molochronik
Montag, 20. Februar 2012

Joachim ›NMP‹ Gauck

Eintrag No. 760 — Nur für den Fall, dass dieser Kandidat tatsächlich der nächste Präsi wird, hier schon mal meine Abreaktion zu diesem Fetzenschädel (was der Mann über Hartz IV, Occupy, Sarrazin und andere Sachen vom Stapel gelassen hat, lässt mir den Kamm schwellen).

Donnerstag, 2. Februar 2012

»Eine andere Welt« (23) — Kap. XXI: Die Geheimnisse des Unendlichen von Grandville und Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 759Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

XXI. Die Geheimnisse des Unendlichen

Die Welt ist eine Seifenblase. Newton.

Ohne das Unendliche versteht man das Endliche nicht. Lehrbuch der Sternenkunde für Töchterschulen.

Jenseits des Raumes ist alles Geheimnis. Bekenntnisse eines Kometen.

Schwadronarius’ Wanderungen durch den Raum. Der Reisende entdeckt den Ursprung aller Dinge und noch einiger anderen.

Man wird das Erstaunen begreifen, das sich Schwadronarius bemächtigte, als er sich umdrehte und weder die Laterna magica noch das Gliedermännchen mehr erblickte. Der frische Lufthauch der mit seinen Locken spielte, wie sich der aufmerksame Leser gefälligst die Güte haben wird zu erinnern, schwoll plötzlich zu einem Orkan an,, welcher das ganze Reich der Marionetten entführte und in einem Augenblick unsichtbar machte. — Mitten in diesem Wirbel hatte Schwadronarius die Geistesgegenwart sich an die Luftströmungen zu klammern. Auf diesem raschen aber nicht eben sehr sanften Rosse konnte er Courier reiten im Weltenraume, ohne andere Gefahr, als dass er mitunter an irgend eine Welt stieß, die hier gewissermaßen als Grenzstein hingestellt war. Mit einigen Beulen und Brauschen auf der Stirn kam er indessen noch davon.

Wir wollen diese übermondliche Reise nicht Station für Station beschreiben. Nachdem sie eine ziemliche steile Küste erklommen, hielt die Luftströmung einen Augenblick still um zu verschnaufen. Eine unermessliche Ebene bot sich Schwadronarius’ Blicken dar. Er hatte den Fuß auf den Pol gesetzt, welcher Pol indessen keineswegs von Diament ist, wie einige berichtet haben.

Eine Brücke, deren Enden das menschliche Auge nicht zugleich umfassen konnte und deren Hauptpfeiler sich auf Planeten stützten, führte über vortrefflich polierten Asphalt nach einer anderen Welt.

Gerade als Schwadronarius sie betreten wollte, zupfte ihn Jemand am Rockschoß und eine Stimme verlangte strenge Brückenzoll von ihm. Schwadronarius wandte sich um und erkannte Charon, der, durch die Einrichtung eines Steges von Eisendraht über den Styx zu Grunde gerichtet, sich hier eben hatte einen Invalidendeinst geben lassen. Um der polizeilichen Anordnung:

Schnell über diese Brücke zu reiten und zu fahren, ist bei fünf Rthlr. Strafe verboten

zu genügen, nahm die Luftströmung einen Paßgang an, so dass unser Reisender ganz bequem die ihn umgebenden Gegenstände betrachten konnte. Der dreihundertdreiunddreißigtausenste Pfeiler stand auf dem Saturn auf. Schwadronaius konnte sich nun überzeugen, dass der Ring dieses Planeten nichts Anderes sei als ein kreisförmiger Balkon, auf welchem die Saturnbewohner die Kühle des Abends genießen.

Jenseits der Brücke fiel die Luftströmung wieder in Galopp und trug Schwadronarius nach noch höheren Regionen. Die himmlische Mechanik ward ihm ganz enthüllt durch die Nachlässigkeit ihres Besitzers, der gerade an diesem Tage vergessen hatte, die Wolkenvorhänge zuzuziehen. Dieser Eigentümer war ein alter Zauberer, welcher Seifenblasen aufblies und sie dann in den unendlichen Raum schleuderte.

Altersschwach wie er war, bemerkte der Greis ungeachtet seiner Brille wahrscheinlich nicht, dass etwas unter ihm, ein kleiner Dämon, die Blasen abfing um sie auf seine Weise zu colorieren und allerlei Elemente der Störung und Verwirrung hinein zu praktizieren.

Kaum hatten sich die Seifenblasen von seinem Pfeifenstiele wieder abgelöst, so konnte man auch schon durch den Spiegel ihrer Umhülung hindurch die Szenen wahrnehmen, welche später die gewöhnlichen Peripetieen des menschlichen Drama bilden sollten. Liebe und Eifersucht spielten die Hauptrollen; darüber wird Niemand erstaunen, der da erfährt, dass der Dämon, welcher so den alten Magier hinter das Licht führte, ein Weib war.

Schwadronarius wollte den Zauberer von dem Streiche, den man ihm spielte, in Kenntnis setzten, aber sein Luftroß hinderte ihn daran, indem es mit ihm vorrübersauste. Auch zog schon ein neues Schauspiel seine Blicke an; eine verbrecherische Zerstreuung, die wiederum die Menschheit verhindert hat, sich der Herrschaft böser Leidenschaften zu entziehen und sich endlich der Wohltaten des goldenen Zeitalters, das ihrer Geduld schon so lange versprochen worden, zu erfreuen. Um die Menschen zu retten, brauchte er bloß einen Pfeifenstiel zu zerbrechen. Die Weisen werden sich nicht zufrieden geben über Schwadronarius’ Nachlässigkeit. Wer sollte es glauben? In diesem feierlichem Augenblicke hatte er lieber Maulaffen vor einem Jongleur feil.

