Wahnwellenversprengtes Denken aufgrund Melange aus literarischer Inkompentenz und mieser Profilierungspraxis
(Gesellschaft, Alltag, Literatur) - Was sich hier bei mir zuhause abspielt ist bald nicht mehr in Worte zu fassen. Meine Partnerin Andrea sieht sich den heftigsten Anwürfen des neuen AStA der Uni Frankfurt ausgesetzt, weil das Kulturzentrum bei dem sie mitmacht, eine »Endstufe«-Lesung mit Thor Kunkel veranstaltet hat. Zu den neusten Entwicklung (nach Verhören durch die paranoiden hyperantifaschistischen Banausen, und geifernden Denunziationen in der jünsten AStA-Zeitung, April 2004, S. 18/19†) kommt nun das offizielle Aus: das Kulturzentrum gilt laut AStA als nicht mehr förderungswürdig, Mittel und Räume ab sofort gekappt.
{† Ich würd ja gerne auf diese AStA-Zeitung linken, aber die kommen mit dem Webseitepflegen nicht nach vor Antifaschismus.}
In »fear & loathing in ffm« und »Meine schärften Kritiker« berichtet Andrea; Verweise auf Reaktionen in den Medien finden sich bei ihr hier: »update«.
Einen umfassenden Überblick vermittelt »Hexenjagd in Frankfurt«, der erste von zwei Artiklen zu den Vorgängen, geschrieben von Chuzpe.
Mich nimmt das alles naturgemäß auch ganz schön mit, der ich mich bemühe Andrea beizustehen, so gut ich es vermag. Schlecht schlafen und Nervenbröckeln bei Andrea sind die Auswirkungen von derart harter idelogischer Null-Toleranz, und da ich selbst einen Hang zur Polemik habe, gemahnt mich das selbstverblendete Bellen des AStA, selbst besser zu zielen, bevor ich meine Meinungen in den Raum stelle, und entsprechend klar meine Absende-Position zu klären.
Zur Einstimmung erstmal ein Zitat aus Norbert Bolz feinem Spiegel-Online-Essay »Warum Denken unmodern ist«:
»Im Skandalkonsum goutiert das Publikum die soziale Lust des Moralischseins.«
Das gilt natürlich verstärkt für jene, die sich ihre Lustkicks durch Tadeln verschaffen. Was für eine kreuzreaktionäre, denkfeindliche und sich dabei unangenehm expressiv gebärdende Autoerotik. Ein Gutteil der Frankfurter Antifa-Fundamentalisten ist sich anscheinend in ihrer jugendlichen Begeisterung nicht im Klaren darüber, daß sie gegenüber Kunkel und dem Kulturzentrum jene Art von Ausgrenzungs- und Vernichtungsrethorik betreiben, die sie selbst bei ihren Gegnern als Faschismus diagnostizieren. Eigenprofilaufbau durch Niedermachen des Gegners. Nur noch als Realsatiere optimistisch zu bezeichnen, lassen sich die Handlungen und Äußerungen des derzeitigen AStA kaum anders deuten, als daß es dem AStA um Macht und nicht um Kultur geht. Peinlich obendrein dabei, daß es sich dabei um einen Kreis von Leuten handelt, die sich blind auf die Medienberichterstattung verlassen haben - obwohl sie solche gutbenamsten neuen Referate für kritische Wissenschaft ins Leben gerufen haben. Sie - Alexander Witzig und Sirwa Kader - vertrauen dabei wohl blind dem, was zum Beispiel der berüchtigte Tilman Jens via Kulturzeit verbreitet hat, oder was Trittbrettdenker dem apostelhaften Dennunziator Herrn Broder nachplapperten. Das Buch »Endstufe«, um das es geht, haben die guten Kreuzritterknappen vom AStA aber wohl kaum gelesen und so sie es lasen, entblößen ihre Reaktionen eine flächendeckende Unfertigkeit im Umgang mit Literatur. Hätten sie nämlich auch nur rudimentäre Leserkompetenz, dann würden sie jubeln ob der vielen Inspirationen, die »Endstufe« einem zeitgenössischen Antifaschisten bieten kann. »Genau so isses«, würden sie sich bei der Lektüre denken.
Dabei ist mir die heftig ungestüme Leidenschaft des neuen AStA im Grunde sympatisch, denn in diesem »Den Faschisten keinen Meter«-Pathos erkenne ich meine eigene wilde Tweenzeit wieder, als ich mich in Wien in ziiiiiemlich linken Kreisen bewegte. Es schmerzt mich deshalb fast körperlich als Randzeuge zu erleben, wie prinzipiell löbliche Antifaschismus-Ambitionen - durch den AStA Frankfurt - auf ästhetisch verkümmerten Geröll errichtet und nur mit kümmerlicher intellektueller und moralischer Aufrichtigkeit umgesetzt werden. Gut formulierte und fundierte Kritik an den Mißständen unserer Zeit und Zivilisation werden allseits herbeigesehnt. So aber trägt das Team des AStA nur zum weiteren Auseinanderklaffen des Grabens zwischen den Diskutierenden und den Polemisierenden bei, und dieser Graben ist hierzulande - GOttseisgeklagt - schon groß genug.
Weil es viel besser formuliert ist alles, was ich sonst noch analytisch daherfaseln könnte, hier ein Zitat, daß zu dem AStA-Wirrwarr paßt, aus meiner derzeitigen Großlektüre »Sphären« von Peter Sloterdijk; Band 2: »Globen - Markosphärolgie«, Kapitel 7 »Wie durch das reine Medium die Sphärenmitte in die Ferne wirkt - Zur Metaphysik der Telekommunikation« {mit meinen Anmerkungen in eckigen Klammern}:
»Für die Parteigänger der ersten Worte, seien sie von Göttern, Königen oder Genies {oder politisch-ideologischen Zampanos von Der Spiegel oder der eigenen Uni-Gruppe} gesprochen, ist von Übel, was dazu beiträgt, das Zwischenreich des Kommentars aufzublähen, und böse, was darauf ausgeht, den Interpreten oder Experten für zweite Worte an die Macht zu bringen. … wenn die Exegeten frech werden und offen behaupten, es gebe in Wahrheit kein Original, sondern nur Visionen, die alle irgendwie gleich legetim wären: Dann ist für die Verfechter der ersten Zeichen der Ernstfall eingetreten, und der Augenblick gekommen, in dem der zornige Zeichendiener die narzistischen Zwischenhändler aus dem Tempel vertreiben muß.«
Seit ich von der empörten Ablehnung von »Endstufe«, der Lesung und des Kulturzentrums durch den AStA erfahren habe, beschäftigt mich die Frage, was die ästhetische (literarische) Bildung oder Theoriegrundlage der Kunkel-Verdammung durch den AStA (und das Referat für kritische Wissenschaften) bildet. Die einzelnen linken Gruppen der amtierenden AStA-Koalition liefern schon mal erstaunlich wenig Material zur Beantwortung dieser Frage. Soweit ich einschätzen kann, ist das Institut für vergleichende Irrelevanz (womöglich die lokale Spielwiese für die vermeitlichen Ideologieheroen) noch am ehesten ein Fundort. Dort zumindest finde ich in einem Positionspapier Hinweise auf einen exemplarischen Wahn, der das unfruchtbare Verhältnis der engagegiertesten Linken zur Kultur allgemein kennzeichnet.
»Ein zentrales Moment innerhalb von Kunst und Kultur ist das dialektische Verhältnis von Produktion und Rezeption, das durch das Form-Inhalt-Verhältnis vermittelt ist. Dieses Verhältnis ist notwendigerweise immer mehrfach gebrochen. Da es nicht möglich scheint sich ausserhalb dieses referenten Modells zu begeben, muss nun versucht werden ohne Krampf die Sphären von Produktion und Rezeption miteinander so zu vermitteln, dass sie theoretisch in eins fallen.«
Auch ich als Wohlstandskind der Siebziger kenne diese belebende Sehnsucht nach einem friedlich-innovativen Ineinander von Fakt- und Geistes-Welt. Man hätte gerne wieder so eine große, alles umfassende Welterklärungskuppel, in der Zweifel und Paradoxien sich angenehm auflösen oder einverleiben lassen. Schade um viele interessante Ideen und schmissige Formulierungen in dem Positionspapier, wenn es auf so eine Art von gestaltlos naiver Religiösität hinausläuft. Diese Mädels und Jungs hätten vor einigen Jahrhunderten - womöglich?, wahrscheinlich! - enthusiastisch bei jedem apokalyptischen Missionsfeldzug mitgemacht, und sich bei der Wahnsause eines König der letzten Tage ausgetobt.
Tröstlich stimmt mich trotz allem, daß sich im heutigen Medienzeitalter solchart Verwirrte nicht mehr so einfach zu militärisch relevanten Horden zusammenfinden und zur gewaltsamen Eroberung gesellschafts-taktische Stellung (einst Münster, jetzt Uniparlament Frankfurt) mobilisieren lassen. Der jetztige AStA ist eine (inzwischen wohl) verzweifelte Notgemeinschaft von extremistischen aber unerfahrenen Aspiranten einer politischen Korrektheit. Kaum haben sie den erspähten weißen Wal zum Abschuß freigegeben, rächt sich ihre Unkenntnis davon, daß alle Facetten des Korrektheits-Zeitgeistes ein Ringen um das richtige manierliche Benehmen widerspiegeln.
Es geht auch anders. Hier eine Erwiderung von Thor Kunkel auf seine Kritiker, erschienen im aktuellen Volltext, einem österreichischen Literatur-Monatsblatt. In der vergangenen Ausgabe hat ein Krikter den Roman noch verrissen, jetzt lassen die Volltext-Leute den Autor zu Wort kommen. Das nenne ich vorbildliches Diskursverhalten. Ein Hoch auf die Volltext-Redaktion, und pfui pfui pfui dem Frankfurter Panik-Asta.
Desweiteren lesenswert die Rezensionen zu »Endstufe« von
• Willhelm Hindemith für den SWR2
• Schümer & Dorn im Büchertalk
• und Alban Nicolai Herbst.
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Weitere Molochronik-Einträge zu Thor Kunkel und seinem Roman »Endstufe«:
• Die Welt durch die Brille von Kultur-Gonzos: Die Nazi-Mädels vom Kulturzentrum der Universität Frankfurt
• Hitler-Geburtstag als Journaillien-Fetisch
• Skibbel für Thor Kunkel
• Verlag mag nicht
Deutsche Gegenwartsliteratur
(Alltag) - Habe einen Kommentar platzieren müssen, in einer interessanten Diskussion in Andreas Reisenotizen.
Richtig gute SF — Neal Stephenson: »The Diamond Age«
Eintrag No. 96 — Zu der Frage, was gute SF sei, habe ich im SF-Netzwerk einige Beiträge geschrieben (hier ein Link zu meiner ersten Meldung dort).
Neal Stephenson bietet für meinen Geschmack mit »The Diamond Age« ein feines Beispiel für gute Science-Fiction an. Auf Englisch habe ich den Roman vor einigen Jahren mal angefangen, bin aber durch einen Umzug unterbrochen worden. Vor Kurzem habe ich die hiesige Taschenbuchausgabe aus dem Ramsch gezogen und nutzte die Gelegenheit, das Buch bilingual fertig zu lesen.
Zur Handlung:
Die Welt nach der nanotechnologischen Wende irgendwann gegen Ende des 21. Jahrhunderts. Die Handlung spielt größtenteils in Shanghai, Nebenschauplätze sind Vancouver, Californien, London. Erste Stärke für mich dabei: keine genaue Festlegung des Datums der Handlung, oder der vorausgegangenen fiktiven zukünftigen historischen Weltereignisse.
Da ist die Handlung um Hackworth, genialer Artifex der Nanotechnik, Angehöriger der Viktorianer (einer der mächtigsten Stämme, Clans, Gruppen, oder wie immer man die nicht-territorialen Patchwort-Staaten nennen mag; andere sind die Küstenrepubliken, das Himmlische Königreich und viele mehr). Für den Dividenden-Lord Finkle-McGraw entwirft und fertigt er das Original der »Fibel für junge Damen«, ein Wunderwerk der Kombination von Buch, Nanotechnik, Pädagoge, Künstlicher Intelligenz. Hackworth fertigt mit Hilfe des mysteriösen Dr. X. eine illegle Kopie der Fibel an, wird auf dem Heimweg überfallen und die Kopie landet bei der kleinen Nell.
Nell ist die Heldin des Buches im Doppelsinn: einmal als Primärprotagonistin, deren Leben »The Diamond Age« über circa 20 Jahre begleitet, und innerhalb der Geschichte als Schülerin der sie erziehenden und beschützenden Fibel. Stephenson schwingt sich zu iconographischen Höhenflügen auf, die man nur noch mit der christlichen oder superheldencomicartigen Bildsphäre vergleichen kann (Nell als Heilige, als erste weibliche große erfolgreiche Revolutionsgestalt der Geschichte als Ende von Kapitel 72). Die vierjährige Nell stammt aus den den unteren Sozialstrata der Zukunftsgesellschaft, lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter, und wird von der Fibel regelrecht errettet.
Das Buch geizt nicht mit Nebenfiguren, die für meinen Geschmack sehr gut und anschaulich (lebendig) geschildert sind. So die Cyber-Schauspielerin Miranda die der Fibel die echte menschliche Stimme verleiht und zu einer niegesehenen Mutter für Nell wird, und ihr Boss Carl Hollywood; oder Richter Fang von den Küstenrepubliken, seine Beziehung zu dem Bösewicht Dr. X., aus dem Himmlischen Königreich und seine Ermittlungen … um nur einige der wichtigen interessanten Figuren zu nennen, deren Handlungen alle irgendwie mit dem Schicksal von Nell und ihrer Fibel zusammenhängen.
Der Schluß, also die letzten 50 Seiten sind ein Wahnsinn. Der große Schlußakkord an Aktion und Ineinander der Motive erfolgt wirklich auf den letzten Zeilen … mir fällt als vergleichbar lediglich das Ende von Helmut Kraussers »Melodien« oder John Irvings »Owen Meany« ein.
Struktur und Summa:
Das Buch teil sich in zwei Hälften. Die Kapitel sind in der Regel kurz gehalten, so daß es auf den 575 Seiten 74 davon gibt, jedes mit einer notizhaften Inhaltsangabe überschrieben (schöne Referenz an Tradition, siehe alte Bücher). Stephenson schreibt weitestgehend elegant, nur manchmal war mir das clevere Erklärungsgeklimper zu den zugestanden originellen Technikvisionen zu lang … aber ich habs halt nicht so mit Haarkleinbeschreibungen von Technik in Romanen. Aufgefallen ist mir, daß mich in der zweiten Hälfte des Buches kaum noch etwas was den Figuren widerfährt so gefesselt hat, wie in der ersten Hälfte. Spätestens im letzten Drittel übernimmt mehr und mehr die Spannung, wie die vielen einzelnen Fäden des Buches zusammenfinden. Das ähnelt im Guten (Suspense) wie im Schlechten (Sterilität) dem Eindruck, wenn man ein Uhrwerk oder eine Automate beobachtet … anders gesagt: die Programm-Natur, die aller Kunst innewohnt, tritt markant hervor. Das hat mich nur einmal (in der zweiten Hälfte) bei Passagen über die finsternsten Aspekte von Nells Leben gestört. Nell wird von Aufständischen als Spaßsklavin gehalten, sexuell mißbraucht (wie schon in ihrer Kindheit) und mehrfach vergewaltigt - für meinen Geschmack bedient sich Stephenson hier ca. 2 Seiten lang einen zu aseptischen Ton (Kapitel 72, Seite 542). Ist aber heikle Kiste, ich will darüber nicht richten müssen.
Der große Aufhäger von »Diamond Age«, der radikale weltweite Strukturwandel durch die fruchtbare Anwendung von Nanotechnologie in allen erdenklichen Lebens- und Gesellschaftsbelangen, von Energiegewinnung, über Güter-Produktion und Konsumtion, Kommunikation und Informationsverarbeitung ist gut druchdacht. Mir symphatisch dabei, daß Stephenson trotz der vielen extrapolierten Details uns nix vorjubeln will, wie toll das alles doch ist. In seiner facettenreichen Technik-Utopie versteht er es zum Beispiel, das glitzende Zukunftsglück und die faszinierenden Gadgets seiner Welt mit menschlichen Alltagsmiseren und sozialem Elend zu konstrastieren, und sozusagen nebenbei einige der ewigen Menschenprobleme zu behandeln.
Nach »The Diamond Age« vertraue ich Stephenson soweit, daß ich mir »Quicksilver« besorgt habe und mich dort inzwischen hochvergnügt auf Seite 200 tummle. Stephenson hat für ein weinig Irritation sowohl bei SF-Fans als auch im Feuilliton (damit meine ich die nicht nur auf Deutschland beschränkte etablierte allgemeine Literaturkritik) gesorgt, als er ankündigte einen dreiteiligen dickbuchigen Zyklus über die Epoche des Barock zu schreiben, mit Newton, Peyps, Leibnitz und anderen historischen Persönlchkeiten als Romanfiguren, sowie einem Vorfahren des Helden Waterhouse aus »Cryptonomicon« (auch schon keine richtige SF mehr). Das alles begrüße ich als Weg eines Schriftstellers, der sich von Genre-Grenzen oder anderen Betrachtungsschubladen in seinem erzählerischen Fortgang nicht irritieren läßt und seinem Thema in der jeweils besten Umgebung nachgeht … ein Vermittler zwischen verschiedenen Traditionen der Literatur, hochgebildeter Kenner vieler Wissensgebiete und besorgter Beobachter der Zeitläufte. All diese allgemeinen Qualitäten von Stephenson bietet auch »The Diamond Age«. Kann man mehr von einem Buch verlangen?
SPOILER WARNUNG: Wer den Roman noch nicht gelesen hat, möchte diesen Beitrag bitte vorsichtig lesen, ich verrate viel vom Inhalt, was einem die Freud am Buch verderben könnte.
Auszüge und Anmerkungen:
Meine persönlichen Anmerkungen stehen in {geschwungenen} Klammern.
Wohl eine der deutlichsten Reflektion über Form und Stil im Buch findet sich auf
Seite 87: Hackworth hatte sich die Mühe gemacht, einige chinesische Schriftzeichen zu lernen und sich mit den Grundprinzipien der fremden Denkweise vertraut zu machen, aber im großen und ganzen hatte er seine Transzendenz lieber unverhohlen und bloßliegend, so daß er sie im Auge behalten konnte — beispielsweise in einem hübschen Schaukasten aus Glas —, und nicht in den Stoff des Lebens eingewoben wie Goldfäden in Brokat.
Über Öffentlichkeit, Politik und Moral:
Seite 223: »Wissen Sie, als ich ein junger Mann war, galt Scheinheiligkeit als schlimmstes aller Laster«, sagte Finkle-McGraw. »Das lag einzig und allein am moralischen Relativismus. Sehen Sie, in jenem Klima stand es einem nicht zu, andere zu kritisieren - immerhin, wenn es kein absolutes Richtig oder Falsch gibt, welche Basis gäbe es dann für Kritik?« {…}
Seite 224: »Nun, das führte zu einer Menge allgemeiner Frusttration, denn die Menschen sond von Natur aus tadelsüchtig und lieben nichts mehr, als die Unzulänglichkeiten anderer zu kritisieren. Aus diesem Grund stürzten sie sich auf die Scheinheiligkeit und erhoben sie von einer läßlichen Sunde in den Rang der Königin aller Laster. Denn, sehen Sie, selbst es kein Richtig oder Falsch gibt, kann man Gründe finden, einen anderen Menschen zu kritisieren, indem man vergleicht, was er sagt und wie er tatsächlich handelt. In diesem Falle maßt man sich kein Urteil darüber an, ob seine Ansichten oder die Moral seines Verhaltens richtig oder falsch sind — man weißt lediglich darauf hin, daß er etwas predigt, aber etwas anderes tut. In meiner Jugendzeit lief pralktisch der gesamte politische Diskurs darauf hinaus, die Scheinheiligkeit auszurotten.« {…}
Seite 225: »Weil sie scheinheilig waren … wurden die Viktorianer Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts verachtet. Selbstverständlich hatten sich viele Leute, die diesen Standpunkt teilten, selbst des schändlichsten Verhaltens schuldig gemacht, und doch sahen sie kein Paradoxon in ihren Ansichten, da sie selbst nicht scheinheilig waren — sie erhoben keine moralischen Maßstäbe und lebten nach keinen.« / »Demnach waren sie den Viktorianern moralisch überlegen … obwohl — besser gesagt, weil — sie gar keine Moral hatten.«
Tja, welche Lehre läßt sich ziehen aus der Erkenntnis (oder Ansicht), daß Kritik nicht möglich ist, wenn allgemeine Abmachung darüber fehlen, was richtig oder falsch ist, gut oder schlecht? Für meinen Teil will ich mich nicht auf meinen Geschmack als Refugium meiner persönlichen Freiheit zurückziehen, um ansonsten anzunehmen, daß sowas wie die natürliche Fress- und Hackordnung die feine oder bescheidene Position einer ästhetischen Haltung bestimmt.
Schöne Spekulation über den Grund der Sehnsucht nach einer Rückkehr der guten Sitten:
Seite 226: In einer Ära, wo man alles überwachen kann, bleibt uns nichts anderes als die Höflichkeit.
Richter Fang zitiert in Gedanken Konfuzius und läßt damit das große Thema von »The Diamond Age« erklingen. Gar nicht so weit weg von dem, was ich unter Aufklärung verstehe:
Seite 287: Die Alten, welche überall im Königreich erhabene Tugend demonstrieren wollten, brachten zuerst ihr eigenes Dasein in Ordnung. Im Wunsch, ihr eigenes Dasein in Ordnung zu bringen, reglementierten sie zuerst ihre Familien. In dem Wunsch, ihre Familien zu reglementieren, kultivierten sie als erstes ihre Persönlichkeit. In dem Wunsch, ihre Persönlichkeit zu kultivieren, korrgierten sie zuerst ihr Herz. In dem Wunsch, ihr Herz zu korrigieren, trachteten sie als erstes danach, aufrichtigen Denkens zu sein. In dem Wunsch, aufrichtigen Denkens zu sein, erwarben sie als erstes höchstes Wissen. Dieser Erwerb höchsten Wissens lag in der Untersuchung von Dingen … Vom Sohn des Himmels bis hinab zur Masse des Wolkes müssen alle die Kultivierung ihrer Persönlichkeit als Wurzel für alles andere betrachten.
Über die Auflösung der Nationalstaaten. Wir leben meiner Ansicht nach ja derzeit in der Phase, wo sie sich noch heftig in Todeskrämpfen winden.
Seite 317: Carl Hoillywood: »Das Mediennetz wurde von Grund auf konstruiert, um Privatsphäre und Sicherheit zu gewährleisten, damit die Leute es auch für Geldtransfers benutzen konnten. Das ist ein Grund, weswegen die Nationalstaaten zerfallen sind — sobald das Mediennetz errichtet war, konnten die Regierungen finanzielle Transaktionen nicht mehr überwachen, und das Steuersystem wurde hinfällig.«
Das Mediennetz in dem Buch ist eine Weiterentwicklung des Internets von heute. So unterscheidet man zwischen klassischen (oder altmodischen) Passiven, womit Filme wie wir sie kennen gemeint sind, und Raktiven, vergleichbar den Star Trek-Holodecks, also Live-Rollenspiel in einem komponierten Narrationsgitter. Siehe auch: die Macher von »Deus Ex« sprechen bei den Levels ihres PC-Spiels von Möglichkeitsräumen.
Beste »Dracula«-Empfindsamkeit und Zurückhaltung. »Dracula« von Bram Stoker kann man getrost als einen Schlüsselroman der Viktorianischen Epoche bezeichnen, und es überrascht mich also nicht, hier Spuren seines emotionellen Taktes wiederzufinden.
Seite 336: Gwendoline Hackworth: »Mein Mann schreibt mir jede Woche Briefe, aber sie sind überaus allgemein gehalten, unverbindlich und oberflächlich. In den letzten Monaten tauchen immer mehr befremdliche Bilder und Emotionen in diesen Briefen auf. Sind sind - bizarr. Ich fürchte um die geistige Stabilität meines Mannes und um die Aussichten eines jeden Unterfangens, das von seinem Urteilsvermögen abhängen könnte.«
Über Sinnvermittlung.
Seite 351: Mr. Beck: »Lästige Unterscheidungen interessieren mich nicht. Ich interessiere mich nur für eines … und das ist der Einsatz von Technologie, um Sinn zu vermitteln.« Zumindest vom anglo-amerikanischen Narrationstzerrain weiß ich (oder habe den Eindruck), daß dort das Motiv vom aus dem Unter- oder Hintergrund agierenden Aufkläreren verbreiteter ist, als in Deutschland … hierzulande ehr anrüchiig und bisweilen ein Tabu, kann aber auch sein, daß ich diesbezüglich leicht paranoid bin.
Weitere Passage zu der Spannung zwischen Ethik und Technik.
Seite 384: Der Vatikan hatte eine große Zahl ernster ethischer Vorbehalte gegen die Nanotechnologie, aber schoießlich hatte man sich darauf geeinigt, daß sie okey war, wenn nicht mit der DNS herumgespielt oder direkte Schnittstellen mit dem menschlichen Gehirn geschaffen wurden.
Die beschriebene Ansicht empfinde ich als sehr richtig. Ich kann die vorauseilende Bereitschaft von Zeitgenossen zum Einbau von Hirnbuchsen (oder sonstiger Schnittstellen zwischen Hirn und Technik) nicht nachvollziehen.
Weiteres zu Moral, inzwischen von Hauptfigur Nell selbst.
Seite 410: »Ich glaube, ich bin endlich dahintergekommen, was Sie mir vor Jahren sagen wollten, über die Notwendigkeit, intelligent zu sein. {…} Die Vickys {= Neo-Viktorianer} haben einen komplizierten Moral- und Verhaltenskodex. Er entstand aufgrund der moralischen Verkommenheit einer früheren Generation, genau wie den ursprünglichen Viktorianiern die Gregorianer und die Regentschaft vorausgegangen sind. Die alte Garde glaubt an diesen Kodex, weil sie durch Schaden klug geworden sind. Sie erziehen ihre Kinder dazu, den Kodex zu respektieren - aber ihre Kinder glauben aus gänzlich anderen Grunden daran. {…} Einige stellen ihn niemals in Frage - sie wachsen zu kleingeistigen Menschen heran, die sagen können, was sie glauben, aber nicht, warum. Andere, desillusioniert die Scheinheiligkeit der Gesellschaft, und sie rebellieren.« / »Für welchen Weg entscheidest du dich, Nell?«, fragte der Constable … »Konformismus oder Rebellion?« / »Weder noch. Beide sind ein wenig schlicht - sie sind nur für Menschen, die nicht mit Widersprüchen und Zweideutigkeit fertig werden.«
Ein Buch des von mir wertgeschätzten Umberto Eco aus den Jahren 1964/1978 heißt »Apokalyptiker und Intergierte - Zur kritischen Kritik der Massenkultur«, in dem es bisweilen um die gleichen Dinge geht, wie bei Stephenson … nur nicht mit soviel Spezial FX natürlich.
Die Neo-Viktorianer wollen mehr Künstler in ihrer Gesellschaft.
Seite 421: Dividenden-Lord Finkle-McGraw fragt Carl Hollywood: »Glauben Sie, wir ermutigen unsere eigenen Kinder nicht genug, sich den Künsten zuzuwenden, oder sind wir für Männer ihres Schlages nicht anziehend genug, oder beides?« / »Bei allem gebührenden respekt, Euer Gnaden, bin ich mit Ihrer Prämisse nicht unbedingt einverstanden. New Atlantis kann auf zahlreiche bedeutende Künstler zurückgreifen.« / »Ach kommen Sie. Warum kommen sie denn alle von außerhalb des Stamms wie Sie selbst? Im Ernst, Mr. Hollywood, hätten Sie den Eid überhaupt abgelegt, wenn es aufgrund Ihrer Tätigkeit als Theaterpriduzent nicht von Vorteil für Sie gewesen wäre? {…} Es kommt Ihnen gut zupaß, weil Sie inzwischen ein gewissen Alter erreicht haben. Sie sind ein erfolgreicher und etablierter Künstler. Das unstete Leben eines Bohemiens kann Ihnen nichts mehr bieten. Aber hätten Sie Ihre derzeitige Position erreicht, wenn Sie dieses Leben nicht früher geführt hätten?« / »Jetzt, wo Sie es so ausdrücken … stimme ich zu, daß wir versuchen könnten, in Zukunft gewisse Vorkehrungen zu treffen, für junge Bohemiens — « / »Das würde nicht funktionieren … darüber denke ich schon seit Jahren nach. Ich hatte denselben Einfall: eine Art Freizeitpark für junge künstlerische Bohemiens einzurichten, in allen Städten verstreut, damit junge Atlanter mit entsprechenden Neigungen sich versammeln und subversiv sein können, falls ihnen danach zu mute ist. Aber die Vorstellung allein ist ein Widerspruch in sich, Mr. Hollywod, ich habe im vergangenen Jahrzehnt oder so viel Mühe darauf verwandt, das Subversive systematisch zu ermutigen.«
Denn:
Seite 421: »… darin liegt die Daseinsberechtigung eines Dividenden-Lords - die Interessen der gesamten Gesellschaft im Blick zu haben, anstatt die eigene Firma zu melken oder was immer.«
Angesichts der Politiker-, Manager- und Beraterskandale hierzulande (aber auch anderswo) spricht mich zumindest diese Passage sehr an. Leben wir wirklich noch in einer primitiven Zeit, in der jeder (und vor allem die Mächtigen, alle mit ›Gelegenheit‹) nur den eigenen Beutel füllt, oder verstehe ich kleiner Fuzzi die Handlungen der Mächtigen und Reichen nicht, die sich durchaus im Sinne der Weltgemeinschaft Sorgen und entsprechend agieren?
Teil einer »So ist der Lauf der Welt«-Rede von Madame Ping zu Nell.
Seite 429: »Im Grunde genommen gibt es nur zwei Industriezweige. Das ist immer so gewesen. {…} Die Industrie der Sachen und die Industrie der Unterhaltung. Die Industrie der Sachen kommt zuerst. Sie hält uns am Leben. Aber heutzutage, wo wir den Feeder haben, ist es nicht mehr schwer, Sachen zu machen. Es ist keine besonders interessante Branche mehr. / Wenn die Menschen alles haben, was sie zum Leben brauchen, ist der Rest nur noch Unterhaltung. Alles.«
Interessant wie sich diese Passage mit der Aussage von Mr. Beck im Auszug von Seite 351 reibt, denn Mr. Beck geht es primär um die Vermittlung von Sinn. Sinn taucht bei Madame Ping aber nicht auf, außer weitläufig im Bereich der Sachen, so wie Lebensmittel sinnvoll sind, wenn man hungerig ist.
Nell denkt über ihre Arbeit (Design von Raktiven) nach.
Seite 464: Seit frühester Kindheit erfand sie Geschichten und erzählte sie der Fibel, und nicht selten wurden sie verarbeitet und in die Geschichten der Fibel eingegliedert. Für Nell war es ganz natürlich, dieselbe Arbeit für madame Ping zu tun. Aber nun hatte ihre Chefin von einer Darbietung gesprochen, und Nell mußte gestehen, daß es in gewissem Sinne eine war. Ihre Geschichten wurden verarbeitet, zwar nicht von der Fibel, sondern von einem anderen Menschen, und so wurden so Bestandteil des Denkens dieser anderen Person. / Das schien durchaus einfach zu sein, aber die Vorstellung beunruhigte sie aus einem Grund, der ihr erst bewußt wurde, als sie mehrere Stunden im Halbschlag darüber nachgedacht hatte.
Wohl jeder angehende oder etablierte Autor (oder allgemein Künstler/Unterhalter) hat sich darüber schon mal den Kopf zerbrochen … oder sollte es zumindest. Will ich nur unterhalten, will ich Sinn vermitteln, Trost spenden (siehe Tolkien), Sozialkritik üben? usw.
ZUGABE: Schmankerl:
Ha, ein deutsches Wort im Original (ROK-Taschebuchausgabe).
Seite 337: »It didn't matter which brain a {Nano}´site was in. The all talked to one another indiscriminately, forming a network. Get some Drummers together in a dark room, and they become a gestalt society.«
Übersetzt (wieder ausm Goldmann-Tachenbuch).
Seite 389: »Es spielte keine Rolle, in welchem Gehirn sich die ´siten befanden. Sie redeten alle gleichwertig miteinander und bildeten eine Art Netz. Pferchen Sie ein paar Tromler in einem dunklem Raum zusammen, und sie werden zu einer Gestaltgesellschaft.«
Habe laut gelacht bei folgendem Satz.
Seite 375: Er sollte besser von hier verschwinden, bevor er wieder Sex mit jemanden hatte, den er nicht kannte.
Wirklich lustiger Schnitzer — naja — mangelndes Fingerspitzengefühl von Joachim Körber. Mannbarkeit wird von ihm ernsthaft auf eine Vertreterin des weiblichen Geschlechtes angewendet.
Seite 380: Die Mannbarkeit hatte ihr jede Menge Merkmale verliehen, die die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts und von Frauen mit entsprechenden Neigungen auf sich zogen.
Zum Vergleich die gleiche Stelle im Original:
Seite 329: Maturity had given her any number of features that would draw the attention of the opposite sex, and of women so inclined.
Geiler historischer Fachbegriff des 21. Jahrhunderts bezüglich der Massenvernichtungswaffen des 20. Jahrhunderts:
Seite 443: Elizabethanische Atombomben.
Bumm und Ende.
Hitler-Geburtstag als Journaillen-Fetisch
Eintrag No. 94 — Betrifft die Lesung von Thor Kunkel am 20 April 2004 im Poeltzig-Bau (so die richtige heutige Bezeichnung) der Universität Frankfurt.
Ich habe es gewußt, daß einige Autoren der öffentlichen Kulturrezeption ihre juckenden Finger nicht zu zügeln vermögen, wenn sie auf dunkle Zeichen oder hintersinnige Zusammenhänge aufmerksam machen können.
Der 20. April - ein Schwarzes Loch im Kalender, Gröfaz aus dem Uterus als Singularität die alles verfinstert, was an diesem Tag getan (oder dann doch besser unterlassen) wird. Ist der 20. April ein Feier- oder Gedenktag der Bundesrepublik? Meines wissens nach nicht, aber vielleicht ist er ein geheimes, ein invertiertes Jubiläum.
Von mir darf ich mit aller Bescheidenheit behaupten origineller und neugieriger reagiert zu haben, als ich nach Kenntnisnahme der Führer-Versautheit des Datums mal bei wissen.de nachschaute, wer denn noch alles Geburtstag an diesem Apriltag hat. Was soll ich sagen: müssen sich Brigite Mira und Jasmin »Blümchen« Wagner (Achtung! Nachname eines bekannten Antisemiten) an ihrem eigenen Geburtstag schämen? Dürfen Science-Fiction-Fans diesen Tag nicht als Geburtstag des Pioniers Kurd Laßwitz feiern? Und was ist mit Napoleon III, Harold Lloyd, Pietro Aretino, Jean Miro, Sir Eliot Gadiner, Karl I von Rumänien, der Heiligen Rosa von Lima und all den anderen (insgesamt 54) Personen, die, wie es der Zufall will, auch an Bad Adolfs Geburtstag geboren wurden, sei es vor oder nach ihm?
Nein meine lieben Journalisten, als jemand, der den Stress eures professionellen Schreibenmüssens nicht teilt und die Welt entsprechend unparanoider betrachten kann, muß ich tadeln: so geht das nicht.
Frankfurter Rundschau: »…weil Kunkel im ehemaligen IG Farben-Haus las und das auf den Tag genau 115 Jahre nach Adolf Hitlers Geburt.«
Perlentaucher (Referenz auf FR-Beitrag): »…als Thor Kunkel vorgestern (am 20. April!) im IG-Farben-Haus…«
Wobei ich sagen muß, daß der FR-Beitrag nicht halb so gehässig ist, wie der Bericht der F.A.Z.
F.A.Z.: »…dem 20. April, einem Datum, das für die Festkultur im Dritten Reich eine wichtige Rolle spielte (und für manche heute noch spielt): An Adolf Hitlers Geburtstag also las Kunkel…«
Der Autor verliert hier auffällig viel Worte über diesen Zufall, muß nicht nur auf das Datum hinweisen, sondern auf den Nimbus, die negaitive Heiligkeit desselben beschwören. Ist das nötig? Muß hier ein etwa ein Gedenken aufrechterhalten, verteidigt werden?
Außerdem bezeichnet Herr (oder Frau) rik in seinem F.A.Z.-Beitrag alle Anwesenden der Lesung als Ahnungslose (weil keiner gegen Kunkel protestiert). Na, wer urteilt, schmeißt da wahllos und undifferenziert eine Leutegruppe in einen Topf? Ich zumindest kann hiermit meine Empörung über diese auch mich betreffende Titulierung äußern, Frau (oder Herr) rik, denn 1972 geboren, habe ich die Geschichte des III. Reiches und der Shoa eben auch nur erlernen können. Vielleicht werden ja Angehörige anderer Gesellschaftsschichten mit geheimen teuren Zeitmaschinen in die Lage der Zeitzeugenschaft versetzt. Herr rik, dokumentiert zudem erst die (kritische) Nachfrage des Moderators, um dann einige Zeilen später zu schreiben, der Abend sei unkritisch verlaufen. Auch kann nicht nicht davon die Rede sein, Herr Kunkel habe sich inzeniert, er tat dies sogar weniger, als rik in seinem Beitrag im Nachhinein die Lesung darstellt.
Ich für meine Person als Leser möchte betonen, daß ich die Verbrechen des III. Reiches nicht leugne, ja, sie sind eine Singularität an Menschenverachtung und Wahnsinn und sie verursachen heute noch viel Schmerz in den Seelen der Überlebenden dieser Zeit und aller Nachgeborenen, deren Familiengeschichte davon berührt ist. Wenn ich mir ein heutiges Deutschland in einem Alternativwelt-Europa vorstelle, das weder Hitler noch die Nazis erlebt hat, das keine Judenausrottung und Vernichtung sonstigen unwerten Randgruppen-Lebens ertragen mußte, und wenn ich dieses Alternativwelt-Deutschland mit unserem tatsächlichen heutigen vergleiche, fühle ich den Schmerz des Verlustes, zum Beuspiel darüber, daß uns heute ein etabliertes jüdisches Bürgertum mit seinem Geisteswitz fehlt, daß uns heutigen Deutschen unerträglich viele der hervorragensten Köpfe (und Herzen) fehlen, die vernichtet oder vertrieben wurden.
Trotzdem kann ich mich mit diesem Schmerz vergnügen, wenn Kunkel seine nach präpubertären Kalauer miefenden derben Scherze mit der vermeitlichen Elite z.B. der SS oder der NS-Wissenschaft treibt. Zugegeben: Chaplin hat das in »Der Große Diktator« mit dem aus den Fenster springenden Raketentestern knapper und eleganter gemacht. - Kunkel hat wohl zu hoch gepokert, als er glaubte, daß man diesen Schmerz soweit angenommen hat, daß nicht jedesmal verletzt oder paranoid aufgebrüllt werden muß, wenn eine fiktionale Narration Dissonanzen zumutet. Als lustige Zeichnung bei Walter Moers mögen solche Scherze noch angehen, als reiner Text ist es anscheinend zu schwer, die Feinheiten groben Nazi-Porno-Trash zu erkennen. (Meine Entschuldigung an Herrn Moers - falls Sie das hier lesen und sich unangenehm platziert fühlen, wieder mal herhalten müssen, so als anerkannter Grenz- und Tabuüberschreiter.)
Man kann Kunkel mit aller Berechtigung vorwerfen, daß er einen ätzenden, bisweilen extrem geschmacklosen Humor pflegt. Eine Dauer-Verfremdung durch unerträgliche Sprachartistik, in der die Nicht-Provokation scheinbar Aussnahme bleibt.
Ein Herr aus dem Publikum der IG-Farben-Haus-Gröfaz-Jubiläums-Lesung hat es aber ganz richtig erfaßt:
»Das ist eine Satire auf das III. Reich.«
Spontaner Applaus des ahnungslosen Publikums.
Darüber hat niemand geschrieben und es findet sich bei den Berufsschreibern auch niemand, der es für seine Sache hält, den (zugegeben grenzwertigen) Humor in Kunkels Darstellung von kranken, pathologisch mitleidsunfähigen Triebdeppen zu verteidigen. Auch gut, machs ich das halt.
Ach übrigens: Von den bisher berichtent habenden Journalisten war niemand so fleißig, mal Veranstalter oder Verlag zu fragen, wie es zum Ungeschick des Datums kam. Wie kleine Dr. Watsons ziehen sie lieber die Schlüße, die ihre Bildung und Fixierung zulassen. Nehmt entsprechend diese meinen Einspruch auf eure Deutungshoheit entgegen.
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Weitere Molochronik-Einträge zu Thor Kunkel und seinen Roman »Endstufe«:
• Verlag mag nicht
• Skribbel für Thor Kunkel
• Die Welt durch die Brille von Kultur-Gonzos : Die Nazi-Mädels vom Kulturzentrum der Universität Frankfurt
• Wahnwellenversprengtes Denken aufgrund Melange aus literarischer Inkompentenz und mieser Profilierungspraxis
Matt Ruff: »Set This House In Order«
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Eintrag No. 92 — Andrea war die letzten Tage auf der Leipziger Buchmesse. Eine Frage an den Hanser Verlag gab ich ihr mit auf die Reise:
— Wann kommt das neue Buch von Matt Ruff auf Deutsch heraus?
— Im Herbst 2004, antwortete Hanser.
Wie ich vermutet habe, läßt der Hanser Verlag der Übersetzung des dritten Buches von Matt Ruff angemessen Zeit (ca. 18 Monate). Wie die ersten zwei Romane »Fool On The Hill« und »Die Trilogie der Stadtwerke« locker und leicht zu lesen, bietet auch »Set This House In Order« eine waghalsige Geschichte … wenn auch nicht so ganz so reich an Nebenhandlungen und im guten Sinne durcheinander, wie seine beiden Vorgänger.
Eine Gelegenheit also, einen der besten spekulativen Autoren der Gegenwart neu anzugehen, wenn einem seine bisherigen Romane zu voll, zu bunt und zu wild waren. Ich habe ja deutsche Rezensionen der »Trilogie der Stadtwerke« gelesen, die sich beschwerten, der Roman habe zu viele Ideen, die ja mindestens für zwei Bücher reichten. Erinnert mich an Leopold und Mozart im Film Amadeus:
»Zuviele Noten, streichens a paar raus, und die Sache ist perfekt«
Als ich »Set This House In Order« im Frühjahr 2003 im Original las, begeisterte mich am meisten, daß Matt Ruff hier das neue Genre der Psycho-Fantasy erfunden hat, oder eine in der Gegenwart angesiedelte Psychologie-Science-Fiction. Keine Elfen, keine denkenden, sprechenden Tiere, keine Roboter oder Künstlichen Intelligenzen, keine offensichtlichen Phantastik-Requisiten und -Figuren liefern den Hintergrund für »Set This House In Order«, sondern die Erkenntnisse und Spekulationen der modernen Bewußtseins- und Persönlichkeitsforschung sind der Keim einer auf den ersten Blick nicht als Phantastik erkennbaren Idee.
Folgend nun eine grobe Übersetzung des Originalklappentextes, damit ich nicht Gefahr laufe zu viel zu verraten, und dennoch denen etwas bieten kann, die das Warten auf den neuen Ruff auf Deutsch kaum noch aushalten.
»Der Autor des Kultbuches Fool On The Hill erzählt uns eine seltsame und bewegende Geschichte einer Selbsterkundung. Vor zwei Jahren erst wurde Andy Gage gebohren, ins Leben gerufen um als Gesicht für die Umwelt einer multiplen Persönlichkeit zu dienen. Andy kümmert sich um die Außenwelt, während sich in seinem Kopf über 100 Seelen ein imaginäres Haus teilen und darum ringen ein friedliches Miteinander aufrechtzuerhalten: Aaron die Vaterfigur, der die Regeln macht; Adam der übermütige Teenager, der die Regeln bricht; Jake der verschreckte kleine Junge; Tante Sam die Künstlerin; Seferis der Beschützer; und Gideon die dunkle Seele, der Andy und die anderen loswerden möchte, um allein die Dinge in die Hand zu nehmen.
Andrews neue Arbeitskollegin Penny Driver ist ebenfalls eine multiple Persönlichkeit - ein Umstand, dessen sich Penny nur zum Teil bewußt ist. Als mehrere andere Seelen von Penny Andy um Hilfe bitten und der widerstrebend einwillgt, lößt das eine Folge von Ereignissen aus, die drohen, die Stabilität des Hauses zu zerstören. Andy und Penny müßen nun zusammenhalten um ein schreckliches Geheimnis zu lüften, daß Andy vor sich selbst verheimlicht hat…«
»Set This House In Order – A Romance of Souls«; HarperCollins 2003, 479 S. - Deutsch bei Hanser im Herbst 2004, wahrscheinlich wieder hervorragend übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini.
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DRAMATIS PERSONAE
zu Matt Ruffs »Set This House In Order« / »Ich und die anderen«
- Die Hausbewohner:
- Andy Gage: *1965; zerbrach in sieben Seelensplitter, von denen nur zwei überlebt haben.
- Aaron: der Hausbauer; Bruder von Gideon; Vater von Andrew; einer der sieben Splitter Andys.
- Gideon: Exilant auf Coventry Island; Bruder von Aaron; Vater von Adam; einer der sieben Splitter Andys.
- Andrew: (26), von Aaron aus dem See gerufen, um dessen Job zu vollenden: Bring das Haus in Ordnung; Tagespersönlichkeit für den Umgang mit der Außenwelt.
- Jake: (5) ängstlicher Junge; ging aus Jacob (gestorben 1973) hervor.
- Tante Sam(anta): Künstlerin.
- Seferis: riesenhafter Leibwächter.
- Adam: (15), mag Playboy, Alk und derbe Sprüche; natürlicher Lügendetektor.
- Silent Joe: eine von Aarons Helferseelen; begräbt die Toten auf dem Kürbisfeld.
- Captain Marco: eine von Aarons Helferseelen; kümmert sich um den See; Fährmann.
- Xavier Rayes: Ein Werkzeug.
- weitere Seelen: Simon (macht sich Sorgen um Justiz und Sicherheit); Drew, Alexander, Angel, Annis, Arthur, Rhea, Sander, Archie, Seth, die zwei Samuels, und an die hundert weitere kleine Zeugen-Seelen.
- Die Gesellschaft:
- Penny Driver: *1971; weiß nicht, daß sie eine Gesellschaft von Seelen in sich hat.
- Mouse: Pennys Spitzname von Mutter; auch: »worthless peace of shit«; kein Selbstwertgefühl und großer Feigling.
- Maledicta: Evil-Speaker, Wächterin, Raucherin, mag Pool und Alk, Zwilling von Maleficia.
- Maleficia: Evil-Doer, Wächterin, stummer Zwilling von Maledicta.
- Navigator: sorgt für Pennys Orientierung.
- Drone: macht was man ihr sagt, spührt nix.
- Loins: mag die Rolling Stones und Pornos; lebt in einer Grotte.
- Brain: das Genie, arbeitet als Programmierer und Techniker.
- Thread aka Penelope Ariadne Jones: zuerst Pennys Brieffreundin über die Englisch Society of International Correspondence; führt Tagebuch.
- Duncan: der Fahrer, immer nüchtern; achtet auch darauf, daß die anderen Seelen nicht so sehr über die Stränge schlagen.
- Zwei stumme Fluchtseelen, davon einer ein Sprinter; vielleicht identisch mit bereits angeführten Seelen.
- Reality Factory:
- Julie Sivik: * 1971, Chefin von Reality Factory und gute Freundin von Andy seit 1994.
- Irvin Manciple: aus Alaska; stiller und zurückhaltener Techniker; Bruder von Dennis.
- Dennis Manciple: aus Alaska; dickleibig und expressiv; ihm ist schnell zu warm; Programmierer; Bruder von Irvin.
- Weitere Personen:
- Horace Rollins: Andys Stiefvater, der Plünderer.
- Silas Gage: Leiblicher Vater von Andy Gage; ertrunken.
- Althea Gage: Andys Mutter.
- Mr. Cavinet: Tante Sams Französisch-Lehrer auf der High School; erster freundlicher Erwachsener gegenüber Andy Gage.
- Mr. Weeks: Vorgesetzter bei Bit Warehouse, wo Aaron/Andrew vor der Reality Factory arbeiteten.
- Oscar Rayes: Ungeziefer-Beseitiger und Anwalt in Seven Lakes.
- James (Jimmy) Cahill: Früher bei der Armee, jetzt Polizist in Seven Lakes.
- Gordon Bradley: Polizeichef in Seven Lakes.
- Kirstin Williams: Babysitterin für Andy in der Grade School-Zeit.
- Verna (Dorset) Driver: Pennys sadistische Mutter aus Woods Basin (= Trash Town).
- Morgan Driver: Pennys Vater; Versicherungsvertreter, starb 1973 bei einem Flugzeugunglück.
- Großmutter Driver: schenkte Penny eine Underwood-Schreibmaschine und ein Kleid.
- Ben Deering, Chris Cheney, Scott Welch, Cindy Wheaton: Zusammen mit Penny auf der Junior High School.
- Ben Deering Senior: Bens Vater, Schrottplatzbesitzer aus Trash Town.
- Rudy Krenzel: Besitzer von Rudys Quick Fix, wo Penny arbeitete vor Realiry Factory.
- George Lamb: Wohnt in einem Trailer.
- Alyssa Geller: Zimmergenossin von Penny an der University of Washington im ersten Semester.
- Mr. Filchenko: Mitarbeiter des Bestattungsinstitutes Archangel.
- Mrs. Alice Winslow: hat Aaron als Mieter aufgeommen; Witwe, deren Mann und zwei Söhne von einem trampenden Mörder umgebracht wurden.
- ein namenloser Mörder-Tramp: Ermordete 1985 Mr. Winslow und seine beiden Söhne; schrieb bis 1990 Briefe und Postkarten an Mrs. Winslow.
- Warren Lodge, der Puma: Aus den Nachrichten.
- Dr. Danielle Grey: Psychatierin von Aaron; seit Herzattake im Januar 1995 im Ruhestand in Seattle; auf Rollstuhl angewiesen.
- Meredith Cantrell: Lebensgefährtin und seit Herzattake Pflegerin von Dr. Danielle Grey.
- Dr. Eddignton: Psychiater in Seattle; Übernimmt die Patienten von Dr. Danielle Grey; sieht Pennys Vater sehr ähnlich.
- Dr. Kroft: Westküsten-Psychiater, stellte 1987 MDP-Diagnose bei Andy Gage der sie 4 Jahre behandelt hat; Anhänger der Vasen-Theorie; hat Andy ein zweites Mal in Verwahrung eingewiesen.
- Dr. Bruno (Reinkarnation), Dr. Whitey (Außerirdische), Dr. Leopold (Rechtsweg): Weitere Westküsten-Psychiater mit denen Aaron nach Dr, Kroft und vor Dr. Grey Erfahrungen machte (´91-´92); alles Anhägner der Vasen-Theorie; in Klammern die jeweils speziellen Theorien dieser Ärzte.
- Billy Milligan: In den Medien bekannt gewordener MPD-Patient. – Mensch der realen Welt außerhalb des Buches.
- Cornelia Wilbur: Autorin von »Sybil«. – Mensch der realen Welt außerhalb des Buches.
- Erwähnt wird William Seferis: Autor von »Tales of the Greek Heroes«.
- Onkel Arnie: Julies Onkel beim Militär; macht Geschäfte mit vom Laster gefallenen Waren.
- Reggie Beauchamp: Automachaniker und Truckfahrer; Bettfreund von Julie 1995/96.
- Sowie:
- ein namenloser böser Vater mit seiner kleinen Tochter im Harvest Moon.
- eine Vampir-Thekenfrau der Bridge Street Bar.
- ein Verkehrspolizist in Wyoming.
- ein Hotelmanager von House of Pancakes nahe der Badlands Parks.
- Barmann (Ming) und Betrunkener (Flash Gordon) des Mammoth in South Dakota.
- Charles Daikos: Ein Lieferwagenfahrer.
- Mortimer: Polizist in Seven Lakes.
- Dave Bradley: Truckfahrer in Seven Lakes.
••••
Kapitelstruktur
Schnäppchen
(Alltag, Literatur) - Letzte Woche für sage und schreib knapp 10 Euro in Bornheim aus dem Bücherei-Flohmarkt gerettet. »Kim« und erstes »Dschungelbuch« war dabei - damit fehlt für meiner Sammlung (der Gisbert Haefs-Ausgabe) von Rudyard Kipling nur noch das zweite Dschungelbuch; Endlich mal was von Perutz (»Meister des Jüngsten Tages«); Alte Reiseberichte werden mir immer wichtiger (»Das ergötzliche Reisetagebuch des Nasreddin Schah«, Erdmann Verlag). Lao-Tse und Buddah-Wahrheiten kommen in meine Weltreligion-Nachschlagecke. Nicht auf dem Bild: Schopenhauers Anekdotenbüchlein.
Umberto Eco: »Mögliche Wälder« — Zusammenfassung
Eintrag No. 87 — Wieder ist es ein Text von Umberto Eco, in dem ich hilfreiche Anregungen gefunden habe, um die die Frage nach den Qualitäten von guter Science Fiction (oder allgemein Phantastik) zu verhandeln.
Die Havard-Vorlesungen aus dem Jahre 1994 »Mögliche Wälder« umfaßt 25 Seiten (zu finden in Im Wald der Fiktionen — Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 101ff).
••• Musik beim Zusammenfassen: H.R.Kunze »Korrekt«, Track 01: Der Wald vor lauter Bäumen.
Gemeinsam mit der Zusammenfassung des Vortrages »Die Welten der Science-Fiction« (und erst recht, wenn man Eco selbst kosultiert) hoffe ich allen Phantastik-Lesen ein wenig Handhabe liefern können, mit der sich ahnugslose Verächter und Geringschätzer von SF-, Horror- und Fantasyliteratur schön genüßlich in der Luft zerpflücken lassen.
Zusammenfassung »Mögliche Wälder«:
Eröffnungs-Anekdote: Über die Lächerlichkeit der Frage von König Vittorio Emanuel III anläßlich seiner Betrachtung eines Gemäldes (ländliche Idylle):
»Wie viele Bewohner hat das Dorf?«
Grundregel Fiktionsvertrag:
(Zitat Coleridge:
»Willing suspension of disbelief«
= willentliche, freiwillige Aussetzung/Unterlassung der Ungläubigkeit/des Zweifels)
- Der Autor tut so, als ob er die Wahrheit sagt;
- Der Leser tut so, als wäre das, was Autor erzählt, wirklich geschehen.
Ecos Beobachtung: bis zu einer Auflagenstärke von einigen 1000 Büchern kennen die Leser den Fiktionsvertrag; aber spätestens ab einer Millionen haben viele scheinbar nie von ihm gehört.
Beispiel: Ein Leser des »Foucaultschen Pendels« (der moniert, daß ein Brand aus wirklicher Welt in der Beschreibung Paris fehlt) geht also für Eco zu weit, …
»…als er verlangte, eine ausgedachte Geschichte müsse restlos und vollständig mit der wirklichen Welt, auf die sie sich bezieht, übereinstimmen.«
Also:
»Wie es scheint, suspendieren wir unsere Ungläubigkeit auf einige Dinge, und nicht auf andere«
z.B. wenn Leser bei den Brüdern Grimm zwar den sprechenden Wolf akzeptieren, jedoch erstmal annehmen, daß Rotkäppchen tod ist, ›nur‹ weil der Wolf sie gefressen hat.
Die Frage von König Vittorio Emanuel III ist also gar nicht sooo lächerlich, denn der Zauber jeder erzählenden Fiktion ist, …
»… daß sie uns in die Grenzen einer Welt einschließt und irgendwie dazu bringt, diese Welt ernst zu nehmen.«
{Wobei entsprechend ihrer Art eine Fiktion ›Ernst zu nehmen‹ sich zwei verschiedene Grundhaltungen unterscheiden: einerseits der des logischen, andererseits der des empathischen Mitdenkens und Nachvollziehens.}
Fiktive Welten basieren immer auf der realen Welt.
Manzonis {»Die Brautleute«} Landschaftsbeschreibung gründen auf geographischen Merkmalen der realen Welt. Kafka führt in »Die Verwandlung« die ungeheuerliche Veränderung von Georg Samsa vor dem Hintergrund einer realistischen Welt ein (sprich: das Zimmer, die Reaktion der Familie). Noch unwahrscheinlicher als Kafka: Edwin Abbott und sein »Flatland«: Die Beschreibung einer zweidimensionalen Welt, deren Bewohner und ihrer Kultur;
»…die ganze in der realen Welt erworbene geometrische Erfahrung wird aufgeboten, um diese irreale Welt möglich zu machen.«
Beispiel: Kastenunterschiede der Bewohner von Flatland aufgrund der Anzahl der Ecken, genaue Erläuterung von Wahrnehmungsprozessen der Flatlander ect. Abbotts Welt ist geometrisch und perzeptorisch {die Wahrnehmung betreffend} möglich. (Oder bei den Grimms: sprechende Wölfe sind zumindest physiologisch durchaus auch möglich: Stimmorgane und Hirn haben sie ja.) Abbotts mögliche Wesen kommen also mittels konventioneller Beglaubigungsverfahren zu fiktionaler Existenz.
Self-Voiding-Fiction, das sind narrative Texte, die ihre eigene Unmöglichkeit demonstrieren, wie in »Die blaue Villa in Hongkong« von Robbe-Grillets . Hier gibt es:
- a) widersprüchliche Versionen ein und desselben Ereignisses;
- b) ein und derselbe Ort (Hongkong) ist und ist zugleich nicht Ort der Handlung;
- c) widersprüchliche Zeitfolge (A dann B, aber auch B dann A);
- d) ein und dasselbe fiktive Wesen auf mehreren Existenzebenen (als Person, Skulptur, Theateraufführung ect). — Vergleich mit der optischen Illusion der unmöglichen Stimmgabel, oder anderer Motive die durch M.C. Escher bekannt wurden: Hier kommt Verwirrung auf, weil die Regeln der 2-D-Geometrie und die Regeln der perspektivischen Darstellung von 3-D-Objekten zugleich gelten sollen.
Das läßt Eco schlußfolgern:
»Also müssen wir zugeben, daß wir selbst bei der unmöglichsten aller Welten, um von ihr beeindruckt, verwirrt, verstört oder berührt zu sein, auf unsere Kenntnis der wirklichen Welt bauen müssen. Mit anderen Worten, auch die unmöglichste Welt muß, um eine solche zu sein, als Hintergrund immer das haben, was in der wirklichen Welt möglich ist.«
Bedeutet: alle fiktiven Welten sind Parasiten der wirklichen Welt {Warum nicht auch/oder Symbionten?}. Es gibt keine Regel, wie viele fiktive Elemente ein Text maximal fassen kann, im Gegenteil: große Flexibilität ist möglich; und was nicht speziell erwähnt wird, stimmt wohl mit wirklicher Welt überein (oder ist nicht wichtig für die Handlung).
Beispiel: (beabsichtigter) komischer Effekt in einer Geschichte von Campanile, wo ein Mann seinem Kutscher sagt:
»Bringen sie die Kutsche mit, und das Pferd«.
Kontrast-Beispiel eines nicht erwähnten Pferdes bei Nerval, weil es eben nebensächlich ist. Eine Kutschfahrt ohne Pferd böte ansonsten Stoff für eine Gothic Novel, oder ein Märchen wenn z.B. Mäuse statt Pferden vorgespannt sind.
Die Rex Stout-Krimis mit Nero Wolfe spielen in New York, sind also kontrollierbar. Über literarische Fanship und Pilgerstätten der Belletristik: Die Bakerstreet in London (siehe Sherlock Holmes); Bloomsday in Dublin (siehe »Ulysses«). Eine Taxifahrt in New York zum Alexanderplatz wäre also ein klarer Fehler, unwahr und unmöglich in der wirklichen Welt. Aber: Kafkas phantastische Welt in »Der Prozess« ist wie ein elastischer nicht-euklidischer Kaugummi, denn die Ausgänge eines Hauses führen in verschiedene, von einander entfernt gelegene Stadtteile. Eco unterscheidet dann:
- A) Fiktionales Universum ist viel kleiner als reale Welt (nur einige wenige Personen, wohldefiniert sind Ort und Zeit); oder
- B) Fiktionale Welt fügt realer Welt Personen und Ereignisse hinzu, endet nicht, sondern dehnt sich ständig weiter aus. — Obwohl Parasiten, ermöglichen kleinere Welten eine Konzentration auf endliche, der unseren sehr ähnliche Welten. Das Überschreiten der ontologischen Grenzen ist den fiktiven Welten nicht möglich, also verlegt man sich hier auf die Erforschung der Tiefe.
Über eine Figur bei Standal (»Rot & Schwarz«) weiß man mehr (nämlich: alles was man wissen muß; z.B. Unwichtiges wie das erstes Spielzeug wird deshalb nicht erwähnt), als über eigenen Vater. — Gegen-Beispiel der Autorin Invernizio, die zuviel erzählt, sprich: etwas für die Geschichte nicht wichtiges (Aussehen des Turiner Bahnhofs). — Der Leser der den fehlenden Brand in »Foucaultschen Pendel« bemängelt, akzeptiert also nicht, daß eine fiktive Welt kleinere Dimension hat als die reale Welt hat. — Umgekehrt (löblich): Leser haben Paris nach Beschreibung im »Pendel« geformt (machten außschließlich Photos von Dingen, die im Roman auch vorkommen).
Über Romane als Spiel meint Eco:
»…Streifzüge durch fiktive Welten haben die gleiche Funktion wie Spiele für Kinder … um sich mit den physischen Gesetzen der Welt vertraut zu machen und sich in den Handlungen zu üben, die sie eines Tages im Ernst vollführen müssen. In gleicher Weise ist das Lesen fiktiver Geschichten ein Spiel, durch das wir lernen, der Unzahl von Dingen, die in der wirklichen Welt geschehen sind oder gerade geschehen oder noch geschehen werden, einen Sinn zu geben. Indem wir Romane lesen, entrinnen wir der Angst, die uns überfällt, wenn wir etwas Wahres über die Welt sagen wollen.«
= therapeutische Funktion der erzählenden Literatur, und Grund des Geschichtenerzählens. Mythen geben dem Wust aus Ereignissen, Dingen und Erfahrungen eine Form {Alle Narrationen und damit z.B. Religionen sind Sinnmachmaschinen wie Rüdiger Safranski im »Philosophischem Quartett« mal so schön gesagt hat}.
Gespenst Wahrheit.
Wahrheit ist wohl leicht bestimmbar in wirklicher Welt (Ecos augenblicklicher Vortragsort, Vortragsdatum, Ort und Zeit des Todes von Napoleon). In fiktiven Welten ist etwas wahr im Rahmen der möglichen Welt. Beispiel: Heirat Hamlet & Orphelia = unwahr. Heirat Scarlett O'Hara & Rett Bulter = wahr.
Über den Wahrheitsbegriff: Die Wahrheit des Vortragsdatums ist abhängig vom Bezugsrahmen des Gregorianischen Kalender. Die Farbebezeichnung für Ecos Kravatte beim Vortrag blau ist heute wahr, aber unwahr nach antiker Farbauffassung, die einen anderen Grenzverlauf zwischen Blau und Grün bevorzugte. Alle Wahrheitsbestimmung gründet also auf hollistischen Annahmen. Eco demonstriert während des Vortrages eine Möglichkeit unmittelbarer Kontrolle von Wahrheit. Ist hinter ihm ein Gürteltier? Er sieht sich um und kann feststellen, daß dies unwahr ist.
»Wir glauben, in der realen Welt müsse das Prinzip der Wahrheit (Truth) gelten, in den fiktiven Welten dagegen das des Vertrauens (Trust). Dennoch ist auch in der realen Welt das Prinzip des Vertrauens ebenso wichtig wie das der Wahrheit.«
Dazu nun der Begriff von der Kulturellen Enzyklopädie (der Begriff stammt von Hillary Putnam): zu neun Zehnteln verläßt sich ein Mensch bezüglich des Wissens, über das was wir Welt nennen, auf andere (z.B. ob es eine Stadt wirklich gibt, in der man noch nie war; wann und wo Napoleon gestorben ist). Die Erfahrung lehrt Eco: Die Kulturelle Enzyklopädie liefert ein zufriedenstellendes Bild der Welt, aber:
»… die Art diese Darstellung zu akzeptieren, unterscheidet sich wenig davon, wie wir mögliche Welten in fiktiven Geschichten akzeptieren.«
Unterscheidung: Sprechende Wölfe im Märchen {oder bei Disney} sind akzeptabel, aber bei Begegnung mit echten Wölfen orientiert man sein Verhalten besser nach einem Zoologiewerk. Es ist schwer, genau zu erklären warum wir so entscheiden. Es ist komplexer zu entscheiden, ob Aussagen der Kulturellen Enzyklopädie zu Napoleons Tod wahr sind, als zu entscheiden, ob Scarlett & Rett aus »Vom Winde verweht« verheiratet sind.
Beispiele:
- A) In Dumas Musketier-Fortsetzung »Zwanzig Jahre danach« ersticht Athos den Sohn von Milady (beide Männer sind erfundene Personen), bleibt also in fiktiver Welt wahr, solange ein Exemplar des Buchs existiert;
- B) In »Die Drei Musketiere« wird Lord Buckingham von Felton erstochen (beides historsich reale Personen). Bei neuem Fakt der Geschichte müßten Historiker ihren Text korrigieren, die Welt von »Die Drei Musketiere« zweigt aber dann nur weiter in Richtung Fiktion ab (Uchronie), bleibt dort aber wahr.
Fiktive Welten haben also ein Wahrheitsprivileg, in ihnen kann der Wahrheitsbegriff nicht in Frage gestellt werden. Das Wahrheitsprivileg liefert auch Maßstäbe für die Grenzen der Interpretation {… wenn Jack the Ripper seine Taten anhand seiner Bibelauslegung begründete, würde wohl jeder sagen: Du spinnst, Alter!}
Beispiel einer abwitzigen Rotkäppchen-Interpretation (als alchemistische Anleitung zur Trennug von Quecksilber und Schwefel). Eco dazu:
»Man kann aus Texten herauslesen, was sie nicht explizit {ausdrücklich offen} sagen (und die ganze Interpretations-Kooperation des Lesers beruht auf diesem Prinzip), aber man kann nicht das Gegenteil dessen, was sie sagen, in sie hineinlesen«
{Doppel- und Mehrdeutiges nicht willkürlich zu etwas Eindeutigem auflösen, siehe »Total Recall«-Ende mit Schwarzenegger.}
Zweifel an realer Welt:
Waren die Amerikaner wirklich auf dem Mond? (Leichtere Wahrheitsentscheidung in Fiktion: Flash Gordon war auf dem Planeten Mungo). Für Ecos wurde die Mondlandung hinreichend beglaubigt, mittels der Bestätigung durch den USA-Konkurrenten UdSSR. Die Entscheidung was in wirklicher Welt wahr ist, erfordert Entscheidung darüber, wieviel Vertrauen man der Gemeinschaft entgegenbringt, welche Teile der Globalen Kultrurellen Enzyklopädie man anerkennt, vertraut und welchen nicht.
Führt der Leser einen Irrtum beim Lesen ein (glaubt z.B., daß zur Zeit von »Krieg & Frieden« die Kommunisten in Russland herrschen), bleibt das eine Privatsache. Jedoch liefert ein Text das Profil für seinen Modell-Leser (z.B. durch den langen Dialog in Französisch zu Beginn von "Krieg & Frieden«). Ein Autor muß also nicht nur die wirkliche Welt als Hintergrund voraussetzten, sondern dem Leser auch Infos über die wirkliche Welt liefern, über die der Leser womöglich nicht verfügt {Beispiele: Die ganze Mathe in »Cryptonomicon« um Davenports Charakter erfassen zu können; die Details über Ringkampf um Garp von John Irving verstehen zu können.} — Ecos Beispiel: Rex Stout erwähnt Kreuzung 4. und 10. Straße (Sonderfall im West Village, aber nicht wichtig für Handlung) in New York. Wer die Stadt grob kennt, könnte verwirrt sein, denn dort heißt es gewöhnlich Kreuzung aus Street (Breiten) & Avenue (Längen).
Ausklang: Von Walter Scott, der die Voranstellung historischer Infos in einem Roman für nötig hält; Über Washington Irvings Paralipse:
»Wer je eine Fahrt den Hudson hinauf gemacht hat…«;
Bis zu Ann Radcliff, die bezüglich des Aussehens von Südfrankreichs selbst irrte, oder aus hohler Unkenntnis ihr Südfrankreich für »Mysteries of Udolfo« einfach zurechterfand.
ECO ENDE
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Weitere grundsätzliche Beiträge zu Literatur, Science-Fiction, Fantasy und Phantastik:
Marcus Hammerschmitt: »White Light / White Heat« - Zusammenfassung
(Literatur) - Vor einem Jahr las ich den Aufsatz »White Light / White Heat - Science-Fiction und das Veralten der Zukunft« von Marcus Hammerschmitt (zu finden in »Der Glasmensch«, Suhrkamp, S. 173ff) aus dem Jahr 1995.
Hat mich ziemlich schwindlig gemacht vor lauter zustimmenden Nicken, aber bisher ich habe es bisher nicht geschafft, diese 16 Seiten (9 Abschnitte) wirklich zu überblicken. Hammerschmitt bietet einen kenntnisreichen Rundumblick auf die SF an, dabei die Avantgarde genauso im Visier, wie die massentauglichen Serialien. Dabei formuliert er zuweilen etwas komplex, da er sich bemüht eine kritische Reflektion der SF mit einer Verteidugung derselben zu verschmelzen.
Die Anmerkungen in {eckigen Klammern} sind wieder meine, der Rest stammt aus dem Essay.
HAMMERSCHMITT ANFANG
Eröffnungssatz: Die SF hat heute Möglichkeiten, von denen die sogenannte ernste Literatur nur träumen kann. {Schon mal sehr in meinem Sinne} Über Bruce Sterlings Wort vom SF-Autoren als Hofnarren und dessen Beziehung zum Herrscher; in drei Fälen wird Hofnarr ausgebuht: a) Wenn er den selben Witz zweimal erzählt; b) wenn der Witz zu weit ging; c) wenn der Witz nicht weit genug ging. {Das sind ja ganz hervorragende Kriterien zur Qualitätsbestimmung. Vor allem wegen c) nöle ich oft.} Woran soll der Hofnarr seine Zunge wetzen, wenn dem Herrscher die Gemeinheiten ausgehen?
Herausforderung für den Traum der SF: die technische Entwicklung ist dem Menschen weiter voraus, als dem guttut. Zwang der SF immer wieder dasselbe zu sagen, ist Reaktion auf beständiges bequemes Lügen der Massenmedien und Politiker, man hätte die technische Entwicklung schon im Griff. SF bietet da konsumierbare Katastrophen, aber nur selten wird der Rand hin zu unsagbarem Terror des schlechthin Unbekannten erreicht.
Die SF ist kindisch und das verleiht ihr große Kraft. Der kleine Professor {Bill Watersons Calivin und seine Zeitmaschine} verglichen mit dem großen Professor (Otto Hahn, Edward Teller). Der überzeugende Bluff der SF entspricht der Auftritt vom Hofnarren in den Gewändern des Herrschers … Aussage der SF dabei: Alle Geschichten bereits mit dem ersten durch Faustkeil erschlagenen Neandertaler erzählt.
Die Stadt als eigentlicher Schauplatz der SF {erscheint mir doch etwas einseitig}. Die Schilderung der Stadt als ein durch die Mittel der Technik ermöglichter Lebensraum entweder als a) trivialer Illusionismus, oder als b) schnodderige Punk-Kolportage. Über die Wüste als ein Biotop des einsamen elektronischen Cowboys (Lohngangster), dieser als Zeichen einer ermüdenden Technik, die ihre Niederlage (Hiroshima, Tschernobyl) nicht eingestehen will, weil die Puppen noch tanzen.
Schwäche der deutschen SF: Hang zur Tiefgründigkeit {wer ist schon frei davon? Hammerschmitt selbst offenbar auch nicht ganz}, Ablehnung der Unterhaltungskultur {Adronos Eisenkugel}. Bis Ende der Sechzigerjahre wird Grass mißtrauisch beäugt! Die SF wird verschmäht aber heimlich unter der Bettdecke verschlungen. Amerikanisierung {Einzug der Kulturindustrie} in Deutschland nur bezüglich Fernseh- und Essensgewohnheiten.
Weißes Glühen sich entfaltenden technologischen Fortschritts zeichnet gute SF-Texte aus (Hammerschmitt offenbart sich als Hard-SFler}. Schaudern über posthumane Eigenschaften dieses Glühens = nicht intergrierte Technik. Die Versuche, mit den wandernden Taugenichtsen der Romantik die Technik in den Traum zurückzuholen, oder die automatisierte Welt zu verstehen, sind mißlungen. Geräte spielen in SF Hauptrollen, dazu Vergleiche mit Western- und Krimiheld (Knarre, Brief, Geheimdokument, Zigarette). Über Entenhausen als kleinster gemeinsamer Nenner bezüglich Umgang mit Dingen. Scheitert Technikrezeption rückt Körper zum Thema auf. Körper hat Technik nur seine eigene Gesundheit entgegenzusetzten, ansonsten ist er unterlegen … Mißverhältnis der behäbigen Natur zur hektischen Technik offenbart Körper als einstmalig bewohnte Behausung der Seele.
Über Sekten (Hubbard & Co.) als Allianzen von SF mit den Zuständen, die der SF ihre Stoffe liefert. Adornozitat: wir leben in einer Welt, die krasseste Paranoia rechtfertigt, weil sie sie wahr macht. Im High-Tech-Disneyland schießen die Westworld-Roboter mit scharfer Munition.
Enge Nachbarschaft der SF zu Sympathie mit dem Menschen und dem Terror, den der Mensch gegen sich selbst entfesseln kann; dies lößt Unbehagen aus (Blick in Teufelsküche) und läßt staunen, daß SF vorhersagen kann. Dazu Glühbrinen-Eddison: ihr ahnt nicht die Nähe von Konstruieren und Schreiben {siehe Eco-Zusammenfassung: Konjekturverfahren}. Über den Nimbus der SF als Mahner und Seher … aber aus neuen Technologien neue {mögliche} Katastrophen zu spinnen ist der Job eines phantastischen Autors, keine Hellseherei.
Technik wird abgelehnt, wenn Rückholung des natürlichen Bewußtseins angestrebt {natürliches Bewußtsein ist ein ganz heikler Begriff}. Frauen mögen keine SF; Konkurrenz zwischen (männlichen) Fortpflanzungstechnikern und selber gebähren könnenden Frauen (Hüterinnen der Natur), bis hin zu zukünftigen feministischen Terrorismus. - Der Fortschritt von Gestern wird heute der Lächerlichkeit preisgegeben, doch Kafka sagt: Forschrittsglauben kann doch nicht annehmen, daß Fortschritt schon stattgefunden hat, sonst hieße es ja nicht glauben.- Eines Sinnes sind: a) Das arrogantes Staunen über (technische) Errungenschaften der Vergangenheit, und b) die Enttäuschung darüber, daß bisher die Technik das vom Menschen geliehene Leben nicht zurückerstattet hat (und das kurz vorm Milleniumswechsel, ooch Menno). Den Verfechtern einer Aszendenz-Theorie der Geschichte {Mythos vom Zivilisationsprozess, siehe Gegensatz Norbert Elias/H.P. Duerr} entgegnet die SF trotzig: Geschichte hat noch gar nicht stattgefunden … was die SF aber unbekömmlich ernst erscheinen läßt (den Hofnarren nicht gut steht). - Die SF ist und bleibt also vornehmlich paradox, weil sie einerseits verkündet, daß nichts Neues unter der Sonne geschieht, andererseits aber schildert, was in der Zukunft noch geschehen muß.
HAMMERSCHMITT ENDE
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Mein Eindrücke dazu: Die Beobachtung der Stadt als eigentlicher Schauplatz und der Gegenstände als Hauptakteure empfinde ich als überbewertet: da bekomme ich gleich Lust mir eine Provinz-SF auszumalen in Holzhütten, wo Leute sich nur menschliche Belange erzählen {die Prä-Cogs in Spielbergs »Minority Report« am Schluß}. Hammerschmitt übersieht dabei die Kolonie, die Forschungsstation und schließlich das Raumschiff (oder ähnliches), sprich: die Technik als Überlebens-Zelle in unwirtlicher Umwelt … in Verlängerung der Symbiose Mensch/Pferd zu Centaur (Mensch/Auto zu organischem Gefährt … siehe Babylon 5 Schattenschiffe, Borg bei TNG ff}. Hammerschmitt stellt zwar auch mal fest, daß die positiven Utopien der SF selten und meist schwachbrüstig sind, ist aber selber fixiert auf die Dialektik Technik-Mensch-Natur … den Kultur- und Zivilisdationspessimismus teile ich aber weitestgehend.
Interessant die Aussage über Frauen die keine SF mögen, denn das scheint mir (zumindest tendenziell) wirklich so zu sein. Solage also SF vornehmlich von einem Geschlecht bevorzugt wird, ist sie verbesserungsfähig (so verstehe ich Emanzipation), was ein vorrübergehendes Kriterium für gute SF abgibt, oder allgemeiner: Gute SF befriedigt den SF-Kenner einerseits, verschreckt andererseits den SF-Unbedarften nicht und unterhält beide.
Aus der Überschrift und dem Hauptthema von Hammerschmitts Essay entnehme ich ein weiteres neues Kriterium für gute SF: Die aus der Gegenwart extrapolierte Welt der Zukunft sollte möglichst langsam zur Lachnummer vergammeln (wenn sie ernst gemeint ist). - Wenn also z.B. »Auf zwei Planeten« heute mehr unfreiwillige Komik als Abenteurluft verbreitet, ist das ein Minus für die SF-Qualität des Romans. Selbst wenn darin solche noch nicht erreichten technischen Wunderwerke auftauchen, wie sich selbst an der Decke in Schlitze und Fächer wegsortierende Klamotten.
Der ganzen äußerst kritischen und leicht fatalistischen Haltung von Hammerschmitt extrahiere ich desweiteren die erstrebenswerte Qualität: Versuche die Versöhnung von Technik und Mensch zu unterstützen; denn daß deren Verhältnis arg unharmonisch ist, liegt auf der Hand {siehe: »Le monde diplomatique Atlas der Globalisierung«}.
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Weitere Beiträge zu Literatur, Science-Fiction, Fantasy und Phantastik:
• Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist Der Herr der Ringe ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«
• Umberto Eco: »Die Welten der Science-Fiction«
• Umberto Eco: »Mögliche Wälder«
Umberto Eco: »Die Welten der Science-Fiction« — Zusammenfassung
Eintrag No. 85 — Als eröffnenden Paukenschlag zum Thema Zukunftsfiktionen hier das Eröffnungszitat von Brian W. Aldiss »Der Milliarden Jahre Traum«, Bastei Verlag (leider vergriffen).
The mirrors of the gigantic shadows which futurity casts upon the present…
{Die Spiegelbilder der riesenhaften Schatten, welche die Zukunft auf die Gegenwart wirft…}
— P. B. Shelly: »The Defence of Poetry«
Ich habe mir bisher nie die Mühe gemacht, meine einzelnen Geschmacks-Urteile als zusammenhängendes Gebilde zu betrachten: kurz, meine Poetik zu formulieren. Im Forum von SF-Netzwerk habe ich eine Diskussion um die Frage entdeckt, was gute SF sei, und das spornte mich an mal zu stöbern, was denn bisher dazu an brauchbaren Bestimmungsversuchen in meiner Bibliothek zu finden ist.
Ein kleiner Vortrag von Umberto Eco (gehalten auf einer Tagung 1984) kam mir ins Gedächtnis, und ich habe ihn herausgesucht, wiedergelesen und biete nun diese Zusammenfassung von »Die Welten der Science Fiction« in Über Spiegel und andere Phänomene (Deutscher Tadschenbuch Verlag, 1990, Seite 214 ff) an.
Gemeinsam mit der Zusammenfassung der Havard-Vorlesung »Mögliche Wälder« (und erst recht, wenn man Eco selbst kosultiert) hoffe ich allen Phantastik-Lesen ein wenig Handhabe liefern können, mit der sich ahnugslose Verächter und Geringschätzer von SF-, Horror- und Fantasyliteratur schön genüßlich in der Luft zerpflücken lassen.
Meine Anmerkungen {finden sich in kleiner Schrift eckig eingeklammert}, der Rest stammt aus dem Vortrag.
••• ZUSAMMENFASSUNG: »DIE WELTEN DER SCIENCE FICTION«: •••
Eco stellt erstmal klar, daß jedes erzählende Werk eine mögliche Welt konstruiert, verglichen mir der
realen, wirklichen, normalen
Welt in der wir leben, zu leben meinen, wie sie durch den Gemeinverstand, die Kulturelle Enzyklopädie definiert wird.
{Kulturelle Enzyklopädie: Damit ist das gesamte kursierende Wissen über die Welt gemeint, von entzifferten babylonischen Keilschriften bis hin zur Auskunft eines Menschen, den wir in einer fremden Stadt nach dem Weg fragen. Als Individuum gebietet man über etwa ein Zehntel eigenes Wissen, und verläßt sich ansonsten zu neun Zehnteln auf die Kulturelle Enzyklopädie. Wer noch nie in Frankreich oder England war und dennoch »Falsch!« ruft, wenn behauptet wird, daß der Eifelturm in London steht und der Trafalgar Square dem Louvre in Paris zu finden ist, vertraut offensichtlich weitestgehend auf die Kulturelle Enzyklopädie. Figuren wie z.B. Agent Moulder aus der TV-Serie »Akte X« berücksichtigen darüber hinaus auch exotischere Gebiete der Kulturellen Enzyklopädie.}
Seit Alters her nun gibt es laut Eco eine realistische Erzähltradition und eine Gegentendenz, die das Konstruieren von möglichen Welten eben richtiggehend strukurell betreibt.
- Realistisch illustriert Eco durch die Frage:
»Was würde geschehen, wenn in einer biologisch, kosmologisch und gesellschaftlich ähnlichen Welt wie der unseren Dinge geschähen, die zwar nicht faktisch geschehen sind, aber die ihrer {der realen Welt} Logik nicht wiedersprechen?«
{Siehe z.B. die populären ›Realismus‹-Welten von Hannibal Lector in den Büchern von Thomas Harris, das Vendig und Italien von Commisario Brunetti bei Donna Leon, Franz Biberkopf in Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«, Annie Wilkes aus Stephen Kings »Sie« usw.};
- und phantastisch durch diese Frage:
»Was würde geschehen, wenn die wirkliche Welt nicht so wäre, wie sie ist, wenn also ihre Struktur anders wäre?«
wobei als beachtete, bearbeitete Struktur gemeint sein kann z.B. die kosmologische Struktur (sprechende Tiere, animierte Gegenstände, Dimensionslöcher allerorten) oder die soziale Struktur (Idealgesellschaft wie bei Thomas Morus, Francis Bacon, Karl Marx), usw.
Nun unternimmt Eco eine — wie ich finde — sehr einfache und doch griffige Einteilung der Phantastik, in folgende vier Wege:
- ALLOTOPIE: Hier wird unsere gegenwärtige Welt als tatsächlich andersartig geschildert. Tiere können sprechen, oder es gibt Magie, Zauberer, Feen, Geister ect.. Eco beobachtet, daß wenn eine solche Welt erst einmal vorgestellt ist, zumeist nur noch der allegorische Bezug zur realen Welt beachtet wird. {Beispiele: »Watership Down« von Richard Adams, die Harry Potter-Bücher, Bram Stokers »Dracula«, Neil Gaimans »Neverwhere«, Matt Ruffs »Fool on the Hill«, Elis Kauts »Pumukel« usw.}
- UTOPIE: Hier wird geschildert wie die Welt sein sollte {einschließlich der wie es nicht sein sollte-Umkehrung der Dystopie}. Die utopische Welt ist irgendwo, vielleicht parallel zu unserer Welt, an einem fernem Ort, in der Vergangenheit oder Zukunft, aber normalerweise schwer zu erreichen von unserer Welt (z.B. Samuel Butlers »Erehwon«), wenn überhaupt.
- UCHRONIE: Entwirft mögliche Welten nach folgender Frage:
»Was wäre geschehen, wenn das, was wirklich geschehen ist, anders geschehen wäre?«
z.B. {Bush der Zweite die Wahl 2000 nicht gewonnen, oder} Julius Cäsar die Iden des März überlebt hätte. Seitenhieb Ecos auf Verschwörungstheorien:
Wir haben sehr schöne Beispiele von uchronischer Historiographie zum bessern Verstädnnis der Ereignisse, aus denen die aktuelle Geschichte hervorgegangen ist.
{Eco berichtet in anderen Texten von interessanten Begegnungen mit Lesern, die z.B. seinen Roman »Das Foucaultsche Pendel« für bare Münzen nahmen. — Beispiele für derartige Alternativ-Phantastik: »Vaterland« von Robert Harris, »Oscar Wilde im Wilden Westen« von Walter Sattersthwait, »Morbus Kitahara« von Christoph Ransmayr.}
- METATOPIE / METACHRONIE: Hier wird die mögliche Welt als künftige Phase der wirklichen Welt von heute entworfen — hier können wir endlich wirklich von Zukunftsgeschichte sprechen. Ausgenommen solche Zukunftswelten, die eigetlich eine Weiterführung der Gothic Novel oder Romance sind (in denen Burgen und Drachen durch Raumschiffe und Blobs ausgetauscht wurden), oder die unter Allotopie besser aufgehoben sind {wie »Flash Gordon«, »Star Wars«, »The Matrix«}.
Eco grenzt ab und wird genauer:
»SF nimmt stets die Form einer Antizipation an, und die Antizipation kleidet sich stets in die Form einer Konjektur, die anhand realer Tendenzen der wirklichen Welt formuliert wird.«
Die Science der SF kann dabei eben nicht nur naturwissenschaftlich (sprich: technisch), sondern auch humanwissenschaftlich (z.B. linguistisch, sozial- und kulturwissenschaftlich) sein. Über die SF als erzählendes Spiel auf dem Wesenskern der Wissenschaft: dem Konjektivverfahren.
{Konjektur: 1. Vermutung (veraltet); 2. mutmaßlich richtige Lesart; Textverbesserung bei schlecht lesbaren Texten.}
- Beispiel Isaac Newton: Solange er seine Konjektur, Vermutung, Hypothese nicht auf die Probe stellt, bleibt sein Gravitationsgesetz lediglich das Gesetz einer möglichen Welt.
- Beispiel Pierce (Semiotik-Pionier): Auf einem Tisch liegt ne Handvoll weißer Bohnen, daneben ein kleines Säckchen. Orientiert sich die Konjektur an abzeichnender Plausibilität (= der organischen Form, die eine mögliche Welt annimmt) wird gefolgert:
»In dem Säckchen werden sich noch mehr weiße Bohnen befinden.«
Dies bleibt eine Aussage über eine mögliche Welt, bis man im Säckchen nachschaut und feststellt, ob sich tatsächlich weitere Bohnen darin befinden {oder doch herausgebrochene Goldzähne vom einem nahen Schlachtfeld, oder ungeschliffene Rohdiamanten, oder grüne Erbsen, oder oder.}.
Diese Art in möglichen Welten zu denken ist auch Philosophen, Detektiven, Psychoanalytikern, Historikern (und vielen mehr) zu eigen. Angesichts des Beispiels von Pierce aber lautet die Frage der SF:
(Der Tisch wird als leer angenommen) »Was würde geschehen, wenn auf dem Tisch eine Handvoll Bohnen läge?«
oder besser noch: eine Handvoll kleiner grüner Außerirdischer {ja — Eco führt wirklich solche Gedankenspäße auf}.
Eco erläutert die umgekehrte Symmetrie von Wissenschaft und SF:
- Wissenschaft muß ein mögliches Gesetz (Theorie) aufgrund wirklicher Befunde (Beobachtungen, Messungen, Fakten) entwerfen.
- Von möglichen Befunden (Replikanten, Klone, Künstliche Intelligenzen) ausgehend, kann die SF versuchen wirkliche Gesetze (Menschlich ist… z.B. das Mitgefühl?) zu finden.
Kurz gesagt: wo die Wissenschaft ihre möglichen Welten irgendwann verifizieren, falsifizieren muß, kann die SF (und die Phantastik) dies ins Unendliche vertagen {wobei Fiktionen die emotionelle Abrundung einer Geschichte meist wichtiger oder zumindest ebenso wichtig ist, wie die Logikknotenaufdröselung}.
Zum Ende macht Eco auf die Fälle gegenseitiger Befruchtung und Verwandschaft von Wissenschaft und SF aufmerksam:
- daß z.B. Orwell mit der »1984«-Zukunft warnt — die mögliche Welt zeigt sich als abschreckender Leichnam eines dann schon gestorbenen Patienten;
- daß es den Moment gibt, wo der Unterschied zwischen forschender Intelligenz und künstlerischer Intuition verschwindet;
- und schließt damit, daß die SF ein lebendes Beispiel der Verwandschaft von Phantasie und Wissenschaft ist.
ECO ENDE
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Meine Eindrücke: Für mich postuliert Eco die Plausibilität der aus der Gegenwart in die Zukunft extrapolierten möglichen Welt als klar ausgemachtes Kriterium zur Bestimmung guter SF. Oder ungeschwurbelt: In der realen Welt vorliegende Entwicklungen sollen weitergedacht werden und eine stimmige Geschichte darüber erzählt werden. Wobei stimmig hier als Platzhalter dient, der in weitern Betrachtungen — über den eigenen Geschmack bezüglich Stil, Sprache und Form — festgemacht werden müßte.
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Weitere grundsätzliche Beiträge zu Literatur, Science-Fiction, Fantasy und Phantastik:
- Über Anspruch: —Besser kompliziert oder einfach genial? Stegreifvortrag über Zaunpfahlwinkerei, Lesehaltungen, den östlich-westlichen Begriffsrahmendiwan, Glatte und raue Konventionen, Form und Inhalt.
- Lesende Weltenwanderer: —Warum ist Phantastik so hipp; Molo findet, daß Norbert Bolz (in »Cicero« 12/2005) und Rüdiger Safranski (in »Literaturen« 12/2005) darüber ganz anregend sinnieren.
- Molosovskys Wahrheitsbegriff (schnelle Fassung):
—Über Fiktions- und Wahrhaftigkeitsverträge, Verschwörungen und die Kulturelle Enzyklopädie.
- Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist ›Der Herr der Ringe‹ ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«: —Betrachtung Mittelerdes als exzentrische Christen-Mystik.
- Zusammenfassung von Umberto Ecos »Mögliche Wälder«: —Über die Grundlage des Fiktionsvertrages, Beglaubigungsverfahren, Romane als Spiele, die Kulturelle Enzyklopädie und das Wahrheitsprivileg von Fiktionen.
- Zusammenfassung von Marcus Hammerschmitts »White Light / White Heat«: —Über die SF als Hofnarr, kleine und große Forscher, die Stadt und die Dinge, Entenhausen, Sekten, Terror und Mahner.
Cerebus in der F.A.Z.
Eintrag No. 76 — Vormittags Einkaufen, heim, auspacken wegsortieren und dann Perlentaucher gucken. Staune ein wenig, denn laut Feuillitonrundschau hat ein Herr Dietmar Dath in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wohl ein paar Zeilen dem großartigen Comic »Cerebus« von Dave Sim und Gerhard wirdmen dürfen. Neugierig schau ich mal im F.A.Z.-Inhaltsverzeichnis nach und staune etwas mehr, denn der Artikel ist wohl eine satte Bleiwüstenseite lang. Also nochmal Schuhe und Schal angezogen und los eine F.A.Z. zu erstehen.
Die F.A.Z. ist sicherich nicht meine Lieblingszeitung (empfinde sie als verklemmt, umständlich und herrisch, vergleichbar dem Verhältnis der von Glenn Close und Julian Moore dargestellten Frauen in »Cookies Fortune« von Robert Altman), aber ich möchte an dieser Stelle einmal außdrücklich loben, daß diese Zeitung sich bisweilen überraschend aufgeschlossen gegenüber Phantastik und damit verbundenen Genre-Quatsch zeigt … mit nicht mal der sonst im Feuilliton üblichen Ahnungslosig- oder Überheblichkeit.
Schön sehr fein in der Überschrift…
»Alles über alle Menschen und Erdferkel - Dave Sims Sechstausend-Seiten-Comic Cerebus ist vollendet: Als Großwerk in Triumph und Scheitern hat es gezeigt, was die Bildlitertur zu leisten imstande ist«
…die Verwendung des Begriffs Bildliteratur.
Herr Dath schreibt also zum Beispiel…
Einmal Rundumjupp von mir zu diesem Gedankenstrang.
Das alles zu einem Werk, daß keine Chance hat, jemals ins Deutsche übersetzt zu werden: zu umfangnreich, zu teuer wären die Bücher, ein guter Übersetzter (der sich mit Slang und exzellenter Stimmenimitation von u.a. Hemingway, Wilde, King James Bibel herumschlagen müßte) müßte für jahrelange Arbeit gewonnen werden und der in Aussicht stehende Konsumentenkreis ist abschreckend klein … obwohl vielleicht die Zweitausendeins-Kundschaft sich für dieses Comic erwärmen könnte.
{Ich stehe dennoch gerne zur Verfügung, falls ein Verleger jemanden suchen sollte, um Cerebus auf Deutsch zu machen.)
Also, vielen Dank Herr Dath und meine Komplimente für wer auch immer im Gefüge des F.A.Z.-Feuillitons dafür sorgt, daß solch erfreuliche Artikel und notwendigen Relativierungen über moderne Bildliteratur erscheinen.
Für alle, die keine Ahnung haben, worum es geht, hier ein Link zu einer guten (englischsprachigen) Übersicht zu <a href="www.geocities.com" target=_blank">Cerebus.