Spontan gekauft, weil mir der Titel sofort einleuchtete. Wer mit mir länger als fünf Minuten über Tatsächlichkeiten heutiger Arbeitswelten, oder das drangsalierende Verwaltetwerden der Vielen durch die Wenigen babbelt, kennt meinen Spruch: »Wir werden nicht artgerecht gehalten!«
Alle Gattungen sind gut, nur nicht die unbekannte Gattung.
Aristoteles.
Fortsetzung und Schluß des Vorigen.
»Ein gewaltiger Lärm, nicht weit von mir, mit Gelächter, Geschrei und anderem Toben untermischt, reizte meine Aufmerksamkeit. Ich begab mich dorthin und sah Individuen jeder Art, jedes Alters, Geschlechts und Standes; Näherinnen, Soldaten, Kindermädchen waren es, die den Rand einer weiten und tiefen Grube besetzt hielten. Es kostete mir einige Mühe, einen Platz zu finden. Doch gelang es mir endlich, Dank den Bemühungen einer alten Frau, welche mit Fischen, jungen Hunden und Kätzchen handelte, die, wie ich später erfuhr, den Bewohnern der Grube als Leckerbissen hingeworfen werden. Die hier aufbewahrten Bestien sind alle zweiköpfig; ihr zweiter Kopf sitzt nämlich am Ende der bekannten Verlängerung der Rückenwirbel, die man im gewöhnlichen Leben Schwanz zu nennen pflegt. Sie erfreuen sich sämmtlich auch doppelter Organe der Verdauung, vermittelst deren sie beständig zu fressen vermögen, denn wenn die Vorderseite satt ist, fängt die Hinterseite an ihren Hunger zu stillen, und ist sie befriedigt, so hat jene neuen Appetitt bekommen, zur fortwährenden großen Ergetzlichkeit des Publikums.
»Einer meiner Nachbarn erzählte mir, daß der Sohn eines Karpfens und einer Häsin in die Grube gefallen und alsbald doppelt verschlungen worden sei von dem jüngsten dieser Bären, der gerade, als ich ihn sah, sich anmutig auf die Vordertatzen stellte und seinen hinteren Schlangenhals lang ausstreckte, um ein Stück Kuchen zu erhaschen. Ein Soldat, der seinen Tzschako hate haschen wollen, den ihm der Wind vom Kopfe gerissen, hatte das Unglück, vom Hinterrüssel eines anderen Doppelrachen gepackt und in die Ewigkeit geschleudert zu werden. Man zeigte mir den Urheber dieser Missetat; er schließ als Elephant und spielte als Stör mit einer Kugel. Der Katalog ist voll von solchen Tatsachen; ich führe sie jedoch nicht an, damit man mich nicht des Plagiats beschuldige.
»Von Vögeln hatte ich bisher nur die heraldischen gesehen; jetzt aber befinde ich mich vor einem großen Vogelheerde. Das Verzeichnis liefert folgende Notiz über diese gefiederten Wesen.
Provisorische Gattungen
»Wir sind bis auf weiteres gezwungen, unter dieser Benennung diejenigen Vögel zusammen zu fassen, welche die Wissenschaft noch nicht zu klassifizieren vermochte; nicht als ob sie darauf Verzicht leistete (die Wissenschaft leistet auf Nichts Verzicht), sondern weil die Akademie noch nicht die Zeit hatte die Wörter zu bilden, welche dazu dienen sollen, diese neuen Gattungen zu bezeichnen. Vierzig Akademiker sind fortwährend damit beschäftigt und schon ziemlich weit vorgeschritten. Der erste Teil dieser Namen ist schon erfunden — denn jede scientistische Benennung muß aus zwei Teilen wenigstens bestehen — und der zweite Teil wird auch bald folgen. Diese Nomenklatur muß wenigstens jedem Gebildeten verständlich sein, bis zur Vollendung derselben muß es aber den Freunden der Naturwissenschaften anheim gestellt bleiben, wie ihre Phantasie diese Geschöpfe zu charakterisieren für gut findet.
»Das würde mich zu lange aufhalten, ich verzichte darauf. Übrigens täten die Gelehrten dieses Landes wohl daran, sich selbst zu bestimmen, ehe sie die Tiere bestimmen. Die sonderbare Erscheinung eines Menschenkopfes auf einem Tierkörper wiederholt sich jeden Augenblick und noch ist es keinem Philosophen gelungen, die Grundbedingungen dieses sonderbaren Dualismus zu ermitteln.
»Einige Besucher dieses Gartens hatten zu gleicher Zeit mit mir vor dem Vogelheerde Halt gemacht. Unter ihnen war ein kleiner Greis, halb Mensch halb Papagei, der tortz dem offiziellen Verbot einen geflügelten Lachs neckte; neben ihm stand seine Gattin, eine Dame, deren Körper in den Schwanz eines Haifisches auslief. Ihr Söhnchen, das sie an der Hand führte, fraß Gerstenzucker und stand auf den Füßen eines Kückens.
»Meine Verwunderung steigt; ich öffne von Neuem den Katalog und setze meine merkwürdigen Forschungen fort.
Die Hybriden
»Wiederkäuende Vögel, geflügelte Vierfüßler, vielhufige Insekten; alle diese Tiere sind im zoologischen Garten geboren, man verdankt diese Mischlinge der Sorgfalt des Herrn Professors der Zoologie. Sie zeugen wiederum gekreuzte Arten, welche unzählig sind wie die des Pflanzenreichs.
»Als die merkwürdigsten führen wir an: den Hirschstorch, den Bockfloh, den Gemsenkasuar, den Schneckenhasen, den Schneckenschmetterling, den Eulenkater, das Ibismandrill, die Stachelschweinmücke.
»Die Giraffenrhinoceros und Elephantenkäfer bilden eine eigene Klasse unter dem Namen: Läufer, welche keiner ethymologischen Erläuterung bedarf; sie lassen sich leicht zähmen und wären vortrefflich zum Reiten zu gebrauchen, da sie den Lokomotiven an Schnelligkeit gleich kommen. Die Regierung hat eigene Landesgestüte für ihre Erhaltung und Vermehrung errichtet und mehrere Liebhaber von Wettrennen folgten diesem erhabenen Beispiel. — Vermittelst dieser lobenswerten Bemühungen wird bald viel Geld im Lande bleiben.
»Alle diese äußerst friedlichen und sanftmütigen Tierarten leben sehr vertäglich in einem Teil des ihnen bestimmten Parks zusammen.
Nun komme ich zu einer großen Gallerie; sie ist für das Mineralreich eingerichtet, wie der Katalog besagt. Werfen wir uns auf das Mineralreich.