Auf dem Pole eines ziemlich großen Planeten führte nämlich ein Equilibrist und Taschenspieler alle seine Künste aus. Nie entfaltete ein indischer Juggler solche Gewandtheit und Geschicklichkeit. Hinten, vorn, rechts, links warf er Kugeln in die Höhe und fing sie mit den Händen auf oder hielt sie ungeweglich auf der Nase.

Diese Kugeln waren nur Weltkugeln. So wurde Schwadronarius eingeweiht in das große Gesetz vom Gleichgewicht der Welten, jedoch nicht ohne in bedeutende Gefahr dabei zu geraten. Als er nämlich jene Stelle des Planeten erstieg, welche die Alten culmen {= lat. ›Gipfel, Kuppe, Spitze‹} zu nennen pflegten, kam ein Aerolith, der wie ein sublunarischer Ordensstern gebildet war, ihm dicht bei der Nase vorbei, und würde ihn zerschmettert haben, wenn er nicht gerade den Kopf hinten übergebogen hätte. Wehe dem Sterblichen auf den dieser Aerolith hinabstürzt.

Gegen Abend verlor die Luftströmung etwas von ihrer Kraft. Schwadronarius näherte sich der Erde und erkannte selbst die Formen gewisser Gebirge, die noch kein Reisender entdeckt hat. Zwischen zwei Bergspitzen breitete sich ein ungeheurer Blasebalg aus. In demselben Augenblicke in welchem er sich fragte, wozu ein solcher Ventilator diene, erhielt Schwadronarius’ Luftstoß eine so gewaltige Erschütterung, dass er Gefahr lief, auf die Dächer einer Stadt geschleudert zu werden.

Glücklicherweise drehte sich der Wind. Schwadronarius war gerettet, aber die Stadt in weniger als einer Sekunde in die entsetzlichste Verwirrung gebracht. Schilder, Feueressen, Hüte, Mäntel, Regenschirme, Perrücken, Dachziegel, Alles wurde fortgerissen und Niemand konnte sich in diesen Straßen aufrecht halten.

Schwadronarius begriff nun, dass der Blasebalg, den er gesehen, die Schläuche des Aeolus ersetzte und ihm jetzt der Ursprung der Orkane nicht fremd mehr sei. Hätten ihm die notwendigen Instrumente nicht gefehlt, so würde er nicht ermangelt haben, die geographische Lage des Blasebalgs genau aufzunehmen, um sie in alle Landkarten einzutragen. Er tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, dass es dann vielleicht den Menschen gelungen sein würde, ihn zu zerstören und dass er dadruch der Literatur, indem er sie vieler Metaphern beraubt, und den Gewerbtätigen, welche von der Verfertigung der Aushängeschilder, Hüte, Regenschirme und Perrückten lebten, — ohne es zu wollen, — großen Schaden zugefügt hätte.

Eine Minute länger und der Erdball wäre auf seinen Fugen gewichen. Aber der Sturm legte sich. Sanft auf Wolkenkissen sich lehnend, welche die untergehende Sonne mit goldenen Fransen säumte, zeigte sich mitten im Weltraum das Haupt eines blöden, schüchternen jungen Mädchens Schwadronaius’ entzückten Blicken. Luna war es, die sich im See spiegelte, um sicher zu sein, dass Endymion sie schön fände. — Sie war mit ihrer Toilette zufrieden und zog langsam weiter.

Ihre Gegenwart genügte, Frieden zwischen den Elementen zu stiften; sie schwiegen, um sie ungestört bewundern zu können, und Schwadronarius setzte seine Himmelsreise fort.

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Dienstag, 10. Januar 2012

Grenzübergang 2011 / 2012

Eintrag No. 758 — Die Blogtradition gebietet als Anlass für ein schwer notwendiges Lebenszeichen einen Rückblick auf die guten Sachen des vergangenen Jahres.

