« der Juden und ihr »rücksichtsloses Unternehmertum« zu Felde und auch gegen ihre angebliche Beherrschung der amerikanischen Presse mittels Anzeigen, die dazu führe, daß der »Geschmack in hinterhältiger Weise in nichtarischen Geleisen geformt« werde. Er tobte gegen die Einwanderer: »kriechende Bauern«, »stinkende Mischlinge«, »Ghetto-Bastarde«, »Abschaum und Bodensatz in ihrer Heimat … die Schwächlinge, die sich in ihrem eigenen Volk nicht oben halten können.«
L. Sprague de Camp schildert weiter, wie sich Lovecraft von Amerika aus auf Europa und die Weltpolitik blickend, für die deutschen Nazis und ihren Gröfaz erwärmt: (S. 265): Hitler sei {so Lovecraft in seinen Briefen aus dem 1934 Jahr} »extrem, grotesk und gelegenlich auch barbarisch«, aber auch »zutiefst aufrichtig und patriotisch«. Obgleich er eine Gefahr darstelle, »kann uns dies nicht blind machen für die ehrliche Aufrichtigkeit im grundliegenden Drange dieses Mannes … Ich weiß, er ist ein Clown, aber bei Gott, der Junge gefällt mir!« {Hervorhebung so bei de Camp und entsprechend wohl dann auch schon bei H.P.L.}
De Camps Bio wäre ein schlechtes Werk, würde er nicht facettenreich und genauer auf die Widersprüche von Lovecrafts Meinen und Sinnen eingehen. Neben Hitler fand Lovecraft auch Roosevelt toll. Zurecht fragt sich de Camp (auf S. 266): Wie konnte ein Mann {H.P.L} Roosevelt unterstützen, sich als liberalen Demokraten bezeichnen, von der Unvermeidbarkeit des Sozialismus reden und gleichzeitig Hitler entschuldigen und schreiben: »Ich glaube, daß irgendeine Variante des Faschismus die einzige Form der zivilisierten Regierung ist, die unter der industriellen Ökonomie des Maschinenzeitalters möglich ist?«
De Camp zeigt, daß Lovecrafts Seelen- und Meinungsleben nicht in einfache klare Backformen pressen läßt — wie auch, wenn der Meister selbst losgelößt von politischen Realitäten sich im Grunde als (eben dunkel-)romantischer Schwärmer für ein radikales Künstlerutopia entpuppt (S. 266), und von sich behauptet: »Ich werde mich als eine Art Kreuzung zwischen einem Faschisten und einem nichtbolschewistischen Sozialisten der alten Art bezeichnen müssen«; und de Camp zitiert, wie für Lovecrafts eine Ideal-Vorstellung des sozialen Faschismus aussah (S. 266): Er {H.P.L. } war dafür, daß die »Staatsgeschäfte von Kommissaren geführt werden, die ein Diktator ernennt, welcher wiederum durch ein intelligentes und bildungsmäßig erlesenes Wahlmännergremium erkoren wird. … Das Wahlrecht sollten nur solche haben, die sowohl eine unparteiische Intelligenzprüfung als auch eine Prüfung ihrer ökonomischen, sozialen, politischen und allgemeinen kulturellen Kenntnisse bestanden haben; wobei selbstverständlich die Möglichkeit der Bildung für jedermann stets gleich sein müssen.« Er rief nach einer Diktatur, die »vollständige intellektuelle und künstlerische Freiheit garantierten.« – was eine absolut widersprüchliche und groteske Vorstellung ohne Aussicht auf Verwirklichung war.
Wichtig scheint mir jedoch, Lovecraft hier nun nicht als vollkommenen Fascho-Depp dastehen zu lassen (Juden Assimilieren, nicht Eliminieren, says H.P.L.), denn de Camp berichtet in diesem dunklen Kapitel der Biographie ausdrücklich auch davon, daß Lovecrafts Abwenung vom Antisemitismus eine der auffälligsten Veränderungen der letzten drei Lebensjahre von Lovecraft darstellt. In der Tat heißt es bei de Camp auf S. 267: 1935 war er {H.P.L.} von seinen faschistischen Neigungen kuriert. — Ich persönlich deute es grob so, daß Lovecraft als konsequenter Durchdenker und -Empfinder schlicht sich selbst gegenüber eingestehen mußte, daß eine zu einseitige Parteinahme für eine Rasse, Kultur oder Nation im Angesicht der chaotisch-cthonischen Kräfte des Universums schlicht kurzsichtiger Kinderkram ist. Lovecrafts Hass aufs Leben ließ deshalb entsprechende Schwingungen beim Klage- und Schauergesang über die Schlechthinigkeit der Welt und Menschheit wieder mehr und mehr beiseit. Für Freunde der Kulturgeschichte der Phantastik aber bleibt Lovecrafts Ausflug in den Stadtmoloch von New York eine der tragisch-gruseligen Episoden der modernen Literaturgeschichte.
