Kritikergedicht
(Eintrag No. 370; Gelegenheitsgedicht) — Gestern abend fiels mir aus dem Kopf.
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Ausbuh’n und preisen, loben und verreissen, kann ein Rezensent wenn er sich auskennt.
(Eintrag No. 370; Gelegenheitsgedicht) — Gestern abend fiels mir aus dem Kopf.
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Ausbuh’n und preisen, loben und verreissen, kann ein Rezensent wenn er sich auskennt.
(Eintrag No. 369; Alltag, Daddeln, Weltenbau) — Da hab ich nette helfende Freunde vor Ort (wie den Meister Gosseratz) die mir in ihrem Urlaub eine Playstation leihen, damit ich auch mal daddeln kann und was ist?: meine Uralt-Sony-Glotze kann das Teil gar nicht wiedergeben. Dafür bräuchte ich zum Auswählen des AV-Kanals die Original- (die bei meiner Frühneunzigerglotze fehlt) oder eine Universalfernbedienung.
Echt super. (Fiktive Tonne tret)
Naja. (Enttäuschungen sind die Freuden des hedonistischen Stoikers)
Wenigstens weiß ich jetzt, daß ich gut daran tat, keine PS2-Schnäppchenkäufe gemacht zu machen. Bin trotzdem ganz schon gefrustet.
Außerdem.
Seit einiger Zeit bekomme ich immer wieder mal Referrer vom »Br-igitt-Ä«-Gästebuch angezeigt, kann aber unregestriert nicht gucken, wer da auf was von mir wie und warum verlinkt.
Unheimlich.
Solle es möglich sein, daß ich hier in meiner Molochronik was geschrieben, geschskribbelt oder gedudelt habe, was »Brigitte«-Leserinnen (oder Leser) verlinkenswert finden. Ich hab ja immer noch nicht die Paranoia abschütteln können, die Referrers von »Riesenmaschine« bei mir zeitigten. (Obwohl, damit die Riesenmaschine nicht erschrickt: zwischen »Brigitte« {hust-röchel} und »Riesenmaschine« {respekt} liegt ein himmelweiter Unterschied. Referrers von ersterem machen mich grausen, von zweiteren bereiten mir Hirnsausen, da die »Riesenmaschine«-Leute ja soooo hipp und fähig und eloquent und zeitgeisty sind, und ich mir so gar nicht vorstellen kann, was DIE zu mir Linkenswertes fanden.)
FORTSETZUNG: Ein paar Tage versunken. Mein netter Nachbar, der manchmal mit Kumpeln im Hof RPGs spielt, hat mir seine Universalfernbedienung vermach, da er damit nix anfangen kann. Kurz: es funzt!!! Molo daddelt PS2 wie besessen bis zum 08. Mai.
Seit Sonntag rase ich also mit »Crazy Taxi« durch die Gegend. Lieblingsfahrer: der alte Gus. Ich schaff ca. 7000 $, das sind ca. 13 bis 25 Fahrgäste.
Wirklich göttlich, beeindruckend komplex, originell und spaßig aber finde ich »Cavis Canem Edit«. Da spielt man einen Pubertierenden in einem Eliteinternat (für schwierige, hoffnungslose Fälle) einer Kleinstadt.
Es geht ums Tyrannisieren von Mitschülern und Knutschen von Mädels, um Unterrichtsstunden, Prügelein & Boxen, BMX-Rennen & Streiche anzetteln (z.B. Feuerwerkskörper im Klo hochgehen lassen, Murmeln, Eier, Juckpulver werfen), Rasenmähen & Zeitungsaustragen, Panoramen fotographieren & verlohrene Hunde finden und vieles andere mehr. — Mal gucken, vielleicht schaff ichs ja, eine Art Rezension zu dem Spiel zu verfassen. Immerhin ist dieses Erzählen in spielerischen Möglichkeitsräumen eine feine Sache.
Und »Cavis Canem Edit« erzählt eine feine Geschichte über Kinder von fertigem Geld, und wirft einen z.T. wunderbaren bitter-lustigen Blick auf Schläger und Weicheier.
