molochronik
Montag, 27. Januar 2003

Coverzeichnungen

Die Bilder waren einige Zeit verschollen. Gefunden im Archiv und neueingepflegt am 03. August 2007.

Eintrag No. 25 — Mit dem iBook von Andrea kann ich nun meinen Lieben nette Mix-CDs aufnehmen. Die Covers zu den ersten drei Gebrannten sind mir gestern sehr leicht von der Hand gegangen, was mir schon lange nicht mehr glückte. Daß ich so angenehm krampflos zeichnete, lag wohl auch daran, für wen ich sowas zeichne.

Sphaerenmusik(für Andrea).
Emolog (für unseren Haushalt).
Emolog (für David im fernen Wien).
Sonntag, 26. Januar 2003

Babel denotiert in Fabrikhalle

Eintrag No. 24 — Mit Lava in den Adern scheint Helmut Krausser seine Gedichte zu schreiben. Manche mögen die Spannweite seiner Sprache und Bilder als unansehlichen Spagat deuten. Tatsächlich aber hat Helmut Krausser in seinen großen Romanen, Kurzgeschichten und Tagebüchern sich um die Wiederaufnahme einer vernachlässigten Tradition gekümmert: die bewußt strotzende Sprache sowohl Himmelhochjauchzend als auch Hosenruntersehenwollend einzusetzten. Angenehm sein Oszillieren zwischen den Niederungen der Parasitenwelt und der Hingabe für antiken Traditionen.

»Denotation Babel«. 1998 geschrieben ließt es sich seit dem 09. Sept. wie eine Prophetie aus jüngerer Zeit:

»Was wirklich groß ist, geht nur unter, um stärker, unaussprechlicher zurückzukehren [...] als Montsalvat, Neuschwanstein, als Eifelturm, Big Ben, die Skyline von New York...«

Als Wahl-Ff/M-ler hab ich mich wie Schnitzel auf die dramatische Umsetzung dieses Textes gefreut. Bin ja nur selten im Theater, aber wenn das Neuste von Helmut Krausser aufgeführt wird, komm ich gerne bei.

Also ins Schauspielhaus, genauer einer kleinen Außenstelle von denen im Gallus. »Denotaion Babel«, eigentlich ein zehnteiliges Gedicht (hier drinn), ist Helmuts kompaktester Text … das meine ich nur so vor mich hin, diese Einschätzung findet sich so in Helmuts Tagebüchern.

Was tut sich? Drei männliche Stimmen, Veteranen im Archetypencafe, resümieren die wechselreiche Geschichte des Turmes, der sich in den Veränderungen selbst wandelnd in Wahrheit niemals eingestürtzt ist.

Das Trio HCD (Mitglieder des Ensemble Modern) hat für den HR eine Hörspiel- (oder Soundscape?)-Fassung erarbeitet. Besonders schön das Gläsersingenlassen, daß abwechselnde Holzhämmerchenklacken, das Lied vom Fest.

Baff war ich, daß Felix von Mannteufel mit von der Partie war, kenne ich ihn doch schon lange Zeit als eine wichtige Stimme in der Hörspielfassung von »Per Anhalter duch die Galaxis«. So sieht man alte Bekannte zum ersten mal.

Sehr empfehlenswert für alle Freunde poetisch-mythischer Sprach-, Musik- und Klang-Collagen ist die CD (noch amazon.de, aber hier zu finden).

Montag, 9. Dezember 2002

Philip K. Dick: Kurzgeschichten (2)

Eintrag No. 22

(Stories 14 bis 25 von 118)

War krank am Wochenende. Viel mehr als willenlos rumliegen und lesen war nicht. Deshalb heute hier auch schon der zweite Teil der Kurzinhaltsangaben aller 118 Kurzgeschichten meines Lieblings-Science-Fiction-Autors. - {Nach der zehnbändigen Ausgabe des Haffmans-Verlages. Hier zu Teil eins der Zusammenfassungen.}

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BAND ZWEI: Kolonie

14. Der unermüdliche Frosch: Professor Hardy und Grote wollen ihren Streit um ein Paradoxon Zenons mit experimenteller Vorrichtung klären. Groty fällt dabei durch die Moleküle, das Experiment schlägt fehl.

15. Die Kristallgruft: Drei terranische Saboteure entführen eine marsianische Ratzentrumstadt als Druckmittel für Freihandelszonenerweiterungsbestrebungen der Erde.

16. Das kurze glückliche Leben des braunen Halbschuhs: Doc Labyrinth erfindet eine Maschine, mit der gewöhnliche Gegenstände zum Leben erweckt werden, mittels des Prinzips der hinreichenden Belästigung.

17. Der Erbauer: Elwood baut ein riesiges Holzboot und wird deswegen von seinen Mitmenschen immer scheeler angeguckt. Ihm selbst ist auch unklar, wofür das Boot gut sein soll, bis der erste große Regentropfen fält.

18. Eindringling: Illegale Zeitsonden zeigen eine Erde in 100 Jahren mit blühenden Muhkuhwiesen, aber gänzlich menschenfrei. Agent Hasting soll den Störfaktor finden und schleppt den Grund (Schmetterlinge!) mit seinem Zeitwagen ein.

19. Zahltag: Zeitschleifenkrimi um einen Mann, dessen Gedächtnis über zwei Jahre Arbeit bei einer Firma gelöscht wurde, und der mit einer Handvoll Krimskrams als Bezahlung mehr anfangen kann, als mit 50 Tausend Credits.

20. Der Große C: Nachdem der Große C vor 50 Jahren das Atom vom Himmel holte und die Erde wüst machte, schickt ein Bunkermenschenstamm wie jedes Jahr einen jungen Mann zum Großen C, um die drei Fragen zu stellen.

21. Draußen im Garten: Für meinen Geschmack sehr unheimliche Eifersuchtsgeschichte, in der ein Mann zunehmend davon überzeugt ist, daß nicht er, sondern ein Erpel der Vater seines Sohnes ist. - {Variation auf das Thema: Leda und der Schwan.}

22. Der König der Elfen: Ein Tankstellenbesitzer aus der Provinz wird König der Elfen und erschlägt den großen alten Troll.

23. Kolonie: Der verzweifelte Kampf der Kolonie von Planet Blau mit Protoplasmalebewesen, die fähig sind, alle Gegenstände zu immitieren. Bitteres Ende, das Gaskammermulmigkeit beschwört.