Gut Buch (Prosa)
  • »True Grit« von Charles Portis. Seit langer Zeit ein Roman, an dem ich keinerlei Makel feststellen konnte (denn mir fallen eigentlich immer irgendwelche Kleinigkeiten auf, an denen man noch hätte fizzeln können). Habe mir gleich darauf die anderen vier Bücher von Portis besorgt und bin bisher von »Dog of the South« ebenfalls ziemlich angetan. — (Und natürlich finde ich die Neuinterpretation als Film von den Coen-Brüdern viel besser als die alte Erstverfilmung mit John Wayne … auch wenn ein John Wayne-Film immer den entzückenden Charme eines John Wayne-Filmes hat.)
  • »Deadwood« von Pete Dexter. Ziemlich sicher, dass dieses dreckige, harte, tragische, melancholische und bisweilen abstrus- und/oder brutal komische Wild West-Panorama eine wichtige Inspiration für die gleichnamige HBO-Serie gewesen ist, auch wenn das nirgends offiziell eingestanden wird. — (Wenn ich jemals einen Fantasy-Roman schreiben wollte, wäre dieser Roman ein gutes Vorbild für die Struktur und Erzählhaltung, an der ich mich zu orientieren versuchen würde.)
  • »Embassytown« von China Miéville. Der erste richtige SF-Roman von Miéville bietet erstaunliche Spekulationen über eine Gesellschaft ohne sprachliche Symbole, die Macht von Metaphern und ist zudem eine eindringliche Auseinandersetzung mit Suchtproblemen und Kolonialismus.
  • »Reamde« von Neal Stephenson. Habe diesen über 1000-Seiten dicken Wälzer in wenigen Tagen verschlungen. Gelungene Äktschn mit Geheimagenten, Terroristen, Onlinerollenspielern und Geiseln, oben drauf geschmückt mit erhellenden Schmunzelkirschen zum Thema Mainstream-Fantasy.
  • Die ›Bigend‹-Trio von  William Gibson, bestehend aus »Pattern Recognition« (›Finden Sie raus, wer diese viralen kleinen Kult-Filmschnippsel ins Internet stellt‹), »Spook Country« (›Auf den Weltmeeren ist ein geheimnisvoller Container unterwegs. Finden Sie heraus was drin ist‹) und »Zero History« (›Finden Sie raus, wer die Klamotten für die Underground-Modemarke Gabriel Hounds entwirft‹), etwas kühl und  trocken, was mich aber nicht stört, denn Gibson flicht immer wieder auch geradezu poetische Stellen ein. Genial finde ich seinen thematischen Ansatz, die moderne Welt der sich auflösenden Staaten, der allgegenwärtigen Informationsgesellschaft, der Post-IX.XI.-Befindlichkeit anhand des Spannungsfeldes zwischen (bzw. der Gemeinsamkeiten von) Geheimdiensten und Marketing abzuklopfen. — Mein Liebling ist übrigens Buch 1, »Pattern Recognition«, nicht zuletzt, weil ich die weibliche Hauptfigur ins Herz geschlossen habe.
  • »Cyclonopedia. Complicity With Anononymous Materials« von Reza Negarestani. Eine verwirrend, verstörend betörende Hatz durch einschüchternd komplexe Themenstrudel veranstaltet dieses Theorie-Fiktionswerk. Ein Muss für jeden, der gerne eine wilde, gelungen relevante Mischung aus Cthulhu-Mythos, Geologie, orientalischer Dämonologie, kritischer Theologie und Petropolitik inkl. ›War on Terror‹ erleben möchte. — Auch wenn ich wahrscheinlich nur ca. 50% dieses Buches verstanden habe, bin ich beeindruckt. (Und falls dieses eigenwillige Meisterwerk jemals ins Deutsche übersetzt werden sollte, habe ich jetzt schon Mitleid und Respekt für wer auch immer das bewerkstelligen soll.)
  • Desweiteren möchte ich kurz als empfehlens- weil lesenswert erwähnen: — die mit seltsam-heftiger Selbstbezüglichkeitsschleife versehene Zeitreisenovelle »How To Life Safely In a Science-Fictional Universe« von Charles Yu; — das nekromatische Katz(Meister)- & Maus(Adeptin)-Duell im Renaissance-Europa in »The Enterprise of Death« von Jesse Bullington; — den Biopunk-Thriller und Bürgerkriegskrisen-Bericht »The Windup Girl« von Paolo Bacigalupi; — das kampfreichen Völkerwanderungs-Fantasyabenteuer und Auftakt der ›Foreworld‹-Reihe »The Mongoliad« von Greg Bear, Neal Stephenson & Friends;  — Berliner Stadtjungs erleben Abenteuer in den frühen Siebzigern: »Bloß Weg Hier!« von Frank Böhmert; — gute SF-Kurzgeschichten, gut geschrieben, gut übersetzt: »Wir waren ausser uns vor Glück« von David Marusek; — Fantasy-Kurzgeschichten der etwas anderen Art (gelungener Slalom zwischen zart und unheimlich): »Das Flüstern zwischen den Zweigen« von Markholf Hoffman.
Gut Buch (Sach)
  • »Blödmaschinen« von Markus Metz und Georg Seeßlen. Auch wenn die gewaltige Erkenntnislawine des Buches einen gewissen Deprifaktor mit sich führt, berauscht der Materialreichtum dieses gewitzten Dialektikrundumschlags. Phantastikfreunde dürfen sich zudem über gelungene Horror- und SF-Metaphern freuen.
  • »9. 11. Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes« von Matthias Bröckers und Christian C. Walther. Weils ohne große Polemik die vielen empörenden Löcher der größten Ungereimtheit des jungen Jahrhunderts aufführt.
  • »The Magic of Reality« von Richard Dawkins und Dave McKean. Ein lehrreiches Jugendbuch – Dawkins, wie so oft,  knuffig onkel-lehrerhaft – und Dank der atemberaubend schönen Gestaltung von McKean ein gigantischer Augenschmauß.
  • »Codex Seraphinianus« von Luigi Serafini. Schon Anfang der 80-ger erschienen, hat es nun endlich in meine Sammlung geschafft. Eine Bilderbuch-Enzyklopädie aus einer seltsamen anderen Welt. Gnadenlos undurchschaubar. Megapotente Verzauberungskraft. Ergiebige Traumreiseninspiration.
Gut Comic
  • »Nausicaä aus dem Tal der Winde« von Hayao Miazaki. Der Film ist, wie auch bei »Akira«, ein Spielfilmtrailer für das um einiges umfangreichere Manga-Epos. Dystopische Öko-SF-Fantasy vom Feinsten.
  • »The Hunting of the Snark« von Lewis Carroll und Mahendra Singh. Carrolls Werk ist einer meiner liebsten Klassiker und Singh hat daraus einen munteren Reigen der surrealen Kunst gemacht.
  • »Habibi« von Craig Thompson. Tragische Geschichte als Verneigung vor dem Zauber von 1001 Nacht, Ballade über den nahen Osten und Meditation über die Macht des Geschichtenerzählens.
  • »Gotham Central« von Ed Brubaker & Greg Rucka und diversen Künstlern, am besten ist der Stammzeichner dieser leider viel zu früh eingestellten Reihe: Michael Lark. Ganz feine Idee, dass nicht der dunkle Ritter und seine diversen Erzfeinde im Mittelpunkt stehen, sondern die Kommissare der Polizei von Gothams erstem Revier.
Gut Mukke
  • »The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford« (Soundtrack) von Nick Cave und Warren Ellis. Langsam, ruhig, melancholisch, perfekt.
  • »L. A. Noire« (Soundtrack) von Andrew & Simon Hale sowie Songs im Stil der 40er-Jahre eingespielt von The Real Tuesday Weld mit Claudia Brücken. Treffliche Krimistimmung.
  • »Batman: Arkham City« (Soundtrack) von Nick Arundel und Ron Fish. Gelungene Mischung der Batman-typischen Mukke von Elfman und Zimmer.
  • »Where Are The Arms« von Gabriel Kahane. Auch das zweite Album von Kahane bietet ausgetüfftelte Instrumentoerungen, wendungsreiche Melodien und geistreiche Lyrik.
Gut Film
  • »Scott Pilgrim Vs. The World«: Großartige flotte Romanze mit Game-Stilistik, und eine erstaunlich treue Umsetzung des ebenfalls lohnenden Comics.
  • »Super«: Endlich ein Film, der krass, gnadenlos, ätzend und dennoch anrührend von den Schattenseiten des ganzen Superheldengedöns erzählt.
  • »The Adventures of Tintin«: Spielberg hat es doch noch drauf.
  • »Ponyo«: Bei Myazaki kann man wieder Kind sein und das ist wundervoll.
  • »Summer Wars«: Ein SF-, Familien-Film wie eine prallgefüllte Wundertüte.
  • Kurz seien noch als sehenswert erwähnt: — »X-Men: First Class«: Trotz der kleinen Makken endlich wieder ein ›tiefer‹ Superheldenflick. Fassbender und McAvoy brillieren als junger Magneto und Prof. X. — »Tucker & Dale Vs. Evil«: Verblüffende Inversion des Schemas ›Killer-Hillybillies killen unbedarfte Jugendliche‹. — »Sherlock Holmes: Games of Shadows«: Respektable Fortsetzung dieser Wiederbelebung des bekannten Privatdetektivs. Diesmal mit auch mit gelungenem Auftritt des Erzfeindes Moriarty. — »Carnage«: (= »Gott des Gemetzels«) Wenn der Text stimmt, dann reichen eben zwei gute Schauspielerinnen und zwei gute Schauspieler. Zudem ein feines Beispiel der Wahrung der aristotelischen Einheit von Raum, Zeit und Thema!
Beste Momente
  • Janelle Monáe-Konzert im Mousonturm (dessen Bühne eigentlich eine Nummer zu klein war)
  • Kurzurlaub Berlin mit einem wunderbaren lange Spaziergang durch den Park von Charlottenburg; Treffen mit geschätzten SF-Netzwerk-Foristen; Plausch- und Kaufrunden im »Otherland«-Buchladen; Abendessen mit den Herrn Riffel, Böhmert und Kettlitz …
  • … dort dann abgemacht, dass ich nach den Ted Chiang-Geschichten (siehe »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes« erschienen im Golkonda Verlag) als nächstes den ersten Hellboy-Kurzgeschichtenband »Odd Jobs« übersetzen werde
Vorsatz
Experiment: keine neuen Bücher kaufen dieses Jahr, sondern sich mal auf die eigene Bibliothek verlassen, um zu prüfen, wie ›stabil‹ und ›ergiebig‹ die ist. Nein. Halt. Stop. Maximal 10, oder pro Monat eins, also 12 Bücher übers Jahr verteilt anschaffen. Vorschau der bereits gebongten Titel: — (Februar) Matt Ruff: »The Mirage«; — (Februar) Nick Harkaway: »Angelmaker«; — (Mai) China Miéville: »Railsea«; — (Juli) Ian Tregillis: »The Coldest War«. — (August) Neal Stephenson: »Some Remarks«; — … und der Erscheinungstermin des vierten Romanes von Lawrence Norfolk, »John Saturnall’s Feast«, steht noch nicht fest.