Vorschau auf Molos Rezis in MAGIRA 2006 (mit Portraits)
Erstellt von molosovsky um 18:08
in
Literatur,
Magira Jahrbuch,
China Miéville,
Fantasy,
Jeff Vandermeer,
Tobias O. Meißner,
Weird Fiction,
Ian R. MacLeod,
Steampunk,
Neil Gaiman,
Phantastik
Eintrag No. 273
EDIT 23. Aug. 2006:: Um Links zu Portaitgroßansichten und den einzelnen Rezis ergänzt. Fehlerchen gemerzt, um Links zu Büchern ergänzt.
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Mittlerweile ist »Magira – Jahrbuch zur Fantasy 2006« erschienen und die einzelnen Rezis (mit Anstandsverzögerung) auch in die Molochronik eingepflegt worden.
Nach meiner ›bösen‹ Rezi zu Tad Williams »Der Blumenkrieg« wollte ich (schon vor dem verständlichen Diss bei SF-Radio) diesmal auf gar keinen Fall von unangenehmen Lektüren berichten. Meckern kann ich zwar, aber es ist so öde. So gibts dieses Mal einen launischen Reisebericht über die seltsamen aber empfehlenswerten Bücher der Saison 2005/2006.
Die ganzen ca. 11.000 Worte sind wieder von Michael Scheuch und Herrman Ritter lektoriert worden (und Krischan Seipp durfte sich mit meinen Portrait-Illus herumschlagen). Hier findet der geneigte Leser das Introdubilo, die Überleitungs-Absätze.
Ich kann mich gar nicht genug bei den Genre-Kollegen und Genre-Freaks in den verschiedenen Foren die ich heimsuche bedanken. So manche Idee, Signatur, Ansichtssache hat mir beim Schreiben dieser launischen Empfehlungen geholfen.
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LAUNISCHE ABER AUFRICHTIGE EMPFEHLUBNGEN
VON SELTSAMEN & VERWIRRENDEN FANTASYBÜCHERN
DER PHANTASTIKSAISAON 2005/2006
»Ich sehe die Rezension als eine Art von Kinderkrankheiten an, die die neugeborenen Bücher mehr oder weniger befällt. Man hat Exempel, dass die gesündesten daran sterben, und die schwächlichen oft durch-kommen. Manche bekommen sie gar nicht. Man hat häufig versucht, ihnen durch Amulette von Vorrede und Dedikation vorzubeugen, oder sie gar durch eigene Urteile zu inokulieren, es hilft aber nicht immer.«
—Georg Christoph Lichtenberg, »Sudelheft J« (1718–1732)
—Was macht gute oder schlechte Phantastik aus? Wann sprießen wirklich neuartige Blüten im Garten der Fantasy und wann ist ›Fantasy‹ lediglich ’ne Karotte zum Erwartungsdirigieren und Treuekonditionieren von Konsumenteneseln? Wann wird an bestehende Traditionen erfrischend angeknüpft, und wann werden nur altbewährte Verführungstricks aufgefahren?
—Mensch Molo, lass doch den verkopften Quark und gib’ einfach Bescheid: ist ein Buch die Lappen, die ich dafür hinblätter wert, oder eben nich’? Überversimpelt gesagt, besteht im Beantworten solcher Fragen der Job eines Kritikers. Doch schaut man dazu am besten von einem fixen Standpunkt, z.B. als Torwächter auf die durchkommenden Bücherkarren aus den fraglichen Genregebieten, und lässt die Guten in die Stadtgemeinschaft passieren und weist die Unwürdigen ab; oder soll man versuchen, als Leuchtturmwärter den potentiellen Lesern Orientierungslicht zu spenden? Sicherlich sind solche statischeren Perspektiven auf Literatur und damit auch auf Teilgebiete wie Fantasy berechtigt und nützlich. Aber ich muss gestehen, dass ich mich dafür als zu skeptisch und sprunghaft einschätze, um auf brauchbare Art und Weise als Wache oder Leuchte zu dienen[01]. Ich will also im Folgenden versuchen, eine in ihrer Unaufgeräumtheit dennoch kurzweil-ige Sammelrezension anzubieten[02].
Aus den lebendigeren Gegenden des großen Kontinentes KONVENTIONA berichte ich, wie der geschickte Mythenimpressario Neil Gaiman, ein Konzert veranstaltet, indem er Spinnen Schöpfungslieder singen lässt, und wie Ian R. MacLeod mit Könnerschaft an gute alte europäische Prosatradition anknüpft, um vom ›Unbehagen in der beschleunigten Moderne‹ zu erzählen. Im verstreuten Inselreich AVANTGARDIEN wollte ich nicht versäumen zu erleben, wie China Miéville sein dreiteiliges ›gegen den Genre-Strich‹-Manöver mit rahmensprengender Vehemenz abschließt; und ich bin verblüfft vom artistischen Feinsinn Jeff Vandermeers, nachdem ich mich in seinem verführerischen, kompliziert-verspielten Narrationslabyrinth genüsslich verirrt habe.
Wenn man die üblichen Grenzen zwischen ›Trash‹ und ›Literatuuur‹ mal vergisst, ist es erstaunlich festzustellen, dass hierzulande gescheiter und lustvoller Genre-Fantasy betrieben wird, als man bei übler Laune schlecht reden kann. Da ›geb‹ ich lieber ›Zeitung‹ von einer mir neuen heimischen Fantasy-Hoffnung, und freue mich denn ‘nu auch besonders, wenn Lorenz Jäger für die noble FAZ den ›Schwert aber Nix-Magie‹-Fantasyroman eines jungen Berliner Buch- und Comicautors lobt. Der immer nach neuen Krassheiten gierende Äktschn-Freak in mir nimmt Jägers ›Warnung‹[03], dass
»Niemand dies Buch ohne Verstörung lesen können (wird)«,
hoffnungsvoll als Kauf- und Leseanreiz.