(Eintrag No. 368; Subversive Percussion) — Bei Freund David entdeckt (der’s bei »Titanic« entdeckt hat): ein wunderbares Stück Trommlerrevolution in Reihenhauswohnung.
(Eintrag No. 367; Portraits, Literatur, »Bibliothek von Babel«-Herausgeber) — Anläßlich meiner Begeisterung für die von der Büchergilde Gutenberg neuaufgelegte »Bibliothek von Babel« hier zwei Borges-Skribbels.
Ich weiß nicht mehr, wann ich den jungen Jorge Luis Borges geskribbelt habe…
…aber den alten Borges hab ich am 01. April ‘07 gezeichnet (nach einem Photo von Anatole Sadermann, in »Das TAZ-Buch«)
Eintrag No. 366
ERSTE FOLGE VON MOLOS WANDERUNGEN DURCH DER BÜCHERGILDE GUTENBERG
Hurrah, es tut sich etwas in Sachen Phantastik! Nein, ich meine nicht die Schwemme an Genre-(Jugend-)Phantastik, diesen (leider meistens) läppischen Franchisevehikeln, die mit Zauberlehrlingen und Drachenreitern als McHelden Konsumententreue an sich binden wollen. Ganz im Gegenteil: Ich bin sehr zufrieden, wie die Büchergilde Gutenberg mit ihrer Neuauflage der von Jorge Luis Borges zusammengestellten Anthologie-Reihe »Die Bibliothek von Babel« vorführt, daß man auch auf löbliche Weise auf den gegenwärtigen Phantastik-Hype aufspringen kann.[01]
Traut Euch ruhig, liebe Leser, und folgt mir auf meinem ersten Streifzug durch das Borges'sche ›Fantasyland‹ und lest…
NATÜRLICH, EINE ALTE HANDSCHRIFT (naja, ein Roman aus den frühen Achtzigern)
Den Lyriker, Essayisten und Erzähler Jorge Luis Borges (1899-1986) habe ich als Teen mittels der Lektüre von Umberto Ecos (1932) Roman »Der Name der Rose« (1980 / dt. 1982) entdeckt.
Eco hatte sich bereits in den 60ger- und 70ger-Jahren einen guten Ruf als gründlicher, streitbarer und gewitzter Intellektueller erschrieben. Einerseits trat er mit (nicht gerade immer leicht lesbaren, aber ungemein lehr- & aufschlussreichen) Fachbüchern zu Semiotik hervor (z.B. »Lector in fabula« und »Das Offene Kunstwerk«), andererseits brillierte er durch gewitzt-muntere und jedermensch zugängliche Essays und Kolumnen (z.B. »Sämtliche Glossen und Parodien«). Nicht zuletzt sorgten dann die politischen Wirren der Siebzigerjahre dafür, daß Eco 1978 den Wunsch entwickelte einen Mönch zu vergiften, und »Der Name der Rose« ist die Frucht dieser Mordlust.
Nun ist, wie ich zweifelsohne annehme, Eco ein großer Fan von Borges. Beide darf man als Edelfedern bezeichnen, doch beide pflegen (bzw. pflegten) auch eine Schwäche für Triviales, für Krimis und keck Phantastisches; beide also (für mich) meisterhafte Grenzüberschreiter, die es vorzüglich verstehen (bzw. verstanden) kurzweiliges Fabulieren köstlich mit inspirierender Gelehrsamkeit und philosophischen Kalorien zu vereinen.
Bei ›uns‹ begeisterten Genrelesern ist es nicht selten der Fall, daß sie die Bösewichter reizvoller finden als die Guten. So sind die liebenden Helden von Wilkie Collins »Die Frau in Weiß« fade Pappfiguren verglichen mit dem schillernden Count Fosco[02]. Die Möchtegernweltherrscher — ob Le Chiffre, Goldfinger oder Bloomfeld — der James Bond-Geschichten stellen, was Glamour und Faszinationskraft angeht, den Agentenhelden zumeist locker in den Schatten. Zumindest für einen Genrefreak wie mich ist es da keineswegs verwunderlich oder ungebührlich, wenn Eco seine Verehrung für Borges dadurch zum Ausdruck brachte, daß er Jorge Luis zum ›Vorbild‹ für den Strippenzieher der tödlichen Machenschaften seines mittelalterlichen Kriminal-Schauer-Schlüsselromans erwählte. Zwar sind mir keine Stellungnahmen von Borges zu Ecos »Der Name der Rose« bekannt, aber ich stelle mir gerne vor, daß der alte Borges seine stille Freude daran hatte, wie Eco ihn in der Figur des Jorge von Burgos liebevoll ›negativ portraitierte‹.