»Die menschliche Intelligenz weiß den Erdball ihrem Willen zu unterwerfen; indem sie die Natur kopierte, stellte sie sich ihre gleich und entlieh ihr Farbe und Form.
»Die Architektur entwickelte sich ganz aus den verschiedenen Kystallisationen, Petrefakten und Stalaktiten. Die ägyptischen Pyramiden, die griechischen Säulenordnungen und die gothischen Spitzen haben keinen anderen Ursprung. Der Mensch schöpfte seine sinnreichsten und anmutigsten Erfindungen aus den Launen der Natur; er hat ihr Alles abgeborgt, von der Baukunst bis zu den Schmucksachen, von den Palästen bis zu den Telegraphen, von den Ordenskreuzen bis zu den Lichtauslöschern, von den Zuckerhüten bis zu den Pfundbroden, den Würfeln, den Dominosteinen u.f.m.
Seepflanzen, Muscheln, Madreporen.
»Wir haben eben gesehen, wie der Mensch von der Natur das Geheimnis der Künste borgte; jetzt überraschen wir die Natur, wie sie von dem Menschen Vorbilder entlehnt. Was sind denn die Seepflanzen anderes als eine genaue Reproduktion von Spitzen, Schnüren, Bürsten, Schirmen, Epauletten, Pompons, Federbüschen, Toupets, Kämmen und dergleichen mehr?
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XVII. Ein Nachmittag im zoologischen Garten
Kracks Manuskript.Zweites Kapitel
Je mehr wir von der Natur kennen lernen, desto mehr wissen wir, dass wir noch nichts von ihr wissen.
Über die Nachtseite der Natur. Th. II, S. 1543.
Wie der Schönheit die Laune, so steht der Natur das Ungeheuer.
Neueste Naturphilosophie. Th.. VI, S. 798.
Eindrücke und Dokumente für die Aprilrreise erwartend, setzt Puff die Lektüre von Kracks Manuskript fort.
»Ich bemerkte heute zum ersten Mal, dass rauschende Freuden die Melancholie in ihrem Gefolge haben, der Lärm des Maskenballs umschwirrt mich noch und verscheucht mir allen Schlaf. Die reine Landluft wird mir gut tun, ich eile sie einzusaugen.
»Vor meinen Füßen öffnete sich ein unbegrenzter Raum, ohne Baume, ohne Pflanzen, ohne Blumen. Eine sanfte Dämmerung vertritt die Stelle des Schattens und des Laubes, eine warme balsamische Luft die der Pflanzendürfte; Nichts unterbricht das Schweigen und die Einsamkeit, die ringsum herrschen. Ich schreite vor, indem ich dem Echo, das mir nicht antwortet, die sanften Klänge eines empfindsamen Liedes Preis gab.
»Doch plötzlich, als ich die Bemerkung mache, dass diese Gegend mir nicht allein nicht bevölkert, sondern ganz öde zu sein scheint, vernehme ich einen dumpfen und abgemessenen Lärm in der Ferne. Ohne Zweifel ein Pferd, auf dem ein Reiter sitzt, sage ich zu mir. Aber es war nicht eigentlich ein Pferd und auch nicht eigentlich ein Reiter. Soviel ich während des raschen Vorrübersprengens wahrnehmen konnte, hatte das Geschöpf, das sein eigentümliches Roß zu der Verfolgung eines grünen Bären (von dem ich später erfuhr es sei ein Bär-Boa) antrieb, viel vom Menschen, obwohl seine Füße die eines vierfüßigen Tieres und sein Kopf eben nicht ganz menschlich waren. Ich glaubte zugleich das Bellen eines Hundes zu vernehmen, sah aber nur den runden Rücken einer Schildkröte, welche eifrig die Fährte des Wildes zu verfolgen schien. Zu welchem Geschlechte gehören denn die Geschöpfe, die ich so eben erblickte und wie kommt es, dass Schildkröten wie Windhunde laufen? Ich ging eine halbe Meile weit fort, ohne mir die Frage lösen zu können.
»Überschlage ich es recht, so wandelte ich wohl anderthalb deutsche oder zwei Postmeilen weit, ohne mich von meinem Erstaunen zu erholen. Ich fühlte mich ermüdet, legte mich auf dem Sande hin und schlief ein. Mein Schlummer war ganz traumlos; Morpheus schloß mir hartnäckig das Tor von Elfenbein, durch welches die Träume ziehen, die die Götter und Erdgeborenen erfreuen.
»Da weckte mich das Gebell wieder, ich sah die Schildkröte mit dem Hühnerhundskopfe, die mich kläffend umsprang. Einige Schritte weiter lag das seltsame Roß ausgestreckt auf dem Boden. Der Herr desselben schritt auf seinen beiden Pferdehufen näher und redete mich mit einigen Worten an, die ich mir in meine Sprache übersetzte mit: ›Gehorsamer Diener, mein Herr!‹
»Ich lasse alle weiter Präliminarien dieses Zusammentreffens weg; es genüge Dir zu erfahren, dass dieses überaus höfliche Ungeheuer nichts anderes ist als ein alter Zentaur, den die Naturforscher des Landes damit beauftragt haben, auf die seltenen Tierarten Jagd zu machen, um den neugestifteten zoologischen Garten damit zu bereichern. Der scientistische Jäger nahm mich hinten auf sein Roß, wir durchzogen mehrere Dörfer, und begegneten unterwegs zwei Lieferanten von fremden Bestien, die den zoologischen Garten versorgten, und gerade ein Amphibiendromedar dorthin brachten. Mein Führer teilte mir nun so viel Interessantes über diesen neu gestifteten Garten mit, dass ich mich beeilte ihn zu besuchen.
»Aber eine genaue Beschreibung desselben würde mich zu weit führen. Ich lasse also den Zufall und die Laune eben so bei der Schilderung walten, wie sie es mit mir während des Besuches taten und teile Dir, um doch nicht zu unwissenschaftlich zu sein, die nötigen scientistischen Notizen über die einzelnen Stücke dieser ebenso reichen als merkwürdigen Sammlung mit, wie ich sie dem beschreibenden Verzeichnisse entlehnte, das am Eingang verkauft wird.
