molochronik
Donnerstag, 20. Mai 2010

Philip Pullman: »The Good Man Jesus & the Scoundrel Christ«, oder: Nur ‘ne Geschichte

Eintrag No. 620 — Ich kann mich noch erinnern, dass ich zu Pullmans »His Dark Materials«-Trio gegriffen habe, weil sie mir als feine Fantasy empfohlen wurde, und wie ich dann zweimal überrascht wurde.

  • Erstens, weil ich nicht damit gerechnet hatte, das Pullman ein erfreulich streitbarer Kämpe im Kampf gegen religiösen (eben vor allem christlichen) Schmarrn und Machtanspruch ist, der in seiner Jugendfantasy Philosophie, Kosmophysik, Fantasy-Äktschn keck mit einem Krieg gegen den Himmel verquickt.
  • Zweitens überraschte mich dann unangenehm, dass Pullman bei Band drei von »His Dark Materials« mich irgendwie verfehlt hat, denn »The Amber Spyglass« war nicht so rund, süffig und spannend wie die ersten beiden Teile (trotz des – ooops … hoppala – Nebenbeitdruffgehen von GOtt). Ich hab den Band bis heute nicht fertig gelesen.

Da kam es mir durchaus zupass, dass Pullman mit »The Good Man Jesus & the Scoundrel Christ« was Neues in einem abgeschlossenen Band vorlegt. Im Rahmen der ›Mythen‹-Reihe, die international von einigen Verlagen herausgebracht wird, darf Pullman seine Fassung der Geschichte von Jesus Christus darbieten. Schon die Cover-Rückseite sagt es deutlich:

This is a story.
Das ist eine Erzählung.

…und ich Schelm denk mir freilich, dass genau diese Aussage natürlich auch auf die ›Origialversion‹ zutrifft.

Als Kind bin ich gequält worden mit bravgebügelten Bibel- und Jesusgeschichten. Ich geb zu: in einer Welt, in der es Zorro, Fantomas, den Roten Korsar und Lawrence von Arabien gibt, hat es der Sandalenheld Jesus nicht mehr leicht, die Kinder (genauer: Kleinbubenherzen) für sich zu gewinnen. Da nimmt es wohl nicht wunder, dass mir instinktiv immer schon der wütende Jesus am besten gefallen hat, wenn er Händler aus dem Tempel scheucht. Als junger Teen hatte ich meinen Spaß mit Michael Korths »Der Junior Chef«-Version des NT; habe eine aus der Stadtbücherei geliehene Neue Jerusalemer Bibel kompletto durchgeackert und später, als Twen, auch Luthers Bibel intensiver quergelesen. — Ach ja: Haderers Jesus-Satire habe ich einst für Literaturkritik rezensiert. — Kurz: ich bin totaaal der Dscheeses- und Bibel-Experte (immerhin sind die ersten beiden ›seriösen‹ Berufswünsche (also nach Pirat, Superheld und Robin Hood), an die ich mich erinnern kann, Inquisitor und Papst).

Doch zu Pullman.

Er hat den typischen Bibelgeschichtensound gut getroffen. Nachteil: Entsprechend fad. Vorteil: Flott lesbar. Von den 54 Kapiteln sind eine Handvoll allerdings sehr fein, denn in ihnen bündeln sich (a) eine milde vorgetragende und doch grundlegende Kritik an organisierter/koorperationistischer Religion, sowie (b) Meditationen über das Weben und Wirken von Geschichten und wie man ›die gewöhnlichen Menschen‹ motiviert; mitunter auch darüber, ob eine kontemplative oder aktionistische Haltung geeigneter ist, um Utopien zu verbreiten.

Der Clou von Pullmans Version des Evangeliums ist, dass er aus der Figur des Erlösers ein ungleiches Zwillingsbruderpaar gemacht hat. Da ist einerseits der Impulsmensch Jesus, Drop-Out und Sozialrevoluzzer der gegen die bestehende Menschenordnung anpredigt und Kraft seiner charismatischen Ausstrahlung so manchen Leidenden und Siechen ›wunderheilt‹; zum anderen der mamatreue, introvertierte Bücherwurm Christ, der mit neidischer Liebe die Umtriebe seines Bruders beobachtet und von einem irdischen Himmelreich träumt.

Der antimaterialistische Jesus und der kalkulierende Idealist Christus geben ein feines Antagonistenpärchen ab, ohne sich jemals wirklich in die Haare zu kriegen. Ein Höhepunkt war für mich ihre Diskussion in der Wüste. In der Bibel ist das die berühmte Versuchung des Erlösers durch den Teufel, der mit weltlicher Macht, Lustbefriedigung und haste nich gesehen lockt. Bei Pullman wird daraus ein Gespräch zwischen Zweien, die auf unterschiedliche Art Gottes Willen erfüllen wollen: Jesus als apokalyptischer Seelenhygienigker misstraut Christus Vorstellungen von einer organisierten Form des himmlichen Reiches auf Erden. Der Faden von Jesus Skepsis gegenüber organisierter Religion wird wirkungsvoll weitergesponnen in der Neu-Fassung der berühmt-ergreifenden Szene des Gebetes im Garten von Gethsemane, sicherlich der Höhepunkt des Buches.

Leichte Krimistimmung kommt auf, als Christ von einem geheimnisvollen Namenlosen (einem Engel?, einem Priester?) beauftragt wird, die Reden und von Taten von Jesus zu protokollieren, eben um daraus später den Initialtext der frohen Botschaft für die Massen zu machen. Pullman legt dabei seine Ansicht dar, dass, wenn es je eine wahrhaftige Messiasgeschichte gegeben hat, diese zum Zwecke der Seelenverführung im Sinne der keimenden Kirche aufgepeppt wurde.

