Gib mir von Deinem, geb' ich Dir von Meinem.
Persisches Sprüchwort.
Bericht der Pickelflöte, Zeitung für Geist, Herz und Musik, über das Concert des Dr. Puff im Besonderen und die Dampfmusik im Allgemeinen.
Puff war, wie man sich denken kann, Zeitungsschreiber gewesen. Der Redacteur des Journals, »Die Pickoloflöte«, Zeitschrift für Geist, Herz und Musik, welches damals den Ton in der literarischen und artistischen Welt angab, gehörte zu seinen Freunden. Puff, der eine glänzende Recension über den letzten Roman desselben geliefert hatte, schrieb ihm und bat ihn um die Aufnahme eines Artikels über sein Concert. Eine Hand wäscht die andere, sagen die Deutschen, und beide zusammen das Gesicht, setzten die Italiener hinzu. Der Redacteur erklärte in der Antwort seine Bereitwilligkeit, Alles aufzunehmen, was der Verbreiter der Dampfmusik für passend fände ihm zu senden.
Puff nahm die Feder und schrieb den folgenden Bericht, kraft jenes Axioms, das oft falsch ist wie alle Axiome: »Man wird stets am Besten durch sich selbst bedient.«
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No. 91.
Auflage 111,111 Exemplare
99. Jahrgang
Die Pickelflöte.
Melodisch-harmonisch-symphonische Zeitschrift
fürGeist, Herz und Musik.
Verantwortlicher Redacteur:
Dr. Schreibefinger.
Illustrationen: Die Herrn Aquatinta und Bleistift, und die Damen Kreide und Tusche.
Verleger: Die Druckalles'sche Buchhandlung in Lindenstadt.
Mitarbeiter: Die berühmtesten Schriftsteller in Europa, Asien und Van-Diemenland.
Die musikalische Teil unter Leitung der Herrn Hofcapellmeister Ikhtmftbdg und Straccinati.
Censor: Geheimrath Bretnagel.
Art
des
Erscheinens
»Die Pickelflöte« erscheint täglich und stündlich von 7 Uhr Morgens bis Mitternacht wie die Omnibus.
Jede Nummer bringt als Extrabeilagen drei Walzer, fünf Romanzen, acht Etudes und eine Sonate von den berühmtesten Componisten.
Außerdem erhalten die Abonnenten achtzehn Freibillets für die täglichen Concerte der Pickelflöte.
Gegenwärtig wird ein neuer Saal gebaut, der groß genug ist, alle Abonnenten zu fassen.
Bedingungen
für
das Abonnement.
Für 1 Woche, 1 Monat, 1 Tag: Gar Nichts.
Für ein Vierteljahr erhalten die geehrten Abonnenten: Eine noch ungedruckte Symphonie von Ikhtmftbdg.
Für ein halbes Jahr: Eine ganze nich unbekannte Oper von Straccinati.
Für ein Jahr: Ein Flügelpiano und lebenslänglichen freien Eintritt in die musikalische Akademie.
Ferner als Extrazugabe die Portraits von Ikhtmftbdg und Straccinati.
Am 1. April 1850.
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Wir eilen dem verehrten kunstliebenden Publicum Bericht abzustatten von dem ersten humano-mechanischen Concert des eben so ausgezeichneten wie mit Recht berühmten Dr. Puff. Um würdig diese Aufgabe zu lösen, bedürfte es der glänzenden Beredsamkeit eines Mireabeau und der Flammenzunge eines Propheten des alten Testaments; unsere Schilderung — wir sind uns dessen nur zu wohl bewusst — muss weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben und rechnet nur zu sehr auf die Nachsicht des freundlichen Lesers. Dank sei es dieser wunderbaren Erfindung, von nun an werden Schnupfen, Husten, Heiserkeit und dergleichen Gesangshindernisse eine verklungene Sage sein. Die Stimmen der Tenore, Bässe, Baritons, Soprane und Alte sind vor allen Unfällen fortan bewahrt; die durch Dampf in Bewegung gesetzten Instrumente bringen Wirkungen von unglaublicher Genauigkeit hervor und die großen Meister unserer Zeit haben endlich Interpreten gefunden, die auf gleicher Höhe mit ihren unsterblichen Compositionen stehen. In diesem Jahrhundert des Fortschritts ist die Maschine ein vervollkommneter Mensch.
Wir enthalten uns der Schilderung des unbegrenzten Enthusiasmus, welchen jede von den Virtuosen des Dr. Puff executierte Piece hervorbrachte. Sein Orchester kann die Orchester aller Conservatoires der ganzen Welt, sogar unser Lindenstädter, dreist zum Kampfe auffordern und wird siegreich daraus hervorgehen. In dem großen Duett »Eisenbahn und Dampfschiff« gab Fräulein Locomotive das fünfgestrichene hohe C mit einer Fülle von Stimme und Dampf, dass alle Zuhörer vor Entzücken laut aufjauchzten. Eine junge Virtuosin von zweiundzwanzig Monaten, sechs Tagen und einer Nacht, welche aus Bescheidenheit nicht genannt zu sein wünscht, hat auf der Dampf-Harfe die schwierigsten Variationen aufgeführt, ohne auch nur einen Augenblick aus der Schienenbahn der Harmonie herauszugleiten, mit einer Fülle und einer Zartheit des Aufschlags, die ihr fortan einen Ehrenplatz unter den berühmten Künstlern der Jetztzeit sichern werden.
Als Gratisbeilage geben wir unseren verehrlichen Abonnenten heute die wohlgelungenen Portraits einiger Mitwirkenden, nebst Facsimiles ihrer Handschrift, außerdem verschiedene ihrer bis jetzt noch ungedruckten Compositionen.
Ein ungeheures Ereignis hat das Ende dieses Concerts ausgezeichnet. Während des Feuerwerks aus D-dur, im Augenblick als die Fuge smorzando {= verlöschend, ausklingend, leiser werdend} mit einer zarten, träumerischen Melodie sich endigte, platze plötzlich eine zu stark mit Harmonie geladene Ophicleide, in dem sie gleich einer Bombe ganze, halbe, Achtel- und Sechszehntel-Noten, ja ganze Passagen verschoss. Wolken musikalischen Dampfes und tausend Melodieen-Funken durschschwirrten die Atmosphäre. Mehreren Dilettanten wurden die Ohren zerfleischt, andere durch das Umherfliegen des F- und G-Schlüssels verwundet. Zur Verhütung jedes ähnlichen Unfalls sind geeignete Maßregeln getroffen worden.
Dr. Puff, welcher durch seinen doppelten Character die Abstammung des Äskulaps vom Apollo beweist, hat allen Verwundeten mit einer über jedes Lob erhabenen Uneigennützigkeit sogleich ärztlichen Beistand geleistet und sie geheilt entlassen.
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Der Dampf wird der Welt ― und der Musik eine neue Gestaltung geben. Ich bedaure Nichts so sehr, als ihn nicht gekannt zu haben.
Napoleon auf St. Helena
In diesem Jahrhundert des Fortschritts ist die Maschine ein vervollkommneter Mensch.
»Die Pickelflöte«. Musikalisches Journal.
Von der wunderbaren Entdeckung, welche Dr. Puff machte, mit deren Hilfe er ein Riesenconcert geben und für sechs Silbergroschen zu Mittag essen konnte.
Nach dem er das Inventarium aller Mobilien, Immobilien, Actien, Erfindungen und Partituren, welche ihm seine Mit-Neu-Götter zurückgelassen, aufgenommen hatte, befand sich Dr. Puff auf dem Punkte, der Verzweiflung anheimzufallen, als er plötzlich unter diesem Material ein Dutzend gegossener Musikanten entdeckte.
Er nahm sie aus der Kiste, welche sie barg, und konnte nicht umhin auszurufen:
»Das ist der Mann, den sie verkannt, das Genie, dass sie zehn Jahre lang mit zerrissenen Stiefeln umhergehen ließen! Und doch, Schwadronarius, bist du der Einzige und Erste, der das Mittel gefunden, die Anforderungen des musikliebenden Publikums zu befriedigen, und das Geheimnis ersonnen hat, Sänger mit ehernem Gaumen zu schaffen und ein Orchester durch Dampf in Bewegung zu bringen. Mein sei der Ruhm, deine erhabene Erfindung der Vergessenheit zu entreissen. Heute noch gebe ich ein Concert; denn ich muss mir Geld zum Mittagsessen schaffen.«
Ohne Zeit zu verlieren, ließ er an allen Straßenecken folgenden illustrierten Zettel anheften.