Sirenen
Geschenk des Herrn Ulysses von Ithaka, Kapitän einer levantischen Brigg
»Diese Tiere, halb Fische halb Weiber, werden gewöhnlich in der ficilischen Meerenge gefunden. Ihre vorzügliche Beschäftigung besteht darin, die Schiffer durch ihren Gesang anzulocken und diese dann ihrem unersättlichen Hunger zum Opfer zu bringen. Die Natur hat sie mit einer seltenen und wunderbar schönen Stimme begabt. Ohne Mühe erreicht dieselbe eine fast unglaubliche Höhe, schlägt die prachtvollsten Triller und führt die schwersten Coloraturen aus. Man hat versuchen wollen, sie für die Bühne zu dressieren, aber es war unmöglich sie zu diesem Zwecke zu zähmen, auch konnten sie das trockene Klima der Kulissenwelt nicht vertragen. Ihre Stimme ist übrigens so zart und mächtig, dass die Seefahrer in diesen Gewässern sich häufig genötigt sehn, ihre Ohren mit Jungfernwachs zu verstopfen. Über die Fortpflanzung dieser Tiergattung schwebt die Wissenschaft noch immer im Dunkeln. Die Vermutung, dass die lange am Rhein gesehene und eben so oft besungene als singende sogenannte Lorelei eine versprengte Sirene gewesen (wie als versprengte Walfische gibt), ist durch die neuesten Forschungen zur Gewissheit erhoben worden.
»Rings um das Bassin der Sirenen hatten sich viele wissbegierige Besucher des Gartens versammelt; mir selbst lag daran zu erfahren, welchen Eindruck meine Erscheinung auf diese verräterischen Tiere machen würde. Mehrere junge Leute haben sich bis zur Raserei in diese hübschen Ungeheuer verliebt. Ein Wächter ist beständig gegenwärtig, um sie am Singen zu verhindern. Die leiseste Note, die sie anschlügen, würde unzählige Selbstmorde veranlassen, denn zwei Drittel der männlichen Bevölkerung stürzten sich ohne Zweifel in das Bassin. Die strenge Bewachung der Sirenen gehört zu den peinlichen {im alten Sinne des Wortes ›lästig‹, ›schmerzhaft‹, hier also gemeint: ›mit höchster Anstrengung zu leistenden‹} Amtspflichten des Direktors vom zoologischen Garten. Sein Vorgänger wurde ohne Pension entlassen, weil er einer Sirene einmal die einfache Skala zu singen gestattete; ich billige diese Maaßregel von ganzer Seele und bin überzeugt, die Freunde der Ordnung und der öffentlichen Sittlichkeit stimmen mit mir darin überein.
Wenden wir uns jetzt zu einer anderen Gattung. Wir finden ganz in der Nähe, so wie auf der folgenden Seite des Katalogs:
Die heraldischen Tiere
Aus verschiedenen mehr oder minder entfernten Reichen von einem ungenannten Freunde der Naturwissenschaften mitgebracht und hieher geschenkt.
»Diese Tiere wurden in verschiedenen Reichen gesammelt, wo die Eingeborenen ihnen fast göttliche Ehren, wie ehemals die Ägypter dem Apis und Ibis, erwiesen. Ohne Zweifel hat die Erinnerung an jene Art von Cultus sie stolz gemacht und hindert sie, in gutem Einvernehmen mit einander zu leben. Übrigens arten diese Gattungen von Tage zu Tage mehr aus und einige derselben sind schon gänzlich ausgestorben.
»Stolz! Du richtest auch die Tiere zu Grunde: welche Lehre für die Menschen!«
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Eintrag No. 697 — Von allen großen SF-Franchises gefallen mir die »Alien«-Filme am besten, trotz aller Macken (vor allem derer von Film 3 und 4). Nun habe ich die ausführlichen Zusatzmaterialien der BlueRay-Ausgabe von »Alien Anthology« genossen, was ein gelegener Anlass ist, meine alten Einträge aus der (leider immer noch kaputten) Film-Datenbank des SF-Netzwerkes aufzubrezeln.
Auch wenn die Filme als Klassiker der SF gelten und damit ihr Inhalt als bekannt vorausgesetzt werden darf, warne ich, dass ich im Folgenden beiläufig so manche überraschende Wendung verrate. — Allein schon, dass in allen vier Filmen Ripley die menschliche Protagonistin ist, gibt preis, wer den ersten Film überleben wird. Wer die Alien-Filme noch nicht kennt, dem rate ich, sich doch erst einmal die Filme zu gönnen, und erst dann diese meine bescheidene Liebeserklärung zu lesen.
Warum gefallen mir die »Alien«-Filme so dolle? — Darum:
Abgesehen vom allgemein hohem Produktions-Niveau begeistert mich das SF-Design, so, wie das ›used future‹-Konzept beim ersten Mal und in Folge (mehr oder weniger) immer wieder gelungen umgesetzt wurde.
Weil jeder der vier Filme durch das Spiel eines exzellenten Schauspieler-Ensembles geprägt wird. Tatsächlich bin ich der Meinung, dass keiner der vier Flme auch nur eine einzige Fehlbesetzung zu beklagen hat (ja, ich finde, dass auch Wynona Ryder in Film 4 vorzüglich ihre Rolle ausfüllt).
Weil jeder der vier Filme es wagt, seine jeweils eigentümliche Version des Kampfers gegen das Biest zu liefern; also, weil Varianz und nicht Einheits-Rezept die Reihe prägt.
Und schließlich, weil das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt mein persönliches Movie-Lieblingsmonster ist.
Was den letzten Punkt angeht, könnte ich nun anheben zu einem ausgiebigen (und als eigenen Molochronik-Eintrag eigentlich schon lange ausstehenden) Verehrungs-Bekenntnis für das Schaffen von Hans Rudi Giger. Seine »Necronomicon«-Bildbände gehörten zu den ersten zehn Büchern, die ich mir als Teenager angeschafft habe. Damals, in der Hepberger Provinz hatte ich zwar noch keine Möglichkeit, den Film »Alien« zu sehen, aber aus SF-Filmlexikas der Stadtbibliothek und der Buchläden kannte ich Abbildungen vom Monster und von Giger-Kunst, und vom ersten Moment an, war ich diesen Kreationen mit Haut und Haar verfallen.
Man kann sich, denke ich, vorstellen, mit welcher Wucht Gigers Bildbände und meine empfängliche, jugendliche Phantasie zusammenprallten. Auch wenn ich zu einigen Aspekten seines Werkes auf Distanz bleibe (vor allem zu dem ganzen schwarzmagischen Okkultkram), bin ich immer noch davon überzeugt, dass er einer der visionärsten und bedeutendsten bildenden Künstler der letzten Jahrzehnte ist. Neben seinem untrüglichen Gespür dafür, zu veranschaulichen, wie beklemmend das Sein in der heutigen Welt sein kann (kosmisches Grauen!), beeindruckt mich seine erstaunliche Gabe, Grauseliges und Schönes miteinander zu verschmelzen (sehr oft, indem Dinge sexualisiert werden; Giger ist zweifelsohne einer der großen Erotomanen der Kunst), und nicht zuletzt entzückt mich sein desöfteren aufblitzender Humor, sei es in der bitteren Variante deiner »Todgeburtmaschinen«, sei es in satirischer Form, beispielsweise seinem Vorschlag, die Schweiz mit fünf Eisenbahn-Untertunnelung ein riesiges Pentagram einzubohren.