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Donnerstag, 5. Januar 2012

Kai Diekmann

Eintrag No. 757 — Habe heute drüben bei google+ ein Album mit meinen Fetzenschädel-Portraitzeichnungen eröffnet. Bei der Gelegenheit hat mich Andrea aus der Ferne an einen Großhirschen unter den Fetzenschädeln erinnert, der schon lange auf’m Wartebankerl sitzt. Hier also endlich präsentiere ich Euch den Chef des verBILDungsministeriums unseren schönen Landes, Herrn Kai Diekmann.

Fetzenschädel-Portrait Kai Diekmann
Dienstag, 6. Dezember 2011
Samstag, 19. November 2011

Alfred Kubin: der neue alte Star der Weird Fiction

Eintrag No. 755 — Derweil ich noch auf meine Paperbackausgabe der umfangreichen, von Jeff und Ann Vandermeer zusammengestellten Anthologie »The Weird« (hier das Inhaltsverzeichnis in Jeffs Blog) warte, freue ich mich wie Schnitzel darüber, daß sich Alfred Kubin schön langsam zu einem heißen Tipp im englischsprachigem Raum mausert.

Nicht nur eröffnet ein längerer Auszug von Kubins »Die andere Seite« die »The Weird«-Anthologie, Jeff Vandermeer widmet auch den ersten Beitrag der Reihe »101 Weird Writers« bei ›Weird Fiction Review‹ Meister Kubin: The Tortured Triumph of "The Other Side". — Ebendort hat diese Woche auch Paul Charles Smith unter dem Titel The Shadow World of Alfred Kubin: The Life and Art of a True Original ein Lobpreis auf Kubins Pionierleistung angestimmt.