24. Beutestück: Vier Terraner machen einen planlosen Probeflug mit vermeidlichen Überlichtgeschwindigkeitsschiff der gegenerischen Ganymedier. - {Schöne Homage auf Swifts Guillivers Reisen.}

25. Nanny: Über das Rüstungswettrennen in der Robot-Kindermädchenindustrie.

Philip K. Dick: Kurzgeschichten (1)

Eintrag No. 22

(Stories 1 bis 13 von 118)

Zum Filmstart von »Minority Report« hat der Heyne-Verlag fünf oder sechs Taschenbücher von Dick herausgebracht, darunter auch zwei Auswahlbände seiner Kurzgeschichten, die aber zusammen nur circa die Hälfte der Geschichten von Philip K. Dick enthalten.

Schade schade, daß es auf dem deutschen Buchmarkt nicht möglich ist, eine Entsprechung der fünfbändigen englischen Sammlung der Kurzgeschichten auf den Markt zu bringen... so als Paperback, für zusammen ca. 30 bis 50 Euros?

Bevor er unterging, hat aber der Haffmans-Verlag seine zehnbändige, gebundene Umsetzung der »Collected Stories« abschließen können. Diese Ausgabe habe ich inzwischen kompletamente und werde ihr folgend Zusammenfassungen aller 118 Philip K. Dick-Kurzgeschichten hier reinstellen.

Los geht's.

Nachtrag: Nochmal gezählt und Gesamtanzahl der Geschichten von 119 auf 118 korrigiert. Hier außerdem der Link zum zweiten Teil der Zusammenfassungen.

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BAND EINS: Und jenseits - das Wobb

1. Stabilität: Durch ein Zeitschleifenparadox gerät ein Erfinder (in Deutschland) immer tiefer in düstere Alternativwelten.

2. Roog: Ein Hund entwickelte eine Verschwörungstheorie gegen die Müllmänner und will sein Herrchen, wenn auch vergebens, darüber informieren.

3. Die kleine Bewegung: Kleine Spielzeug-Blechmänner wollen mittels Beeinflussung der Kinder die Weltherrschaft erlangen. Doch haben sie nicht mit dem Widerstand der Stofftiere gerechnet. - {Vielleicht eine Anregung gewesen für Toy Story von Pixar.}

4. Und jenseits - das Wobb: Raumschiffbesatzung kauft ein marsianisches Riesenschwein, Wobb genannt, als Proviant für unterwegs. Es entpuppt sich als gern philisophierende sehr hoch entwickelte Lebensform, die sich nur kurz in seiner Konversation unterbrechen läßt, als es geschlachtet und gegessen wird

5. Die Kanone: Heftige H-Bomben-Explosionen künden vom Untergangskrieg einer Zivilisation. Ein Raumschiff besichtigt den Ruinenplaneten und wird von einem automatischem Großgeschütz abgeballert, daß auf alles schießt, was fliegt. Inspiriert von alten Sagen, entdeckt die Besetzung einen Schatz unter der Kanone (= der Drache). - {Sehr Star-Trek-Classic-like, aber in den frühen Fünfzigerjahren geschrieben.}

6. Der Schädel: Zeitschleifenkrimi, in dem der angeheuerte Killer des unbekannten First-Church-Gründers sich in der Vergangenheit als eben dieser entpuppt.

7. Die Verteidiger: Roboter gauckeln den unterirdisch in Atombunkern lebenden Menschen zu deren Besten eine strahlenverseuchte Erdoberfläche vor. Außergewöhnlich optimistisches Ende!

8. Mr. Raumschiff: Alter Professor läßt sein Gehrin als zentrale Steuereinheit in einen Raumschiffprototyp einsetzen, setzt sich mit ehemaligen Schüler und dessen Exfrau ab um Garten Eden zu spielen.

9. Pfeifer im Wald: Auf der Asteroidengarnision Y-3 halten sich immer mehr Besatzungsmitglieder für Pflanzen.

10. Die Unendlichen: Nach der Untersuchung eines eigenartigen Asteroiden, durchleben alle Besatzungsmitglieder eine drastisch beschleunigte Evolution. - {Wer Meerschweinchen im Weltall mag, sollte diese Story kennen. Erinnert mich entfernt an den Plot von Clive Barkers Great and Secret Show.}

11. Die Bewahrungsmaschine: Doc Labyrinth hat einen Weg gefunen, Musikpartituren in Tiere zu verwandeln. Doch Mozartvogel, Bach- und Beethovenkäfer, Brahmsinsekt, Schubertschaf und Wagnertier verändern sich im Wald hinter Doc Labyrinths Haus auf unerwartete Weise.

12. Entbehrlich: Ein Mann wird zuerst Zeuge, dann Opfer eines uralten Krieges zwischen Insekten und Menschen, bei dem Spinnen eine besondere Rolle spielen.

13. Der variable Mann: Mit 99 Seiten eigentlich schon ein kleiner Kurzroman, der vom durch Wahrscheinlichkeitsberechnungen bestimmten Krieg der Terraner gegen die Centauri-Blockade handelt. Die manuelle Rückholaktion einer Zeitsonde befördert unvorhergesehen einen Gelegenheitsarbeiter aus dem Jahre 1914 in die zweihundert Jahre in die entfernte Zukunft, wo er zum entscheidender Faktor für die Entwicklung der Terraner wird.

Dienstag, 19. November 2002

Excerptien aus Richard Tarnas: »Idee und Leidenschaft«

Eintrag No. 21 — Zusammenfasungen der Zusammenfassungen des Buches »Idee und Leidenschaft — Die Wege des Westlichen Denkens« von Richard Tarnas (›The Passion of the Western Mind‹; HC zuerst bei Roger & Bernhard; als TB bei DTV; dann unter dem Titel »Das Wissen des Abendlandes« bei Patmos). 1991 auf Englisch, 1997 auf Deutsch erschienen, bietet einen guten groben Überblick über viele Themen/Spannungen die in Sachen Weltenbau, Magietheorie usw von Bedeutung sind. — Tarnas möchte ich mal als Steinbruch vorstellen, denn sein Buch ist mir mittlerweile als nützlich aufgefallen. Da bemüht sich einer, möglichst umfassend eine Kultur- und vor allem Ideengeschichte zu beschreiben, und legt dabei (soweit ich das abschätzen kann) wert darauf, nüchtern und objektiv zu bleiben. Meistens kann ich seinen Vereinfachungen und Aussagen zustimmen. Er versucht nicht polemisch zu sein, trübt aber damit auch den Blick auf heikle und exotischen Aspekte.