Tobias O Meißner: »DAS PARADIES DER SCHWERTER« –oder: Wenn der Autor auch mit dem Würfel schreibt.
Zur Rezi.
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Nach soviel wilden Blutstrudeln, Sprachbrechern und Metaphernriffen entlang der zerfledderten Küsten AVANTGARDISCHER Inseln, nun zu einem Autor, den ich seit Jahren als ›sicheren Hafen‹ zu schätzen weiß, weshalb er in meiner Lektüregeographie an den Gestaden KONVENTIONIAS gelegen ist.
Neil Gaiman: »ANANSI BOYS« –oder: »Die spinnen, die Götter«.
Zur Rezi.
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Wie überraschend und erfrischend der Einfluss von älterer oder auch neuerer Mainstreamschreibe für heutige Fantasy bzw. Phantastik sein kann, hat ja auch die vielgelobte Susanna Clarke mit ihrem voluminösen »Jonathan Strange & Mr. Norrell« vorgeführt[04]. Jetzt wäre es natürlich Blödsinn, wenn ich hier in einem Jahrbuch zur Fantasy Werke dafür lobte, dass sie Lesern von ›kanonischer Literatur‹ feine Fantasy-Ausflüge bereiten. Umgekehrt wird aber ein Schuh draus: Fantasy-Leser, die ihre Nase bisher gar nicht oder seltenst in alte Bücher gesteckt haben, können sich z.B. vom folgenden Titel anfixen lassen, öfter mal vermeintlich ›angestaubter‹ Literatur ‘ne Chance zu geben.
Ian R MacLeod: »AETHER« –oder: Vom melancholischen Leben im Takt der Maschinen.
Zur Rezi.
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Ian R. MacLeod macht keinen Hehl daraus, als junger Mensch von linken Hoffnungen erfüllt gewesen zu sein. Es sei ihm gegönnt, dass er sich als gereifter und desillusionierterer Mensch einer eleganten Verquickung aus Zorn und Melancholie hingibt. Vom ältesten zum jüngsten Autor dieser Sammelrezi: Was kommt dabei heraus, wenn ein Geek mit heftigst lodernder ›Sozi-Inbrunst‹ auf diesen bedrückten Gemütslagen eine kräftige Portion handgreiflicher und spekulativer Äktschn aussäht?
China Miéville: »DER EISERNE RAT« und Bas-Lag –oder: Wenn die ›Weird Fiction‹† revoluzzt.
Zur Rezi.
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Nach dem bombastischen Ausflug in die konfliktreiche Globalisierungsgeschichte einer phantastischen Zweitschöpfungswelt schließe ich meinen Reisebericht nun mit einem thematisch nicht minder gegenwartsbezüglichen, bis auf Einschübsel meist indirekter Art gänzlich urbanem Erzählungspuzzle. Der nächste Autor ist auch so einer, der meint, dass man als Künstler sowohl seine art pour art-Haltung pflegen, und zugleich trotzdem zeitgenössisch auf der Höhe sein, und politisch-gesellschaftlich relevante Fiktionen von vergnüglicher Reife zustande bringen kann. Aber schon der Titel dürfte anklingen lassen, dass ›gnostischere‹ Fantasy auf einen zukommt.
Jeff Vandermeer: »STADT DER HEILIGEN & VERRÜCKTEN« –oder: Kalmartentakel und Pilzsporen.
Zur Rezi.
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[01] —Vorsicht, nicht die Küste rempeln. •••
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[02] Darum wissend, dass ich selbst eine Virenschleuder für oben genannte ›Kinderkrankheiten‹ aus dem Reich der Meinungsschieberei bin. •••
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[04] Gwenda Bond stellt in ihrem Artikel für
»Fantasy Goes Literary«
(»Novels with supernatural elements are finding a new readership«)
für Publishers Weekly Einschätzungen von Verlagen und Agenten zu diesem Phänomen vor. ••• Zurück
»Blumengarten vor der Seele« — Zitate von Jean Paul … und Uffreschung über ›Christen‹-Schmarrn
Eintrag No. 267 — Vor einiger Zeit hab ich mir die Hanser-Box mit den Werken Jean Pauls billig aus dem Ramsch gezogen. Jean Paul ist sicherlich ein geistvoller Autor, aber er ist auch ein großer gewundener Schwätzer vor dem Herren. Dennoch, lohnt sich bei ihm reinzulesen. Schöner alter Stil, mit Strichpunkt und Bandwumsätzen, die ganz fein und lebendig das echte ›Vor sich hin Denken‹ abbilden.
Was mich nervt an Jean Pauls Schreibe, ist, daß der Mann nicht zu Potte kommt. Da gibts Einleitungen und Vorwörter bis zum Abwinken, so richtig auf Handlung bin ich noch nicht gestoßen. Ist aber vielleicht auch egal, denn ich genieße die muntere Sprache und Gedankenspielerei, wenn ich beim Querblättern darüber stolpere, auch ohne daß sich 'ne Story bietet.