Smith hat schon vor einiger Zeit in seinem Blog zwei Beiträge über Kubin verfasst: zum ersten über die Themen in dessen Frühwerk (Themes in the Early Work of Alfred Kubin); zum zweiten insbesondere über »Die andere Seite« (The Other Side).

Nachtrag — Damien Walter hat für ›The Guardian‹ eine herrlich begeistert wirre Jubelei zu der Anthologie geschrieben: Beware The Weird!.

Donnerstag, 17. November 2011

»Eine andere Welt« (22) — Kap. XX: Aerostatische Lokomotionen von Grandville und Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 754Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

XX. Aerostatische Lokomotionen

Ihr, so da fliegen wollen, Betrachtet Ikarus, Den naseweisen tollen, Er kam zu bösem Schluß, Phoebus ist ihm gestiegen Alsbald zu Kopfe stracks. Drum wißt: Man wird nie fliegen Mit Fittigen von Wachs. Griechischer Hymnus.

Die Herrschaft des Dampfsystems liegt weit hinter uns und hat sich ganz überlebt. Ein moderner Philosoph.

Doctor Puff, Neugott, führt nach einander auf verschiedene Weise mehrere Luftfahrten aus, kehrt mit ungewöhnlicher Schnelle auf die Erde zurück und findet hier einen ganz unverhofften Empfang.

Das traurige Ende einer Unsterblichkeit, der Puff die Augen zudrückte, veranlasste den Doctor zu ernsten Selbstbestrachtungen. Als Neugott sah er sich von ewiger Langeweile bedroht, und glaubte schon dies schleichende Gift in seinen Adern zu fühlen, so daß er sich nach seiner früheren bescheidenen Niedrigkeit zurücksehnte. Nachdem er von den Blumen freundlich Abschied genommen, deren Familienleben und gesellschaftlicher Organismus sein Gepäck von Beobachtungen vermehrt hatte, beeilte er sich den Garten zu verlassen, indem er sich sogleich die in solchen Fällen üblichen Fragen vorlegte.

»Wohin wende ich mich! Wohin wende ich mich nicht? Gehe ich bergan oder bergab, in die Länge oder in die Breite, in gerader, schiefer, kreisförmiger, diagonaler, horizontaler oder senkrechter Linie? Was soll ich tun um vor Erwartung keuchende Leser und Verleger, deren einzige Hoffnung auf meinem Genie beruht, zufireden zu stellen?«

Diese Fragen erwägend, fiel es ihm plötzlich ein, daß er kürzlich den Titel eines Buches gesehen, welcher lautete: »Die Reise ins Blaue«. — »Hurrah!«, rief er. »Ins Blaue! Gerade hinein, so ist’s recht und Zickzack obendrein!«

Diese Reise alsbald anzutreten war ihm ein Geringes, nur fehlte ihm noch irgend eine bewegende Kraft. Nicht weit davon sah er Arbeiter an einer Eisenbahn damit beschäftigt, für den künftigen Schienenweg Felsen zu sprengen und Abgründe auszufüllen. »Arme Leute!«, sagte er, und konnte nicht umhin die Achseln zu zucken und mitleidig zu lächeln, als er seinen, von ihm in einer schlaflosen Nacht erfundenen, einfachen und doch blitzschnellen Mechanismus mit diesen kostspieligen und doch weit hinter der Gegenwart zurückgebliebenen Mitteln zur Bewegung im Raume verglich. Demungeachtet verschmähte er indessen doch nicht, sich jener zahlreichen und kräftigen Arme zu bedienen, um seiner Maschine die notwendige Kraft zu verleihen. Dann setzte er sich auf dem einen Ende seiner Zugbahn, wie er sie nannte, hin, und befand sich in weniger als einer Drittelsekunde auf dem Gipfel eines Berges, den die Geographen nich immer vergessen haben, in den Landkarten aufzuführen.

Nachdem er abgestiegen war um die Gegend in Augenschein zu nehmen, fand er den Boden mit Papierdrachen besät, die ihre Bindfäden zerrissen und sich hier ein Stelldichein gegeben hatten. Dies schien ihm ein vortreffliches Mittel um sein Aufsteigen zu befördern, weshalb er auch keinen Augenblick zögerte, sich Hüften, Füße und Arme mit dem neuen aerostatischen Apparat gürtete und gleich weiter in die See des Aethers stach.

Anfangs ging es ganz vortrefflich und der Wind blähte seine Segel; bald aber lähmten widrige Luftströmungen die Kraft seines Vorspanns und er blieb eine halbe Stunde unbeweglich, wie ein Fixstern. Diese Situation fing an ihm mehr als seltsam vorzukommen, da ergriff ihn plötzlich eine günstige frische Kühle, und setzte ihn bei einer verlassenen Windmühle, die er durch die Dunstwolken hindurch bereits erblickt hatte, nieder.

Puff warf jetzt seine Flügel in alle Winde und ging in die Mühle; durch eine Öffnung, von der aus seine Blicke Land und Meer überschauten, sah er plötzlich die Wogen schäumen, kochen und aufwirbeln und ihm am Ende einer elastischen Spindel eine Depesche zuschleudern, die er voll Eifer ergriff, da er auf der Adresse Kracks Handschrift erkannte. Wir werden ihren Inhalt jedoch erst später mitteilen.

Indem er noch über die Mittel nachsann, durch deren Hilfe die dritte Phase seiner aerostatischen Odyssee sich erfüllen könne, sah Puff in einem Winkel alte Papiere und unter diesen das Hauptbuch des verschwundenen Müllers. Der Neugott durchlas dasselbe und es belehrte ihn, daß das eben so kühne als sinnreiche Werk, in welchem er sich befand, gebaut worden sei, um Tannen-Sägemehl in Griesmehl zu verwandeln. Die letzten Zeilen des Buchhalters berichteten, daß die Aktieninhaber zusammenberufen worden, um das Unternehmen auszulösen und das Inventarium sammt dem Gebäude zu verkaufen.