Aus sieben Teilen setzt sich Tarnas Buch zusammen:

I. Griechisches Weltbild / II. Transformation der klassischen Ära / III. Christliches Weltbild / IV. Transformation des Mittelalters / V. Modernes Weltbild / VI. Transformation der Moderne / VII. Epilog.

Die erste Zusammenfassung findet sich im ersten Teil und umreißt das duale Vermächtnis des Weltbildes der Antike. Zwei Fünfheiten stehen sich umkreisend gegenüber.

ERSTE FÜNFHEIT: Griechischer Rationalismus und griechische Religion wie vor allem durch Platon geprägt (S. 83f):

  1. Die Welt ist ein geordneter Kosmos, dessen Ordnung mit der des menschlichen Geistes verwandt ist. Eine rationale Analyse der empirischen Welt ist deshalb möglich.
  2. Der Kosmos als Ganzes ist Ausdruck einer planvollen Intelligenz, die der Natur Sinn und Zweck verleiht, und diese Intelligenz ist dem geschulten und gereiftem menschlichen Bewußtsein direkt zugänglich, wenn es sich ganz auf diese Intelligenz ausrichtet und konzentriert.
  3. Eine durchdringende geistige Analyse offenbart auf ihrem Höhepunkt eine zeitlose, ihre temporären und konkreten Manifestationen übersteigende Ordnung. Die sichtbare Welt trägt eine tiefere, sowohl rationale als auch mythische Bedeutung in sich, die von der empirischen Ordnung widergespiegelt wird, aber aus einer ewigen Dimension stammt, die Quelle und Ziel aller Existenz ist.

    Zum Begriff ›mythisch‹ und ›Mythos‹: ist für mich zuvörderst die Geschichte, wie sie von den Gewinnern (fast immer Aggressoren und Betrüger) geschrieben wurde. Mythen dienen also zur Propaganda, bzw. dem Vertuschen von (Betriebs-)Geheimnisen, sowie dem Überhöhen der eigenen und dem Herabsetzten der anderen Seite. — Verständigungsproblem beim Bau von Fantasy-Welten und Kulturen. Soll ein Mythos den man sich ausdenkt als ›Wahrheit‹ im Sinne des antiken Weltbildes verstanden werden, oder, wie durch moderne Augen gesehen, als pathetische Verklärung, Über-Untertreibung?

  4. Die Erkenntnis der grundlegenden Struktur und Bedeutung der Welt erfordert Übung und den Einsatz einer Vielzahl von kognitiven Fähigkeiten — rationalen, empirischen, intuitiven, imaginativen und moralischen.
  5. Die unmittelbare Verstehen der tieferen Wirklichkeit der Welt befriedigt nicht nur den Geist, sondern auch die Seele: es ist seinem Wesen nach eine erlösende Vision, ein dauerhafter Einblick in die wahre Natur der Dinge, intellektuell entscheident wichtig und zugleich spirituell befreiend.

    Zumindest ich bin ein bischen baff, wie sehr diese ersten 5 Positionen noch virulent sind; in meinen misanthropischen Stimmungen nehm ich an, daß ›die Masse‹, das Gemensche sich kaum von diesen Ansichten gelößt hat.

ZWEITE FÜNFHEIT: Kritische Antipoden zu diesem idealistischen Realismus stellen folgende geistigen Annahmen und Tendenzen der griechischen Welt-Denkerei dar (S. 84f):

  1. Wahres Wissen ist nur durch die strikte Anwendung von menschlicher Vernunft und empirischer Beobachtung erreichbar.
  2. Die Basis wahren Wissens liegt in der gegebenen Erfahrungswelt, nicht in einer unbeweisbaren jenseitigen Wirklichkeit. Die einzige Wahrheit, die dem Menschen zugänglich und nützlich ist, ist immanent, nicht transzendent.
  3. Die Ursachen natürlicher Phänomene sind unpersönlicher und physikalischer Art und sollten innerhalb des Bereichs der Naturbeobachtung gesucht werden. Mythologische und übernatürliche Elemente sind als anthropomorphe Projektionen aus kausalen Erklärungen herauszuhalten.

    Tja, in Fantasy-Welten ist nun z.B. genau das die Spielwiese :-)

  4. Jeder Anspruch auf ein ganzheitliches theoretisches Verstehen muß sich an der empirischen Wirklichkeit des konkreten Einzelnen in all seiner Verschiedenheit, Veränderbarkeit und Einzigartigkeit messen lassen.

    Auch irdische Weisheit kennt den kontinuierlich gemahnenden Basslauf, daß der Mensch sich besser nicht selbstverständlich auf die Wiederholbarkeit von etwas verlassen kann und soll.

  5. Kein Denksystem ist endgültig, und die Suche nach Wahrheit muß sowohl kritisch als auch selbstkritisch sein. Menschliches Wissen ist relativ und fehlbar und muß im Licht neuer Befunde und weiterer Analysen immer wieder revidiert werden.

Die nächste Zusammenfassung widmet sich der christlichen Transformation des klassischen Denkens, und stellt eine Sechsheit an Differenzen zum griechisch-römischen Denken vor. Tarnas weißt darauf hin, daß solche Zusammenfassungen immer ungenau sind. (S. 206f)

  1. Durch die Anerkennung eines höchsten Gottes, dem dreieinigen Schöpfer und Herrscher über die Geschichte, hat das Christentum eine monotheistische Hierarchie im Kosmos geschaffen, die den Polytheismus der heidnischen Religionen überwand …

    {naja, man könnte auch ›verdrängt‹ sagen}

    … und in sich aufnahm, während sie der Metaphysik der archetypischen Formen ihren Vorrang nahm, sie aber nicht eliminierte.

    Monos gegen Pluris. Darf ich das so platt gegenüberstellen?