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Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt
So ist das mit den Meisterwerken: Wollte ich meine Lieblings-Szenen des Filmes anführen, könnte ich gleich den ganzen Film nacherzählen. Allein schon der Beginn, wenn das große Raumschiff Nostromo vom Bordcomputer gesteuert zum Leben erwacht, gehört zu meinen Höhepunkten der Kinogeschichte. Für mich ist und bleibt »Alien« der prägende Pionier in Sachen ›used future‹, auch wenn »Star Wars« die Ehre gebührt, dieses Konzept bei seinen Tatooine-Schauplätzen etwas früher präsentiert zu haben, (aber: das ›used future‹-Konzept gründet sich bei beiden Filmen auf dem Geschick des Set-Dekorateurs & Produktions-Designers Roger Christian, der es verstand, auf Industrie- und Flugzeug-Schrottplätzen Material für seine SF-Kulissen zusammen zu klauben). Filmgeschichtlich gesehen, ist »Alien« der erste Film, der ein mich vollends überzeugendes SF-Design bietet.
Der erste Teil ist ein finsteres Horror-Märchen, mit dem Weltall, einem fremdartigen Planten als finsteren Wald, und der Nostromo als Platzangst bereitendem düsteres Schloss. Die Mär beginnt ruhig und kühl, steigert sich im weiteren Verlauf zu einer immer panischeren Count-Down-Hetze, und entlässt uns am Ende wieder zu den Klängen sanfter orchestraler Abspannmusik in den Cryo-Schlaf. Die Story ist freilich wenig mehr als ein ›Zehn kleine Jägermeister‹-Spiel, doch die Spannung zu der sich dieses im Verlauf aufschwingt, ist für mich heute noch vorbildlich.
Sehr fein finde ich die kleine Crew mit ihren unterschiedlichen Typen. Überzeugend prollige Gesellen hatschen mit Hawaihemd und Baseballkapp herum, und vor allem eine bürokratisch denkende (genauer: programmierte) Figur ist mit ihrer Kaltherzigkeit ein feines Neben-Monster.
Ich bevorzuge die ursprüngliche, etwas gemächlichere Fassung ohne die ›zum Ei verpuppen‹-Szenen der Quadrology-Edition. — Fazit: 10 von 10 Punkten.
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Aliens – Die Rückkehr
Stimmungsvolle Menschen- und Kolonie-Architektur (die Verlade-Robots!, siehe Kampfmaschinen in »Matrix 2 & 3«), auch wenn die dicken Wummen ein wenig überzogen sind. Feines Alien-Design (nicht von, aber nach Giger), und das Groß-Puppenspiel der Alien-Queen ist meisterlich, trotzdem finde ich die Königin nicht vollends gelungen. Am meisten grummle ich, dass die Masse der Normal-Aliens der Faszinatationskraft des Monsters abträglich ist. Auch wenn das Konzept, dass sich in für sie fruchtbarer Umgebung die Aliens wie ein Insektenstaat organisieren und entsprechend vermehren, prinzipiell interessant ist, werden die Viecher in diesem Film über Gebühr zu Schießbudenfiguren degradiert. Aber dies ist der Äktschn-Kracher unter den Alien-Filmen und erfüllt diese Aufgabe geradezu perfekt. Kein Wunder, das James Cameron mit diesem Streifen Maßstäbe für große SF- und Baller-Flicks gesetzt hat, die seitdem nur selten wieder erreicht wurden.
Einige sehr dick aufgetragene Charaktere laufen herum, die aber durchwegs funktionieren (brillant zum Beispiel Bill Paxton als nervig-cooler Cowboy). Sehr feiner kleiner Schleimer-Bösewicht, und Lance Hendrickson gibt mit anrührenden Körpereinsatz einen äußerst überzeugenden Androiden. Die überlebende Newt ist wohl nicht nur für mich einer der wenigen Fälle, wo ein Kind in einem Äktschnfilm nicht nervt.
Der Extendet Cut ist stimmiger als die Kinofassung, und funktioniert als schräger Vietnam-Film. — Fazit: 9 von 10 Punkten.
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Alien3
Natürlich trauere ich darum, dass von den im Bonus-Matrial vorgestellten Plänen von Vincent Ward zu diesem Teil so wenig umgesetzt wurde. Wahrlich eine großartige Idee, Ripley und ein Alien auf einer aus Holz gemachten Sphäre mönchischer Technik-Verweigerer abstürzten, und das Monster als Inkarnation des Leibhaftigen unter den religiös Erhitzten wüten zu lassen, die daraufhin das Grundübel in der verdorbenen Frau vermuten. Übrig blieb nur, dass sich Ripley und eben wieder nur ein Alien in der Umgebung eines karg ausgerüsteten Gefängnisses für Schwerverbrecher wiederfinden, und dass diese ausnahmslos männlichen Gefangenen ihrer Hysterie mit einem spirituellem Reinheitsgelübte Herr zu werden trachten.
Film 3 präsentiert sich uns wieder als Kammerspiel, wie auch der erste Teil. Zwei leidenschaftliche Theaterschauspieler zeigen, wie man mit Kleinigkeiten Spannung in Dialoge bringt: ein Hoch auf das ›Pärchen‹ Sigorney Weaver und Charles Dance.
Der (zugegeben seltene) Humor liegt mir mehr als der in Teil 2. David Fincher beweist sein Talent bei diesem seinem Spielfilm-Debut bereits mit dem Anfang, der mit beunruhigenden Fragmenten die Ausgangssituation darstellt, und alle Hoffnungen, mit denen der zweite Film endete, zunichte macht. Überhaupt finde ich die düstere Konsequenz (viele beschreiben die Stimmung des Filmes als bedrückend nihilistisch) dieses Teils richtiggehend erfrischend. Dieser Alien-Film eignet sich vorzüglich für trübsinnige Tage, wenn man etwas braucht, in das man sich mit Depri-Laune reinkuscheln kann.
Dieser Film ist erstaunlich gut, wenn man zur Kenntnis nimmt, was für Probleme es bei der Produktion gab. Enttäuschend nur, dass die Schlussjagd sich etwas lang dahinzieht und das die Tricktechnik, mit der Alien umgesetzt wurde, in einigen Szenen sehr zu wünschen übrig lässt. — Fazit: 8 von 10 Punkten.