Für ausgewachsene Religions- und Ideologiefresser ist dieses Buch sicherlich zu harmlos, aber vielleicht trotzdem amüsant zu lesen. Für aufrecht-kritische Christengläubige bietet sich der neue Pullman vielleicht sogar eine tröstlich-strärkende Lektüre an.

(Eine Deutsche Ausgabe ist bei uns offiziell noch nicht angekündigt. Auf der englischen Website zum Buch wird der Fischer Verlag als Herausgeber der deutschen Ausgabe genannt. Ein Termin steht noch nicht fest.)

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Philip Pullman: »The Good Man Jesus & the Scoundrel Christ«, 54 Kapitel auf 245 Seiten; Canongabe Myth Series, 2010; ISBN: 978-1-84767-826-3.
Dienstag, 18. Mai 2010

Molos Wochenrückblick No. 2

Eintrag No. 619 — Bin auf den letzten Seiten von Miévilles neuestem Roman »Kraken«, und seit Samstag versinke ich zudem in James Webbs »Die Flucht vor der Vernunft« und »Das Zeitalter es Irrationalen« über »Politik, Kultur und Okkultismus im 19. / 20. Jahrhundert«. Großartige Lektüre für Großraumphantastik-Forscher. — Nun aber zum Wochenrückblick

Netzfunde

  • Mille Miglia, 1. Etappe und 2. Etappe in Andreas »Reisenotizen« am 12. und 17. Mai 2010. Bereits zum dritten Mal berichtet Andrea von diesem Härtetest für Oldtimer. Wie immer mit hervorragenden selbst geschossenen Fotoschmuckwerk und diesmal einem Gastauftritt von Jamiroquai. — Hier noch die Links zu Andreas Artikel für die »F.A.Z.« von 14. Mai: Tausend Meilen im Ausnahmezustand und zu Andreas Mille Miglia 2010-Flickralbum.
  • England hat einen neuen Premierminister. Martin Lewis hat für »Huffingtonpost« (11. Mai 2010) ausgebuddelt, was der Mister Cameron so in seinen wilden Studietagen getrieben hat: UK Election Winner! Meet the New Toff (Same as the Old Toffs) »UK Wahlgewinner! Das sind die neuen feinen Pinkel (Sind genauso wie die alten feinen Pinkel)«: Folgender Absatz ist zu schön um unübersetzt zu bleiben:
    Aus den späten 1980ern, als Cameron Mitglied {des berüchtigten Bullington Clubs} war, ist ein typischer Abend gut dokumentiert. Die Mitglieder des Clubs nahmen eine Nacht lang eines der edelsten Restaurants von Oxford in Beschlag, orderten die teuersten Gerichte der Speisekarte, soffen üppige Mengen der teuersten Weine und Champagner — dann verwüsteten und zerstörten sie das ganze Restaurant, Möbel und Ausstattung. Der Gnadenstoß am Ende eines solchen Ausfluges bestand darin, auf den traumatisierten, verzweifelten Restaurantbesitzer zuzugehen, und, entsprechend der Umgangsgepflogenheiten des Adels mit seinen Bauern in vergangenen Jahrhunderten, den unglückseligen Besitzer verächtlich mit Geldbündeln zu bewerfen, als Vergeltung für den angerichteten enormen Schaden.
    A well-documented typical evening while Cameron was a member in the late 1980s consisted of the members taking over one of Oxford's fanciest restaurants for the night, eating the priciest food on the menu, ordering and quaffing copious quantities of the most expensive wines and champagnes -- and then totally trashing and destroying the entire restaurant, furniture and fittings. The coup de grace at the end of each such excursion was to go up to the traumatized, distraught restaurant owner and, in a gesture that dates back to the aristocrat-peasant relationship of centuries passed, contemptuously throw wads of banknotes at the hapless owner as recompense for the massive damage caused.

    (via »BoingBoing«). — Tja, die Inselaffen. Was Tradition und Standesbewußtsein angeht können wir mit denen nicht mithalten.

  • Ebenfalls BoingBoing: Cory Doctorow machte am 14. Mai 2010 auf »The People’s Manifesto« von Mark Thomas aufmerksam. Von den Beispiel-Ausschnitten gefällt mir am besten:
    Politiker sollten dazu verpflichtet werden, auf ihren Wappenröcken die Namen und Logos der Unternehmen zu tragen, mit denen sie finanzielle Beziehungen pflegen, so wie Rennfahrer (»Sie sollten gezwungen werden, vor ihren Wortmeldungen im Parlament die Erkennungsmelodie des Unternehmehns zu singen«).
    Politicians should have to wear tabards displaying the names and logos of the companies with whom they have a financial relationship, like a racing driver ("They should be forced to sing the company's jingle when they stand up in the Chamber")
  • Jesse Bullington, der begnadete Autor von »The Sad Tale of the Brothers Grossbart«, hat am 13. Mai 2010 diesen lehrreichen Vortrag verlinkt: Tim Wise – The Pathology of Privilege, Teil 1 von 6. — Insgesamt eine gute Stunde Vortrag über den alltäglichen, institutionalisierten Rassismus gegenüber Nichtweißen und die eingeschliffenen, ungerechtfertigten Vorteile welche Weiße genießen, gehalten von einem Weißen, der gleich zu Beginn darauf aufmerksam macht, dass es an seiner Hautfarbe liegt, warum er diesen Vortrag hält, und nicht ein Farbiger, obwohl er, Tim Wise, sein Wissen eben von solchen Leuten bezieht, die den Rassismus und die Vorurteile tatsächlich selbst erleben.