  2. Der platonische Dualismus von Geist und Materie wurde verstärkt durch seine Verschmelzung mit der Lehre von der Erbsünde, dem Fall des Menschen und der Natur, der kollektiven menschlichen Schuld. Eine weitere Zuspitzung kam dadurch, daß die Natur jede immanente Göttlichkeit, ob poly- oder pantheistisch, weitgehend abgesprochen wurde, ohne ihr aber dabei die Aura übernatürlicher Bedeutung zu entziehen — sei sie göttlich oder satanisch; sowie durch die radikale Polarisierug von Gut und Böse.
  3. Die Beziehung des Transzendenten zum Menschen wurde dramatisiert als Gottes Herrschaft über die Geschichte, als die Erzählung vom auserwählten Volk, als historisches Erscheinen Christi auf Erden und als seine letztliche Wiederkehr, um die Menschheit in einem künftigen apokalyptischen Zeitalter zu erlösen. So entstand ein neuer Sinn für historische Dynamik, für die göttliche Logik der Erlösung innerhalb einer linear, nicht zyklisch verlaufenden Geschichte, der jedoch durch die schrittweise Verlagerung dieser erlösenden Kraft in die institutionelle Kirche implizit wieder zugunsten der Restauration eines statischeren Geschichtsverhältnisses zurückgenommen wurde.
  4. Den heidnischen Mythos von der großen Mutter-Gottheit verwandelte das Christentum in eine historisierte Theologie mit der Jungfrau Maria als menschlicher Mutter Gottes und in die beständige historische und soziale Wirklichkeit Kirche als Mutter.
  5. Das Beobachten, Analysieren und Verstehen der natürlichen Welt wurde abgewertet und damit die rationalen und empirischen Fähigkeiten gegenüber den emotionalen, moralischen und spirituellen vernächlässigt oder negiert, wobei alle menschlichen Fähigkeiten den Anforderungen des christlichen Glaubens und dem Willen Gottes untergeordnet waren.
  6. Das Christentum verzichtete auf die Fähigkeit des Menschen, die Bedeutung der Welt selbstständig intellektuell oder spirituell zu durchdringen, aus Ehrfurcht vor der absoluten Autorität der Kriche und der Heiligen Schrift, denen die endgültige Bestimmung der Wahrheit überlassen bleibt.

Nun die Achtheit an Grundlagen des modernen Weltbildes. Versimpelt umreißt Tarnas folgenden Bogen: Die Antike war Bunt, das Christentum ist ‘ne Art von strenger Auskristallisierung bestimmter Aspekte und nun schwingt das Pendel wieder in die andere Richtung. Tarnas konzentriert sich auf die Aspekte des modernen Weltbildes, durch die es sich am stärksten von den Vorgängern abhebt (S. 359ff — Ich zitiere nur die ersten, bzw. markantesten Sätze der einzelnen Punkte):

  1. Im Gegensatz zum mittelalterlich-christlichen Kosmos, den ein persönlicher und allmächtiger Gott nicht nur geschaffen, sondern auch stets und unmittelbar regiert hatte, war das moderne Universum ein unpersönliches Phänomen. {…} Er war nun weniger ein Gott der Liebe, des Wunders, der Erlösung und der historischen Intervention als eine höchste Intelligenz und erste Ursache, die das materielle Universum und seine unveränderbaren Gesetzte zwar geschaffen, sich dann aber jeder weiteren direkten Einflußnahme enthalten hatte. {…} Während in der mittelalterlich-christlichen Auffassung der menschliche Geist die im Grunde übernatürliche Ordnung des Universums nicht ohne die Hilfe der göttlichen Offenbarung verstehen konnte, war der menschliche Geist nach moderner Auffassung kraft seiner eigenen rationalen Fähigkeiten dazu in der Lage, die Ordnung des Universums zu verstehen; und diese Ordnung war ganz und gar natürlich.

    Markant an der Zeichendeuterei der Vormoderne ist für mich, daß sie oft bis zur Lächerlichkeit naiv, hysterisch und paranoid war. Man muß nur mal bei den zivilierten Heiden (z.B. Griechen) gucken, was denen alles als Orakelmaterial diente. Zukunft vorhersagen anhand der Art wie Käse gerinnt, wie jemand lacht, anhand der Asche eines abgebrannten Feuers, anhand der Art wie eine Spinne ihr Netz gebaut hat. Immerhin glaubte man, dass Gott (oder Götter) noch dauernd in der Schöpfung rumfummelte und versuchte mit Zaunpfahlwinkerei die Schäfchen ins Trockene zu lotsen.

  2. Die christlich-dualistische Betonung der Vorrangstellung des Spirituellen und Transzendenten vor dem Materiellen und Konkreten wurde jetzt weitgehend umgekehrt und die physische Wirklichkeit zum zentralen Bereich des menschlichen Interesses. {…} Der christliche Dualismus von Geist und Materie, Gott und Welt wurde allmählich in den modernen Dualismus eines subjektiven und persönlichen menschlichen Bewußtseins und einer objektiven und unpersönlichen materiellen Welt verwandelt.

    Schönes Beispiel von extremistischen Pendelbewegungen in Sachen Ideologie. Wo der Verstand (weil zu bedrohlich kritisch) hinantgestellt wurde, zerrt man ihn in der Reaktion überprominent in den Vordergrund. Entsprechend kommt es in der Postmoderne (Stichwort: Negative Dialektik) zu einem scheinbar anti-rationalen Umkehrbild einer Kritik des Aufklärungsprozesses.

  3. Die Wissenschaft ersetzt die Religion als überragende, das kulturelle Weltbild definierende, beurteilende und überwachsende geistige Autorität. {…} Mit einer transzendenten Wirklichkeit assoziierte Vorstellungen … galten als nützliche Beruhigungsmittel für den emotionellen Anteil des Menschen; als ästhetisch befriedigende Schöpfungen der Phantasie; als potentiell brauchbare heuristische Annahmen; als notwendige Bollwerke für Moral und gesellschaftlichen Zusammenhalt; als politisch-ökonomische Propaganda; als psychologisch motivierte Projektion; als die Lebendigkeit unterdrückende Illusionen; als abergläibisch, irrelevant oder sinnlos.

    Dieser Punkt umreißt knapp die Funktionen und Restrinnsale des Religiösen (im europ.-westlichen Kerngebiet der Säkularisierung). Die nun entmonopolisierte Spiritualität wird zunehmend kommerzialisiert und privatisiert, von Freimaurei, Magierkreisen, über Popkultur & Rock'n Roll & Fandoms, bis hin zur Kunst, auspendelnden Körnerfresserei usw.