Immerhin: Wer möchte nicht gern der Dungeon-Master und alleinige Geheimnishüter eines mit Fallen gespickten Bibliotheksirrgartens sein, der stimmungsmäßig vielleicht noch am ehesten an die Kerkerphantasien von Piranesi erinnert (die ja tatsächlich dem genialen Filmarchitekten Dante Ferretti als Vorbild für die Bernd Eichinger-Produktion dienten)?
Und dieser (wie Borges selbst auch) blinde Fanatikergreis Jorge von Burgos ist ein zum Niederknien beeindruckend-schröcklicher Bösewicht. Bester Philosophen-Horror, wenn Jorge im Disput mit William von Baskerville das Lachen als teuflisch verdammt. Wunderbar die Volte, wenn Jorge störrisch auf die Deutungshoheit des kirchlichen Machtapperates beharrt[03]:
›Volte‹, weil Borges selbst eher (wenn schon denn schon) den fröhlicheren Strömungen eines anarchistischeren Katholizismus etwas abgewinnen konnte[04]:
Schon vor über zwanzig Jahren als Jugendlicher, war ich (wie heut noch) hin- und hergerissen zwischen Größenwahn und genau dieser Ratlosigkeit, und dank der Hinweise des Buches »Das Geheimnis der Rose entschlüsselt« (Klaus Ickert & Ursula Schick, Heyne 1986) als Kompass, fand ich damals eben bald schon zu meinen ersten Borges-Büchern. Und da ich mich sonst gern und heftig in die Pose des kritischen Lesers/Rezensenten werfe, der bei trostspendenden Literarturen verächtlich abwinkt, freu ich mich ausgleichend gestehen zu können, daß die ›Relevante Phantastik‹ eines Borges zu den wenigen Narrationen gehört, deren tröstende Töne ich gerne vernehme. Vergänglichkeit als Chance sehen, das ist der ganze Trick, so unheimlich er auch anmutet.
DIE GROSSE TRADITION DES DISREPEKTIERLICHEN
Allzu gerne erinnere ich immer wieder an den manchen wohl so gar nicht schmeckenden Umstand, daß Phantastik nicht weniger bezeichnet, denn alles Reden in Metaphern, Allegorien, Symbolen, Sprachbildern, Anwend- und Übertragbarkeiten, eben alles ›sehen machendes‹ und (vor dem inneren Auge) ›erscheinen lassendes‹ Schildern und Erzählen.
Aber Phantastik kann man auf viele verschiedene Arten betreiben. Das fängt im Kleinen und Alltäglichen mit solchen Metaphern wie »Schmetterlinge im Bauch« (fürs Solar Plexus-& Magenkribbeln beim Verliebtsein) oder »Das Glas ist halb voll / halb leer« (für optimistische / pessimistische Realitätstunnelperspektiven) an und geht im Großen und Weltbewegenden weiter, wenn politisch vom »vollen Boot« oder dem »Haus Europas« gebabbbelt wird, oder wenn die Wissenschaften uns mit neuen Fabeltier-Allegorien wie Schrödingers Katze, Pawolows Hund oder Hilberts Hotel die Kompliziertheit des Universums zu erklären trachten. (Und ja: ich mag die Vorstellung, ein Hotel als Fabeltier zu nehmen.)