Wortmeldung

Bis auf kurze, nicht erwähnenswerte: keine

Zuckerl

  • Der Carlsen Verlag kündigt an, ab Juli 2010 in sieben Bänden die Manga-Fassung von Hayao Miyazakis »Nausicaä aus dem Tal der Winde« herauszubringen. Freude! (Der Film aus dem Jahr 1985 greift nur Teile der Handlung aus den ersten beiden Bänden auf. Die Manga-Fassung entstand 1983 bis 1994. Wie bei »Akira« ist der Film nur eine Art langer Trailer für die wesentlich umfangreichere Mangafassung.)
  • Die Trailer zu Christopher Nolans nächstem Streich »Inception« sind wahrlich vielversprechend. Einzig die 08/15-Trailermusik langweilt mich. Das immer gleiche Gepulse und schicksalsschwangere Wummsgeräusch (dieser oft benutzte, und mich eben schon anödende Soundmisch aus Bassblechgewaber, Schlaggepeitsche und Synthieorchester). Aber die Bilder und die Andeutungen der Handlung machen trotzdem enorm Laune.

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Sonntag, 16. Mai 2010
Samstag, 15. Mai 2010

Zusammenfassung von Albrecht Müller: »Was sollte Medienjournalismus leisten?«

Eintrag No. 617Langer Beitrag der »Nachdenkseiten«, den ich gut und wichtig finde und deshalb hier die Kernpunkte zusammendampfe:

Was sollte Medienjournalismus / sollten Medienjournalisten leisten?
  1. {Ü}ber den Zustand der Medien, über die Besitzverhältnisse, über Konzentrationsprozesse, über ihre Verflechtungen {…} aufklären;
  2. {A}ufklären über die Verflechtungen der Medien mit der Politik;
  3. {Besser aufklären} über die Tendenz von einzelnen Medien und des großen Stroms der Medien;
  4. Aufklären über den Einfluss großer Interessen auf die Medien mithilfe von Public Relations;
  5. {Ü}ber die Kampagnen der Meinungsbeeinflussung aufklären, und auch darüber wie Medien benutzt werden, um gefällige politische Entscheidungen herbeizuführen;
  6. {U}ns helfen, die Methoden des Kampagnenjournalismus und der heute üblichen Propaganda zu Gunsten von Interessen zu durchschauen;
  7. {D}en Medienschaffenden nicht durchgehen lassen, wenn diese weiterhin Wissenschaftler und Publizisten als sachverständig und unabhängig herausstellen und als Interviewpartner engagieren, wenn diese Wissenschaftler sich als Interessenvertreter und nicht als Vertreter einer unabhängigen Wissenschaft erwiesen haben — und zu diesem Zweck schwere Fehler gemacht haben
  8. Thematisierung des Interessengeflechts, in dem wichtige Medienmacher stecken.
Donnerstag, 13. Mai 2010
Dienstag, 11. Mai 2010

Molos Wochenrückblick No. 1

Eintrag No. 615 — Schon seit längerem grüble ich, was zu tun sei, um die Molochronik regelmäßiger mit Beiträgen zu bespeisen. Nun, zum sich nähernden 3000-Tage-Jubiläum habe ich mich entschlossen, einen wöchentlichen Rückblick zusammenzustellen. Hier die Debütnummer darüber, welche Netzfunde mir (im Guten wie Schlechten) bemerkenswert dünken, und wo ich mich zu Wort gemeldet habe.

Artikelfunde

  • Leistungsschutzrecht: Marshallplan für alte Träume: Netzpolitik fasste am 9. Mai 2010 kurz zusammen, was am 7. Mai 2010 ausführlich von »irights.info« bezüglich der im Stillen ausgebrüteten Leistungsschutzrecht-Vorstellungen von Presseverlagen und Gewerkschaften öffentlich gemacht wurde. — Und bisher schweigen sich die Publikumsmedien über diese Nachrichten aus! Ich appeliere deshalb an alle Molochronikleser, diese Infos weiterzuverbreiten und den ungeheuerlichen Absichten der Presseverleger und Gewerkschaften entgegenzuwirken.
  • »Tschiieep Tschieep Tschieep«: Ein sehr schöner Lokalnaturbericht über Nachtigallhähne in Berlin von Cord Reichelmann in »Der Freitag« vom 06. Mai 2010.
  • Bischof Mixa und Father Ted: Andreas Rosenfelder hat am 10. Mai 2010 im Zuge der Causa Mixa auf die irische TV-Serie »Father Ted« hingewiesen. — Natürlich traurig, dass diese Serie nie in Deutschland lief (immerhin gab es ja einst auch mal »Yes Minister« und »Yes Primeminister« bei uns).
  • Metaphern lügen nicht: Ein kurzer aber nützlicher Beitrag (für Phantastik-Forscher relevant) am 8. Mai 2010 von Klaus Jarchow in »Stilstand«. Ist eine Ergänzung zu seinem Beitrag »Die Ölprinzen«, in dem Klaus schon fein Aktuelles zum Thema Sprache und Hirnforschung zusammenfasste.

Wortmeldung

Zuckerl

  • Darth Maul likes Rainbows: »Super Punch« zeigt eine schöne Bilderstrecke der Werbemotive für das »Star Wars«-Weekend der Disney Hollywood Studios. Mein Liebling: der AT-AT beim Einparken. Man stelle sich dann die herauspurzelnden Stormtroopers vor, die in Richtung Achterbahn, Zuckerwatte und ›Bild mit Goofy machen‹ abzischen wollen, und ein Kommandant, der befiehlt, dass die Jungs sich bitte erstmal in einer ordentlichen Zweierreihe beim Eingang anstellen sollen.
  • Die Buchgestaltung des großartigen John Coulthart für »Into the Media Web« von Michael Moorcock: Natürlich will ich den Band mit Sachtexten und Essays des ›Great Old One‹ Moorcock haben, sobald er erscheint.