  4. Ähnlich wie in der klassischen griechischen Anschauung besaß das moderne Universum eine immanente Ordnung. {…} Die moderne Weltordnung war keine transzendente, alles beherrschende Einheitsordnung, die sich im Inneren des Verstandes genauso wie in der äußeren Welt widerspiegelte und in der die Erkenntnis des einen zwangsläufig das Wissen des anderen nach sich zog. {…} Das Universum an sich war nicht mit bewußter Intelligenz oder Zwecken ausgestattet; allein der Mensch besaß solche Eigenschaften.

    Hier bröckelts ja auch seit einiger Zeit (siehe ›Kultur bei Tieren‹). Aber ich behalte den Punkt ›bewußte Intelligenz‹ im Augenwinkel.

  5. Im Gegensatz zu der integierten Vielfalt von Erkenntnismethoden der klassischen Antike war die Ordnung des modernen Kosmos prinzipiell allein den rationalen und empirischen Fähigkeiten des Menschen zugänglich. {…} Die Erkenntnis des Universums war jetzt in erster Linie eine Angelegenheit nüchterner, unpersönlicher wissenschaftlicher Forschung. War sie erfolgreich, so endete sie nicht so sehr mit Erfahrung spiritueller Befreiung … sondern mit der intellektuellen Beherrschung der Natur und der materiellen Verbesserung des Lebens.

    Hier sind wir wieder beim Flackerbegriff der Magie bzw. Technik. Ich finde, man kann beides zusammenhaun und diesen Audruck ›intellektuelle Beherrschung der Natur‹ als Kernpunkt beider Disziplinen nehmen. Magie ist Technik, von der so getan wird, als wäre sie etwas Übernatürliches, Wundersames (siehe Hüten von Betriebsgeheimnissen).

  6. Die Kosmologie des klassischen Zeitalters war geozentrisch, endlich und hierarchisch; sie nahm die Himmelskörper als Orte transzendenter archetypischer Kräfte wahr; deren Bewegung bestimmten und beeinflußten die menschlicher Existenz. {…} Anders als im antiken und mittelalterlichen Weltbild besaßen die himmlichen Körtper des modernen Universums keinerlei geistige oder symbolische Bedeutung; sie waren nicht dazu da, dem Menschen sein Schicksal zu zeigen oder seinem Leben Sinn zu verleihen. {…} Ähnlich wurden auch alle Zeichen des Göttlichen in der Natur als Symptome eines primitiven Aberglaubens und wunschgeleiteten Denkens bewertet und aus dem ernsthaften wissenschaftlichen Diskrus entfernt.

    Vieles, vor allem praktisches Wissen ging verlohren, einzelne Wissenschaften machen sich nun wieder auf, die brauchbaren Aspekte dieses alten ›Wunderglauben-Wissens‹ zu suchen und zu sammeln. Meiner Einschätzung nach, war aber vieles was im Fortlauf der Moderne als Aberglaube verunglimpft wurde, wirklich kaum der Erkenntnis wert.

  7. Dank der Integration der Evolutionstheorie und ihrer vielfältigen Auswirkungen auf andere Gebiete ließen sich das Wesen und der Ursprung des Menschen sowie die Dynamik des Wandels in der Natur jetzt ausschließlich natürlichen Ursachen und empirisch beobachtbaren Prozessen zuschreiben. {…} Die Struktur und Entwicklung der Natur war kein Ergebnis eines wohlmeinenden göttlichen Plans und Zwecks, sondern eines amoralischen, zufälligen und brutalen Kampfes ums Dasein, in dem nicht der Tugendhafte, sondern der Taugliche Erfolg hatte. {…} Das moderne Universum war jetzt ein ausschließlich säkulares Phänomen, das immer weiter fortfuhr, sich selbst zu verändern und zu erzeugen. Es besaß keine göttlich konstruierte Finalität mit einer ewigen und statischen Struktur, sondern war ein sich entfaltender Prozess ohne absolutes Ziel und ohne absolute Grundlage, außer Materie und ihren Verwandlungen.
  8. Anders als das mittelalterlich-christliche Weltbild bestätigte das moderne radikal die Unabhängigkeit des Menschen — ob geistig, psychisch oder spirituell. {…} Das klassische griechische Weltbild hatte die Vereinigung — oder Wiedervereinigung — des Menschen mit dem Kosmos und dessen göttlicher Intelligenz als Ziel der intellektuellen und spirituellen Tätigkeit des Menschen hervorgehoben. Das christliche Ziel war es, den Menschen und die Welt wieder mit Gott zu vereinigen. {…} Im Vertrauen auf die Kraft seines autonomen Intellekts ließ der moderne Mensch die Tradition weitgehend hinter sich und machte sich alleine auf den Weg, entschlossen, die Prinzipien seines neuen Universums zu entdecken, dessen neue Dimensionen zu erforschen und zu erweitern sowie seine Erfüllung hier und jetzt zu finden.

    Oder anders betrachtet: Die Menschheitsgeschichte ist die der zunehemend enger werdenden Nachbarschaft; die Kulturgeschichte ist die Geschichte des von Menschen umzingelt werdenden Menschen. Die älteste Lösung dieses Engeproblens ist die Flucht nach Außen (territoriale Flucht), die Flucht nach Innen (mystisch-asketisch-ekstatische-usw Flucht) und die Flucht in die Zukunft (bzw. Schuldenabschieben auf Nachfahren).

Als hier vorläufig letzte Zusammenfassung folgt ein Sprung über Jahrhunderte, ins kalte Wasser Bucheepilogs, wenn Tarnas eine postmoderne Theorie zum Mutter-Kind ›Double-bind‹ — also über wechselseitig sich widersprechende Forderungen die dazu führen, das Menschen schizophren werden — auf das Verhältnis Welt-Mensch umformuliert (S. 526f):