Gerade als unser Neugott diesen traurigen Trümmern großartiger Spekulation eine Zähre des Mitgefühls weihte, erschütterte ein heftiger Windstoß das luftige Haus. Puff erkannte alsbald den Nutzen der daraus zu ziehen war.

»Was Flügel hat, dessen Beruf ist es zu fliegen; eine Mühle hat Flügel, ergo«, lautete sein höchst logischer Schluß, der so vollendet war, daß er ihn gar nicht vollenden brauchte.

»Vorwärts«, rief er, »die Augenblicke sind kostbar und die Wirtshäuser sehr dünn gesät in diesem Landstrich.«

Bei diesen Worten machte er den Mühlstein los und warf ihn als überflüssigen Ballast hinaus. Die erleichterte Mühle erhebt sich von einem Windstoß gefasst in die Luft; ihre vier Flügel fangen an rasch zu arbeiten und von Neuem durchschneidet unser Neugott den blauen Aether.

Wechselweise der Erde nahe kommend und sich von ihr entfernend, erschien diese wunderbare Maschine, wunderbarer als die, welche dem Ritter von der Mancha wie ein Riese mit tausend Armen vorkam, um ihm Trotz zu bieten, der ganzen zivilisierter Welt als etwas unendlich Wunderbares; denn sie forderte die Vögel zum Wettflug heraus und entthronte den Dampf. Überall wurden, um sie zu begrüßen, die Hüte geschwenkt und mit den Taschentüchern wurde geweht.

Berauscht von diesem allgemeinen Enthusiasmus, der sich durch lautes Freudengeschrei äußerte, überhäuft mit Ruhm, aber nicht gesättigt, strebte Puff nach Erfolgen die noch weit größer waren. Die Idee, die Mühlenflügel an seinen eigenen Leib zu heften, fährt ihm wie ein Blitzstrahl durch den Kopf, und wird eben so schnell von ihm verwirklicht. Aus seiner fliegenden Arche, zum großem Erstaunen der verblüfften Menge steigend, erscheint er plötzlich wie ein ungeheurer Condor in den Lüften schwebend; dann aber nimmt er einen neuen Aufschwung und verschwindet jenseits der Wolken.

Aber ach, jedes Gestirn hat seine Erdferne und Erdnähe, seine Sonnennähe und Sonnenferne. Von seinen kühnen Flügeln getragen schwebt er über dem flammenden Krater eines Vulkans hin schon riecht einer von seinen Flügeln versengt…. Er verliert das Gleichgewicht — er wirbelt, im vollsten Sinne des Wortes … Himmel! Was soll aus ihm werden? Zerschmettert er seinen Schädel an einem Felsen, spießt er seinen Leib auf einer Kirchturmspitze, oder wird er, ein neuer Ikarus, dem Meere, das ihn verschlingt, seinen Namen geben?

Nein! Beruhigen Sie sich, gefühlvolle Leserinnen; Puff ist ja unsterblich. — Liebliche Schäferinnen, holde Schnitterinnen, vereinigt um den kühnen Hauptschmuck der Wiesen zu scheeren, haben den Tauber bemerkt, den des Jägers tödliches Blei traf. — Sie eilen herbei, um seinen Fall zu mildern; ihre Arme und ihre Schürzen strecken sich in edelstem Wetteifer aus, diesen göttlichen Mondstein aufzufangen. Glycere, Amaryllis, Phyllis, Galathee, Mimili, haltet Euch tapfer und mögen Eure Schürzen aus festem Gewebe sein!

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Montag, 7. November 2011

»Eine andere Welt« (21) — Kap. XIX: Der Tod einer Immortelle von Grandville und Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 753Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

XIX. Der Tod einer Immortelle

Die Langeweile ist der Unsterblichkeit Kind. Homer.

Nachdem er sein Kautschuck-Beafsteak und das zweite Kapitel von Kracks Manuskript, beide gleich schwer verdaulich, zu sich genommen, geht Puff in einen Garten, um den Duft der Blumen zu atmen, und wird Zeuge eines Selbstmordes.

Wie süß ist es, in einem Garten zu lustwandeln, wenn auf den Fittigen der Frühlingslüftchen die Blumen ihre Düfte tauschen gleich eben so viel Boten der Liebe!

Wie süß ist es — aber lassen wir es dabei bewenden; wollte ich meiner Begeisterung freien Lauf lassen, so müßte ich sie steigern und in Versen fortfahren, und dazu habe ich mich nicht mit dem nötigen Vorrat an Reimen, langen und kurzen Silben und Flickwörtern für die Reise versehen.

Um die Wahrheit zu gestehen, so ging ich nur in diesen Garten, um fern von dem Treiben und Lärmen der Welt meine Verdauung besser abwarten zu können; die hier landesüblichen Beafsteaks liegen entsetzlich schwer im Magen. Es wird mir aber doch gelingen, mit Hilfe des guten alten Sprichwortes: Geduld, Vernunft und Zeit macht möglich die Unmöglichkeit.

Wie glücklich bin ich, die Sprache der Pflanzen und Vögel zu verstehen! Die Wissenschaft wird mir eine große Entdeckung mehr verdanken.

Als ich den Garten betrat, zog ein Schmetterling, der eine Immortelle umgaukelte, meine Aufmerksamkeit an; eine Spinne, die unter derselben Pflanze ihre Fäden gezogen hatte, sagte zu ihm:

»Du verspottest mein Netz, weil Du ein alter Praktikus bist, aber Deine Kinden könnten es bezahlen müssen. Ich bin indessen bereit, mit Dir ein Bündnis zu schließen. Ich werde Dich und die Deinen verschönen unter der Bedingung, daß Du mir Deinen Rücken leihst und mich hinträgst, wohin es mir beliebt.«

»Angenommen«, entgegnete der Schmetterling und setzt sich auf die Erde.

Die Spinne bestieg seinen Rücken und fort ging’s. Einen Augenblick verlor ich sie aus dem Gesichte, dann aber sah ich sie sich auf dem Wipfel eines Baumes am anderen Ende des Gartens niederlassen. Ich fragte mich, was die Spinne bewegen könne, solchen Unterricht in der Reitkunst zu nehmen — als Mittel gegen zu vieles Sitzen wandte sie es sicher nicht an — da gewahrte ich plötzlich einen langen siblernen Faden, der von dem Baum bis zur Immortelle gezogen war. Vermittelst der Bereitwilligkeit des Schmetterlings hatte nämlich die Spinne ihr Schlappseil ziehen können, auf welchem sie nun gar viele Seiltänzerstückchen mit und ohne Bancierstange ausführen konnte. Eben machte sie den gefährlichen Luftsprung, als der zarte Faden plötzlich riss und die Immortelle zugleich herzlich lachend ihren Stengel schüttelte.

Von jeher bin ich ein großer Freund der Akrobaten gewesen. Erzürnt setzte ich die die Immortelle daher zur Rede, warum sie der kunstreichen Spinne den an ihrem Stengel befestigten Faden zerrissen hatte.

»Um mir die Langeweile zu vertreiben«, antwortete sie freimütig. »Wenn man schon seine sechstausend Jahre gelebt hat und nicht weiß, wann man sterben wird, so ist jedes Mittel gut, sich Zerstreuung zu verschaffen. — Übrigens hat sie Spinne ihr Schicksal wohl verdient; sie bringt ihre Tage damit zu, die Schmetterlinge durch große Versprechungen zu hintergehen, und bedient sich ihrer Flügel, was sie jedoch nie hindert, die Nachkommenschaft derselben bei der ersten Gelegenheit zu verzehren. Du kannst mir’s glauben, mein Freund, eine Immortelle hat Erfahrung«

Eine Rose in unserer Nähe schüttelte ihre Blätter und öffnete ihren Kelch; süßer Duft verbreitete sich ringsum.

»Meine Nachbarin macht Toilette«, fuhr die Immortelle wehmütig fort. »Um die Rückkehr des Frühlings zu feiern, geben die Blumen und die Früchte einen Ball, den der Gott versprochen hat, durch seine Gegenwart zu verherrlichen. Siehst Du nicht die Vorbereitungen zu dem glänzenden Feste? — Die Nelke schminkt sich und streut ein Bischen Puder in das Haar; die Riecherbse, geschniegelt und parfümiert, eilt schon nach dem Ballsaal; die Kaiserkrone schmückte ihre Stirn mit Smaragden; die Lilien prunkt mit ihrem Kragen von feinem Batist; die Stiefmütterchen ordnen ihren sammetnen Kopfputz. Der Franzapfel hat die Georgine für den ersten Contretanz engagiert; der Quittenapfel walzt mit der Erdbeere, und macht schon lange einer Anemone den Hof. Die Birne sorgt für die Erfrischungen, denn man muß immer eine Birne für den Duft haben. — Aber ach, während sie springen, tanzen, lachen, muß ich den Abend mit einem alten Kaktus zubringen, der mich mit seinen Geschichten langweilt.«

»Sie sind also nicht zu dem Balle eingeladen, gnädige Frau?«, fragte ich bescheiden.

»Eingeladen?«, erwiderte sie. — »Verbannt haben sie mich; die Wolfsrachen und die Granatzweige, welche Schildwache vor dem Ballsaal stehen, würden mir den Eintritt verwehren. Es ist jetzt ungefähr tausend Jahre her, daß ich versuchte, mich dort zu zeigen; da ich aber nach Patchouli roch, so zeigte man mir die Tür unter dem Vorwande, die Damen könnten diesen Parfüm nicht vertragen. — Nach solcher Beleidigung wollte ich sterben; aber es war unmöglich, denn nicht umsonst war ich eine Immortelle.«

»Aber wie sind Sie das geworden, meine Gnädigste; ich kenne nur den ewigen Juden, der ein gleiches Privilegium hat?«

»Meine Geschichte ist folgende. Die Welt war eben zweijährig. — Von dem Stamme eines wilden Feigenbaumes beschützt, hatte ich meine Schwestern der Strenge des Winters erliegen sehn, ohne daß es demselben möglich gewesen, mich zu erreichen. Der Frühling kehrte wieder und durchzog die Lüfte, einen Korb mit Blumen auf die Erde ausschüttend. Er war so lieb, so mild, daß ich ihn bat, mich vom Tode zu befreien. Meine Wünsche wurden erhört; aber um welchen Preis! Mein Leib magerte ab und dörrte aus; meine Düfte entwichen, ich verlor alle Jugend und alle Frische; ich ward eine alter Jungfer. — So sterbe ich nicht, aber ich bin immer alt. Ich habe keine Hoffnung mehr, als daß die Götter selbst, von meinem Elend gerührt, mir eines Tages den Tod senden …«

»Wenn die Königin der Blumen, die Rose, sich zu einem Feste begiebt, von ihrem glorreichen Gemahl, dem Oleander, begleitet, so umringen tausend Anbeter den von ihren Sklaven getragenen Palantin. — Alle Blumen eilen dem glücklichen Paare entgegen und bringen ihre Huldigungen dar. — Ich dagegen stehe allein und verlassen da; mein ganzer Hofstaat sind einige zynische Schnecken, die wie Diogenes ihre Tonne herbeirollen und Schutz zu meinen Füßen suchen. — Einem jungen Lilienstengel gab ich zu verstehen, daß ich ihn liebte; er entfernte sich mit Abscheu von mir und nannte mich die Totenblume. — Der Kaktus allein ist meine einzige Erholung in der Einsamkeit. — Aber, o Gott, was muss ich erblicken!«

Ich sah mich um und gewahrte den herausgeputzten Kaktus, der sich schläfrig nach dem Ballsaal, einem Treibhause begab. Jetzt begriff ich die Verzweiflung der Immortelle.

Der Klang der Instrumente drang bis zu uns. Eine Insektenbande — herumziehende Prager — spielten die neuesten Walzer, Galoppaden und Polkas; das Flageolet der Grillen mischte sich zu der Klarinette der Heuschrecken; die Scheiben des Gewächshauses klirrten taktmäßig von den Sprüngen der Tänzer.

»O Götter!«, rief die Immortelle, »da mich die ganze Welt verläßt, gewährt mir den Tod!« — In demselben Augenblicke tat sie einen Ruck, riß sich selbst aus dem Boden des Beetes heraus, fiel der Länge nach hin, und flüsterte mit erlöschender Stimme: »Endlich kann ich sterben!«

Seit diesem Tage ist ein Immortellenkranz von Papier das Emblem des Genius.

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Freitag, 4. November 2011

Buchregal-Führung (9): Neal Stephenson, Romane & Sachbücher

Eintrag No. 752 — Derzeit komme ich zu kaum etwas und bin darüberhinaus mit Herbstmüdigkeit und Blödheit geschlagen, weshalb es schmerzlich lange keinen Wochenrückblickeinträge mehr hier gab.

Heute aber wenigstens die neueste Folge meiner Buchregal-Besichtigung. Es geht weiter mit dem viertem Brett des 80-er Billie-Regals an der Ostwand meines Zimmers.

Gut die Hälfte der ersten Reihe wird von Neal Stephenson-Büchern dominiert. Bis auf »Interface« besitze ich alle englischsprachigen Ausgaben, von denen ich lediglich »Zodiac« noch nicht gelesen habe. Wer noch gar nichts von Stephenson kennt, dem sei zum einen sein schmales aber gehaltvolles Sachbuch über Betriebssystem- und Graphikoberflächenkultur »In the Beginning was the Command Line« empfohlen; von seinen Romanen halte ich »Diamond Age« für ein exzellentes Beispiel geistreicher und literarisch gelungener Science Fiction. Ansonsten ist es kein Geheimnis, dass für mich der dreibändige, gut 3000 Seiten starke »Barock-Zyklus« bis dato der Lektürehöhepunkt meines Lebens ist. — Den restlichen Platz nehmen Bücher ein, die wegen ihrer Höhe hier unterbracht sind, wie die englische, farbige Ausgabe von »House of Leaves« von Mark Z. Danielewski; »Seeing Further«, die von Bill Bryson herausgegebene Sammlung mit kulturgeschichtlichen Aufsätzen über die Royal Society (enthält Texte u.a. von Neal Stephenson, Margaret Atwood, Ian Steward und Richard Dawkins); »The Magic of Reality«, die wunderschöne Zusammenarbeit von Richard Dawkins (Text) und Dave McKean (Illustration); das kluge religionskritische »Breaking the Spell« von Daniel C. Dennett (glänzt dadurch, dass es weniger polemisch ist Dawkins bekannteres »The God Delusion«); den »DTV-Atlas Musik«; Wolfgang Reinhards feine historische Kulturanthropologie »Lebensformen Europas«; Jan Philipp Reemtsmas »Vertrauen und Gewalt«; die Digitale Bibliothek-Ausgabe von Karlheinz Deschners »Kriminalgeschichte des Christentums«; sowie »The Steampunk Bible« von Jeff Vandermeer und S. J. Chambers.

Auch in der zweiten Reihe finden sich viele Stephenson-Bücher, diesmal deutsche Ausgaben. Desweiteren ist eine Abteilung Insel-Taschenbuchausgaben untergebracht (die »Bekenntnisse« von Augustinus — »Know Thy Enemy!« —; Themenbände zu den Städten London, Florenz, Moskau und Paris; Anthologien zur antiken griechischen und römischen Welt, sowie eine deutsche Ausgabe der »Canterbury Tales« von Chaucer). An Romanen finden sich hier Karen Duves »Die entführte Prinzessin« und Seyfrieds »Hereo«, an Sachbüchern John Keegans »Die Kultur des Krieges«, Barbara Ehrenreichs Studie »Blutrituale« sowie zuletzt der Aufsatzband »Der Krieg der Geschlechter« von Camille Paglia.

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Drei Portraits: Alfred Bester, Christina Faust, Poppy Z. Brite

Eintrag No. 751 — Endlich dazu gekommen neue Autorenportraits für meine beiden Berliner Verlage feddich zu machen.

Alfred Bester für den nächsten Band der Sachbuchreihe »SF Personality« des Shayol Verlages. Alfred Bester

Christina Faust für den im Herbst bei Golkonda erscheinenden Roman »Triaden« (zusammen mit Poppy Z. Brite). Christina Faust

Poppy Z. Brite für den im Herbst bei Golkonda erscheinenden Roman »Triaden« (zusammen mit Christina Faust). Poppy Z. Brite

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