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Donnerstag, 29. April 2010

Thomas Pynchon: »Gegen den Tag«, oder: Leinen los, oh Ihr Gefährten der Fährnisse!

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2009 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Hier nun korrigiert und exklusiv um einige weiterführende Links erweitert.

>>>> Hier gehts zum Trailer der Sammelrezi mit Introdubilo und Warentrenn-Überleitungen.}

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Thomas PynchonEintrag No. 614 — Eingedenk meiner eigenen, in der Erschöpfung versackten Ersterfahrung mit Thomas Pynchon (1937) und seines Rufes, ein Autor extrem vertrackter Romane zu sein, bin ich erstaunt, wie leicht es mir gefallen ist, »Gegen den Tag« zu verschlingen. Immerhin brechen sich an Pynchon, genauer gesagt seinem Werk (denn der Mensch Pynchon ist extrem medienscheu und entsprechend wenig greifbar, von Mythen und Kolportagen abgesehen), seit dem Erscheinen der fulminanten Phantasmagorie »Die Enden der Parabel« (Amerikanisch 1973 als »Gravities Rainbow«, deutsch 1981) die Diskurswellen über das, was man ›postmoderne‹ Literatur nennt. Für die einen hat sich Pynchon durch diesen abseitigen und ungestümen Roman, der mit Bananengemansche beginnt, und dann Raketen-Ballistik und Erektionen, Mathematik und Esoterik, Halluzinationen und Rausch vor dem Hintergrund der Kriegsjahre 1944/45 auffährt, als König der versponnenen Großfabulierer etabliert. Für die anderen ist dieser Roman ein Musterexempel verwirrender und sinnloser Geschmacks- & Planlosigkeitszumutungen. Bis dato bin auch ich noch nicht wirklich warm geworden mit »Die Enden der Parabel« und habe das Trumm nach einem Drittel erstmal beiseite gelegt, unter anderem weil mich beispielsweise ein seitenlanges Fäkaldelirium vor den Kopf gestoßen hat, bei dem eine Figur im Tagtraum einen Kloabfluss hinabgespült wird[01], aber vor allem, weil Pynchon hier den Kniff des fließenden Perspektiven- und Ebenenwechsels derart auf die Spitze treibt, dass ich allerweil auf nebenbei gemachte Notizen zurückgreifen musste, um nicht völlig die Übersicht zu verlieren. Klarer Fall: ein Buch für mehrere freie Tage und dann heißt es, mit wenig Schlaf und mit Schmackes einfach durch. Immerhin gibt’s auch fetzige Erzphantastik nach meinem Gusto, zum Beispiel wenn ein Tagtraum äußerst munter schildert, wie eine Riesenamöbe London unsicher macht und wie man ihr vergeblich beizukommen trachtet.

Ganz anders der Riesenroman »Gegen den Tag«, der mich von der ersten bis zur letzten Seite derart heftig mitgenommen und für Pynchon eingenommen hat, dass ich in rascher Folge seine beiden ersten Romane »V.« (1961, dt. 1968) und »Die Versteigerung von No. 49« (1966, dt. 1973) las, und siehe: vor allem zweiterer ist alles andere als sperrig.[02]

Einige Leserstimmen intonierten den vertrauten Klagegesang über den zerfaserten Handlungsverlauf von »Gegen den Tag«, vermissen einen klar ersichtlichen Hauptplot der einen bei der Stange hält. Zudem tummeln sich in dem dicken Ding etwa eineinhalb Dutzend Hauptfiguren und zig Neben- und Randfiguren, und die Pausen zwischen Absetzten und Wiederaufnehmen eines Hauptfigurenstranges können bei diesem Übertausendseiter schon mal hundert Seiten und länger sein. Mit der Erwartungshaltung »Ich will einen klar verständlichen Plot!« wird man hier sicher nicht froh, und ich verweise daher auf dessen ausgeprägten Panorama-Charakter. — Kurzer Geschichtsausflug: als Panorama wurden im 19. und 20. Jahrhundert jene begehbaren, mit allen Tricks der illusionserzeugenden Theatermalerei- und Kulissenkunst ausgestatteten 360°-Rauminsterllationen bezeichnet, in denen sich das wunderschausüchtige Publikum in den wuchernden Großstädten der ersten Welt vergnügen konnte. In solchen Panoramahäusern konnten zuhause gebliebene Ottonormalverbraucher sich einen Eindruck verschaffen von Eiswüstenein, neuweltlichen Pionierlandschaften, oder Schlachtengetümmel.[03] — Nun sind Romane zwar keine überdimensionierten Wimmelbilder, über die der Blick der Betrachter frei schweifen kann, denn Leser sind genötigt, sich linear von der ersten bis zur letzten Seite durchzufräsen. Jedoch ermuntern gelungene Romane dazu, nachdem man alles gelesen hat, die Gesamtschau im eigenen Kopf zu veranstalten. Einerseits ist die bildnerische Gesamtschau von »Gegen den Tag« episch, enorm detailreich, und die Art, wie die thematischen Felder und Spannungen kombiniert oder auf- und gegeneinander gewichtet sind, scheint mir vom technisch-mathemathischen Verständnis des gelernten Ingenieurs Pynchon geprägt zu sein. Der Zwang zum linearen Erlesen lässt es andererseits zu, dass man Romanen eine gewisse Verwandtschaft mit den musikalischen Künsten andichten kann, und Pynchon ist nun ein Musikfan, vor allem ein Jazzfan, aber statt klarer Entwicklung bekommt man virtuoses Improvisieren geboten, mit allem, was zu dieser Kunst gehört, vom blödelnden Variieren der Situationskomik bis hin zur meditativen Versenkung in Stimmungen.