Das einfache Alltags-Metaphernregister, mit dem wir der Innenwelt unserer Gedanken und Empfindungen Ausdruck verleihen, oder mit denen wir uns die schwer zu fassenden und beobachtbaren Vorgänge der Außenwelt gegenseitig erklären, hat sich schon vor langer Zeit hochverfeinert zu kleinen Erzählungsformen, die sich zuhauf bereits in den Versepen der Altvorderen, in heiligen Texten und Märchen finden lassen. Wie groß ist allein schon das Phantastik-Repertoir der Fabeln, mit ihren königlichen Löwen, kriegerischen Hunden, eitlen Pfauen, diebischen Raben, verschlagenen Füchsen, faulen Musikergrillen und fleissigen Arbeitsameisen. Alles menschliche Eigenschaften, die wir auf die Tiere übertragen, um auf unterhaltsame Weise z.B. moralische Lektionen weiterzugeben. Kaum Einwände vernehme ich, wenn respektable Erzphilosophen sich mit Phantastik behelfen, um ihre welterklärenden Gedanken auszubreiten, wie es der Initiator des ›Ideenkrieges um das Sein‹ Platon mit seinem berühmten Höhlengleichnis und dem nicht ganz so berühmten Sonnengleichnis tat.
Also immer gern her damit, wenn sich nun die Büchergilde Gutenberg mit Jorge Luis Borges einem der großen Phantasten des 20. Jahrhunderts annimmt, indem man von April 2007 bis April 2008 in 5 Staffeln die von Borges ausgewählten 30 Bände der »Bibliothek von Babel« endlich wieder für deutsche Leser zugänglich macht[05]. Ich konnte nicht umhin, den »Die Welt«-Autoren Henrik Werner mit meinem Literturwelt-Eintrag »Die vermeindliche Wirklichkeitsflucht« zu rügen, wenn er dieses mutige Unterfangen der Büchergilde gedankenschwach in einen Topf wirft mit dem oben angesprochenen McFantasy-Hype. Mit großer Freude aber las ich Thomas Klingenmaiers löblich verständnisvolle Jubelmeldung »Der Tod und weitere unseriöse Bekanntschaften« in der Stuttgarter Zeitung. Fast möcht ich meinen, daß Klingenmaier die beiden Schlußabsätze seines Artikels aus meinem Knochenmark abschrieb, so treffend, knapp und überzeugend klärt er die verzwickte Lage der Phantastik wenn es bei ihm heißt (Hervorhebungen von Molo):
Phantastik kann eben schnell langweilig und schal werden, wenn das Metaphernregister zur Formelhaftigkeit verkommt, sich aufdröseln läßt wie ein simples Zuordnungsspiel oder ein »Malen nach Zahlen«-Bild. Spannend, aber eben auch schwerer einzuordnen, ist aber Phantastik, bei der die Unmöglichkeiten sowohl für sich stehen, als auch einen Bezug zur tatsächlichen Wirklichkeit anklingen lassen.
»25. AUGUST 1983«
Zu Meister Borges selbst, von dem fünf Erzählungen im fünften Band (erste Staffel, April 2007) der »Bibliothek von Babel«-Anthoreihe geboten werden, nebst einem Vorwort von Martin Gregor-Dellin[06], einem Borges-Interview mit Maria Ester Vásquez und einer bio/bibliographischen Zeittafel.
Glücklich macht mich allein schon, daß die 30 Babelbände Lesern (mit Ausnahme einiger Novellen wie z.B Beckfords »Vathek«) ein abwechslungsreiches Potpourrie an Kurzgechichten aufspielt. Völlig zurecht jammert man ja kläglich darüber, daß es in den Mainstream-Printmedien fast gar keine Plattform mehr für Kurzprosa gibt, und daß sich diese Textform auch als Buch bei uns schwer tut.
Da kann ich mich nur verdutzt fragen: Warum eigentlich?
Immerhin eignen sich Kurzgeschichten wie kaum etwas als Unterwegs-, Zu-Bett-geh- und Zwischendurchlektüre, sie bieten stilistischen, strukturellen und perspektivischen Abwechslungsreichtum und anders als Romane, konzentrieren sie sich zumeist auf das zündende Aufblühen einer Idee. Wer hat schon allerweil Lust auf ganze Torten, wenn doch das Naschen verschiedener Pralinee- & Konfektstückchen ebenfalls höchste Genüße bereitet?