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Alien – Die Wiedergeburt
Ich kann verstehen, dass sowohl viele Alien-Fans, als auch viele aus dem Kreise des ›gewöhnlichen‹ Publikums diesen bisher letzten Film der Reihe für mehr oder minder misslungen einstufen. Film 4 ist mit Abstand der hysterischste, der sich am weitesten vom ›Originalton‹ entfernt, und dessen Inszenierung zwischen Äktschn-, Humor- und Horror-Aspekten eine heikle Gratwanderung zusammenwackelt.
Interessanterweise lassen sich einige Sequenzen des Filmes als Selbstbespiegelung von Franchise-Ausbeuterei und überdrehter Alien-Begeisterung lesen: Skrupellose Wissenschaftler (Symbol für Filmproduzenten und Franchise-Spin Doktoren) sind dabei, Aliens zu züchten, und versuchen sie zu zähmen. Einer der Wissenschaftler ist geradezu vernarrt in die Monster und gibt sich ein zärtlich-neckisches Mimik-Duell (grandios dargebracht von Brad Dourif). — Ripley wird von Entsetzten überwältigt, als sie ein Kabinett mit misslungenen Mensch/Alien-Klon-Mischlingen entdeckt (Symbol für: enttäuschte Fans, die nicht ertragen, was aus ihrem geliebten Monster-Franchise gemacht wurde), und einem besonders erbärmlichen Exemplar verpasst die den ›gnädigen‹ Flammentod (eigentlich ziemlich ›ungnädig‹, denn Verbrennen ist recht grauselig; sie hätte dem armen Klon besser erstmal eine Kugel in den Kopf jagen sollen). — Unschuldige Menschen (Symbol für: Alien-Fans, die nicht anders können, als sich einen neuen Alien-Film angucken wollen zu müssen) werden als Versuchskaninchen missbraucht und finden sich über Alien-Eiern fixiert, damit die frischschlüpfenden Face Hugger gleich einen Wirtskörper haben.
Ich kann mir nicht helfen und finde diesen Teil trotz all seiner Unzulänglichkeiten ziemlich unterhaltsam. Genial zum Beispiel die Idee eines guten Untergrund-Androiden (menschlicher als die Menschen) und der drastisch erbärmlichen Klonkreuzung »Ripley 8«. Ich liebe auch den Stationskommandanten (ich sag nur Schuhe putzen), seinen Sicherheitschef und die Weltraum-Piraten. — Meine Lieblingsvignette spielt in der Kantine, wenn die Piraten beim Fernsehgucken Zeit totschlagen und Wynona Ryder versucht, mit Boxhandschuhen aus einer Blechtasse zu trinken.
Der ganz große Flop des Filmes ist mit Abstand das peinlich-behämmerte Design der menschlichen Äuglein in Totenkopfeinfassung für die neue Alien-Brut. Diese neue Alien-Züchtung ist schlicht ein Griff ins Klo. Da hilft der peinsame Abgang des Viehs auch nicht mehr viel.
— Fazit: 7 von 10 Punkten.
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10 + + + + + Maßstabsetztendes Meisterwerk; Olympisch.
09 + + + + Überwiegend exzellent; Packend.
08 + + + Bemerkenswert mit leichten Schwächen; Anregend.
07 + + Befriedigendes Handwerk; Kurzweilig.
06 + Unterhaltsam mittelprächtig; Akzeptabel.
Unsichtbare Grenze der absoluten Mittelmäßigkeiten05 - Brauchbar mittelprächtig; ganz nett, aber insgesamt lau.
04 - - Überwiegend mittelprächtig; Anstrengend bzw. langweilig.
03 - - - Bis auf wenige Momente daneben gegangen; Nervig.
02 - - - - Ziemlich übeles Machwerk; Zeitverschwendung.
01 - - - - - Grottenschlechtes übles Ärgernis; Pathologisch.
Eintrag No. 610 —Ist man bekennender Fanboy eines Autoren, bekommt man früher oder später Probleme damit, wenn man dessen verschiedene Bücher wertet. Kaum ein Schriftsteller bewegt sich auf einem ständig gleichbleibenden Exzellenzniveau (außer natürlich jenen, die sich im marktgefälligen Mittelmaß behaglich festgeschrieben haben), vor allem dann nicht, wenn besagte Schriftsteller gerne neue Wege einschlagen und zu vermeiden trachten, dass ihre einzelnen Werke sich einander zu ähnlich geraten.
Nein, damit sei keine Apologie angestimmt, die schönreden soll, dass dem englischen ›Weird Fiction‹-Jungmeister China Miéville (*1972) ein Roman missglückt ist, oder dass meine Fan-Erwarungshaltung mehr oder minder eklatant enttäuscht wurde. Aber dennoch muss ich eingestehen, dass mich »Un Lon Don« als Story nicht so wohlig-bratzig überwältigt hat, wie seine drei enormen Bas-Lag-Romane »Perdido Street Station«, »The Scar« und »Iron Council«. Kunststück, denn Bas-Lag wird wohl noch sehr lange einen ganz besonderen Platz nahe meines heiß lodernden Phantastik-Afficionadoherzens innehaben. Die Karten auf den Tisch gelegt kann ich also (leider) sagen: wie schon Miévilles Debüt »König Ratte« oder die ein oder andere Kurzgeschichte der Sammlung »Andere Himmel« durchbricht »Un Lon Don« keine Extraschallmauern der Qualität. Aber immerhin: besagte Ambition, mit jedem Buch etwas wirklich anders anzupacken verhilft auch »Un Lon Don« dazu als lesenswert gelten zu dürfen. Das Neue, das China diesmal wagt, ist, dem äußerst populärem Genre der Abenteuer-Phantastik für Jungleser zuzuarbeiten (oder wie es auf Neudeutsch genannt wird, der ›Jung Adult‹-Sparte), und wenn ich mich umschaue, was ich in den letzten Jahren auf diesem Gebiet mitbekommen habe, dann kann ich »Un Lon Don« als eine durchaus gelungene Bereicherung dieses wildwuchernden Gefildes würdigen.