Auf welches Hauptthema man »Gegen den Tag« auch verkürzen will, man kann diesem Riesenschinken dabei nicht gerecht werden. Forsch drauf los behauptet, schlage ich vor, dass die große Themenlandschaft von »Gegen den Tag« aufgefaltet wird durch Fragen über die, und Zweifeln an der (Un-)Zielgerichtetheit der Geschichte der modernen Welt und ihrer Individuen. Dazu spannt das Buch einen Zeitbogen von der Großen Weltausstellung in Chicago 1893, bis knapp nach Ende des Ersten Weltkrieges. Eine ungeheure Milieu- und Umgebungs-Vielfalt wird aufgeboten um zu illustrieren, wie sich damals die Weltläufte beschleunigt und sich zerfasernd in jene unheilvollen Strudelbewegungen bezogen wurden, die zu den großen (größtenteils menschengemachten) Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten. Den Reigen der Bösewichter führt dabei der vulgärkapitalistische Industriekapitän Scarsdale Vibe an, der seine gewissenlosen Handlanger unter anderem ausschickt, um unbequeme Bergarbeiter-Sozialisten zu meucheln. Von den gegen solche wie Vibe revoluzzenden Verkündern des Evangeliums des Sabotage-Dynamits bringt einer, Moss Gatling, den »Gegen den Tag« und gegen die Kontroll- und Unterwerfungsabsichten gerichteten Impuls des Widerstands mit folgenden Worten auf den Punkt:

Aber wenn ihr einen Punkt in eurem Leben erreicht, wo ihr begreift, wer wen bescheißt – vergib mir, Herr –, wer nimmt und wer nicht, dann seid ihr verpflichtet, euch zu entscheiden, mit wie viel ihr euch einverstanden erklärt. Wenn ihr nicht jeden Atemzug eines jeden Tages, ob im Wachen oder im Schlafen, an die Vernichtung jener wendet, welche die Unschuldigen so leichthin schlachten, wie sie einen Scheck unterschreiben, wie unschuldig wollt ihr euch dann nennen? Dieser Frage müsst ihr euch jeden Tag neu stellen und zwar in dieser Absolutheit.[04]

Egal, wie sehr man sich nun dafür ins Zeug legt, Pynchon zum Großmeister der engagierten, modernen Anspruchsliteratur zu stilisieren, man mindert den Status dieses Autor keineswegs, wenn man ihn ›nur‹ als Lieferanten ausufernder Abenteuerlichkeiten und Blödeleien nimmt (inklusive alberner und zotiger Lieder, die von den Figuren immer wieder angestimmt werden). Die für die E-Literaturmedien schreibenden Rezensenten drücken sich nicht selten davor, auf die ausgesprochen heftigen Phantastikstrahlung von »Gegen den Tag«hinzuweisen, doch hier, in einem Phantasten-Blog, ist dieser Aspekt des Buches natürlich besonders zu betonen.

Den deutlichsten roten Phantastikfaden liefern die an die ›scientific romances‹ von H. G. Wells und die ›voyages fantastique‹ von Jules Verne erinnernden Luftschiffabenteuer der ›Gefährten der Fährnisse‹[05] (deren Vornamen — Chick, Miles, Lindsay, Randolph und Darby — alle von Größen des Jazz entliehen sind; außerdem gehört noch der intelligente Hund Pugnax zur Crew). Da wird die Hohlwelt durchquert, oder sich so weit in astrale Höhen vorgewagt, bis man in Gegen- und Nebenwelten wieder runterkommt. Auch wühlt man sich in einem Land-U-Boot unter der asiatische Wüste hindurch, um in Städten, die schon vor langen Zeiten vom Sand verschluckt wurden anzudocken.

Geisterhafte Erscheinungen treten regelmäßig auf, mal in Gestalt einer jungen Frau (Yashmeen Halfcourt), die so grazil und anmutig ist, dass zuweilen das Licht durch sie hindurchscheint; mal als Vatergeist, der bevorzugterweise bei Eisenbahnfahrten oder im Traum einem seiner Söhne als anspornender Rachemahner erscheint; mal als grausamer österreichischer Offizier, der aufgrund seines Sadismus als Vampir gilt; ein andermal treibt ein gutbetuchter englischer Dandy seine nocturale Empfindsamkeit soweit, dass er vorzieht wie eine Fledermaus im Keller kopfüber schlafend zu verbringen. – Verschiedene nach der Weltherrschaft strebende Mächte strecken ihre Hand nach dem geheimnisvollen Islandspat aus, das die Eigenschaft besitzt, Dinge die man durch ihn sieht zu verdoppeln. Das Motiv der Verdoppelung wird weitergetrieben zur Bifuraktion, was einige Figuren bis hin zur Kunst bringen, zugleich an zwei Orten zu sein, zum Beispiel, wenn jemand bequem im Sessel liest, und sich zugleich in der Arktis befindet. — Auf Konferenzen beschäftigen sich Wissenschaftler seltsamer Disziplinen mit den Möglichkeiten der Zeitreise und den Geheimnissen des Aethers, oder trachten danach, die Turbulenzen und Vibrationen von Tornados in Sprache zu übersetzten, um im entsprechenden Code mit den schicksalsmächtigen Wirbelwinden kommunizieren zu können. — Ein indischer Yoga-Wissenschaftler, beherrscht die Kunst, durch komplizierte Verrenkungen (sprich: dimensionale Krümmungen des Raumes) sein körperliches Aussehen (bis hin zum Geschlecht) zu verändern, so wie unsereins mittels Fernbedienung den Sender wechselt. — Zeitreisende aus der Zukunft, und Flüchtende von den Massakern der kommenden Weltkriege und womöglich auch der ihnen folgenden Stellvertreterkriege des Kalten Krieges und des Krieges gegen den Terror schleichen durch die Welthintertüren. — Ein sprechender, gutmütiger Kugelblitz, begleitet kurz eine Familie. — Ein den Atlantik überquerendes Passagierschiff verwandelt sich gleitend in ein Schlachtschiff. — Mit einem raffinierten Lichtspielapperat kann man nicht nur aus einem beliebigen Photo die Vergangenheit wieder erscheinen lassen, sondern bei entsprechender Manipulation der analysierten Lichtkonserve lassen sich auch alternative Seitenpfade des Möglichkeitsgeflechts ersehen.