Gleich mit der ersten Geschichte der Auswahl, (von der die Antho-Reihe auch ihren Titel entliehen hat), »Die Bibliothek von Babel«[07] wird mit den eröffnenden Worten…
…eine riesige Phantastikbühne aufgefahren, ein Gedankenspiel, das so ähnlich allen bibliomanen lesenden Weltenwanderen vertraut sein dürfte. Ein namenloser Einwohner schildert uns das Leben in dieser Bibliothekswelt. Wie er als junger Mensch den Katalog aller Kataloge gesucht hat; daß es…
…und er erzählt von den verschiedenen, z.T. im Streit miteinander lebenden Fraktionen der Bibliothekare: den Mystikern, den Inquisitoren, den Lästerern, den Pietätslosen. Grob trau ich mich zusammenfassen, daß diese Geschichte eine stoisch anmutende Meditation ist, die unerschrocken über Phänomene wie Unendlichkeit, Variationsvielfalt, und die Rätsel von Raum und Zeit spricht. — Literarisch reizvoll ist diese Geschichte auch, weil Borges sich hierbei sozusagen als Fanfiction-Schreiber verhält, oder wie er selbst in einem Interview erklärt[08]:
Die zweite Geschichte, »25. August 1983« [09], zeigt nun, wozu sich Phantastik vorzüglich eignet: Borges fabuliert hier mit sich selbst als Protagonisten, mit Spengseln eines feinen zart-bitterem Humors aber durchaus ernst, über die sehr dunkle menschliche Erfahrung des Selbstmorders, bzw. des Selbstmordgedankenspiels. Ich will die Depression nicht verherrlichen, bin aber der Meinung, daß es zu den fundamentalen Aspekten des Lebens gehört, mit dem Gedanken zu flirten der eigenen Existenz ein Ende zu setzten. Immerhin sind wir alle der Sterblichkeit ausgeliefert, und gerade in der Zeit z.B. des Übergangs vom Jugendlichen zum Erwachsenen können erschreckende Vor- & Hinter-den-Kulissen-Erfahrungen mit der Schlechthinigkeit der (Menschen-)Welt dazu führen, daß man auf die Idee kommt, der Misrere des Ausgeliefertseins zum Leben mit eigener Gestaltungsmacht entgegenzuwirken. Borges inszeniert sich hier als Doppelgänger. Ein junger Borges begegnet in einem Hotel einem alten Borges, der sich selbst vergiftet hat, nun sterbend im Bett liegt und mit seinem jüngeren Ich plaudert. Ich finde es zum schmunzeln (aber auch unheimlich), wie die beiden sich gegenseitig ausloten, um herauszubekommen, wer sich da in wessen Traum verirrt hat, oder ob gar beide träumen. Auch wird offen über die Erfahrung des Ekels vor sich selbst gesprochen, wenn der junge Borges zum alten sagt:
Tja, mit sich selbst kann man langfristig wohl nur dann im Reinen bleiben, solange mensch sich als alte Person erträglich vorzustellen vermag.
Die kürzeste Erzählung der Auswahl, »Die Rose des Paracelsus«[10], führt nun den bekannten Renaissancegelehrten als Magier vor. Der hätte gerne einen Schüler, und es folgt eine seltsam-komisch schiefgelaufende Initiationsprüfung. Harry Potter-Fans aufgepasst: es geht um den Stein den Weisen, den der Schüler finden möchte, und von dem Paracelsus meint, daß der Weg zum Stein der Weisen bereits der Stein selbst ist. Außerdem kann man lernen, was man von einem Wunderwirker niemals verlangen darf.
»Blaue Tiger«[11] bietet eine passende Gelegenheit, meiner heftigen Begeisterung für die wunderschönen Titelaquarelle von Bernhard Jäger Platz eimzuräumen, sowie darüber, daß die Büchergilde diesen exzellenten Illustrator über die Herausforderung sprechen läßt, dreißig Bände Phantastik mit Umschlagszier zu versorgen. Und gerade dieser Band 5 mit den Borges-Erzählungen ist für Illustratoren keine leichte Sache, denn wie Jäger schön erklärt:
Auch ich hätte mich bei der gegebenen Auwahl für »Blaue Tiger« entschieden, denn hier legt Borges noch am ehesten sowas wie eine ›normale‹ Mystery-Abenteuergeschichte vor, wenn er Alexander Craigie, Prof. für abend- und morgenländische Logik in Lahor, berichten läßt von seiner Queste nach dem Blauen Tiger im Ganghes-Delta. Klassischer Abenteuer- & Phantastik-›Trash‹ geht noch ab, wenn der Europäer auf einen Dschungelstamm abrgläubisch raunender Geheimnisträger trifft; der Borges'sche Sonderpowerboost aber zündet, wenn Craigie statt des gewünschten Tigers rätselhafte blaue Kieselsteine findet, die sich gänzlich unerhört verhalten, auf eine Weise, die vor allem mathematisch angehauchten Gemüthern richtiggehend Lovecraft'schen Kosmischen Schrecken einjagen dürfte. Der Protag aber entpuppt sich als echter Jedivorläufer, da er einen ungewöhnlichen gewaltfreien Weg findet, sich vom Wahnsinn der Steine zu befreien. Da schimmern dann doch die sozialistisch-kommunistischen Wallungen durch, die den jungen Borges durchwallt haben mögen, und von denen er sich einst befreit zu haben glaubte, als er zwei entsprechend tendentiöse Frühwerke vernichtete, ehe er nach einem längeren Europaaufenthalt nach Südamerika zurückkehrte.
Die letzte Geschichte ist die beunruhigende, aber (wie immer bei Borges) mit scheinbar müheloser Elegenaz ausgebreitete Traumdystopie »Utopie eines müden Mannes«[12]. In dieser Geschichte tritt Eudoro Acevedo auf, ein mittlerweile steinalter Prof. für englische und amerikanische Literatur, der selbst Phantastik schreibt, und sich (ohne daß dies große erklärt wird) in einer öden fernen Zukunft der Erde wiederfindet, und sich mit einem der dortigen Bewohner unterhält. Da gibts freche Rempeleien gegen religiöse Scholastenphantastik (…
…) und vermittels einer Platzierung des Namens Adolf Hitler kurz vor Schluß, dämmert wohl auch dem letzten Leser, was für eine düstere Gesellschaftskritik das Geplauder der Erzählung birgt.
Einen munteren und interessanten Blick auf Borges gewährt das abschließende Interview des Autoren mit Maria Esther Vasquez (das leider keine Jahres & Quellenangabe hat, aber ich vermute, daß dieses Gespräch zum Ersterscheinen der Anthoreihe 1973 entstande ist). Borges erzählt über seine frühen Jahre, seine Jugendzeit in Europa, seinen Blick auf das eigene Werk, seine immer wiederkehrenden Themen (Labyrinth, Spiegel, Vielfalt des Ichs, wiederkehrende Zyklen, Tiger, Messer- und Mut-Sekte, Buenos Aires, Säbel), über Politik, Ehrungen & Vorlieben, nordische Sprachen, Leben, eigene Fehler & Tugenden sowie Musik, Malerei & Tod. — Da vergnüg ich mich freilich, wenn Borges und ich ein wenig Geschmack gemein haben, und er freimütig über das Gekleckse eines El Greco lästert, oder Johannes Brahms als einen ihn berührenden Komponisten lobt.
Resummee: ich bin mehr als glücklich über die Großunternehmung der Büchergilde Gutenberg, uns diesen Schatz der ›literarischen Phanatstik‹ neuauflegt wieder zugänglich zu machen (kann man auch als Nicht-Büchergildenmitflied in der Edition Büchergilde erstehen; einzeln oder auch mit ermäßgten Staffelpreisen). Ich gebe zu: man braucht für die ganzen 30 Bände schon einen bessertrainierten Geldbörsenmuskel. Aber für was gibts Feiertags- und Geburtstagsschenkerei?! Diese 30 Bände sind eine Anschaffung fürs Leben.
Ich begebe mich weiter mit Major Grubert-Hut auf Exkursion in die Babelgefilde, verabschiede mich für jetzt, bevor meine Weiterlesetips zum Thema ›Borges-artige moderne Phantastik‹ beginnt, und danke allen, die so ausdauernd meiner Schreibe zu folgen Freude bereitet hat, und hoffe, daß mein Geschmack vielleicht als willkommene Orietierung in Sachen ›Qualitäts-Phantastik‹ dienen konnte.
Bis zur nächsten (zweiten) Folge meiner Babel-Reihe, etwa Mitte Juno
Euer Molosovsky / Alex
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Im Lauf der Zeit bin ich immer wieder auf phantastische Lektüren gestoßen, in denen ich entweder vermeinte, den Einfluß von Borges zu spüren, oder die (Zufall) eine sehr Borges-ähnliche Athmosphäre und Stimmung vermitteln. Viele, ach allzuviele Werke könnte ich anführen, denn das postmoderne erzählerische Spiel mit Mythen, fingierten Artefakten und Schriften aus erdachen Welten und andere Eigentümlichkeiten des Werkes von J. L. Borges lassen sich (zumindest für mich) zuhauf finden. Weiter weg vom Gebiet des guten Geschmacks, aber deshalb nicht minder respektabel spekulativ, ist da z.B. so ein SF-Mystik-Horror-Thriller wie »Cube«, oder auch der düster stimmungsvolle »Dark City«. Aber von Filmen sei hier nicht die Rede. Hier aber eine kleine Übersicht meiner entsprechenden literarischen Favoriten.
Kann sein, daß HelK die Hände überm Kopf zusammenschlägt wenn ich ihn derart mit Borges verknüpfe, und/oder aufgrund meiner flappsigen Lesart als exzellenten Phantasten preise. Aber für mich als Leser sind die thematischen Ähnlichkeiten kaum zu übersehen.
»Denotation Babel« empfehle ich besonders allen, denen z.B. solche dunklen und überernsten Mythos-Werke wie »The Waste Lands« von T.S. Eliot zu steif und humorlos sind.
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ANMERKUNGEN:
Arno bringt hier etwas auf den Punkt, daß nicht nur für den Viktorianischen Roman, sondern (da diese Epoche den heutigen Publikumsroman bis heute stark prägt) auch für viele viele Mainstream-Narrationen immer noch gilt. Jüngstes mir genehmes Blockbusterbeispiel gibt da die »Piraten der Karibik«-Trio ab. Keira Kneightly und Orlando Bloom geben die sich anhimmelnden Lämmerlein treffend, und bleiben doch für mich nebensächliche flache Figuren, da die eigentlich interessanten Helden die zwielichtigen, irren und monstösen Figuren sind wie Jack Sparrow, Davy Jones, Barbosa & Co. ••• Zurück
(Eintrag No. 365; Gesellschaft) — Da ich heute eh schon schlechte Laune hab, kann ich gleich mal ein paar Illusionen treten.
Viele Menschen regen sich wegen Ballerspielen auf und paniken herum wegen Amokläufern. Grad eben schnapp ich bei der »Die Welt« ne Zahl zu den Straßenverkehrstoten 2005 in Deutschland auf.
5361 Tote geteilt durch 365 Tage = durchschnittlich 14,68 (aufgerundet also 15) Tote im Straßenverkehr pro Tag.
Es müßte also alle zwei Tage ein Amokläufer 30 Leut umnieten, damit Amokläufer mit Autobarbaren mithalten können.
Wie groß ist das Geschrei wegen Killerspielen? Groß. Wie groß ist das Geschrei wegen Rennfahrsimulationen? Welches Geschrei?
(Eintrag No. 364; Alltag) — Noch zwei Wochen, bis ich einen 400 €-Aufsichtsjob anfang. Da ich ALG-2 beziehe, bleiben mir von den 400 ca. 150/160 übrig; davon geht dann wieder erstmal ca. 50 € weg für die Fahrkarte, damit ich zur Arbeit komm.
Zudem hab ich erstmal 100 € Schulden machen dürfen, für ein neues Paar schwarze Halbschuhe (weil alle meine anderen Schuhe zu klobig {Doc-Stiefel} oder zu ranzig sind).
Aussicht auf Teilzeit/Vollzeit? Eher nicht. Stundenlohn: keine 7 €, was ca. 56 Stunden im Monat für die 400 € entspricht. Das sind ca. 56 Stunden weniger Zeit zum lesen, schreiben, zeichnen. Hoffentlich erfüllt sich der Mutmachspruch des 3-monatigen Bewerbungstrainings: dass ich über den Job irgendwie neue Kontakte knüpfen kann, und ›weiterkomme‹.
Himmelwärts guck und zeter: »Weshalb bin ich zu doof, mit dem, was ich kann auch Geld zu verdienen!!!« (Weil, wenn Du erlich bist lieber Alex, Du eben das was Du zu können glaubst, nicht wirklich gut, schnell genug kannst, um damit Geld zu verdienen. Siehe Deine lächerlichen Icon-Design-Versuche, Deine ›ganz netten‹ Texte {vom Schreiben leben… PRUHAHA! dafür brauchst Du Legastheniker schlicht zu lange für einen halbwegs abgebbaren Text}.
Vielleicht sollte ich schlicht mal von Frankfurt nach Berlin ziehen (auch wenn ich in Berlin nach kurzer Zeit Ausschlag bekomme). Angeblich braucht man dort ja nicht erwachsen werden, weil alles so billig ist, und sich schnell und genug ›irgendwie-schwarz‹ was verdienen läßt. — DAS ist ja auch das peinliche: ich finde ja nicht mal Schwarzarbeit!
Naja, die ersten Schritte raus aus der Kacke der Erwerbslosigkeit sind immer noch Schritte in der Kacke. Das ist mir schon klar. Trotzdem: diesertage zieht mich das heftigst runter. Zwecks selber-Mut-machen kritzel ich so zwanghaft optimistische Skribbels.
(Eintrag No. 363; Alltag, Comics) — Endlich ist es so weit: zwei Portrait-Aufträge habe ich mir vergelten lassen mit den mir noch gefehlt habenden letzten beiden Sammelbänden des phantastischen Großcomcis »Cerebus« von Dave Sim & Gerhard.
Jetzt kann ich mich endlich zurücklehnen und die ca. 6000 Seiten dieses meisterhaften, sau-komischen, provokativen Comics am Stück lesen (und über meine Lektüre werde ich hier berichten … geplant ist, ein Molochronikeintrag zu jedem der 16 Sammelbände).
Zuletzt berichtete ja (der für Comics und Phantastik lobenswert aufgeschlossene) Andreas Platthaus in der FAZaS vom 10. Dez. 2006 über seinen Hausbesuch bei Dave Sim.
Zur Vollendung von »Cerebus« hat dereinst im April 2004 der immer überraschend exzellende Dietmar Dath eine ganze Seite FAZ füllen dürfen, worüber ich freilich abjubeln musste.
Hier bei »Cerebus the Aardvark« kann man sich einen schnellen Überblick über das Gigantocomics verschaffen (und Schreibtischhintergrundbilder gucken); und ein eigenes, ergiebiges Fan-Wiki zum Barbaren-Schwein gibts auch.
(Eintrag No. 362; Melomanie) — Das erste Mal: kein sich reinsteigerndes Loopstück, sondern ein leicht volkmusik-alpenländisches Stück mit einem durchgehenden Melodiebogen. Auch hab ich einen neuen Trick mit dem Bass angewandt und Tubatute mit (wie ich finde) authentisch schlampigen Habitus. Jetzt brauch ich nur noch Lyriks und jemanden, der auf bayerisch wie Tom Waits klingt, feddich wäre meine Homage an solche Platten wie »Alice«.
Entschuldigt das abgeschnittene Ende. (Ich übe ja noch mit diesem Garageband-Programm.)
MoloMundMukke No. 5 / MoloMouthMusique No. 5 Länge: 0:50 min / Format: mp3/Qicktime — © by Molosovsky
(Eintrag No. 361; Melomanie) — Weiteres aus meinem kleinen Tröt- und Dudelstudio.
MoloMundMukke No. 4 / MoloMouthMusique No. 4 Länge: 0:42 min / Format: mp3/Quicktime — © by Molosovsky
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