  1. Die Beziehung des Kindes (Menschen) zur Mutter (Welt) zeichnet sich durch vitale Abhängigkeiten aus (ist durch vitale Abhängigkeiten geprägt), was es für das Kind schwierig macht, Mitteilungen der Mutter richtig einzuschätzen (was es schwierig für den Menschen macht, die Beschaffenheit dieser Welt richtig einzuschätzen).
  2. Das Kind empfängt auf verschiedenen Ebenen widersprüchliche oder unvereinbare Informationen von der Mutter, indem beispielsweise eine explizite verbale Botchaft durch einen nonverbalen Kontext zugleich wieder dementiert wird — etwa wenn eine Mutter ihrem Kind mit feindseligen Augen und verspanntem Körper sagt, »Schatz, du weißt, daß ich dich sehr lieb habe«. Beide Signale lassen sich nicht in Übereinstimmung bringen. (Der menschliche Geist empfängt in sich widersprüchliche oder anderweitig unvermeidbare Informationen über seine Situatiuon in bezug zur Welt. Unter anderem stimmt seine innere psychologische und spirituelle Wahrnehmung der Dinge nicht mit der allgemeinen — auch von ihm selbst anerkannten — wissenschaftlichen Sicht der Dinge überein.)
  3. Das Kind wird keinerlei Gelegenheit gegeben, der Mutter Fragen zu stellen, die die Kommunikation klären oder den Widerspruch auflösen kann. (Erkenntnistheoretisch ist es dem menschlichen Geist unmöglich, in eine direkte Kommunikation mit der Welt zu treten.)
  4. Das Kind kann das Feld, das heißt die Beziehung nicht verlassen. (Existentiell ist es dem Menschen unmöglich, das Feld zu verlassen.)
Donnerstag, 7. November 2002

Gilbert Keith Chesterton: »Der Mann der Donnerstag war«, oder: Bombe und Kursbuch

Eintrag No. 20

Version 1.0 erschienen in »MAGIRA 2003 – Jahrbuch zur Fantasy« , herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. Version 2.0 vom 20. September 2007: Portrait und viele Links eingepflegt, um Verehrerrundschau erweitert Fehler gemerzt.

Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zählt neben Herbert George Wells, Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling zu den klassischen Alleskönnerautoren Englands am Ende der Viktorianischen Epoche bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Wie diese hat er Texte verschiedenster Art hinterlassen, darunter äußerst originelle Beiträge zur Phantastik. Und wie Tolkien gehört er zu den ›schrulligen Katholiken‹ der anglikanischen Insel (siehe die beiden Essay-Bände »Ketzer« und »Orthodoxie«). In Deutschland ist er wohl, wenn überhaupt, vor allem als Erfinder des von Heinz Rühmann (bzw. Ottfried Fischer) dargestellten Pater Brown bekannt. Comiclesern ist vielleicht sein Aussehen bekannt, immerhin leiht sich das die Figur (bzw. der Ort) Fiddlers Green in Neil Gaimans »The Sandman«.

Der Wagenbach-Verlag hat dankenswerterweise »Der Mann der Donnerstag war« wieder mal dem deutschem Leser zugänglich gemacht, wenn auch in einer gewöhnungsbedürftigen Übersetzung aus dem Jahre 1910.

Das 1908 erstmals erschienene Buch handelt vom apltraumdurchwirkten Ringen um eine gesicherte Sicht auf die Auseinandersetzung zwischen Anarchie und Ordnung. Es beginnt mit der Begegnung zweier gegensätzlicher Poeten in einem Künstlerviertel Londons. Der Platzhirsch des Saffron Park, Lucien Gregor, verherrlicht den Archetypen des bombenwerfenden Anarchisten als DEN Künstler schlechthin. Seinem Herausforderer Gabriel Syme dünkt das Chaos aber öde und er preist lieber den Zugfahrplan als Triumph des menschlichen Willens. Gregor möchte nicht nur Konventionen und Regierungen, sondern sogar Gott abschaffen, Syme aber wirft ihm vor, es mit dem Anarchismus nicht wirklich ernst zu meinen. Gregor will Syme von seiner Ernsthaftigkeit überzeugen und Syme folgt Greogor zu einem geheimen Treffen. Beide offenbaren zuvor einander ihre Geheimnisse und geloben Verschwiegenheit darüber. Gregor entpuppt sich als Anarchist, Syme als Geheimpolizist, beide nur als Poeten getarnt. Beklommen stellen die sie fest, daß ihre Angst aufzufliegen und ihre Ehrenworte sie voneinander abhängig machen.

Bei einem Treffen des geheimen Anarchistenzirkels schafft es Syme, Gregor den Posten des Donnerstag wegzuschnappen. Die sieben Oberanarchisten sind nämlich nach den Wochentagen benannt, womit sich der seltsame Titel des Romans erklärt. Montag ist ein Sekretär, Dienstag ein polnischer Fanatiker, Mittwoch ein dubioser Marquis, Donnerstag in Person Symes ein Poet, Freitag ein alter Professor und Samstag ein praktischer Arzt. Anführer ist der monströse Präsident Sonntag, der sich selbst ›den Frieden Gottes‹ nennt. Der Rat beschließt ein Bombenattentat auf den russischen Zaren und den französischen König in Paris, das Syme und Greogor verhindern wollen. Von da an geht es zunehmend drunter und drüber.

Chesterton hatte merklich großen Spaß daran, Atmosphären zu übertreiben und moderne Allegorien zu erschaffen. Nichts ist, was es scheint, und die Verschwörer stolpern von einer Bredouille in die nächste.

Besonders bemerkenswert ist der Oberbösewicht Sonntag, eine grandiose Übersteigerung der Figur des Verbrecherkönigs. Er ist eine prophetische Mischung aus Goldfinger und Groucho Marx, wenn er z.B. bei der finalen dadaistischen Verfolgungsjagd nicht nur immer aberwitzigere Fluchtuntersätze nutzt, sondern dabei auch noch ständig Zettel mit rätselhaften Unsinnsmitteilungen hinterläßt. Durch solche Kapriolen wirkt der Roman über weite Strecken, wie eine Vorwegnahme von höherem Zeichntrickblödsinn. Dabei wird immer wieder auf das Grundproblem angespielt: die unvereinbare Gegensätzlichkeit der menschlichen Wünsche nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit einerseits, nach Freiheit, Individualität und Vertrauen andererseits.

Chestertons satirische Gesellschaftsphantastik ist allemal ein Wiederentdecktwerden wert, besonders anempfohlen in unseren Zeiten, da man als Echtweltbürger feststellt, daß die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos sich immer mehr verwischen, und der Übersichtlichkeit halber amal neu definiert werden müßten. Egal ob man sich (aus welchen Grund auch immer) für Bombe oder Kursbuch entscheidet, die Gegenseite lauert immer und überall.

Meine liebste Fundstelle des Romans illustriert das dialektisch-paradoxe Ideenjoungliervergnügen, das ich mich Chesterton hab. Im ersten Kapitel werden zwei gegensätzliche Dichter — der dandyhafte Anarchist Lucien Gregor und der bürgerliche Ordnungs-Anakreont Gabriel Syme — im Streitgespräch gegenübergestellt.