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Mit hoher oberigkeitlicher Bewilligung
Mechanisch-Metronomisches
Instrumental-, Vocal- und Phänomenal-Concert
in zwei Stationen.
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Am Schlusse:Jubelhymnus für 200 PosaunenHerr Doctor Puff dirigiert die Maschinen.
Erste Station:
Ouverture für großes Orchester aus der Oper »Die Schienen-Noten«.
Eisenbahn- und Dampfschiff-Duett, vorgetragen von Fräulein Locomotive und Herrn Schlotfang.
Trinklied von Fräulein X, 22 Monate, 6 Tage und eine Nacht alt.
Zweite Station:
»Das Ich und das Nicht-Ich«; philosophische Symphonie in C-Dur.
»Die umgeschlagenen Waggons«. Polonaise für 400 Ophicleiden.
»Der Dampfkessel«. Symphonie für Hochdruck, mit 300 Pferdekraft.
»Die Explosion«. Jubel-Hymnus für zweihundert Posaunen.
An das hochverehrliche Publikum.
Alle Kinder unter vier Jahren, welche anfangen zu rauchen, zu dichten und zu componieren, bezahlen den halben Eintrittspreis doppelt. ― Das Concert findet mit vollem Gasometer statt in einem tragbaren gegossenen Saal und macht vier Meilen Koloraturen in der Stunde. ― Für die Inexplosibilität der Musikanten wird Bürgschaft geleistet. ― Die Eröffnung beginnt auf dem Bahnhof präcise fünf Uhr Abends. ― Die erste Fahrt ist in C-dur. Die zweite in B-Moll.
Die Coupés, Sitze und Waggons haben mittlere Temperatur. ― Man kann Dampfbäder in vergitterten, besonderen Logen erhalten.
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Höchst wichtige Schlussbemerkung.
Es wird ausdrücklich gebeten, weder Finger noch Nasenspitzen herauszustrecken. Alle Zeichen der Missbilligung, alles Murren oder Pfeifen, die dem Luftstrom eine falsche Richtung geben und Gesundheit und Leben der Zuhörer in Gefahr bringen könnten, sind ausdrücklich untersagt. ― Die Zeichen des Beifalls dagegen, bei denen man solche Folgen nicht zu fürchte hat, sind dem hochverehrlichen Publicum, das sich der Begeisterung ganz hingeben kann, durchaus freigestellt.
Um alles Unglück bei dem Schlusse des Concerts zu vermeiden, werden viele Ventile für den Abzug des Publicums geöffnet werden.
Das Concert findet zum Besten eines antimillionären Künstlers, der in den Mond geflohen ist, statt.
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Artistische Gratiszugabefürdie Abonnenten des Journals: »Die Pickelflöte«
Fräulein Locomotive und Herr Schlotfang
in dem Duett»Eisenbahn und Dampfschiff.«
ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha
ha ha ha
ha ha ha ha ha ha
ah ah ah
oh la la la! oh! ah! oh! ah! la! la!
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Eintrag No. 666 — Räume am Sonntag im Billy mit den gebundenen Schinken Zeugs aus der ersten in die zweiten Reihe, um Platz zu schaffen für Sachen, zu denen ich öfters greife, oder denen ich mich auf absehbare Zukunft vermehrt widmen will. Da fällt mir »Das Kritikon« von Gracian aus zwei Meter Höhe auf das Nachschlagwerk-Arbeitsregal, dass es die Dübel aus der Wand reisst. Perdauz aber auch, das Bookanier-Dasein ist gefährlich.
Anna Gielas hat für ›Der Freitag‹ einen lesenswerten Text über die frühe Royal Society, bzw. deren Vorgänger, Invisible College geschrieben: Gezeter, Trotz, Duellpistole.
Endlich! In der SPD versucht sich ein laizistischer Arbeitskreis zu formieren: Soziale und demokratische LaizistInnen. Ich drücke die Daumen! Wenn Ihr mal rausbekommt, was Eremitenhäuser sind, und warum die eine Millionen € im Jahr brauchen, dann gebt mir bescheit.
Nochmal ›Der Freitag‹: Längeres Gespräch mit Susie Orbach»Wir modellieren Körper«, worin dann auch auf das sehr erstaunliche Any-Body-Blog verlinkt wird. Leute davon zu überzeugen, ihren Körper modifizieren zu müssen, bzw. erstmal dafür zu sorgen, dass Menschen sich mit / in ihren eigenen Körper nicht wirklich zuhause fühlen, ist eines der fundamentalsten und perfidesten Herrschafts- & Unterdrückungs-Instrumente die es gibt (und eines der ältesten).
(Deutschsprachige) Phantastik-Funde
Die Damen & Herren der deutschen Steampunker.-Site ›Clockworker‹ waren Im Salongespräch: Oliver Plaschka. Oliver ist einer der ganz wenigen deutschsprachigen lebenden Genre-Phantasten, die für mich in die Suppe kommen. Seine »Die Magier von Montparnasse« fand ich richtig gut, mit »Fairwater – Die Spiegel des Herrn Barthalomew« bin ich zu 1/3 fertig und finde es ganz apart, und ich freue mich schon darauf »Der Kristallpalast« zu lesen.
Bin im Lauf der letzten Woche wieder von einem Agentur-Menschen angeschrieben worden, der einen Linktausch vorschlägt. Wiederum für eine Verlags-Portal- & Onlinebuchhandel- & Social Netwörk-Site. Diesmal aber für eine ganzer Reihe Verlage, die ich sehr schätze, wie Edition Nautilus, Reprodukt, Kein & Aber. Also, ganz umsonst, hier ein Empfehlungslink auf den Eintrag zu Kurt Vonneguts »Ein dreifach Hoch auf die Milchstraße« (inkl. drei Leseproben) im ›Tubuk‹-Blog.
Für den ›Tagesspiegel‹ jubelt Lutz Göllner über Verhängnisvolle Freundschaften, sprich »20th Century Boys« von Naoki Urasawa.
Wortmeldungen
Habe mich im lauf der letzten Woche noch ein paar Mal in dem Exploitation SF-Thread bei ›SF-Netzwerk‹ gemeldet.
Zuckerl
›BoingBiong‹ weist auf Joe Jubnas Schemakarte zu Japanischen Konsolen-Rollenspielen hin: The Japanese RPG formula. Köstlich, und zugleich geeignet als Beweiststück in meinem ewigen Prozess, warum ich mit den allermeisten Franchise-Sachen nix anzufangen weiß, denn was sich auf solche Karten zusammendampfen lässt, kann (in meinen Augen) nicht allzuviel taugen.
Unglaublich aber wahr. Bei ›Life‹ hat man eine alte Photo-Reportage ausgebuddelt, wie einst, im Januar des Jahres 1941 in den Wäldern des US-Staates Mayland, eine Gruppe Leuts (unter anderem William Seabrook) mit einem Voodoo-Ritual dafür sorgten, dass die Nazis den Krieg verlohren: Putting a Hex on Hitler, 1941.
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Eintrag No. 664 — In meinem Wochenrückblick No. 23 habe ich bereits meine Überraschung verkündet, dass ich nach der Hälfte der Lektüre mit diesem Roman ziemlich zufrieden bin, lasse ihm aber gerne einen richtigen Rezi-Eintrag angedeihen. Ich wiederhole hier, was ich im Wochenrückblick schon vorausgeschickt habe: zum ersten, dass Militär-SF eigentlich nicht so mein Ding ist, und zum zweiten, dass, obwohl ich viel Lob für »Tentakelschatten« von Leuten hörte, denen ich einen guten Geschmack bescheinige, ich hin und her gezögert habe, ob ich den Kauf wagen soll, zu einem Gutteil deshalb, weil mir bisweilen Dirk van der Booms Selbstinszenierung mittels seiner Kommentare in einigen Genre-Foren kreuzunsympathisch ist (man möge mir diese Antipathie-Bekundung nachsehen, aber ich finde, solche Dinge spielen eine wesentliche Rolle bei der Lektüre von Romanen, sei es, dass derartige Vorurteile den Lesegenuss vergällen, oder, wie nun, zu unerwarteten, angenehmen Überraschungen führen. — Womit stießen mir Dirks Kommentare bisweilen vor’s Gemüt? Na-ja, mit gewissen, für mich nicht vollends eindeutig als ironisch {oder doch nicht-ironisch?} kenntliche Macho-Attitüden, Geld- & Schnelle-Auto-Verherrlichungen. Damit mag ich mich als Simpel zu erkennen geben, aber so bin ich nun mal.)
Meine ›schlimmste‹ Kritik betrifft nur einen Punkt und kann hier gleich zu Beginn schnell abgehandelt werden: aus dem Buch sind, und ich las die dritte Auflage, immer noch nicht alle Tipp- und Satzfehler ausgemerzt. Etwa ein halbes Dutzend sind mir noch aufgefallen.
Zur Story: Diese besteht aus der einfachen und SF-Fans allseits vertrauten Standardsituation, dass fremdartige Außerirdische — etwa zwei Meter große Schneckenmonster, die Menschenhirne als Dünger für ihren Nachwuchs nutzen — mit ihren vielen vielen Schiffen eine von dieser Erstkontakt-Invasion völlig überforderte Menschheit überrumpeln.
Handlungsstrang No. 1 bietet die militärische Perspektive mit Raumschiffen. Da ist am Rande der menschlichen Einfluss-Sphäre ein abgenudeltes Patrouillenschiff unterwegs. Die Menschheit hat vor nicht allzu langer Zeit einen Bürgerkrieg (Kolonien gegen Zentrum, und die Kolonien haben verloren) hinter sich gebracht, und die Besatzung der Malu besteht aus während des Bürgerkriegs in Ungnade Gefallenen und Karriere-Verlierern, angeführt vom moralisch aufrechten aber desillusioniert-verbitterten Jonathan Haark. Schon hier kann ich van den Booms Tugend der pfiffigen Details lobend erwähnen, wenn er schildert, wie der Schiffskoch mit zweifelhaften Rationen umgeht; warum es besser ist, einem Säufer am Pult zwischendurch eine Pause zu gönnen; und unter wessen Pult entsorgte Kaugummis pappen.
Handlungsstrang No. 2 liefert die militärische Perspektive von der Planetenoberfläche. Die Marinesoldatin Rahel Tooma hat sich nach ihrem Rückzug aus der Truppe auf der Farmkolonie Lydos niedergelassen. Lydos ist einer der ersten Planeten, der von den Tentakeln angegriffen wird, und Rahel organisiert zielstrebig die Flucht und Verbunkerung der Bedrängten in die ausgedehnten Dschungelgebiete. — Natüüürlich ist hier erwähnenswert, dass Rahels lesbische Orientierung nicht nur eine flüchtige Nebensächlichkeit bleibt, sondern anhand einer etwa 2 Seiten langen Sexszene schön veranschaulicht wird (a la ›Entspannung & Belohnung für die tapfere Überlebenstrupp-Anführerin‹). Hier kann ich auf das m. E. nach vorhandene ›Klischee‹-Verwertungsgeschick van den Booms hinweisen, denn Sexszenen sind ja berüchtigt heikel zu schreiben (und zu lesen). Ich hab geschmunzelt, aber nicht über das Ungeschick des Autors, sondern weil Sex, sobald man ihn mehr als ein paar Zeilen lang beschreibt, mich immer zum voyeuristischen Schmunzeln bringt, vor allem, weil die deutsche Sprache hier schnell lächerlich wirkt. (Und solch Schmunzeln ist dann vergnüglich, wenn die Sach nicht bricht, einknickt, platzt oder hintüberkippt, sondern eben schmatzt und flutscht wie hier … dann passt mir das durchaus in den Kram …lechz).
Handlungsstrang No. 3 konzentriert sich auf die informations- und nachrichtendienstlichen Aspekte der Bedrohung. Der geniale Autist De Burenberg auf der Station Thetis puzzelt als erster aus der Datenflut zusammen, dass der Menschheit eine große Bedrohung aus dem Unbekannten zu Leibe rückt. Sehr amüsant, wie er und sein Verbindungsoffizier in weiterer Folge im vierten (dem politischen) Handlungsstrang ihre liebe Not damit haben, TrottelBürokraten und IntrigenHengste von den Fakten zu überzeugen. Mit dem politischen Handlungsstrang lernt der Leser zudem auch die Zustände der höchsten Machtzirkel auf Terra kennen.
Der einzige Handlungsstrang, mit dem ich etwas, aber nicht allzu unzufrieden war, schildert die Invasion aus Sicht des ersten Tentakelscouts. Für mich kann ein Text kaum zu exotisch oder zu exzentrisch werden, wenn es gilt, etwas wahrhaftig Un-Menschliches und Außerirdisches darzustellen. Dass van den Boom auf Nummer Sicher geht, mag ich ihm nicht objektiv ankreiden, ist doch meine leichte Enttäuschung bedingt durch meine Vorlieben für, und mein Verlangen nach Abwechslung stiftenden, richtig befremdlichen Alien-Seltsamkeits-Passagen. — Um genau zu sein: ich finde es ›schade‹, aber nicht ›schlecht‹, dass Dirk hier nicht versucht, dem Fremden eine höchst-eigene Sprache, Perspektive und Erzähl-Struktur zu verleihen.
Die Lehre, die ich Lesern und Autoren aus meinem Gefallen an »Tentakelschatten« liefern kann, lautet: mir ist ein gradliniger, einfacher Reisser lieber, wenn er schreibhandwerklich solide verfasst ist, meine Zeit nicht mit nervig vielen Wiederholungen bereits gelieferter Infos vergeudet, als ein ambitionierteres Werk, das mit inkonsequenten Stil und zu fahrig gestricktem Erzähl-Gewebe stresst. — Van den Boom versteht es, Äktschn, Hintergrundinfos, Charakterentwicklung mundgerecht strukturiert kurzweilig aufzufädeln. Meine Sympathie kann der Autor aber insbesondere mit einem ständig präsenten Hintergrundthema für sich gewinnen, wenn er darlegt, wie Korruption, Vetternwirtschaft, Bequemlichkeit und Misswirtschaft die logistische, personelle und nachrichtendienstliche Effektivität der Menschensphäre schwächt (die heraus lesbare Ähnlichkeit mit unserer gegenwärtigen Gesellschaft stiftet einfach zu wohl tuendende Effekte). — Am Ende des Buches, nach vielen bitteren Niederlagen und nur wenigen hoffnungsstiftenden kleinen Siegen sieht der Leser die Menschheit denkbar schlecht gegen die Übermacht der fremdartigen Tentakelschnecken-Invasoren aufgestellt.
Ich bin mehr als geneigt, in den kommenden Monaten auch zu den Folgebänden »Tentakeltraum« und »Tentakelsturm« zu greifen, wenn mich in Zeiten besonderer Anforderungen durch meinen Brotjob das (hoffentlich verzeihliche) Verlagen überkommt, schlicht eine ›nur‹ vergnüglichen ›Eskapismus‹ fördernde Arbeitsweglektüre genießen zu wollen. — (Und Dirks mich empörende Foren-Entgleisungen werde ich fürderhin mit größerer Milde zu lesen verstehen, eingedenk meines nun vorhandenen Respekts für ihn, dass der Mann eben Ahnung hat, wie man das ›wenige‹, was man sich als Unterhaltungsautor vornehmen kann, befriedigend umsetzt.)
Woraus man, neben anderen Offenbarung über die Neugötter, erfährt wie sie aus Mangel an einem Viergroschenstück genötigt wurden, sich freundschaftlich in die Erde zu teilen.
Krack gab sich für einen pensionierten Rittmeister aus und Schwadronarius für einen Kapellmeister. Rittmeister Krack von Krackenheim, Krackmandel’scher Linie auf Krackendorf, gehörte zu den Leuten, deren Alter zwischen der Zahl von fünfunddreißig Jahren und der Ewigkeit auf und ab schwankt. Er trug einen Lerchenspieß voll Orden aller Farben, die er Gott weiß in welchem Befreiungskriegen sich erkämpft. Da übrigens jedes Individuum einer gesellschaftlichen Stellung bedarf, so führte er, obwohl einarmig, Karten, auf denen zu lesen war:
Schwadronarius, ehemaliger Capellmeister, hatte früher versucht, die Tonleiter zu revolutionieren und dem alten Klavierschlüssel seine philosophische Bedeutung wieder zu geben, aber seine Anstrengungen waren erfolglos geblieben. Keine Bühne wollte seine Oper »Der Geist und die Materie«, kein philharmonischer Verein seine große Symphonie »Das Ich und das Nicht-Ich« in C-dur aufführen. Nacheinander Maler, Musiker, Optiker und Mathematiker, hatte er sich eben auf die Mechanik der Himmelskörper geworfen, als ihm Puff eine Stelle als Gott anbot, die er ganz so wie es Krack getan, und ohne große Umstände zu machen, annahm.
Puff hätte sich wirklich seine Collegen nicht besser aussuchen können. Sie befanden sich Beide in Verhältnissen, welche das Bedürfnis einer totalen Umwandlung höchst fühlbar machten. Hut, Wäsche, Kleider, Stiefel, Alles riet ihnen, sich von Kopf zu Füßen in Götter umzugestalten. Als Ober-Neu-Gott berief Puff seine Mit-Neu-Götter zur Götterversammlung in dem gewöhnlichen Lokal und richtete hier, mit derselben großartigen Beredsamkeit, als ob er zu einer Versammlung von Eisenbahnactionairs oder ordentlichen Casinomitgliedern spräche, folgende Worte an sie:
»Ich habe Sie eingeladen, um mit mir die Vorteile der höchsten Macht zu genießen, aber ich würde zum Verräter an meiner Pflicht werden, wenn ich Ihnen die Schwierigkeiten unserer Stellung verheimlichte. Als ich allein war, fürchtete ich zu verhungern; wie soll es jetzt werden, da wir unserer Drei sind? Denn wir dürfen nicht vergessen, dass wir, obwohl constitutionelle Götter, keine Civilliste haben. Daher geht mein unzielsetzlicher Vorschlag dahin:
»Wir teilen uns in die Welt und das Los entscheide, wem von uns der Himmel, wem das Meer, wem die Erde zufallen. ― Dann vereinen wir die Documente, die Jeder von uns gesammelt hat, und verkaufen sie an einen speculierenden Verleger. Wäre ich nicht ein Gott, so würde ich sagen: ›Behagt Euch mein Plänchen?‹«
Krack und Schwadronarius verbeugten sich schweigend und gaben dadurch ihre Zustimmung zu erkennen.
»Lassen wir das Los entscheiden, wer den Himmel bekommt. Kopf oder Wappen?«
»Wie sollen wir das möglich machen?«, fiel ihm Krack in die Rede, »denn keiner von uns Dreien ist Herr auch nur eines lumpigen Viergroschenstücks.«
»Ach, das ist leider nur zu wahr!«, seufzte Puff. »Aber wir besitzen doch einen Hut. Wir werfen drei Lose in diese Filz-Urne und ziehen dann.«
»Der Boden unseres einzigen Hutes hat sich abgelöst«, bemerkte Schwadronarius, »das Geschick würde durchfallen.«
»Gut denn, so sei es ein freundschaftliches Übereinkommen«, sagte Puff feierlich. »Dir, Krack, das Meer, das tiefe geheimnisvolle Meer! Dir, Schwadronarius, den Himmel! Die Kometen wedeln Dir mit dem Schweife schon ungeduldig zu, und Luna, geborene Selene, streckt Dir die Arme entgegen. Ich, ich bleibe auf der Erde; diese Partie passt sich am besten für mich. ― Ist Euch das recht?«
»Ja, ja!«, riefen die beiden Mit-Neu-Götter.
»Nun denn«, fuhr Puff fort, »reist ohne Verweilen ab und schreibt mir bald. Ich erwarte Krack’s Observationen, Schwadronarius’ Inspirationen mit Ungeduld. ― Kommt noch einmal in meine Arme und lebt wohl. Lasst die Schnupftücher stecken; Ihr könnt sie ein anderes Mal anwenden, wenn wir mehr Zeit haben.«
Krack hing die Flasche um den Hals, in welcher er seine Entdeckungen dem Ober-Neu-Gott wollte zukommen lassen, ließ seine Pfeife ausgehen und sprang kopfüber in das Weltmeer.
Schwadronaius, mit seinem Album und Bleifedern versehen, öffnete einen Taschenluftballon, blies ihn auf und schwang sich im Raume empor. Bald schwebte er hoch über den Feueressen und den Rücksichten der Menschen; ehe er jedoch ganz den Blicken der Sterblichen entschwand, richtete er noch folgende Abschiedsworte an sie:
»Ich verlasse Euch ohne Reue, o Menschen, die ich in den Tagen der Torheit meine Freunde nannte; Ihr gleicht jenen Springern, die ich in diesem Augenblicke ihre Künste auf dem Markte machen sehe. Lebe wohl, verwünschte Erde und du, Stadt des Dampfes und Kotes, Heimat der Tagediebe, der Gaukler und Gauner; treibe dein Wesen nur fort, was kümmert es mich; mich trägt mein Flug zu besseren Gestirnen!«
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Eintrag No. 662 — Film: Hinke ja arg weit hinterher, was das Liefern von Film-Rezis oder zumindest Film-Kurzreszis angeht. Also hohle ich mal nach, zumindest von meinen jüngsten Kino-Besuchen zu berichten
Vor ca. zwei Wochen war ich in »Ponyo – Das große Abenteuer am Meer«, und wieder mal bin ich überwältigt von der Macht, die ein ›Studio Ghibli‹-Film über mich hat. Der Film richtet sich unverkennbar zuerst mal an Kinder von etwa 4 bis 7 Jahren, aber wie meine Begleiterin Andrea so trefflich sagt: »Bei einem Miyazaki-Film dauert es etwa zwei Minuten, und ich bin wieder am Staunen wie eine Fünfjährige«. Wie immer bin ich mitunter am meisten von den stillen Momenten fasziniert, wenn ›eigentlich‹ nix passiert. Die kann Regisseur Miyazaki inszenieren, wie kaum jemand sonst. Und fast das Herz gesprengt hat mir natürlich der große Äktschn-Höhepunkt, wenn Ponyo auf wilden Meerenwogen parallel zum einem Auto der Küstenstraße folgt.
— Kurz: ca. 9 bis 10 von 10 Punkten.
Und dann hatte ich letzte Woche Gelegenheit, mir den neuen David Fincher »The Social Network« anzuschauen. Wieder erstaunlich, wie mühelos Fincher sich in einem neuem Genre tummelt. Im Grunde funktioniert »The Social Network« wie ein Theaterstück oder ein Woody Allen-Film. Leute sitzen herum und reden, nicht zu knapp. Der Film veranschaulicht gelungen, wie man als Macher eines Projekt getrieben wird von dem Verlangen, etwas gestalten und bewegen zu wollen, und natürlich, wie im Zuge des Begehrens, Ruhm und Geld anzuhäufen im juristischen Slalomlauf so manche Freundschaft auf der Strecke bleibt. Dass freundschaftliche Bindungen der Erschaffung einer sozialen Netzwerk-Plattform geopfert werden, ist nur die offensichtlichste Ironie des Filmes.
— Wertung: ca. 7 bis 8 von 10 Punkten.
Interessanten Einblick in den Buchkaufhaushandel bietet das Hugendubel Verdi Info-Blog. Besonders gefallen mir die ›Sprachlos‹-Einträge, die ergreifend den Frust engagierter Buchverkäufern, die bei Hugidubi arbeiten, bebildern.
Für ›Jungle World‹ legt Alex Feuerherdt mit Hauptsache Religion einen feinen Kommentar zu den derzeit abgegeben Profilierungsschwachsinn der ›C‹-Parteien vor.
Apropos ›jüdisch-christliche Wurzeln‹: Jeder, der sich auch nur halbwegs mit Kultur- und Religionsgeschichte beschäftigt, und dabei nicht durch Interessens-Doktrinierungen gehirngewaschen wurde, weiß, dass die Rede vom ›jüdisch-christlichen‹ Fundament des Hauses Europa einfach Quatsch ist. Man konsultiere einfach mal ein Kulturgeschichtswerk, in dem Begriffe wie ›Volksreligion‹ und ›Elitenreligion‹ vorkommen. (Zum Beispiel »Lebensformen Europas« von Wolfgang Reinhard.) — Über Holger KleinsStackenblochen-Blog fand ich meinen Weg zu einem Kommentar von Don Alphonso in seinem F.A.Z. Stützen der Gesellschaft-Blog, den ich gerne auch hier zitieren möchte:
Christliches Abendland heisst immer: Ich bin zu blöd, die Schattenseiten der letzten 1200 Jahre zu kennen.
Jüdisch-Christliches Erbe heisst oft mitunter: Ich finde es geil, mein Herrenrassentum so zu verkleiden, dass ich mich notfalls auf Deinen Antisemitismus rausreden kann, wenn Du mich für den stinkenden Fascho hältst, der ich bin. Dabei wird es schwer sein, einen Juden zu finden, der sich auf dieses angebliche Erbe berufen möchte: Als ob es noch nicht genug Geschlichtsklitterung und Fälschung in dem Bereich gegeben hätte.
Klar gesagt: Es gibt kein jüdisch-christliches Erbe. Die allerwenigsten, denen das aus dem Maul trieft, kennen vom Judentum mehr als die Kipah. Christentum und Judentum sind allein schon wegen der Frage des Messias absolut unvereinbar gewesen, und das Verhältnis hat sich von 800 bis 1945 dann auch merklich verschlechtert, um es höflich zu formulieren.
Auch wenn ich, nein: gerade weil ich ja ein bekennender und überzeugter Atheist bin, kann ich nur den Kopf schütteln über diesen Blödsinn: Nicht nur Kirchenaustritt, auch Enttaufung möglich. Zugegeben: nachdem viele ja ohne gefragt zu werden als Kleinkinder getauft wurden, fände ich es nur angebracht, wenn es die Möglichkeit gäbe, sich als Erwachsener, der eine entsprechende Weltsicht angenommen hat, zeremoniell Ent-taufen lassen zu können. Andererseits kann man das ja auch selbst gestalten und vornehmen, sei es alleine, oder im Kreise entsprechend Gleichgesinner. Ohne, dass man einen umgemodelten Föhn kaufen muss. — Durchaus originell finde ich allerdings den im Artikel vorgeschlagenen Gerbauch der Verse von Catull (aus »Carmen 85«) als Ent-Taufungs-Formel, auch wenn diese Zeilen, typisch für diesen römischen Dichter, etwas zu zerknirscht für meinen Geschmack sind:
Odi et amo. Quare id faciam, requiris Fort Asse? Nescio, sed fieri Sentio et excrucior.
Ich hasse und liebe. Du fragst vielleicht, warum ich das tue. Ich weiß es nicht, aber ich fühle, dass es geschieht und ich quäle mich.
Und Marc Fabian Erdl jubiliert in ›Der Freitag‹ ausführlich über die erste komplette deutsche Ausgabe der geheimen Tagebücher von Samuel Pepys (einer durchaus wichtigen Nebenfigur in Neal Stephensons »Barock-Zyklus«): Geiler Bock, Staatsbeamter.
Der großartige Jeff Vandermeer berichtet in seinem Blog flappsig aber erhellend davon, wie sein diesmaliger Anlauf Thomas Pynchons »Gravities Rainbow« (dt. »Die Enden der Parabel«) zu lesen nun vergnügt von statten geht: This Book Is Restoring Mah Brain Powers to Mah Brain und Reading Gravity’s Rainbow: First 75 Pages, Initial Contact. Ich selber gurke derweil irgendwo auf Seite 300 herum, und kann mich nicht so recht entscheiden, ob ich den Roman auf Englisch oder Deutsch lesen soll und pendle entsprechend zwischen beiden Sprachen.
Da beleibt mir nur, mich der Hoffnung anzuschließen, die Daniel Domscheit-Berg für ›Der Freitag‹ in seinem Text Der gute Verrat zur Sprache bringt, nämlich, dass als Ausgleich für solche Sehnsüchte der Gestaltungsmächtigen in Zukunft vermehrt mutige Geheimnisverräter rechtzeitig zur Kenntnis genommen werden, und dass die Anerkennung von solchen Petzer-Helden zunehmen wird.
(Deutschsprachige) Phantastik-Funde
Klaus Jarchow liefert seinem ›Stilstand‹-Blog einen feinen kleinen Text über die Tugend von die Phantasie kitzelnden Leerstellen in Texten, Ehret die Lücken!, illustriert anhand der Geschichte »Die Grube und das Pendel« von Edgar Allan Poe.
Holger M. Pohl hat eine neue Kolumne für ›Fantasyguide‹ verfasst: Proll vs. Niemand. Auch wenn mir HMPs Text ein wenig zu gehässig geraten scheint, finde ich es trefflich, wie er die in SF-Genrekreisen typische Erregung einiger über den Erfolg anderer kommentiert. Stein des Anstoßes war dieser Thread bei SF-Netzwerk: Kritik an SF Neuerscheinungen, Iwoleit vs. Heitz oder schaden Autoren wie Heitz der SF?, aus dem dann dieser allgemeinere Thread hervorging: Exploitation SF, Annäherung an ein Phänomen. Ich denke ja, es ist unfair, sich bei der Klage über die Verflachung des geliebten Genres lediglich auf die erfolgreichen Autoren einzuschießen. Immerhin ist es das Zusammenspiel von Autoren-Ambition, Programmgestaltung und Vermarktungstrategien der Verlage, sowie der Nachfrage von Kunden, die dazu führen, dass enervierend seichtes Zeugs das Feld dominieren.
Wie immer empfehle ich das neuste RSAnimate-Filmchen. Diesmal illustrieren die Meister von ›cognitive media‹ einen Vortrag von Sir Ken Robinson zum Thema Changing Education Paradigms, und besonders gelungen finde ich, wie das noch übliche Schulsystem mit der Logik von Fabriken verglichen wird.
Sobald ich mein PayPal-Konto entsprechend aufgepimpt habe, werde ich das hier bestellen: The Science Tarot. Obwohl ich mit ›Eso-Kram‹ nichts mehr (oder nicht mehr viel) am Hut habe, hege ich immer noch eine Schwäche für originelle Tarot-Karten. Ich verstehe das Tarot als eine Art interaktives Comic, das sich immer wieder zu neuen Geschichten auslegen lässt.
Mike Shaughnessy hat für ›BoingBoing‹ einen bewegenden Text zum Thema ›der Blick von Immigranten auf die neue Heimat‹ geschrieben, und es geht nicht um Muslime in der westlichen Welt, sondern um einen Deutschen in Amerika: My Man Anton Schutz: An Immigrant's View of the New York.
Dem ›Wall Street Journal‹ hat der geniale Scott Adams — der als Schöpfer der »Dilbert«-Strips dafür sorgt, dass Büromalochern dank Humor emotionelle Gesundheit bewahren — ein Interview gegeben: How to Write Like a Cartoonist.
Als sichere Weihnachtsbeglückung für mich darf ich mich auf den nächsten Film der Coen-Brüder freuen: True Grit, und ich bin schon sehr gespannt, wie sich dieser Rache-Western machen wird. Hier der bisher zweite, längere Trailer.
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Eintrag No. 661 — Habe mit Hilfe von ›Google Font‹ (genauer: den Schriften ›IM Fell Great Primer‹ {für Überschriften}, ›IM Fell English‹ {für Fliesstext} und ›Cantarell‹ {für Zitate}) die Molochronik aufgehübscht. Hoffe, auf Euren Browsern kommen die neuen Schriften genauso fein rüber, wie bei mir. Während der letzten Woche gabs vielleicht für den ein oder anderen Eurer Browser Darstellungsprobleme, die aber inzwischen behoben sein dürften. — (Nebenbei: Habe bis gestern nicht gewusst, dass der Windows-Explorer eine ›Kompatibilitätsansicht‹ hat. Sozusagen eine Schwimmflügelfunktion für Seiten, die der Explorer nicht gescheit darstellen kann. Schmunzeln streichelt meine Wangen.)
Lektüre: Zwei mal Science Fiction dieser Tage, genauer, Science Fiction-Spielarten.
Einmal Steampunk für Jugendliche von Scott Westerfeld (Text) und Keith Thompson (Illus) deren zweiter Band der »Leviathan«-Trio frisch bei mir eingetrudelt ist: »Behemoth«. Charlie Jane Anders zeigt bei ›io9‹ einige der wundervollen Illustrationen von Keith Thompson: Even Stranger Creatures… (auf Thompsons eigener Website tut sich derzeit nicht viel Neues, da er, wie es heißt, bei einer Filmproduktion mitschwitzt. Bin ja mal gespannt, welchen Streifen er mit seinem Design veredelt!), und für ›Boing Boing‹ hat Cory ›Little Brother‹ Doctorow eine knackige Empfehlung mit so gut wie Null Spoilern geschrieben.
Zum zweiten habe ich mir am Wochenende auf dem BuCon in Dreieich bei Herrm Autor höchstselbst »Tentakelschatten« besorgt, Auftakt einer Militär-SF-Trio, und von Dirk van den Boom signiert mit dem Sprüchlein »Nein Molo, das ist nicht niveauvoll«. — Ich muss zugeben, dass Militär-SF eigentlich nicht unbedingt mein Ding ist. Zudem ist mir fast schon peinlich zu gestehen, dass mir einige von Dirk van der Booms Foren-Kommentaren kreuzunsympathisch sind. Dennoch: immer und immer wieder habe ich Gutes über die Tentakel-Trio gehört, von der Dirk selbst verspricht, dass sie Aliens, Wummen und Titten Ärrrotik bietet (so von wegen ›Chicks with Guns‹). Und somit darf ich nicht wenig überrascht verkünden: hab als Arbeitswegslektüre bereits gut die Hälfte der ca. 200 Seiten weggeschlürft und bin angetan von Dirks Schreibe! — Stimmt schon: niveauvoll ist »Tentakelschatten« nicht, aber eben flott und straff geschrieben, alles andere als dumm oder (was ich ja befürchtet hatte) zu glatt gefällig ausgedacht, ergo: eine sehr kurzweilige Lesefreude. Hätte eigentlich locker mal von einem großen Publikumsverlag verlegt werden können (wenn die Eier hätten).
Netzfunde
Für Literaturkritik.de‹ hat Fabian Kettner eine lesenswerte Rezension zum Opus Magnus »Ein Vertrag mit Gott« von Graphic Novel-Stammvater Will Eisner geschrieben: Die Ur-Graphic Novel.
Nun ist »Zettel's Traum« von Arno Schmidt endlich endlich endlich in gesetzter Form erschienen (auch wenn ich noch auf mein Exemplar warte), und der Suhrkamp-Verlag hat eine Mannschaft Autorinnen & Autoren schangheit, die im ›Schauerfeld‹-Blog von ihren Lektüreabenteuern mit diesem Riesentrumm von einem Buch berichten. Da gibts natürlich selten dämliche oder am Thema vorbeitrudelnde Texte, aber exemplarisch gelungen ist z.B. dieser Eintrag von Andreas Platthaus.
Diesen offenen Brief von Henryk M. Broder und Reinhard Mohr an Christian ›NMP‹ Wulff kann ich nur zustimmend abnicken und »Genau, genau, genau« murmeln: Gehören wir Ungläubigen auch dazu? (und ich bin ja sonst kein Freund der Schreibserlei von Broder und / oder Mohr).
Douglas Coupland macht einem die miesen Zukunftsaussichten zu einem Vergnügen mit seinen A radical pessimist’s guide to the next 10 years . Besonders spooky finde ich seine Prognose, dass die beiden Pole des kommenden Alltags durch Gefängnis und / oder Shoppen markiert sein werden.
Ted Chiang ist mir vor einigen Monaten aufgefallen als brillanter Kurzgeschichtenautor, der erstaunliche Vielfalt und Gedankenfeuerwerke an den Tag legt. Letzte Woche erschien als BonBon eine neue Geschichte von ihm auf der ›Subterranpress‹-Website: »The Lifecycle of Software Objects«.
Ach ja, es war ja Buchmesse, die aber diesesjahr bis auf den Dreieich-BuCon an mir vorbeiging. Hier könnt ihr Andrea Dieners ›F.A.Z.‹-Fazit zur Messe lesen: Angenehm stillgestanden , und neben dem wie immer unübertrefflichen Don Alphonso hat sie im Buchmesse-›F.A.Z.‹-Blog ›Überdruck‹ von der Messe berichtet.
Phantastik-Funde
Auf dem Gründungskongress der Gesellschaft für Fantastikforschung habe ich Clemens Ruthner kennen- und wertzuschätzen gelernt. Clemens unterhält eine stoffreiche Website; ich verlinke hier auf sein PDF-Angebot Niemandsland: Academic Writing. Ganz besonders gefreut hat mich freilich sein Text zu Alfred Kubins »Die andere Seite«.
Schon seit einiger Zeit läuft eine kurzweilige Beitragsreihe bei ›Schöner Denken‹. Die ›Serienflittchen‹ gucken die vielleicht beste aller (zumindest meine Lieblings-)SF-Serie(n), Joss Whedons »Firefly«. Ganz besonderen Fetz bringt diese Blog-Reihe, weil das Serienflittchen-Team sich die Mühe macht, zu jedem Beitrag kuriose Fan-Links auszubuddeln.
Es ist vollbracht!!! Oliver Kotowski führt seine phantastische Weltreise auf ›Fantasyguide‹ (nebenbei: Gewinner des Deutschen Phantastik Preises als ›Beste Internetseite‹) mit der atlantisch-anglo-amerikanischen Sphäre zu Ende: Sechster Zwischenstopp: Nordamerika und Großbritannien, und bespricht dabei Werke von Salvador Plascencia, Kelly Link (Yeah!), Matt Ruff (Doppel-Yeah!!), Margaret Atwood, Antonia S. Byatt (gute Wahl!) und Terry Pratchett.
Zuckerl
Zwei Links aus dem immer einen Besuch lohnenden Blog des Künstlers und Designers John Coulthart, beide Male zum Werk des Illustrator Sidney Sime: einmal zu Kurzgeschichten des Phantastik-Klassikers (und eines speziellen Liebelings von mir) Lord Dunsany, und dann zu einer wüsten Haschisch-Phantasmagorie von HE Gowers.
Endlich mal was richtig Lustvolles, was sich aus Lego-Steinchen basteln lässt: Lego for Adults. Verstörenden Effekt haben diese Werbemotive. Als ob sich die Strip-Club-Hupfdolen aus dem alten »Duke Nukem« in der Echtwelt materialisiert hätten.
Vielen Dank an Gero, der mich beim BuCon in Dreieich auf den Fantastik-Künstler Raymond Swanland hinwies. Ganz besonders beeindruckend finde ich die Arbeiten, die er als ›Personal Works‹ einstuft.
Ein Film, dem ich schon entgegenfibbere, ist »The Tempest« von Julie Taymor. Schon »Frida« und »Titus Andronicus« haben mich beeindruckt, und ich bin gespannt, wie sich Shakespeares letztes Werk machen wird, wenn Helen Mirren die Hauptrolle des Zauberers Prospero (hier freilich: Prospera) im Exil inne hat.
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Eintrag No. 660 — Ich hinke etwas hinterher, was die Verkündung des Erscheinens des neusten »Magira – Jahrbuch für Fantasy« angeht. Die Ausgabe für das Jahr 2010 ist zudem eine Jubel-Nummer, denn das »Magira-Jahrbuch« feiert zehnjähriges Bestehen. Und um das Fass der Freude vollends zum Schäumen zu bringen: gestern abend hat »Magira« beim BuCon in Dreieich den ›Deutschen Phantastik Preis‹ als ›Bestes Sekundärwerk‹ erhalten, vom Publikum gewählt über die Seite von ›Phantastik News‹.
Mich selbst freut (und beschämt), wie gut die Reaktionen auf meine diesjährige Sammelrenzension ausfallen, und das, obwohl ich für »Magira 2010« eigentlich nur eine genuin neue Rezension geschrieben habe (zu Grandvilles »Eine andere Welt«), und die restlichen Empfehlungen zu Titeln von Vandermeer, Miéville und Bullington erweiterte, überarbeitete Wiederverwertungen von Molochronik-Einträgen des vergangenen Jahres sind. — Aber zugegeben: nach der Kritik von Thomas Harbach zu meinem letztjährigen Beitrag, habe ich versucht, der diesjährigen Sammelrezi sowas wie eine große argumentative / gedankliche Linie zu verleihen.
Anders als in den zurückliegenden Jahren, werde ich diesmal meinen »Magira«-Beitrag nicht sobald Stück für Stück in der Molochronik zugänglich machen, sondern mindestens bis etwa zum Frühjahr 2011 warten, bis ich eine Übersicht mit der Einleitung, den Überleitungen und den Links zu einzelnen Rezis zusammenstelle. Aber hier sind die bisherigen Reaktionen auf »Stromern auf ungetrampelten Pfaden« (den Titel hat übrigens »Magira«-Layouter Michael Haitel vorgeschlagen, und wer bin ich, um so eine funkelnde Idee abzuweisen, nur weil sie nicht von mir ist)
Christel Scheja findet in ihrer Rezension für »Fantasyguide« (und »Phantastik News«) freundliche Worte für meinen Beitrag:
»Stromern auf ungetrampelten Pfaden« von molosovsky macht deutlich, dass sich Fantasy und Literatur nicht ausschließen müssen. Ausgewählte Beispiele aus den letzten hundertundfünfzig Jahren beweisen, dass es immer Autoren gegeben hat, die phantastische Hintergründe und Figuren verwendet haben, um ihre Gedanken und Botschaften zu vermitteln oder mit Sprache und Form zu experimentieren — und auch heute noch gehen junge Schriftsteller diesen Weg.
Bei seiner Besprechung für »Literra« ist Thomas Harbach (wie in den vergangenen Jahren auch) so hilfreich, meinen Text nicht nur als willkommene Abwechslung zu loben, sondern mir mit seiner begründeten Kritik anzudeuten, wie ich mich verbessern kann:
Nach einer ausführlichen Einleitung, in welcher der Autor frei und sehr beherzt über ausgetretene Rezensentenpfade, das Standardwarenangebot in den Buchhandelsketten und die stereotypen Genreklischees herzieht, folgen eine Handvoll Rezensionen. Dabei bespricht Molosovsky seine persönlichen Favoriten wie China Miéville oder Jeff Vandermeer neben einzelnen bislang unbekannten, aber thematisch wie erzähltechnisch interessanten Werken. Die Mischung ist gut gelungen, auch wenn wie ›angeblich‹ rein Zufallsbedingt sein soll. Stolz auf einen persönlichen Geschmack abseits des Mainstream bleibt dieses Mal das latente Gefühl im Leser zurück, als bespräche Molosovsky manche Bücher weniger hinsichtlich ihres Inhalts, sondern alleine aufgrund ihrer erzähltechnischen Anders- aber nicht immer Einzigartigkeit. Form über Inhalt ist sicherlich ein ehrenwertes Argument, aber zumindest bei Jeff Vandermeers Romanen wird nicht hinterfragt, ob einfache Plotelemente nicht auch einfach erzählt werden können und die Suche nach Künstlichkeit bzw. Künstlerisch immer im Mittelpunkt des Buches stehen muss. Die Kritiken sind vielschichtig, lassen dem Leser ausreichend Interpretationsspielraum, auch wenn Molosovsky manchmal mit geradlinigen Aussagen es seinen Lesern leichter machen könnte, ob die besprochenen Bücher wirklich aus seiner persönlichen und eloquenten Sicht lesenswert sind oder nicht. Wie in den letzten Jahrbüchern als Kontrast zu den ›gängigen‹Rezensionen absolut lesenswert.
Unumwundenes Lob lässt mir Oliver Naujoks in seinem »OliBlog« angedeihen:
Für die Lese-Nische ist auch dieses Jahr Alexander ›molosovsky‹ Müller verantwortlich, der sich wieder ein paar außergewöhnlichere Bücher vorgenommen hat. Fängt er diesmal fast apologetisch damit an, dass er manchmal seine Gedanken allzu sehr schweifen lässt und zitiert dazu einen Kollegen, der ihm das so bescheinigt, will er dann offensichtlich diesen Kollegen Lügen strafen: Liefert er doch seine bisher vielleicht disziplinierteste Kolumne mit gedanklich sehr klar geführten, interessanten, fast straffen Rezensionen (u.a. zu Büchern von J. Bullington und Jeff Vandermeer) ab. Mit den üblichen geliebten Features: Hübsche selbst gezeichnete Portrait-Vignetten der besprochenen Autoren, Fußnoten nicht als wissenschaftliche Balz, sondern als Ventil für Abschweifungen und Assoziationen, und einige sehr schöne Wortschöpfungen und verspielte Formulierungen. Dieser Kolumne ist noch ein langes Leben zu wünschen, auch um in den nächsten Jahren erwartungsvoll-amüsiert zu registrieren, inwiefern sich die thematisch immer gleiche Überschrift (diesmal: »Stromern auf ungetrampelten Pfaden«) noch halbwegs originell paraphrasieren lässt — das wird wohl jedes Jahr nicht leichter werden.
Puff erzählt seine Geschichte und beweist, daß die Welt einen neuen Glauben brache.
Ich heiße PUFF: der Name sagt genug. Meine Ahnen sind Engländer, aber ihre Nachkommen haben sich über die ganze civilisierte Erde verbreitet. Ich bin der Stammhalter der künftigen deutschen Linie.
Ihr habt mich jung, schön, glänzend, alle Herzen erobernd gesehen; Schmeichler umgaben mich; man spannte die Pferde aus vor meinem Wagen und sich dafür ein. ― »Sel’ge Zeit, wie schnell bist Du entschwunden!«
Aber reden wir nicht in poetischen Floskeln, reden wir verständlicher. ― Poesie gilt nichts mehr, wenn sie nicht politisch ist, und ich bin zu politisch, um politische Poesie zu machen. Das überlasse ich jungen Leuten, die noch nichts sind, aber gern etwas sein möchten, und zwar so wohlfeil wie möglich.
Mein Schmerz ist ein Weltschmerz ― denn ich habe keinen ganzen Rock mehr; mein Ellbogen sieht durch den Ärmel in das kalte Leben; ich bin europamüde, denn das undankbare Europa bittet mich nicht zu Tische, sondern lässt mich hungern.
O hätte ich nicht meine Reichtümer so mit vollen Händen verstreut; jetzt könnte ich von meinen Einkünften auf dem Lande oder in der Provinz leben, Vereine stiften, Kleinkinderbewahrungsanstalten errichten, Bürgerversammlungen leiten und Collecten für wohltätige Zwecke machen, bei patriotischen Mahlzeiten den ersten Toast auf den gnädigsten Landesherrn ausbringen und zur rechten Zeit mein Schäfchen scheren, um in der Wolle zu sitzen.
Jetzt haben mir alle Leute mein Geheimnis abgesehen, besonders die Zeitungsschreiber und die Buchhändler. Jeder herumgastrollende Schauspieler weiß, was es kostet und wo er zugleich gut und wohlfeil bedient wird. Alles hat einen festen Cours und an Ruhm-Maklern fehlt es nirgends.
Es geht mit mir zu Ende; ich merke es an den Sohlen meiner Schuhe; wie sie abgelaufen sind, ist es auch meine Existenz.
Aber Puff stirbt nicht; er verwandelt sich nur. Wohlauf denn, wie metempsychometamorphisiere {Metempsychose = Seelenwanderung; griechisch für ›Reinkarnation‹} ich mich? Soll ich Mystiker werden, Homöo-Hydropath oder Tenor? Diese drei Gewerbe tragen jetzt am meisten ein.
Halt! Ich werde Mystiker und gründe einen neuen Glauben. Ich stelle ein neues theopsychophilosophisches System auf. Ich werde ein Neugott. ― Die alten Götter hat die Welt längst zu Grabe getragen. Atheismus ist eine Sünde, Neotheismus eine Tugend, eine Wohltat für das Menschengeschlecht, denn was ist der Mensch, wenn er keine Götter hat?
Ich werde ein absoluter, unpersönlicher Gott. Eine Theogonie ist ja Kinderspiel in unserer Zeit; die meinige wird ein Meisterwerk sein; sie soll die heiteren Fictionen des hellenischen mit den unbegreiflichen des indischen Mythos vermählen. Zeus und Wischnu durchdringen sich. Von Letzterem leihe ich die Inkarnation.
Gedulden Sie sich einen Augenblick, meine Herren und Damen; ich verschwinde durch diese Versenkung, ziehe mich um, incarniere mich und komme gleich wieder. Berlicki! Berlocki! Der Neo-Paganismus ist fertig. Seine segensreichen Folgen wird die Folge zeigen.«
Und der Neu-Gott Puff schuf die beiden anderen Neu-Götter nach seinem Bilde. Er verbot ihnen weder die Pfeife noch den Sackpaletot {= Ärmelloses Übergewand für Männer}, ließ ihnen Orden und Bart und auch ihre alten Namen Schwadronarius und Krack, unter denen sie den Kellnern, Marqueurs, Bierwirten und anderen gelehrten Gesellschaften wohlbekannt waren.
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Eintrag No. 658 — Die Reise nach Hamburg und der dortige Gründungskongress der ›Gesellschaft für Fantastikforschung‹ war eine wunderbare Sache. Meinen Bericht über den Eröffnungsabend habe ich noch während des Kongresses zustande gebracht (über den Rest berichte ich, sobald ich wichtigere Illustrations- und Textverpflichtungen abgearbeitet habe).
Lektüre: Kommt selten vor, aber die letzte Woche war ich ziemlich lesemüde. Doch wieder einmal hat der »BAROCK-ZYKLUS«-Virus mich erwischt. Dieses Riesenwerk von Neal Stephenson habe ich bereits jeweils einmal auf Englisch und Deutsch genossen. Am Mittwoch konnte ich dem Angebot einer kompletten englischen Hörbuchlesung nicht mehr widerstehen, und habe mir den ersten (»Quicksilver«) von 7 Teilen besorgt, also die ersten ca. 15 Stunden von insgesamt etwa 124 Stunden. Und ich kann sagen, die Lesung von Simon Prebble gefällt mir und ich bin (wieder mal) hingerissen. Ja, ich gehe sogar so weit, im Augenblick geneigt zu sein, dieses Riesenwerk als den bisherigen Lektürehöhepunkt meines Lebens einzustufen.
Ansonsten greife ich für Zwischendurch zu meinen neuen »Transmetropolitan«-Sammelbänden. Ist ewig her, seit ich die Abenteuer von Spider Jerusalem in Einzelheften gelesen habe. Stelle fest, dass diese gesellschafts-kritische Science Fiction-Satire immer noch beachtlichen Wumms hat. Nicht umsonst bewachen Spider und seine Mutantenkatze Missgeburt meinen Verstärker.
NETZFUNDE
Im ›Guardian‹ erzählt der unvergleichliche Stephen Fry unhaltsam und geistreich wie immer, warum er, aus jüdischer Familie stammend, die Musik von Richard Wagner mag: Why Stephen Fry loves Wagner. Weitere gute Nachricht Mr. Fry betreffend: er wird in der Fortsetzung von Guy Richies »Sherlock Holmes« den älteren Bruder des Meisterdetektivs, Mycroft Holmes, geben.
Anlässlich der Biographie »Sarah: The Life of Sarah Bernard« liefert Graham Robb für ›New York Review of Books‹ einen unterhaltsamen Text über The Divine Sarah. Großes Schmunzeln erregte bei mir die Anekdote betreffs eines Ausspruchs von Alexandre Dumas den Jüngeren, der sinngemäß meinte:
»Wissen Sie«, sagte er über die bekanntermaßen gertenschlanke Schauspielerin, »sie ist eine derart notorische Lügnerin, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie in Wirklichkeit fett wäre!«
Sven Ahnert hat für die ›NZZ‹ ein Werkstattgespräch mit dem exzellenten Übersetzer Nikolaus Stingl geführt (der unter anderem meine Säulenheiligen Thomas Pynchon und Neal Stephenson ins Deutsche überträgt): Auf der Jagd nach dem richtigen Ton.
(Deutschsprachige) PHANTASTIK-FUNDE
Florian Schwebel hat für ›Lesen was klüger macht‹ einen ausführlichen Essay zum Thema Mythen (in/out) geschrieben. Ebenfalls lesenwert ist sein bereits etwas älterer Beitrag Das Ende des Fiktionsvertrags.
Es erstaunt mich immer wieder, wie groß und gut organisiert die Life-Rollenspiel-Bewegung hierzulande ist. Da gibt es zum Beispiel (bisher von mir nicht bemerkt) ein eigenes Webportal für Filme, auf dem nun die neue Reihe ›Das Phantastische Quartett‹ debutierte. In Folge 1 plauschen, moderiert von Anet Enzmann, Gesa Schwartz, Thomas Finn und Thomas Plischke über die immer wieder gern gestellte, und wohl nie endgültig zur Zufriedenheit aller beantwortbaren Frage: Was ist eigentlich Phantastik?. Das macht Freude, das bringt Laune. Ich sehe weiteren Folgen des ›Q4‹ gespannt entgegen.
Richard Kämmerlings ist der neue leitende Kulturredakteur der ›Die Welt‹, und wie es sich anschickt, beginnt er seine Tätigkeit mit einem programmatisch-fordernden Text: Blühe, deutsches Faserland, in dem er sich wundert und beklagt, dass es immer noch keine (und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen) ›Great German Novel‹ gibt, also ein Erzählwerk, das geeignet ist, ein Pendent zu Werken amerikanischer Autoren wie Jonathan Franzen zu sein. — Das ausführliche Ausdeuten, wie dünngeistig diese Forderungs-Jammerei ist kann ich mir sparen, denn das erledigte bereits Gregor Keuschnig von ›Glanz & Elend‹ mit seinem Beitrag Wiederbelebungsversuch an einer Leiche. Trefflich diagnostiziert Keuschnig:
In Kämmerlings’ Traum spiegelt sich nämlich eine Sehnsucht, die disparate Gesellschaft- und Kulturentwürfe, ein Wesensmerkmal der Moderne, nicht zur Kenntnis nimmt. Wenn er schon den deutschsprachigen Kulturraum verengt auf das ›deutsche‹ respektive das ›ostdeutsche‹ — wie soll dann als Beispiel für eine zweihunderte Jahre gewachsene Einwanderungskultur wie die USA ein äquivalenter Roman entstehen können? Woraus speist sich die Annahme, dass Franzens Familie in irgendeiner Form repräsentativ für die USA ist? Da macht man sich ernsthaft Sorgen um Kämmerlings’ Amerika-Bild.
ZUCKERL
Habe das Blog des französischen Künstlers Sam van Olffen entdeckt. Wie Ann Vandermeer in einem ›io9‹-Beitrag trefflich beschrieb, bietet von Olffen schwindelerregende Kreuzungen aus Steampunk und Surrealismus.
Das ›Graphic Novel Info‹-Blog hat eine lobenswerte Übersicht zu verschiedenen Beiträgen über den von mir sehr verehrten Künstler Jaques Tardi zusammengestellt, anlässlich der Verfilmung von Tardis »Adeles ungewöhnliche Abenteuer«-Comics durch Luc Besson und dem Erscheinen des zweiten (und abschliessenden) Bandes »Elender Krieg«: Jacques Tardi in den Medien.
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