Das größte phantastische Ereignis wird in »Gegen den Tag« von einer Katastrophe verursacht, die nur zu deutlich zeigt, was die tatsächlichen kosmischen Bedrohungen aus der Wirklichkeit für alle menschengemachten Pläne sind: Naturkatastrophen, hier der Meteoreinschlag Tungkuska vom 30. Juni 1908. Es folgt eine kurze Kostprobe der Kapriolen, die in Pynchons Welt dem Kosmosschlag auf den Percussionskörper Erde folgen:

Noch eine Weile nach dem Ereignis liefen verrückt gewordene Raskolniki in den Wäldern umher, geißelten sich und gelegentliche Gaffer, die zu nahe kamen, und delirierten von Tschernobyl, dem zerstörten Stern namens Wermut aus der Offenbarung. Rentiere entdeckten ihre uralten Flugfähigkeiten wieder, die im Laufe der Jahrhunderte seit dem Eindringen von Menschen in den Norden verloren gegangen waren. Bei manchem regte die Begleitstrahlung die Epidermis insbesondere im Nasenbereich zu einem Leuchten am Rotende des Spektrums an. Stechmücken büßten ihre Vorliebe für Blut ein, eigneten sich stattdessen eine Vorliebe für Wodka an und wurden beobachtet, wie sie sich in großen Schwärmen in einheimischen Kneipen zusammenfanden. Uhren, auch Armbanduhren, gingen rückwärts. {…} Sibirische Wölfe kamen mitten im Gottesdienst in Kirchen, zitierten in fließendem Altslowanisch Stellen aus der Heiligen Schrift und gingen friedlich wieder hinaus. {…} Ganze Dörfer kamen zu dem Schluss, dass sie sich nicht dort befanden, wo sie sein müssten, worauf die Einwohner ohne große Vorausplanung schlicht zusammenpackten, was sie besaßen, zurückließen, was sie nicht tragen konnten, und sich gemeinsam in den Busch aufmachten, wo sie kurz darauf Dörfer errichteten, die niemand sonst sehen konnte. Jedenfalls nicht sehr deutlich.[06]

Ebenso reichlich geboten wird prickelnde Situationskomik (wenn ein kauziger Wild West-Fuzzi sich auf eine sinnliche Eskapade mit einem Schoßhündchen einlässt), haarsträubende Äktschn (wenn ein Abenteurer in einer Lebensmittelfabrik vom schrecklichen Tod durch Mayonnaise bedroht wird), bezaubernde Liebes- und Erotikabenteuer, Einblicke in Elends- und Luxuswelten mit all ihren durch von ideologischen, politischen, spirituellen und transzendenten Verblendungen befeuerten Intrigen. Zwar mag »Gegen den Tag« unverschämt vollgestopft mit Details und ausufernd bei seiner Weltenwanderei sein, aber folgt man den Rat von Pynchon-Veteranen, und schert sich (beim ersten Mal) einfach nicht um Fragen aufwerfende Stolperstellen, sondern liest mit gebotener Sturheit weiter, dann kann man wahrlich etwas erleben.

SERVICE:

Ausführliches Inhaltsverzeichnis zu »Against the Day«

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Thomas Pynchon: »Against the Day«, (2006); 70 Kapitel in 5 Teilen auf 1220 Seiten; Vintage Taschenbuch (Yuko Kondo-Cover Edition) , 2007; ISBN: 978-0-099-51233-2.

Thomas Pynchon: »Gegen den Tag«; Deutsch von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren; 1596 Seiten. Gebundene Ausgabe: Rowohlt Verlag 2008; ISBN: 978-3-498-05306-2. Taschenbuch: Rowohlt Verlag, 2010; ISBN: 978-3-499-24609-8:

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ANMERKUNGEN:

[01] Auch wenn dieser Passage in »Trainspotting« von Irving Welsh und seinem Verfilmer Danny Boyle Tribut gezollt wurde, ich fands sie nur grenzenlos unappetitlich. ••• Zurück

[02] Der Griff zu »Die Versteigerung von No. 49«, dem kürzesten Roman von Pynchon, sei als Einsteig für Neugierige angeraten, die bezweifeln die Ausdauer/Konzentration für seine dicken Romane aufbringen zu können. Am erstaunlichsten ist, wie dieser von Verschwörungsunsicherheiten gesättigte Roman trotz, oder gerade wegen seiner Kürze durch Ideenfülle und Quadruppel-Bödigkeit brilliert.

Auch »V.« ist reizvoll facettenreich, wenn auch schon formal schwerer, da sich hier verschiedenste Handlungsfäden und Episoden lange Zeit nur auf äußerst vage Art aufeinander beziehen. Doch auch bei V. macht die kunterbunte, humorige, manchmal sogar deftige Mischung aus Fabublödelei und hochtrabender Spekulation Laune. ••• Zurück

[03] Ein modern-einheimisches Anschauungsexempel bietet das thüringische Panorama Museum nahe Bad Frankenhausen, in dem ein zylindrisches Ölgemälde von Werner Tübke, im Format 14 x 112 Meter, mit über 3000 dargestellten Figuren, die Bauernkriege von 1524 in einer prächtigen Rundschaukunde präsentiert. ••• Zurück

[04] »Gegen den Tag«, Seite 133/134. ••• Zurück

[05] Im Original tragen sie den schmissigen Namen ›Chums of Chance‹, was auch als ›Kumpel des Glücks‹ übersetzbar wäre. ••• Zurück

[06] »Gegen den Tag«, Seite 1157 f. ••• Zurück

Sonntag, 18. April 2010

Zwischenmeldungen zu einigem

Eintrag No. 613 — Vorgestern abend: ich am Shrimpsuppeessen, verschlucke mich und werde binnen 5 Minuten von einem heftigen Schnupfen befallen. Supertriefnase seit dem. Heute Vormittag dann dann eine sämig 3/4-verdaute Nudel ausgenossen. Schnupfen runter auf 20%. — Ich meine von Ferne das Lachen der Götter zu vernehmen.