In der Danksagung erwähnt Miéville viele Namen, aber ein paar sind mir besonders aufgefallen und eignen sich, Inhalt und Gebaren des Buches zu skizzieren: Clive Barker, mehr aber noch Michael de Larrabetti und Neil Gaiman haben dem im »Un Lon Don« angestimmten Thema eines phantastischen, seltsamen Anderswelt-London in ihren Werken bereits ausführlich zugearbeitet. Unschwer zu erkennen war für mich die Inspiration, die Neil Gaimans »Neverwhere« auf Chinas neustes Buch hatte, gibt es doch auch dort neben dem ›normalen‹ Allltags-London (London Above) ein befremdliches, undurchschaubar-magisches Neben-London (London Below) in dem sich vor allem aus dem Rahmen des Gewöhnlichen herausgefallene Figuren (und Monster) aus allem möglichen Gefilden der Vergangenheit und Stadtlegende tummeln. — Der Tradition von Michael de Larrabetti (von dem Miéville bereits als Jugendlicher selbst ein großer Fan war, wie ein in »Pandora 2« abgedruckter Text von China belegt) folgt »Un Lon Don« insofern, als dass es auch bei Larrabettis grandiosen Klassiker »Die Borribles« um ungezähmte Jugendliche geht, die gegen die Borniertheit und Gier der Autoritäten und besser gestellten Klassen aufbegehren. — Eine Überraschung war dann, auch den Namen des verehrten Zamonien-Meisters Walter Moers in der Danksagung zu erspähen. Doch eigentlich kein Wunder, denn einige seiner Zamonien-Wälzer wurden in den letzten Jahren ins Englische übersetzt (übrigens: lustig zu lesen), und dass China Miéville begeistert ist von Moers’ rand- und bandloser Frechdachsphantastik passt wie die Faust aufs Auge. Vor allem, die Art und Weise wie sich bei Moers Erzählung und Illustrationen brillant ergänzen hat es Miéville angetan und wohl unter anderem davon beflügelt hat er sich getraut selber zum Zeichenstift zu greifen und »Un Lon Don« ausführlich zu bebildern. Ein Hoch auf den Bastei Verlag, dass diese Illus auch in der deutschen Ausgabe geboten werden (wohingegen leider das Titelbild von Arndt Drechlser gröblichst enttäuscht).
Die schöne Zenna und die unauffälligere Debba sind beste Freundinnen und geraten langsam – durch mysteriöse Ereignisse, Unfälle wie auch durch die eigene Neugier – in eine verdrehte Welt jenseits des ›Absurdum‹ (engl. ›The Odd‹), nach Un Lon Dun. Alle Städte unserer Welt haben so ein seltsam-verdrehtes Zwillingsgeschwister, genannt Visavistädte: Lost Angeles, No York, Hongkaum und so weiter. Alles was in den wirklichen Metropolen dem Vergessen anheim gefallen ist, was verloren, aussortiert, abgeschafft, zerstört oder nie umgesetzt wurde, kommt in diesen Visavistädten mehr durcheinander als geordnet zusammen. Ganze Häuser werden in Un Lon Don aus entsprechendem Zeug zusammenimprovisiert, aus ›Graffel‹ (im Englischen: ›Moil‹ für ›mildly obsolete in London‹[01]). So werden zum Beispiel kaputte Hubschrauber zu Windmühlen umfunktioniert, oder ganze Gebäude aus nicht mehr funktionierenden Radios oder Schallplatten errichtet. Ein alter, überwunden geglaubter Schrecken, der Smog, ein zu Bewusstsein und Ambition gekommenes Abgaswolkenmonster, bedroht Un Lon Don und laut der Prophezeiung eines keineswegs unfehlbarem (aber ziemlich eitlem) Orakelbuches ist Zenna die Auserwählte Heldin, die den Smog besiegen wird.
Nun bin ich in der Zwickmühle, nicht offen loben zu können, ohne tolle Kniffe der Handlung zu verraten. So viel sei angedeutet, dass Miéville einigen Fantasy-Konventionen, die sich über die Jahre zur plattesten Routine eingeschliffen haben, gehörig vors Knie tritt und sie erfrischend kritisch ummodelt. Auf den Müll also mit empörendem Auserwähltheits-Schmu, weg mit der sanft-paternalistischen Allwissenheit von Magiern und ihren sprechenden Zauberartefakten, und wie ich finde am brillantesten: hinfort mit der beleidigenden Vorstellung vom Helden-›Sidekick‹ (übersetzt als ›Randfigur‹). Auch habe ich mich köstlich amüsiert, wie im Laufe der Abenteuer das Konzept der Queste genüsslich-brachial demontiert wird. So sehr ich den solcherart vermittelnden Appellen nickend zustimmen kann (Warte nichts auf das Schicksal, sondern gestalte nach nach eigenem Wissen und Gewissen die Welt; Nimm von bestimmungsmächtigen Autoritäten nicht alles unhinterfragt hin; Nicht Sinn suchen, sondern Sinn geben ist wichtig), muss ich doch kritisch einwenden, dass bisweilen dieser Impetus des Aufrütteln-Wollens ein wenig zu sehr … nun ja … mit dem Zeigefinger daherkommt. Aber Miéville ist nicht der einzige, dem solche Ausrutscher passieren, denn derartig ins Auge springende Gutmenschen-Lehren trüben auch bei Philip Pullman oder J. K. Rowling ein wenig den Spaß. Und wenn ich mal vergleiche, wie viele verschwatzte Seiten zum Beispiel der Töpferjunge braucht, um seine Message zu wuppen, dann strahlt »Un Lon Don« bemerkenswert helle auf. Wie auch immer, das beherzigenswerte Anliegen von »Un Lon Don« bringt vielleicht folgende Stelle auf den Punkt, wenn Debba sagt:
»Wenn Du wüsstest, dass irgendwo was Schlimmes passieren wird, aber die Menschen dort wüssten es nicht und glaubten sogar, es wäre etwas Gutes, aber du weißt, das ist es nicht und du weißt es nicht hundertprozentig sicher, aber eigentlich weißt du es schon, und du wüsstest nicht, wie du ihnen eine Nachricht schicken kannst und du hörst nie etwas von ihnen, deshalb würdest du nie erfahren, ob es geholfen hat, selbst wenn du ihnen eine Nachricht geschickt hättest …«[02]
Trotz der (für Miéville’sche Verhältnisse) leichten Schwächen, beglückt »Un Lon Dun« mit einem enorm kunterbunten Potpourri schräger Figuren, ungewöhnlicher Orte, pfiffiger Dialoge und berraschender Ideen. Meinen Respekt (und einiges Giggeln) heimst zum Beispiel Chinas Geschick ein, wie er ein banales Milch-Tetrapack mit Leben erfüllt; wie die zu Kreaturen gewordenen Wörter des Königs des Fasellandes (die Schwaflinge) rebellisch herumwuseln; wie ein Berufsabenteurer mit einem Vogelkäfig als Kopf (Rene Magritte läßt grüßen) den Protagonisten dabei hilft, ihren Weg durch ein Haus zu bahnen, in dem sich ein veritabler Dschungel samt Gewässern voller Piranhas befindet; wie aus alten Autos Boote und aus Büchern Klamotten gemacht werden; wie Extremlibristinnen von ihrem gefährlichem Job an den Innenhängen des Bücherturms erzählen; wie Mülltonnen als Elite-Kämpfer umherhüpfen (Englisch: ›Binjas‹). Was den Verlauf angeht, ist »Un Lon Don« bis auf den sich sachte in die Welt jenseits des Absurdum hineinsteigernden Beginn des Buches, eine gehörig atem- und ruhelose Hatz.