Gregor: »Ein Künstler ist dasselbe wie ein Anarchist. Man kann auch umgekehrt sagen: ein Anarchist ist ein Künstler. Der Mann, der eine Bombe wirft, ist ein Künstler, weil er einen großen Augenblick allem anderen vorzieht. Er erkennt, wie viel wertvoller das einmalige Aufflammen, der einmalige Donnerschlag einer wirkungsvollen Explosion ist, als die alltäglichen Körper von ein paar Polizisten. Ein Künstler kümmert sich um keine Regierung, er bricht mit jeglichem Herkommen. Den Dichter erfreut nur die Verwirrung. Wäre dem nicht so, dann müßte das poetischte Ding der Welt die Untergrundbahn sein.«

Syme: »[...] Chaos ist öde, weil im Chaos der Zug tatsächlich irgendwohin gehen würde, nach Baker Street oder nach Bagdad. Der Mensch aber ist ein Magier, und seine ganze Magie besteht darin, daß er sagt: Victoria {Station}, und siehe da, es ist Victoria. Nein, behalten Sie Ihre Bücher mitsamt Ihrer Poesie und Prosa und lassen Sie mich einen Fahrplan lesen mit Tränen des Stolzes. Behalten Sie nur Ihren Byron, der die Niederlagen der Menschheit feiert und geben Sie mir das Kursbuch, das ihre Siege verherrlicht.

[...] Sie behaupten verächtlich, es sei selbstverständlich, daß einer nach Victoria kommen muß, wenn er Sloane Square verlassen hat. Ich aber behaupte, daß in der Zwischenzeit tausenderlei Dinge geschehen könnten und ich jedesmal, wenn ich wirklich mein Ziel erreicht habe, den Eindruck habe, mit knapper Not davongekommen zu sein.«

Zitiert nach der Ausgabe bei Heyne »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«.

Und wer mehr von diesem außergewöhnlich unbekannten Werk kennenlernen möchte: hier der ganze Roman auf englisch und noch ein Link zu einer netten Chesterton-Page.

BLICK IN DIE RUNDE DER VEREHRER:

  • Wie klassisch dieser Roman im anglo-amerikanischen Raum ist, und wie lebendig er dort auch von jüngeren Genreationen goutiert wird, führt das Computerspiel »Deus Ex« vor, das u.a. von »Der Mann der Donnerstag« deutlich inspiriert wurde und in dessen Levels der Spieler immer wieder auf Zitate aus dem Buch stößt.
  • Neil Gaiman schreibt in seinem Blog:
    »The Man Who Was Thursday« is one of the most ambiguous books I've ever encountered, and its morals are deeply uncertain.

    (Molos Übersetzung) »Der Mann der Donnerstag war« ist eines der undurchschaubarsten Bücher das mir je untergekommen sind, moralisch zutiefst unbestimmbar.
  • Susanna Clarke zählt »Der Mann der Donnerstag war« zu ihren Lieblingsbüchern:
    Es ist so etwas wie ein sehr aufregender Detektivroman und fast wie ein Gedicht und wie ein theologisches Rätsel — und die meisten Dialoge lesen sich, als hätte Oscar Wilde sie geschrieben. Es ist etwas ganz Besonderes. Die Szenen laufen als eine Serie von Bildern ab — präzise, überraschende, einfache, farbenfrohe Bilder. Es ist wie eine wunderschöne Halluzination oder ein angenehmer Alptraum. Wie in allen Detektivromanen (oder Gedichten oder theologischen Rätseln) können die einfachsten Gegenstände oder Handlungen eine immense Bedeutung haben. Gleichzeitig zeichnet das Buch ein interessantes Bild der Zeit und vermittelt einen guten Eindruck davon, was es hieß, im Jahr 1908 ein dandyhafter englischer Gentleman zu sein.
  • Hierzulande hat z.B. Carl Amery G.K.C. enthusiasmiert bejubelt, wie im Vorwort zu »Der G. C. Chesterton Omnibus 1« (Heyne 1993)
    Chestertons Romane sind, da ist kaum ein Zweifel möglich, durchaus der modernen Form der Science Fiction, das heißt des spekulativen Genres zugehörig. »Was wäre wenn…?« oder auch: »Was wäre gewesen, wenn…?« — das ist die Frage, welche die wundersamen Maschinen dieses Genres in Bewegung setzt. {…} Wer von all den wissenschaftlich orientierten Prognostikern hat die Geburt des Tory-Faschismus (in »Don Quijotes Wiederkehr«), die Islamisierung Englands (in »Fliegendes Wirtshaus«), die totale Abstrusität des Terrorismus und der Terrorismus-Bekampfer (in »Der Mann der Donnerstag war«) so scharfsinnig antizipiert? Wer hat die Schnappfallen des bürokratischen Wohlfahrtsstaates, die Diktatur der psychiatrischen Normalitäts-Festsetzer, die Reduktion der Kunst zu Ware und die Reduktion der menschlichen Geschicklichkeiten durch die gloabe Normierung so gut gewittert und so amüsant ins Erzählerische übersetzt?
  • Michael ›Harry Potter ist superduper‹ Maar zitiert in seinem feinen Rundfunkessay für den SWR den Chesterton-Kenner Joachim Kalka, der folgendermaßen »Der Mann der Donnerstag war« lobpreist:
    Der {Roman} hat viel von genialer Kolportage. Das eigenartige Lächeln des Montags, des Sekretärs, der nur auf einer Seite des Gesichts den Mund verzieht, erscheint später großartig als coup de théatre. Ganz in der Ferne scheint es, als ob man eine Menge von Verfolgern drohend herandringen sähe; die Helden mustern den Auflauf unruhig durchs Fernglas. Die Anführer tragen schwarze Halbmasken. Und »schließlich lächelten sie während ihres Gespräches alle, und einer von ihnen lächelte nur auf einer Seite.« An solchen Momenten, in denen es den Leser leise überläuft (…), ist das Buch überreich: Maske und Duell, Attentat und Flucht, Hetzjagd und Verschwörung. Es ist kennzeichnend für Chestertons Werk, daß die stärksten Wirkungen im Ineinander von romance und Reflexion liegen.
  • Und in »Cicero« (Sept. 2007) begeistert sich Daniel Kehlmann (nebenbei auch erfrischend über die hiesige Verlagslandschaft spottent) für Chestertons Alptraum, indem er z.B. schreibt:
    Ein aktuelles Buch? Aber natürlich — denn es geht um Terror und terroristische Geheimorganistaionen, es geht um den Übereifer bei der Verfolgung des Bösen, es geht darum, dass Zivilisation und Glauben plötzlich selbst jene Gefahren sein können, vor denen sie uns schützen wollen.

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Der Mann der Donnerstag war (The Man who was Thuesday, 1908) aus dem Englischen von Heinrich Lautensack; 192 Seiten; Taschenbuch; Wagenbach-Verlag; Berlin, 2002. oder antiquarisch z.B.: übersetzt von Bernhard Sengfelder in der Bearbeitung, einem Vorwort und herausgegeben von Carl Amery; zusammen mit »Der Held von Notting-Hill« in »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«; 428 Seiten; Taschebuch; Heyne, ›Bibliothek der Science Fiction Literatur‹; München 1993. — Aufgrund der deutlich flexibleren, klareren Sprache zu bevorzugen.
Donnerstag, 24. Oktober 2002

Waschmittelehe

Eintrag No. 19 — Ich gehöre ja zu der ominösen Gruppe von Menschen, die sich Wartezeiten, Frust und Kummer, Langeweile und Leerzeiten des Lebens damit verschönern, indem sie Silben und deren Anfangsbuchstaben rumschubsen.

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Waschmittelehe

Sie wollten so schnell heiraten, weil sie noch so viel Rai hatten.

Nimbussplitter (3)

Eintrag No. 18 — Es geht langsam voran mit meinem Langgedicht, in welchem ich versuche, einen barocken Werksgedanken wiederzubeleben. Zur zweiten Lieferung, zur ersten Lieferung und hier die neuen Splitter:

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Wir wollen auf den Gipfeln stehen, in die prächtige Weite sehen. Dabei stört uns nicht das Flehen von denen die unten stehen.

Von Nichts eine Ahnung; eine Ahnung vom Nichts. Ein Käfig als Tarnung vor dem Brennen des Lichts.

Die Seiten des Tagebuches klebten stur aneinander, verbabbt von den Ergüssen der allzu einsamen Tage.

Rektale Sauerstoffschuld.

Psychagogie.

Samstag, 19. Oktober 2002

Sizillianische Krawatte

Eintrag No. 17 — In Wirtschaft- und Soziallehre bei einer Fortbildung, reiben sie einem ja eh schon nur die gröblichste Wirklichkeitsverzerrung rein; schlimmer allzumal, richtet sich der zu vermittelnde Stoff nach der zu erwartenden Industrie-und-Handelkammer-Prüfung aus. Da wirds dann vollkommen mittelalterlich, was das sich Verneigenmüssen vor den plattesten Konventionsaxiomen anbelangt.

Aber immerhin habe ich da auch einen Dozenten, der erfrischend aus seinem Erlebnisschatz erzählt; da werden Szenen aus Frauengefängnisunterricht und Anekdoten der italienischen Gattin zum Besten gegeben.

So zum Beispiel nebenbei die Frage eingestreut: »Wissen Sie, was eine Sizillianische Kravatte ist? — Nein? — Also, da macht man am Hals einen Schnitt, und zieht die Zunge durch und läßt sie raushängen.«

Vielen Dank Herr Bender.

Kravatte

Sicillian Tie

A teacher for economy/social nonsense asked me two years ago: »You don't know what a Sicillian Tie is? — No? — Well, you cut someones throat and pull out the tounge through the wound to let it dangle.«

Phrase in baloon means: »I think it's stupid.« {Drawn 2002}

Dienstag, 8. Oktober 2002

Thomas Stearns Eliot (1888-1965)

T. S. Eliot

Eintrag No. 16 — Noch habe ich keine eindeutige Meinung zu T.S. Eliot, aber ich betrachte mich derzeit ganz gerne in seiner Lyrik, oder lasse mir von ihr ins Gemüth gucken... je nachdem, wie man's wendet.

Schrecklich finde ich aber das Geeiere mit dem er in der Suhrkamp Gesammelte Gedichte-Ausgabe von Eva Hesse benachwortet wurde. Wo Eliots Biographie und Werk mit Anekdoten gewürzt umrissen werden, macht das Lesen Freude, aber wehe Frau Hesse läßt raushängen, daß sie'n Papa Freud und Onkel Marx gelesen hat... mein lieber Schwan, schwillt da die Schwummerigkeit im Beschreiben der Intentio Auctoris.

Aber Eliots Gedichte sind auf knackige Art kaputt (The Hollow Men) oder auf pathologische Weise lustig (The Rock; leider nicht im Netz gefunden).

Die Übersetzter kann ich aber nur doppelt bemitleiden: Nicht nur, daß die einzelnen Gedichte sehr heterogen strukturiert sind, und die verschiedenen Phasen seines Schaffens sich gegenseitig schroff abkanzeln, noch dazu dürfen die Übersetzter im Sinne des Verlags mit Hang bundesweites Ministerium für ernste Bücher sein zu wollen, nicht aus dem vollen (Nach)Schöpfen, sondern sollen behutsam nahebringen. Aber hier muß man Frau Hesse loben, wenn sie offenbart, daß sie die schlimmsten Auswüchse des dem deutschen Leser Entgegenbringens und Beschönigens von Eliots Abgründigkeiten bereinigt hat, wo er selbst gar nicht wuchten wollte.

Zu Eliots religiöser Volte: Ich kann mir ja gut vorstellen, daß er wirklich aus lauter Verkorkstheit irgendwann zwischen 1920 und 1930 eine Frau umgebracht hat, und wegen unerträglich anschwellenden Schuldgefühlen seine berühmte fundamental-anglikanische Kehrtwende hingelegte.

Völlig belanglos als Argument dazu, aber eben auffällig für mich: Eliot wurde im September 1888 geboren, dem Monat der größten Aktivität von Jack the Ripper. (Auffällig ist da wohl nur meine Assoziation...)

Allen Misanthropen, Lovecraft-Pfadfindern und Houellebecq-Babies sei zuletzt noch folgender Satz von T.S. Eliot zur aufrichtigen Beherzigung anempfohlen:

»Der Haß auf das Leben ist eine wichtige Phase, sogar eine mystische Erfahrung, wenn man will, im Leben selbst.«
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