Hinke tadelnswerterweise (wieder) weit hinter meinem Abgabesoll für das kommende »Magira« her. Jedes Mal beginne um die Jahreswende mit ersten Skizzen. Jedes Mal verfranze ich mich dann und werde vor lauter Feilen am Endtext nicht rechtzeitig fertig. Schlimmste Übel, derer ich in den letzten Jahren auch nicht immer ganz beikam, sind gewisse Adjektive und Satzbausteine, die sich doppeln. Ist sauschwer, jedem Buch eine speziefische Rezensionsargumentation angedeihen zu lassen. — Überlege, ob ich in Zukunft einfach alle Bücher die ich im Laufe des Jahres gelesen habe aufliste, mit jeweils einem ›Daumen rauf‹, ›Daumen runter‹ oder ›So mittel‹ dahinter.

Bin unter die Übersetzter gegangen. Also nicht nur so fürs Blog oder Fansites, sondern so richtig, für einen Verlag mit feinen Kurzgeschichten. Bin sehr am zittern, aber die Rückmeldungen meines Auftraggebern machen mir Hoffnung. Ich lerne enorm viel und freue mich schon, wenn die Sache gänzlich spruchreif wird und ich konkret davon erzählen kann. — Ich muss übrigens Frank Böhmert danken. Der hat letztes Jahr einen Blogeintrag geschrieben, der mir Mut machte, ohne dem ich mich nicht getraut hätte, die Anfrage des Verlages zu bejahen.

Freitag, 2. April 2010

Flix: »Faust. Der Tragödie erster Teil« als Comic, oder: Ramazotti! Denn GOtt hat Kreislauf.

Eintrag No. 612 — Goethes »Faust« ist für alle leidenschaftlichen Exklusivfreunde klassischer, ernster Geschichten — die jedoch mit misstrauischem und gramvollem Blick die phantastischen Fabulationen beäugen — ein mitunter peinliches Prunkstück, denn die moralische, allegorische, romantische, tragische und zuweilen tollkühn burleske Mär über die Wette zwischen GOtt und Mephisopheles um eine treue aber zweifelnde Seele ist und bleibt trotz all ihrer wahren, guten und schönen Eigenschaften ein Glanzstück deutscher Phantastik.

Mit großer Freude habe ich letztes Jahr auf den Webseiten der F.A.Z. die in täglichen Fortsetzungen erstveröffentliche modernisierte Fassung dieser Geschichte durch Meisterfeder Flix genossen. Flix hat mich schwer beeindruckt mit seinem autobiographisch angehauchten Band »held«, indem unter anderem Monster und Ängste auf wunderbare Art mit den veranschaulichenden Kniffen, die dem Erzählen in Comicform zuhanden sind, auftreten.

»Faust« von Flix holt den hehren, für heutige Gemüter stellenweise schwer verdaubaren Stoff des Olympiers herab von den Säulen marmorner und äääääärrrrrnster Schwere und macht daraus ein Slapstick-Bravourstück, löblicherweise ohne die nachdenklichen Nuancen vollends einzubüßen. Die Götter werkeln in einem Bürokomplex, GOtt-Vater ist wegen seines mauen Kreislaufs ein Ramazotti-Dauerschlürfer; Gutelaune-Profi Mephistopheles ein Denglisch radebrechender Lifestyle-Coach; Softie Faust ein gutmütiger Taxifahrer in Nöten; Wagner ist ein nerviger Rollstuhl-Neger und das Gretchen eine von ihrer konservativen türkischen Familie drangsalierte Biokost-Verkäuferin. — Hilfreichere Orientierung als ich bieten könnte liefert die Inokulierung von Andreas Platthaus anlässlich der F.A.Z.-Fassung: »Quadratnase für Faust«.

Diese schnelle Empfehlung will ich auf den Punk bringen, indem ich meine absolute Lieblingsszene nachzuerzählen versuche:

(Seite 35): {Zusammenhang, in den weiteren Klammern folgt die Kästchen-Nummerierung} Mephisopheles, kurz: Meph, hat Faust betüdelt einen Vertrag mit ›Happy Life‹ zu unterschreiben. Leistung soll sein: Faust glücklich zu machen, was Goethe mit »Augenblick verweile doch, Du bist so schön« umschrieb. Gegenleistung: ›Happy Life‹ soll die exklusiven Nutzungsrechte an Fausts Seele nach dessen Abbleben erhalten. Nun soll es ans Unterschreiben gehen.

{Zwölfer-Gitter mit 3 Kästchen pro Zeile: 1} Fausts Hand führt einen Stift zur Linie für die Unterschrift. {2} Faust und Meph (mit Kaffee) erschrecken, denn der Papierblock des Pakt-Vertragswerks steht plötzlich in Flammen. {3} Meph zückt ein zweites Pakt-Werk. »Das passiert manchmal«, meint er fidel, »Zum Glück habe ich noch ein feuerfestes Exemplar dabei.«

{4} Himmel: GOtt, so ein blonder Pferdeschwanz- und Schnauzbarttyp in hellgrauem Anzug mit Krawatte, überm Kopf schwebt das ›Auge im Dreieck›-Symbol, steht am Himmelsgeländer ›snippt‹ mit den Fingern. Hinter ihm fliegt sein kleiner Sekretärs-Engel, feister Baseballkappen-Typ mit Zigarette und Headphone. {5} Bei Faust und Meph flattern nun auf einmal die Seiten des Paktes herum. {6} Himmel: Headphone des Sekretärs klingelt. »Käpt’n! Ein interner Anruf.«

{7} Chaos aus durcheinander fliegendem Papier bei Faust und Meph. Zweiterer versucht hektisch die herumschwirrenden Blätter einzufangen. »Ups! Da ist wohl … irgendwo … ein … Fenster … auf.« {8} Himmel: GOtt snippt und fragt: »Wer ist dran?«. Der Sekretäts-Engel hält immer, wenn jemand anruft, eine Stellvertreterhandpuppe des Anrufers hoch, diesmal einen kleinen Papst. »Kollege Benedikt. Wann Sie Zeit hätten, mit ihm vor seinen Vortrag für die Präsentation am Sonntag durchzugehen.« — »Morgen. Morgen früh«, antwortet GOtt. {9} Faust beim Versuch zu unterschreiben meint nun: »Hm. Schreibt nicht«, und Meph hält schon einen Füller hoch: »Der vielleicht.«

{10} Himmel: GOtt, hochkonzentriert, snippt und snippt. {11} Faust unterschreibt mit dem Füller, hat dabei einen Indianerkopfschmuck auf und Meph trägt einen Cowboyhut. {12} Himmel: GOtt sagt bedröppelt: »Mist« und sein Sekretät kommentiert trocken: »Versnippt.« — Voila!

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Flix: »Faust. Der Tragödie erster Teil« (2009 als Serie in F.A.Z.; 2010 in Buchform); Mit einem Vorwort von Andreas Platthaus; S/W und Grau, 96 Seiten; Gebunden, Carlen Verlag; ISBN: 978-3-551-78977-8.
Dienstag, 23. März 2010

Zum Trost ein Zitat aus »Eine andere Welt« von Plinius dem Jüngeren

Eintrag No. 611 — Für alle, die sich warum auch immer, über über geistlos und bequemlich aufgeklaubt Wiedergekäutes aufregen, dem, was laut Schopenhauer die niederste Art der Schriftsteller kennzeichnet, jene Parasiten nämlich, die zusammen- und abschreiben was andere bereits gedacht & geschrieben haben, hier ein tröstliches Zitat aus: »Eine andere Welt« (Französisch 1844) von einem anonymen Autor der sich ›Plinius der Jüngere‹ nannte, reichlich illustriert vom unübertrefflichen Grandville, übertragen in Teutsche von Goethe-Sekretär Oskar Ludwig Wolff (Deutsche Fassung 1847).

Es folgt ein Auszug der langen Schlussrede von Dr. Puff (Neugott), nach der Ausgabe des Diogenes Verlages 1979, Seite 291 ff (veraltete Schreibweise beibehalten):

»Ruhm erwerben ist überhaupt in unseren Tagen weiter Nichts als das Resultat eines chemischen Processes; man mischt Fremdes zusammen, bis es aussieht wie Eigenes, und zersetzt wiederum das, was Andere berühmt gemacht hat, bis Nichts übrig bleibt, als ein caput mortuum {dt. = Totenkopf}. Man affimiert sich und negiert alles Andere, darin besteht das ganze Geheimnis. Ich wundere mich, daß noch Niemand ein Handbuch für berühmte Männer und Solche, die es werden wollen, herausgeben hat. Es wäre ein gutes Geschäft damit zu machen.
Die wechselseitigen Lobassecuranzen tragen auch nicht wenig dazu bei, den Ruhm über Nacht wie einen Pilz ausschießen zu lassen. Am Besten verstehen es indessen noch immer die Verlagsbuchhandlungen, die jeden ihrer neuen Artikel einen Porspectus als Courier voraussenden, in welchem ›der unerbittliche Verfasser‹ endlich einem dringend gefühlten Bedürfnisse abhilft und die Buchhandlung diesem wunderbaren Werke für einen Spottpreis eine Ausstattung gibt, wie sie der Xsche Buchhandel bisher noch nicht auszuweisen hatte.
Ehe die Vorzeichen mir meldeten, dass das Ende der Welt nahe sei, hatte ich für eine neu etablierte Verlagsbuchhandlung ein Druckwerk erfunden, welches binnen einer Secunde die volkreichste Residenz mit Prospectus zu überschwemmen im Stande war. Leider erschöpften die Kosten dieser Prospectusse dermaßen die pecuniairen Mittel und Kräfte des jungen Geschäfts, daß es die angezeigten und ausposaunten Werke nicht zu bringen vermochte, obwohl es kein eigentliches Honorar für dieselben zu zahlen hatte, die sie sämmtlich nur Be-, Um- oder Überarbeitungen waren, denn, wie wir bereits zu Anfange dieses Buches sagten: Nicht stirbt, Alles verwandelt sich nur.
Vermittels dieses Axioms kann man ohne Gewissensbisse Anderen ihre Gedanken stehlen, man nennt das: sie verjüngen.
Das Plagiat wird überall geduldet und geschätzt, vertheidigt es doch schon Goethe, daß er sich stets von den Besten sein Bäuchelchen gemästet. Die Gesetze bestrafen jeden Diebstahl, nur nicht den Gedankendiebstahl. Die Einbildungskraft, diese offenherzige Göttin, darf es kaum wagen ihre Nasenspitze sehen zu lassen, so sind auch schon fingerfixe Schnipfer bei der Hand, die ihr gewaltsam die Taschen leeren und sich mit ihrem Raube davon schleichen.«
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