Ein Beispiel (von vielen möglichen) für die abwechslungsreiche Monsterschar gefällig? Hier die Beschreibung einer Ausgeburt des Smogs (zudem eine kräftige Stelle um das geschickte Händchen von Übersetzerin Eva Bauche-Eppers zu zeigen):
Die Smoglodyten waren fahl wie Leichenwürmer und farblos. Alle hatten sie entweder riesige schwarze, nur aus Pupille bestehende Augen, damit sie im schmutzig grauen Zwielicht des Smogs sehen konnten, oder gar keine. Alle verfügten über irgendeine Anpassung zum EInatmen der giftigen Melange, wie riesige Nüstern oder mehrere von diesen, um den wenigen vorhandenen Sauerstoff aus den Schwaden zu filtern. Deeba entdeckte ein Wesen, das an eine katzengroße Schnecke gemahnte und sie mit einem Strauß Stielaugen beobachtete. Der Rest des Kopfes war eine organische Gasmaske.[03]
Also, wem (mit Gesellschaftsengagement gewürztes) phantastisches Holterdiepolter taugt, besuche »Un Lon Don« und mache sich dann auf, sich einen eigenen Weg zur anderen Seite des Absurdum zu bahnen, um Perdülin, Krankfurt, Über-die-Wuppertal, Kaputtgardt, Entleibtzig, Verbaselt, Ham-wa-nicht-burg, Fortmund, Kainz und die anderen deutschsprachigen Visavisstädte aufzumischen.
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China Miéville: »Un Lun Dun«; Intro, Epilog, 9 Teile mit 99 Kapiteln auf 591 Seiten; mit ca. 100 S/W-Illustrationen des Autors; 521 Seiten; (UK-Ausgabe) Panmacmillan 2007; ISBN: 978-0-230-01627-9.
Deutsche Ausgabe: »Un Lon Dun«; Aus dem Englischen übertragen von Eva Bauche-Eppers;; Bastei Luebbe Taschenbuch 2008; ISBN: 9-7834-0420-5882.
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ANMERKUNGEN:
[01] In etwa: ›ein bisschen überflüssig in London‹. »Moil« bedeutet im Englischen aber auch, »sich {in einer Mine} abrackern«. Miéville, willkommener Pionier der ökologisch unbedenklichen Recycle-Fantasy! ••• Zurück
[02] Kapitel 36, »Zwischen den Zeilen«, S. 204. ••• Zurück
Eintrag No. 603 — Auch wenn ich mittlerweile wegen meines Brotjobs weniger Zeit habe, versuche ich mindestens ein-, zweimal im Monat einige Stunden frei zu machen für Anlese-Sessions im großen örtlichen Buchkaufhaus. Da geraten mir empörend viele Romane in die Finger, die sich offenbar an den so genannten ›Durchschnittsleser‹ wenden. Romane, die ich nach 10 bis 20 Seiten zur Seite lege, weil sie eben, nun ja, zu zahm, zu charakterlos und zu konformistisch sind. Wenn ich mal ich Bock auf solchartig stromlinienförmig-narrative Stangenwahre habe, dann vertraue ich mich lieber Filmen, TV-Stoffen an (und auch Comics; ich sag nur: Schauwerte). Da kann ich es verstehen, wenn Geschichten vor Angepasstheit strotzen, wenn das Produkt nicht zuuuuu schräg und originell sein darf und kann, da hohe Herstellungskosten wieder reingeholt werden sollen und/oder man auf die Befindlichkeiten von Sendern und Werbekunden Rücksicht zu nehmen hat. Bei Literatur hege ich allerdings höhere Ansprüche. Hier erwarte ich, dass sich der eine Macher darum bemüht, eine wirklich eigene, unverwechselbare Stimme und Geschichte zu bieten, und mich nicht langweilt mit Kompromissgedöns.
In entsprechend lebhaftes Entzücken versetzte mich schon der Beginn des Debüts von Jesse Burlington »The Sad Tale of the Brothers Grossbart«. Bereits der erste Satz (hier in meiner Stegreifübersetzung) faselt nicht um den heißen Brei:
Zu behaupten, die Brüder Grossbart seien grausame und selbstsüchtige Briganten, hieße selbst die garstigsten Wegelagerer zu verunglimpfen, und sie mordlustige Schweine zu nennen wäre gegenüber der dreckigsten Sau noch eine Beleidigung.
Und ich denke nicht, dass ich unbotmäßig viel verrate, wenn ich die 6-einhalb Seiten des ersten Kapitels stichpunktartig zusammenfasse:
Die Zwillinge Manfried und Hegel Grossbart stammen aus einer Grabräuberfamilie. Mama war geistig zurückgeblieben. Papa hat sie mit den Kleinen sitzen gelassen und wurde irgendwo im Norden gelyncht. Ein Onkel hat die beiden erzogen und ihnen das Grabräubern beigebracht. Manfried und Hegel wollen dem Vorbild ihres Großvaters folgen, der es laut Familienlegende bis zu den opulenten Gräbern der Heiden von ›Gyptland‹ geschafft hat. Nun schreibt man das Jahr 1364, und in Bad Endorf wollen sich die Brüder sich für ihre Reise ausstatten, indem sie den Hof des Rübenbauern Heinrich plündern, aus Rache, weil Heinrich einst die rübenstehlenden jungen Grossbarts mit der Schaufel verdroschen hat. Als sie das Haus des Bauern stürmen, greift dessen Frau die Brüder mit einer Axt an. Im Handgemenge bekommt Manfried die Axt zu fassen und erschlägt damit die Frau. Dann haut er beim Stöbern durchs Haus der ebenfalls wehrhaften Tochter die Axt übern Kopf. Heinrich will in die nahe Ortschaft fliehen um Hilfe zu holen, doch die Grossbarts drohen das Haus, in dem sich noch die zwei Babies der Familie befinden, in Brand zu stecken. Heinrich bleibt, doch es nützt nichts: Die Brüder schlitzen dem Sohn vor den Augen seines Vaters die Kehle durch und zünden das Haus an (und die Babies verbrennen mit kläglichen Geschrei), klauen Karre, ein Pferd, Brauchbares aus dem Haus und Rüben und machen sich davon. — Kurz: die ›Helden‹ des Romanes sind richtig finstere Kerle.