Gestern abend bin ich über das ›Jus de Tablette für Mannspersonen‹ Nummero Eins gestolpert, daß mich als Phantast freilich brennend interessiert, da es darin »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft«‡ geht.
‡ In der dritten Abteilung des »Quintus Fixlein«, Hanser 1975, Band 7, S. 195ff.
Da der Spielraum der Sinne enger ist als der Phantasie: so entsteht die Täuschung, daß wir uns jene nur in den Ketten des Körpers und diese nur in den Zügeln des Willens denken, da wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen.
{…} So zieht das Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, um das gelobte Land der Zukunft.
{…} Noch größer ist die phantasierende Kraft, wenn sie auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht.
{…} Im Rausche dringen die Wolken der innen brennenden Räucherkerzen hinaus und legen sich außen an den Gegenständen an und geben ihnen eine vergrößerte, abgeründete, zitternde Gestalt.
{…} In der Liebe ist das Amalgama der Gegenwart mit der Phantasie noch inniger. … eine geliebte Person hat den Nimbus einer abwesenden — einer gestorbenen — einer dramatischen. —
{…} Leute, deren Kopf voll poetischer Kreaturen ist, finden auch außerhalb desselben keine geringern. Dem echten Dichter ist das ganze Leben dramatisch, alle Nachbarn sind ihm Charaktere, alle fremde Schmerzen sind ihm süße der Illusion, alles erscheint ihm beweglich, erhoben, arkadisch, fliehend und froh, und er kommt nie darhinter, wie bürgerlich-eng einem armen Archivsekretär mit sechs Kindern — gesetzt er wäre das selber — zumute ist.
{…} Wir denken das ganze Jahr weniger mit Bildern als mit Zeichen, d. h. zwar mit Bildern, aber nur mit dunklern kleinern, mit Klängen und Lettern: der Dichter aber rücket nicht nur in unserem Kopfe alle Bilder und Farben zu einem einzigen Altarblatte zusammen, sondern er frischet uns auch jedes einzelne Bild und Farbenkorn durch folgenden Kunstgriff auf. Indem er durch die Metapher einen Körper zur Hülle von etwas Geistigen macht (z. B. Blüte einer Wissenschaft): so zwingt er uns, dieses Körperliche, also hier »Blüte«, heller zu sehen, als in einer Botanik geschähe.
{…} der dramatische Dichter überwältigt uns durch die Verwandlung der Wochen in Minuten und erweckt, indem er die tragische, vielleicht über Jahre hingesponnene Geschichte in wenige Stunden zusammenzieht, unsere Leidenschaften bloß darum, weil er ihnen gleicht, da sie auch wie Taschenspieler und Heerführer uns durch Geschwindigkeit berücken.
Weiter bin ich gestern abend beim Zu-Bett-gehen-Lesen nicht gekommen. Komisch. Warum hat dieser Jean Paul vor 200 Jahren (genauer: 1796 ist Quintus Fixlein erschienen) klüger, unverkrampfter und anregender über Phantastik schreiben können, als die ärgsten Fantasy-, SF- und Horror-Liebhaber heute (von den ›Literatur‹-Experten und bezahlten Meinungsschiebern mal ganz abgesehen)? Oder bin ich nur mal wieder schlecht drauf ohne es zu merken?
— Kann sein, die gegenreformatorische De-Sekularisierung durch unsere Grinse-Familien-Ministerin und der Posse vom geheuchelten C, und die »Popetown«-Hysterie von Menschen die nie MTV schaun, und die Überlegungen zur Verschärfung des Blasphemieparagraphen, mich nicht gerade ›happy‹ machen dieser Tage. Zu letzterem, der Blasphemie, hätt ich aber 'nen Büschel Gedanken anzubieten.
So eine Verschärfung der Blasphemieahndung könnt' ich akzeptieren, wenn dabei neutral ALLEN Glaubensrichtungen eine entsprechende Kartätsche gegen ALLE ANDEREN Glaubensrichtungen zugestanden wird, also:
• Rückwirkende Verhandlung der Zerstörung religiöser Symbole, Orte und Einrichtungen der Heiden durch die Christen (Entschädigung für gefällte Eichen, zerstörte Heiligtümer, Rückgabe heiliger Orte an ihre ursprünglichen Religionsgemeinschaften);
• Rückwirkende Verhandlung des Bauernlegens durch die Zisterzienser usw;
• Zudem: Wenn Christen gegen andere klagen können sollen, wenn sie ihren Glauben ungebührlich arg in den Dreck gezogen wähnen, warum sollten dann nicht auch Nicht-Religiöse dieses Recht erhalten. Dann könnte ich als an die Evolution ›Glaubender‹ wegen Blasphemie gegen jeden Christenphantasten klagen, der mit seinen Wahnwitzmärchen vom Intelligent Design oder Kreationismus über ›meine geheiligte Naturwissenschaft‹ abketzert.
Und wie sieht es aus mit einem Blubberblasenstatement der Frau Ursula von der Leyen (›C‹DU)
»Auf christlichen Werten basiert unsere gesamte Kultur.«
Das kann, ja das muß man als Blasphemie deuten. Christen haben das Feuer und das Rad erfunden, ja ja. Wie naiv muß man eigentlich sein, um so ein Leyen-Geschwätz zu glauben? Arrg, mein Pessimismus raunt mir, daß allzuviele Leut gern bereit sind an so eine Vereinfachung zu glauben. Mein innerer Schelm tröstet mich, und erinnert mich daran, daß diese christlich-politischen Propagandaschlümpfe auf ihre Art lustig sind. —Forward christian soldiers…
China Miéville: »Perdido Street Station« (»Die Falter«, »Der Weber«) oder: Thrillerhafte Monsterhatz in einer urbanen Weird-Fiction-Fantasia
Eintrag No. 261 — Ich bin ja bekennender Bas-Lag und China Miéville-Fan. Meine größte Sorge ist da freilich, ob ich als ›Fan‹ überhaupt nichtpeinlich über das von mir bewunderte Werk schreiben kann. Folgende Besprechung erschien zuerst in »MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert.
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China Miéville (1972) bietet in »Perdido Street Station«‡ Phantastik, die zwar mit dem Genre der Fantasy kokettiert, aber die Mode a la Tolkien meidet. So erzählt der Roman weder von mystischen Questen noch von Kämpfen des Guten gegen das Böse, sondern die fatalen Folgen des Zufalls sind der Ausgangspunkt der Handlung.
‡ Originaltaschebuchausgabe in einem Band; 867 Seiten mit Karte; Pan Books; London, 2001 — Entweder: Für die deutsche Ausgabe in zwei Bücher aufgeteilt als: 1. »Die Falter«; 2. »Der Weber«; aus dem Englischen übersetzt von Eva Bauche-Eppers; je 557 Seiten; Bastei-Verlag; Bergisch Gladbach, 2002. — Oder: Einbändige Sonderausgabe von Amazon.
Es beginnt mit zwei Aufträgen.
Erstens: Der Universalgelehrte und Erfinder Isaac Dan der Grimnebulin soll einen Weg finden, daß der flügellose Vogelmensch Yagharek wieder nach Belieben fliegen kann.
Zweitens: Isaacs Geliebte Lynn ist Künstlerin. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit soll sie eine lebensgroße Skulptur des Verbrecherfürsten Vielgestalt (englisch: Mr. Motley) anfertigen.
Isaacs Recherchen führen zur Freisetzung von extrem gefährlichen, exotischen Labortieren. Nicht nur, daß diese Lebewesen auf ausgeklügelt schauderhafte Weise jagen und sich laben, sie sind zudem nur umständlichst überwindbar. Hilfsmittel gegen die Monster zu finden und die Viecher zu erlegen sind nun die Ziele einer kleinen verzweifelten Gruppe um Isaac.
Großartig versteht es Miéville, die Millionenstadt New Crobuzon zum Beispiel eben als Speisetafel für die gefährlichen Monster-Falter darzustellen. Überhaupt geht viel Verführungskraft des Buches von der höchst originell ausgestalteten Welt Bas-Lag, bzw. der Stadt New Crobuzon aus. Mit viel Liebe zum Detail wird uns eine kapitalistisch-industrielle Metropole geschildert, in der alles möglich ist, die brummt und schafft, ständig verdaut und gebiert, Sehnsüchte der Mächtigen erfüllt und Hoffnungen der Unmächtugen zernichtet.
Für mich ist New Crobuzon dabei durchaus verwandt mit Ankh-Morpork aus Terry Pratchetts Scheibenwelt, nur ungleich härter und grimmiger. Wo die Phantasie bei Pratchett der komödiantischen Verspieltheit frönt, gibt sich Miéville lieber dem Grotesken hin. Beide führen die Klischees der Fantasy vor, der eine um damit Satire zu betreiben, der andere, um dem Genre eine erfreuliche Frischzellenkurz zu verpassen.
Zum Beispiel Rassen: Miéville bietet unter anderem Vogel- Wasser- und Kaktusmenschen (sic!) und Insekenfrauen. Wie Miéville zurecht kritisiert, werden Rassen in der Fantasy oftmals nur als Kürzel benutzt (Zwerge gieren immer nach Gold, Elfen sind immer arrogant und Trolle dumpf), und er unterläuft diese langweilige Mechanik von phantasieloser Fantasy, indem er Allgemeinplätze über Rassen als genau das vorführt: als gedankenlose oder rassistische Vorurteile.
Auch der Umgang von Wissenschaft und Thaumaturgie (die X-Kunst) ist wohltuend innovativ. Magie ist ein Wissenschaftszweig von vielen und selten habe ich so schöne Spekulationen in der Fantasy gelesen, wie bei Isaacs Bemühungen um eine einheitliche Feldtheorie und Krisis-Energie, mit der er Yaghareks Problem zu lösen hofft. Zu den vielen Fäden und Themen der Monsterhatz wurden u.a. die Folgen von bedenkenlos eingesetzten ›Atomwaffen‹, der Verselbstständigung einer kypernetischen (= konstruierten) Intelligenz, blutig niedergerungenen Arbeiterstreiks, politischer Untergrundaktivisten, rassenübergreifer Geschlechtsbeziehungen verwoben. Dabei ist »Perdido Street Station« trotz flotter Ereignisfolge und bunter Schilderung nicht durchwegs aalglatt zu konsumieren, sondern spielt ganz bewußt mit punktuell ungestümer Wortwahl (siehe ›Hä?‹-Refelx), lyrischem Sprachfluß, Perspektivenwechseln und haarsträubenden Kulminationen.
China Miéville hat zwei große Interessen: Zum einen ist er in England als Sozialist politisch aktiv und hat sein Studium an der London School of Economics mit »Between Eqaul Rights« abgeschlossen. Zum anderen ist er ein echter Trash- und Monsterfan, der Rollenspielenzys als Unterhaltungslektüre verschlingt. Miéville nennt sich selbst einen Autor von ›Weird Fiction‹ und ihm ist nicht daran gelegen dem Leser tröstende Fantasy-Träume zu liefern, sondern er nutzt lieber die verstörenden, befremdenden Fähigkeiten des Genres. Mit traumwandlerischem Gefühl für Spannung, gute Dialoge und unterschiedlichste Athmosphären geschrieben, ist »Perdido Street Station« etwas, an das man fast nicht mehr glauben mochte: spekulative, provozierende Fantasy, schwindelerrend in seiner Erfindungswut und alles andere als tröstlich.
Sehr zu dessen Wohl und zum verblüfftem Vergnügen des Rezensenten.
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Hier zu einer Liste der Molochronik-Einträge, die sich mit Miéville (mehr oder weniger) und seiner Art von Phantastik befassen.
Ricardo Pinto: »Der Steinkreis des Chamäleons«, Band 1 & 2 oder: Vertriebene im ummaurten Garten der Götter
Eintrag No. 262
Zuerst erschienen in »
MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. —
EDIT: Um Autorenportrait ergänzt und Formatierung verbessert am 31. Mai 2008.
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— Die Gebieter herrschen schon seit langer Zeit über die ›Drei Lande‹. Laut ihren Legenden stammen sie von den Sternen. Ihre Macht gründet sich auf den Fleischtribut den die Bevölkerung entrichtet und auf eine erbarmungslose Justiz, die nicht knauserig mit Verstümmelungs-, Blendungs- und Kreuzigungsurteilen ist. Nur unter ihresgleichen dürfen die Gebieter, die Auserwählten, ihre Gold- und Schmuckmasken ablegen. Erblicken Untergebene ihre unverhüllten Gesichter — … siehe Justiz. Reinheit und Makellosigkeit der Abstammung ist für die Gebieter von zentraler Bedeutung, so tragen sie die Blutwerte ihrer Eltern (Seriennummer läßt grüßen) als Narben auf dem Rücken, was auch zur rituellen Indentifizierung dient.
Soweit empfiehlt sich »Der Steinkreis des Chamäleons« schon mal als Lektüre für alle, die in der Fantasy gerne und ausführlich die Schattenseiten menschlicher Kultur durchgespielt bekommen (und denen z.B. die Kulturbeschreibung in Michael Moorcocks »Elric von Melniboné« zu flüchtig war).
Angesiedelt in einer vorgeschichtlichen Zeit (mit Dinosauriern), begleitet der Leser die Bildungsreise des jugendlichen Karneol aus dem Hause Suth. Mit einem Teil seines Gefolges hat sich Karneols Vater auf eine Insel im Eismeer ins Exil begeben, fern vom paradiesischen Machtzentrum des Vulkankraterpalastes von Osrakum. Doch andere Gebieter kommen über das Meer und bewegen den Vater, eine wichtige Rolle bei der anstehenden Wahl des neuen Gottkaisers einzunehmen. Mit dem Verlassen der Insel endet Karneols behütete Kindheits- und Jugendwelt abrupt. In schmerzlichen Lektionen lernt er auf dem Weg nach Osrakum halbwegs, was seine Stellung als Gebieter eigentlich bedeutet; was dieser ›Job‹ an Distanziertheit, Selbstkontrolle und grausamen Kalkül verlangt. In Osrakum schließlich setzt er unwissentlich eine alte Prophezeiung in Gang.
Ricardo Pinto war lange Zeit ein Designer für Computerspiele (unter anderem des Klassikers »Carrier Command«), und das ist den aberwitzigen Landschaften, bombastischen Architekturen und der perfide ausgeklügelten Gesellschaftshierarchie von »Der Steinkreis des Chamäleons« anzumerken. Pinto verfügt über viele originelle Ideen für seine Welt; weniger innovativ ist der Aufbau und Stil des Buches. So gerät manche Wegstrecke der beschwerlichen Reise(n) etwas langatmig und auch Karneols beständige Weigerung, sich gemäß seiner Stellung als Gebieter zu verhalten, zeitigt Längen. Da bin ich nun mal durch klassische Reiseberichte und alte Meister anspruchsvoll geworden im Lauf der Zeit. Doch werden diese etwaigen Längen durch intensive Abschnitte vollends ausgewogen, wenn Karneol neue Bauten und Stätten der Drei Lande ›besichtigt‹ (Panoramen!) oder anderen Gebietern begegnet (Mischung aus Duell und Konversation!).
Zwei Beispiele für wuchtige Phantastik-Bilder: So wird das Ausmaß der grausamen Gebieterkultur Karneols bei seiner Ankunft in Osrakum deutlich, wenn er erkennt, daß der Kieselstrand am Eingang des Hauses seiner Familie aus Abermillionen kleiner handgeschnitzten Figuren besteht. Oder die Bibliothek der Weisen — einer bis auf den Tastsinn verstümmelten Priesterkaste — in Osakum. Fenster und lichtlos (die Weisen orientieren sich in der Bibliothek anhand von Markierungen auf dem Steinboden), bewahrt sie das Wissen hunderter Generationen auf Perlschnüren; Größe, Form, Gewicht, Oberflächenstruktur und Temperatur (Koralle ist wärmer als Metall) einer aufgeschnührten Perle bestimmen dabei die Bedeutung des ›Schrift‹-Zeichens.
Bemerkenswert aber ist noch etwas ganz anderes. Ricardo Pinto selbst bekennt sich offen zu seiner Homosexualität und scheut sich nicht, sie zu einem bedeutenden Thema seiner Trilogie zu machen. Bei seinen Erkundigungen in Osakrum trifft Karneol auf Osidian, einen der beiden Gottkaiseranwärter. Zusammen tollen sie vergnügt durch die verbotenen Gärten von Osrakum, bis üble Intriganten sie aus der Machsphäre des Hofes entfernen und mit diesem Cliffhanger endet der erste Band »Die Auserwählten«.
In »Die Ausgestoßenen« finden sich der milde und mitfühlende Karneol und sein hochmütiger und grausamer Geliebter Osidian unter Wilden in dem von gigantischen Maueranlagen umspannten und unterteilen Bewachten Land wieder. Mit der Verschleppung aus dem Garten Eden endet die unbeschwerte Liebe der beiden. Osidian ist nicht wie Karneol gewillt, sich den Sitten des sie aufnehmenden Stammes anzupassen. Der verhinderte Gottkaiser sinnt vermehrt auf Rache gegen seinen nun inthronierten Bruder und macht sich nur insofern Gedanken um die Menschen des Stammes, wie er sie für seine Zwecke einsetzten kann.
Auch wenn Pinto als Stilist und Dramaturg mehr hergeben könnt, als Weltenbauer überzeugt er mich. Auf seiner Homepage bietet er interessante Einblicke in seine Notizen und Skizzen zur Welt der Drei Lande. Ob die Geschichte den ganzen Aufwand und die ca. 1800 Seiten wert sein wird, wird sich erst mit dem Erscheinen des dritten Bandes zeigen. Mit vielen kenntnissreichen Anlehnungen an alte und (sogenannte) primitive Kulturen schafft es Pinto, eine magische Vorwelt (ohne Magie) zu erschaffen, die sich nicht hinter klassischen Phantasien von vergessenen vorgeschichtlichen Reichen verstecken muß.
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Der Steinkreis des Chamäleons (The Stonedance of the Chameleon); aus dem Englischen von Wolfgang Kerge; jeweils drei Karten, gebunden mit Lesebändchen.
- »Die Auserwählten« (The Choosen, 1999): 603 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2001; ISBN: 978-3-608-93241-6
- »Die Ausgestoßenen« (The Standing Dead, 2002): 624 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2002; ISBN: 978-3-608-93242-3
Baltasar Gracian: »Das Kritikon« oder: Ein Monsterschmöcker aus der spanischen Barocke
Eintrag No. 260
Zuerst erschienen in »
MAGIRA 2003 — Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. —
EDIT: Um Autorenportrait ergänzt und Formatierung verbessert am 31. Mai 2008.
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— Tausendeinundvierzig Seiten, sechsundzwanzig s/w-Abbildungen, viele hilfreiche Fußnoten, ein ausführliches und anregendes Nachwort inklusive einem Vergleich verschiedener bisheriger Übersetzungen, sowie eine sechszehnseitige ›sprechende‹ (also synopsierende) Inhaltsangabe. »Das Kritikon«: ein Monsterschmöker aus dem spanischen Barock (1651-1657). Klingt nicht nach einem mal so nebenbei und schnell wegzulesendem Buch, sondern nach einem das genug Reichhaltigkeit, Tiefe, Details und Gewitztheit bietet, um den Leser über eine längere Zeitdauer zu begleiten. Nichts weniger als eine überbordende Vorstellung eines Großen Weltentheaters, ein universalsatirisches Panorama breitet der Jesuit Baltasar Gracian (1601-1658) hier aus. Der Autor ist in Deutschland hauptsächlich für sein von Arthur Schopenhauer übersetztes »Handorakel oder Die Kunst der Weltklugheit« bekannt.
Die rote Faden der Handlung des »Kritikons« ist schnell zusammengefaßt: Auf eine Insel gespült, trifft Critilo (ein Mann aus den Ostindischen Kolonien) auf Andrenio, einem Findelkind der Wildnis, ein Vorläufer von Defoes Freitag oder Kiplings Mowgli. Andrenio macht sich als lernbegieriger Schüler und treuer Begleiter Critilos mit diesem auf die Suche nach dessen verschollener Geliebter Felisinda. Die Reise von Critilo und Andrenio führt im geographischem Sinn durch die europäischen Kernländer, im übertragenem Sinn durch verschiedene symbolhafte Distrikte. Zu Beginn beispielsweise begegnen sie einer vielköpfigen Kinderschar, die von einer großen Frau zu einem Gebirgszug geleitet wird. Die Frau gibt den Infanten (= ›die noch nicht sprechen können‹) in all deren Wünschen nach und verhätschelt sie und führt sie dennoch wissentlich den aus den Bergen stürzenden Ungeheuern und Bestien zu. Ein spöttisches Bild auf die Erziehungsbemühungen von Elterngenerationen.
Unterhaltung und hohe Kunst waren im Barock noch nicht auf heutige Weise getrennt, und so ist »Das Kritikon« vom Anspruch her ein sehr ernsthaftes, zugleich aber im Auftreten ein sehr burleskes Buch. Bei der Gestaltung des Romans folgte der Jesuitengelehrte Gracian unter anderem diesen drei Überlegungen:
- Der christlichen Vorstellung des Lebens als Pilgerreise zum Seelenheil; der Mensch als Fremdling in der trügerischen Welt. Ein wichtiges Thema auch der Fantasy, man denke nur an Frodos Reise nach Mordor. Durch die Landschaften des Frühlings der Kindheit, des Sommers der Jugend, des Herbstes des Mannesalters und des Winters des Alters geht die Reise des vollständigen Menschen, der durch das Wechselspiel der Figuren Critilo (der geistvolle, erfahrenere Mann) UND Andrenio (der naive Naturjüngling) dargestellt wird. Auf dieser Reise werden die beiden oftmals von kundigen Führern (z.B. dem Chentaur Chiron oder dem Wandler Proteus) geleitet.
- Der Gegensatz von Täuschung (Wahnbefangenheit) und Enttäuschung (Wahnzerstörung), umfassend visualisiert in (alp)traumhaften Bildwelten, halluzinogenen Landschaften und Allegorie-Montagen des innigen Hieronymus-Bosch-Verehrers Gracian. Der verdrehten, verkehrten Welt — als die Gracian seine tubulente Zeit (sprich: die sich in der ersten Euphorie der terrestischen Globalisierung aufmachende Moderne) erlebte —, will er mit ihren eigenen Mitteln zu Leibe rücken. So wohldurchdacht der große ›belehrende‹ oder ›seelenförderliche‹ Bogen des Buches ist, so wirbeln im Detail verschrobene Sichtbarmachungen, rätselhafte Verschlüsselungen, ausgefallene Gedankenspiele, Übertreibungen und frappierende Pointen drucheinander, die mit Sprachwitz und Tollheit aus vielerlei unterschiedlichsten Inspirationsquellen zusammengetragen wurden.
- Die Vermittlung von Lebensweisheit und Ein-Sicht, die die Grundlagen für die Entwicklung zur ganzen Person bilden. Gracian stimmt hier als einer der ersten das Thema vom kalt analysierenden, antiutopistisch gestimmten Helden an, der ganz dem ungeschriebenen elften Gebot ›Du sollst dich nicht täuschen‹ (bzw: ›täuschen lassen‹) zu folgen trachtet.
Oberstes Stilkriterium für einen guten Text war damals die Fähigkeit eines Autors zur scharfsinnigen Rede, und obwohl die Sinnes- und Erscheinungswelt für Gracian trügerisch und größtenteils von Übel ist, stellt er klar fest, daß ein schönes Geplauder in angenehmer Atmosphäre ein löbliches Vergnügen ist. Subversion ›schon‹ in dieser alten Zeit, wenn Gracian also weiß, daß ohne den Köder des gut Unterhaltenden man gar nicht erst anzufangen braucht, den Menschen Lebensweisheit und Kultiviertheit vermitteln zu wollen.
Man läßt sich hier also auf einen ziemlich skurrilen Text aus alter Zeit ein. Das größte Hindernis dürfte dem heutigen Leser dabei Gracians tiefe Verachtung der Frauen sein. Muß man nicht so ernst nehmen und an sich rannlassen, der Mann war immerhin Jesuit. Hochgläubige Monotheisten aller Coleur pflegen ja mitunter pekuliare Ansichtung & Praktiken Geschlechtliches und Körperliches betreffend. Dank der hervorragenden Übersetzung und den erhellenden Fußnoten von Hartmut Köhler findet man sich mit etwas Geduld bald in dem ausufernden und abschweifenden — Voltaire urteilte abschätzig ›harlekinhaften‹ — Text zurecht, und dann hat man auf lange Zeit gute Lektüre, denn …
… wer gerät nicht außer sich, wenn er ein so einmaliges Konzert vernimmt, einen Zusammenklang aus so viel Entgegengesetztem. (Seite 43)
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Das Kritikon (El Kritikon; erstmal erschienen 1651 bis 1657) aus dem Spanischen übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler, mit einem Nachwort von Hans-Rüdiger Schwab; Zeittafel, Personen- und Sachregister; 26 Abbildungen; 1041 Seiten.
Gebunden im Schuber & mit Lesebändchen, Ammann-Verlag, Zürich 2002; ISBN: 3-250-10437-x
Taschenbuch bei Fischer, Frankfurt 2004; ISBN: 978-3-596-15902-4