Doch nicht nur der Umstand, dass die Hauptfiguren des Romanes brutale, erschreckend rücksichtslose und eigensüchtige Kerle sind ist dazu geeignet sanftere und sich nach kuscheligen Fantasy-Träumen sehnende Leser abzuschrecken. Das 14. Jahrhundert von Jesse Bullington hat so gar nichts mit glatten, sauberen romantischen Mittelalter-Verklärungen gemein (a la »Der erste Ritter« mit Richard Gere), sondern beschwört nach Kräften ein schmutziges, matschiges, grindiges ›finsteres Mittelalter‹ (siehe z. B. »Jabberwocky« von Terry Gilliam). Wenn bei »Brother Grossbarts« gekämpft wird — und es gibt eine Reihe effektvoll und packend inszenierte lange Kampfszenen –, ist das eine blutige und schmerzvolle Sache. Und Bullington ist studierter Historiker und Volkskundler. Gehe ich also mal davon aus, dass er wohlrecherchierte Gründe hat, seinen Lesern ein harsches Mittelalter zusammenzubrauen.
Bullington schöpft aus dem Vollen, was hahnebüchenden Aberglauben und die Grenze zur Häresie übertretenden haarsträubenden (un-)christlichen Glauben betrifft. Das wird ebenfalls früh im Buch anhand einer theologischen Plauderei der Brüder Grossbart im dritten Kapitel offenkundig. Das geht ungefähr so:
Hegel fragt sich, wie es sein kann, dass die Heilige Jungfrau Maria einen gar so verzagten Sohn zur Welt gebracht hat. Immerhin hat sich Jesus am Kreuz nicht ›ehrenvoll‹, sondern wie ein Weichei verhalten. Er hätte einen seiner Peiniger ja wenigstens mal treten können. Manfried erklärt seine theologische Sicht: der HErr wollte Maria schwängern, doch die wollte reine Jungfrau bleiben und ließ den lieben GOtt abblitzen. GOtt schwängerte sie dennoch (und wie Manfried später erklärt, blieb Maria trotzdem weiterhin Jungfrau, denn eine Vergewaltigung zählt ja nicht), und dafür hat sich Maria gerächt, indem sie Jesus zum Waschlappen erzog. Manfried stimmt ein Lob auf die Jungfrau an (Seite 28, Übersetzung von Molo):
»{…} And that’s why She’s holy, brother. Out a all the folk the Lord tested and punished, She’s the only one who got him back, and worse than he got Her. That’s why She intercedes on our behalf, cause She loves thems what stand up to the Lord more than those kneelin to’em.
Und darum ist Sie heilig, Bruder. Von allen Leuten die der Herr geprüft und bestraft hat, ist die Sie die einzige die es im heimgezahlt hat, und zwar schlimmer als er es Ihr besorgt hat. Deshalb setzt Sie sich auch für uns ein, denn Sie liebt diejenigen, die dem Herren die Stirn bieten, mehr als jene, die vor ihm knien.«
Kein Buch also für Leser die ein empfindliches christliches Gemüth haben.
Was gibt’s noch? Ach ja, Monster vom Feinsten! Und die Magie dieses Mittelalters ist stark vom überlieferten Volksglauben geprägt und entsprechend eklig (Eiter, Speichel, Samen und andere übelriechendere Körperflüssigkeiten quellen stellenweise reichlich). — Beeindruckend der Auftritt eines der Hölle entflohenen Pestdämons, der in den Körper eines jungen Reisen geschlüpft ist, wenn er nackt, vor Fieber im kältesten Alpenwinter dampfend auf einem Eber dahergeritten kommt. — Wunderbar die Darstellung der Hexe Nicolette und ihrer wahrhaftig grauenvollen Brut. Nicolette ist ein ganzes Kapitel Vorgeschichte gewidmet, Dank dem diese Widersacherin mehr ist als nur ›böse‹ (na ja, eigentlich kein Kunststück, wenn die Protagonisten selbst von derart zweifelhafter Moral sind, dass sie in den allermeisten Geschichten die besten Übeltäter abgäben). Aber dass Nicolette und ihr Dämonengatte im einsamen Wald die kargen Winter überstanden, indem sie Kinder zeugten die sie dann verspeisten ist schon starker Tobak. Wird aber noch gesteigert, wenn Nicolette zwei frische kleine Monsterbälger mit den über Jahren gesammelten Kinderzähnen versorgt, so dass dieser Brut dann am ganzen Körper gierig schnappende Mäuler wachsen. — Ach ja: eine geheimnisvolle (weil stumme) Nixenschönheit sorgt für (dezente) erotische Wirren, vor allem bei dem sensibleren Manfried.
Neben Wäldern, winterlichen Bergstraßen, menschenverlassenen Klöstern gibt’s zur Abwechslung im weiteren Romanverlauf Abenteuer im frühlingsdurchlüfteten Norditalien und für einige Kapitel sind die Grossbarts im Stadtpalast eines ziemlich rumpeligen Piraten-Kaufmanns in Vendig zu Gast. Schließlich überquert man das Mittelmeer und erreicht Alexandria mit dem christlichen Kreuzzug-Überfallheers unter der Leitung von König Peter I. von Zypern.
Einige Leser haben bemängelt, dass die Episodenfolge des Roman einen etwas ruckelnden Verlauf bildet. Ich fand das keineswegs störend, sondern ließ mich berauschen von der bisweilen munter-knartzigen Sprache und genoss es, mich in ein magisches Mittelalter entführen zu lassen, in dem reichlich ungewöhnliche, sperrigere Figuren auftreten und das mich nicht nervt mit den üblichen langweiligen glatten Typen (der naive Gutmein-Held, die Unschulds-Trulle, der hämische Fiesling, der weise Kuttenopa ect pp ff).
Anfang Dezember 2009 hat Jesse Bullington froh verkündet, dass Bastei Luebbe die Rechte für eine deutsche Ausgabe des Romanes erworben hat. Ich hoffe inbrünstig, dass man für die hiesige Ausgabe der Umschlaggestaltung der englischsprachigen Originalausgaben treu bleibt und das Vexierbild von Istvan Orosz verwendet. Wenn nicht, möge die Heilige Jungfrau mit ihren gerechten Zorn Luebbe strafen!
Ich bin schon gespannt auf Bullingtons zweiten Roman »The Enterprise of Death«, der im November 2010 auf Englisch erscheinen soll und im selben Weltenbau wie die Grossbarts angesiedelt ist, allerdings diesmal zur Barock-Zeit der Spanischen Inquisition, und es soll weniger darum gehen, Gräber zu öffnen und Leut’ in selbige hineinzuprügeln, sondern darum, die Toten aus Gräbern wieder auferstehen zu lassen.
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LINK-SERVICE:
Ende November, Anfang Dezember 2009 hat Jesse eine Werktagswoche als Gastautor für das »Amazon«-Bücherblog »Omnivoracious« beigetragen: