molochronik

Fantasyfinanzen

(Eintrag No. 531; Gesellschaft, Geld, Großraum-Phantastik) — Große Freude macht mit ein aktuelles Interview mit Peter Sloterdijk, dessen Bücher ich ja, wie die Freunde der Molochronik wissen, durchaus sehr zu schätzen weiß. Sloterdijk ist ja gern und oft mal mit einem Kommentar in den Medien zu Stelle, und diesmal erklärt er uns den Zusammenhang zwischen dem Platzen der Finanzwirtschaftsblase und der Fantasy. Im Ernst. Es sind genau solche großen Zusammenhänge zwischen Weltbild-Illusuion und die aus ihnen folgenden knallhart durchgezogenen Praktiken der Gestaltungs- und Deutungsmächtigen, weshalb ich dafür eintrete, den Phantastikbegriff wieder in den politisch-gesellschaftlichen Diskurs zu holen.

Peter Sloterdijk: Die Finanzkrise hat ihren Grund in technischen Fehlern der Zentralbanken. {…} Was wir heute erleben, ist eine Folge davon, dass sich die Inflationisten beziehungsweise die Schuldenakrobaten auf ganzer Linie durchgesetzt haben. {…}Die heutige Wertekrise ist das Werk grauer Bürokraten, die meinen, man könne dem Verlust an Vertrauen mit der Emission von Scheingeld abhelfen. {…} SZ: Stimmt. Und alles geschah im Zeichen des neoliberalen Glaubens an die problemlösende Macht des Marktes ... Peter Sloterdijk: In Wahrheit im Namen eines magischen Weltbilds. Der eigentliche Held des Neoliberalismus ist Harry Potter. SZ: Wie bitte das? Peter Sloterdijk: Weil die Potter-Romane die Fibel einer Welt ohne Realitätsgrenze darstellen. Sie überredeten eine ganze Generation, den Zauberer in sich zu entdecken. Das englische Wort Potter bedeutet übrigens »Töpfer«, einen Handwerker, der Hohlkörper verfertigt. Nur Verlierer glauben heute noch an die Arbeit, die Übrigen betreiben magische Töpferei und lassen ihre strukturierten Produkte fliegen. SZ: Weil sie keinen Inhalt haben können? Peter Sloterdijk: Doch, sie müssen sogar Inhalt haben, aber nicht als Selbstzweck! Gefäße sind Medien, die aufnehmen, um abzugeben. Martin Heidegger hat in einer tiefsinnigen Betrachtung über das Wesen der »Dinge« am Beispiel eines Kruges ausgeführt, wie der seine Funktion nur in dem Maß erfüllt, als er hohl ist, mithin gefüllt werden kann. Was er erhält, gibt er in der Gebärde des Schenkens weiter. Der moderne Mensch hat den Schnabel des Kruges verstopft. Da fließt nichts mehr hinaus, das geht auf Dauer nicht gut. SZ: Weshalb wir lieber mit dem Zaubern aufhören sollten? Peter Sloterdijk: Zaubern ist eine Tätigkeit, die das Verhältnis von Ursache und Wirkung verdunkelt. Die Verwirrung beginnt, wenn die Wirkung die Ursache maßlos übertrifft — ökonomisch gesprochen, wenn der Profit in keinem Verhältnis mehr zur Leistung steht. Genau diese Unverhältnismäßigkeit prägt die Grundstimmung der vergangenen Jahrzehnte. Zahllose wollten aus einer Wirklichkeit aussteigen, in der man für 40 Stunden Arbeit pro Woche kaum ein Durchschnittseinkommen erreicht, während man durch ein paar Stunden Magie in die Runde der Superreichen aufgenommen wird. Wir haben eine gefährliche Rechenart erfunden. An die Stelle von prosaischen Gleichungen treten wunderbare Ungleichungen. Das ruiniert den Sinn für Adäquation.

Was Sloterdijk und die SZ hier freundlich als ›zaubern‹ umschreiben, kann man auch schlicht als ›Beschiss‹, ›Nepp‹ und ›Bauernfängerei‹ bezeichnen. Da wird mit viel Tam-Tam und Marketingbeschwörungen mit einem Kapitalanlage-Zylinder herumgefuchtelt, will man dann aber in den Zylinder langen, findet sich kein Kaninchen mehr. Nix. Nada. Alles verpufft bis auf das, was die Trickser dem Publikum abgreifen konnten.

Dietmar Dath: »Die Abschaffung der Arten« und eine schöne Unterscheidung

Eintrag No. 525 — Auf der Website zu seinem neuem Buch »Die Abschaffung der Arten« bekommt man ein ausführliches Interview mit dem Autoren Dietmar Dath geboten. Unter anderem führt er dort eine, wie ich finde, sehr verführerische Unterscheidung der drei großen Schubladen des Phantastischen, SF, Fantasy, Horror vor.

{W}as ist das denn eigentlich, Fantasy, im Gegensatz zu den beiden anderen Untergattungen der heutigen Phantastik, Horror und Science Fiction? Fantasy ist diejenige Literatur, die sich mit den Gesetzen, Konsequenzen und Implikationen des magischen Denkens beschäftigt. Das magische Denken — Analogien, Totem, Tabu, Fetisch, Übernatürliches etc.

Im Gegensatz zu den Literaturen, die sich mit dem magischen Denken beschäftigen, steht…

…das wissenschaftliche — Induktion, Deduktion, Hypothesenbildung, Occams Rasierklinge etc. pp.

Dem entsprechend erläuert Dath desweiteren:

Fantasy beschäftigt sich mit Offenbarungen; Science Fiction damit, etwas auf anstrengendere Art herausfinden und anwenden zu müssen. Also nicht: Fantasy ist das Unmögliche, Science Fiction das Mögliche. Sondern: Fantasy will Erkenntnis-Effekte als Überwältigung durch das Nichtverstehbare, Science Fiction will dieselben Effekte als Beeindrucktsein von (durchaus manchmal gewaltigen) Arbeitsergebnissen. Gemeinsam haben die beiden Gattungen allerdings miteinander (und mit dem Horror, in dem es um das auf viszerale [= lat. ›Eingeweide‹ — A.v.Molo] Wirkungen berechnete Erschüttern und manchmal Wiedererrichten von stabilen sozialen, sexuellen und sonstigen Ordnungen geht, weswegen Horrorelemente sowohl in SF wie in Fantasy Platz haben, da sich dieses Problem sowohl magisch wie wissenschaftlich betrachten läßt), daß sie versuchen, vollständige Welten zu suggerieren (nicht »zu erschaffen«, das geht ja nicht, das sagt man nur manchmal als größenwahnsinniges Kürzel so daher).

Auch zum immer noch unermüdlich vorgebrachten Eskapismusvorwurf, mit der man die Phantastik gerne ins Abseits zu stellen trachtet, hat Dietmar Dath eine vorzügliche Replik parat:

Ich fand sehr nett, wie sich der große Wahnsinnige John C. Wright in der Widmung zu seiner soeben erschienenen Fortsetzung von A.E. Van Vogts Null-A-Geschichten bei Van Vogt bedankt hat: Dessen Welten, so Wright, seien in Wrights Kindheit diejenigen gewesen, die ihn, den lesenden Jungen, gern empfangen hätten, wenn er sich wieder mal von der andern, der empirischen sozialen Welt verstoßen gefühlt habe. Das ist, entgegen der beliebten Eskapismusschimpfe von Sozialpädagogen und anderen Wirklichkeitsdressurreitern, eine völlig legitime, im Gelingensfall sogar hoch ehrenwerte Leistung phantastischer Literatur oder Kunst. Ich meine, im Ernst, Kinder: Das könnte denen so passen, daß man ihre Scheißwirklichkeit nicht nur nicht verändern können soll, sondern noch nicht einmal das Recht zugestanden kriegt, sich mal eine Weile mit was ganz anderem zu befassen, um nicht komplett abzustumpfen.

NACHTRAG vom Samstag, den 28. Okt. ‘08:

Nun habe ich den Dietmar Dath endlich mal gesehen, bzw. gehört. Ist ja immer so eine Sache, die einem bei Zweifelsfällen weiterhilft, wenn man (also ich) nicht immer durchblickt, wie ein Autor (eben Dath) etwas meint. Ich tue mir ja zugegebenerweise oftmals schwer damit zu unterscheiden, wann jemand die Wahrheit sagt, und wann er es ernst meint.

Nun also weiß ich, das Dath so ein ganz schnell Sprechender ist. Leider leider hat er sich die meines Erachtens schwächste Stelle aus »Die Abschaffung der Arten« augesucht, um dem Buchpreispublikum im Literaturhaus zu Frankfurts Schöner Aussicht eine Kostprobe zu bieten.

Bei dem Buch wird ja viel durcheinandergemischt (und der Collageästhetetik nähere ich mich ja erstmal mit einem wohlwollendem Vorurteil, zumal das Buch ja gleich zu Beginn mit einem Motto von Lord Julius aus »Cerebus« aufwartet.). Das liest sich über weite Strecken wie ein Konversationsroman mit Tieren. Ziemlich lustig, wenn z.B. Kunstgalerie-Wichtigtuerei-Gesülze veräppelt wird, oder auch, wenn Dath mittels dem Jounglieren aller möglichen dollen SF-Ideen (oder sollte ich ›Spinnereien‹ sagen?) über die Doofheit der Gegenwart lästert. Immerhin wird als der rote Faden Buches die brenzlige Frage angeboten ›warum den Menschen passiert ist, was ihnen passiert ist‹.

Langweilig und arg verstelzt geriet Daths Roman — tragischerweise ausgerechnet — wenn er anfängt über Liebe und Sex zu schreiben. Da gelingt ihm leider nur alle paar Absätze mal ein mitreissender, nichtpeinlicher Satz (Romeo & Julia wird bemüht, um den selbstgenügsamen Dual-Narzismus eines ehemals männlichen, nun weiblichen Schwanenwesens zu schildern, dass sich in zwei Leiber aufteilen kann, bei Mondlicht! im Bombenkraterteich der Ruine der Uni Princton!).

Es zeichnet sich für mich als Tendenz ab: Als Thesenschleuder und anregender Ideenbäcker ist Dath, wie immer eigentlich, echt ein Genuß. Aber leider krankt seine Erzählerei an Nervigkeit. — Extremst daneben finde ich Daths begeisterte Hillfslosigkeit, wenn seine tierischen Zukunftsbewohner sich die Namen von SF-Autoren aufsagen, und welche dollen Dinge die in ihren Büchern diagnostiziert, vorhergesehen haben.

Ach ja: in Richtung (Schutz)Umschlaggestalter des Suhrkampverlages. Das Cover ist total in Hose gegangen! Hat höchstens Chancen auf den Preis des langweiligsten Covers des Quartals.

Ich gebe bescheid wenn ich mit dem Buch fertig bin (ich bin derzeit auf Seite 319 von 552).

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Dietmar Dath: »Die Abschaffung der Arten«; 552 Seiten (122 Kapitel gebündelt in XVIII Abschnitten unterteilt in Vier Sätze), mit Tiervirgnetten von Daniela Burger; Suhrkamp 2008 (gebunden); ISBN: 978-3-518-42021-8

»Kritische Ausgabe – Abenteuer«

»Kritische Ausgabe: Abenteuer«Eintrag No. 514 — Kenner meiner unverschämt langen Link-Leiste (rechte Säule weiter unten) wissen ja, dass ich schon lange auf »Kritische Ausgabe«, das Literatur- und Germanistik-Magazin der Uni Bonn verlinke. Das Online-Angebot dort ist hübsch vielfältig und immer einen Klick wert, wenn man Musenzeit übrig hat um interessante Rezensionen und Berichte aus dem Literaturbetrieb zu lesen.

Auch die gedruckten themenbezogenen Hefte lohnen sich. Zuletzt hatte ich Gelegenheit dazu und Freude damit »Rausch« und »Werkstatt« zu genießen (in letzterem findet sich z.B. ein langes, feines Interview mit Helmut Krausser!).

Über meine prinzipielle Begeisterung für dieses Magazin hinaus, habe ich nun weitere Gründe, auf die aktuelle Ausgabe zum Thema »Abenteuer« aufmerksam zu machen. — Der persönlichere sei zuerst aber schnell abgehakt: mit dem Text »Das Abenteuer Phantastik« bin ich selbst vertreten. Darin schwurble ich (deutlich von der Lektüre der Sloterdijk’schen »Sphären« beeinflusst) ganz hyper-maximalistisch allgemein über das Abenteuer des (Phantastik-)Lesens. Den ganzen ca. 40000-Zeichen langen Text werde ich ab Herbst/Winter 2008 hier in der Molochronik einpflegen.

Auf alle etwa 30 Beiträgen kann ich nicht näher eingehen, aber die folgenden drei Stück will ich doch extrich erwähnt haben:

  • Der erste Text den ich unbedingt lesen musste, weil ich am neugierigsten auf ihn war, stammt von Nadja Nitsche: »Monsters in Translation. Gisbert Haefs vs. Beowulf vs. Grendel«. Mit einem hinreissenden Beieinander von Respektlosigkeit, Freude am Thema und Gelehrigkeit berichtet sie über die Probleme, welche die Neuübersetzung oder Neunachdichtung in Prosa eines Stoff wie Beowulf selbst einem veritablen Übersetzermeister und Selberfabulierer wie Gisbert Haefs bereitet, welchen Schindluder Heafs bei seinem Versuch trieb, was ihm aber auch gelang und überhaupt, wie Geschichte und Historisches mitunter in trashig-subversiven Schundliterazurzusammenhängen Metapherwellennkraft entfalten und dass letztendlich, wenn überhaupt etwas, nur die Phantasie der Leser die verschollenen Vorgänge erhellen können.
  • Vergnüglich viel gelernt und angeregt wurde ich durch Stefan Andres Beitrag »Ein Bandit, der Böses dabei denkt? Die Gattung Schelmenroman, kurzgeschlossen mit Hobsbawms ›Sozialrebellen‹«. Das Buch »Banditen. Räuber als Sozialrebellen« (engl. 1969; dt. 2007!) des Engländers Eric Hobsbawm, seines Zeichens ein marxistischer Historiker, reizt mich ja sowieso. Um so feiner, einiges über die literatur-historischen Wurzeln heutiger Konventionen des Abenteuergenre zu lernen, sprich, über die Pikaros, die als Gegenentwurf zu idyllischen Schäferspielchen und idealisierten Ritterabenteuren im barocken Spanien aufgekommen sind.
  • Und als Freund heimischer Klassiker ließ ich mich gerne (wieder)anstecken von der virulenten Begeisterung, von der das Gespräch der »K.A.«-Redakteure Andreas Jüngling und Nina Treude mit Prof. Dr. Norbert Oellers erfüllt ist: »Schiller war ein Abenteurer – Nicht nur in Liebesdingen, auch in Weltdingen«.

Ebenso lohnend fand ich die Beiträge über eine politische Lesart der Werke von Karl May, über Erich Kästner als verhinderten Südsee-Abenteuerautoren, über Parzival und Erec. Ebenfalls eine besondere Erwähnung wert ist Claude Haas unaufgeregt lobende Rezension von Littells »Wohlgesinnten«, die statt Polemik Argumentation bietet. Gut so.

Atombombe

(Eintrag No. 501; Gesellschaft, Woanders) — Hat mich umgehauen, dass ich bei meinem Bericht über Reaktionen auf Jonathan Littells »Die Wohlgesinnten« etwas schrieb, was Alban Nikolai Herbst so gut gefallen hat, dass er es in seinem Blog »Die Dschungel« kommentierte.

Zudem: In einem anderen Eintrag dort (»Ratio ist Hardware«) habe ich in den letzten Tagen wiederum einige Gedanken platziert. Dabei sprang mir gestern Abend ein Satz aus dem Hirn, der mir keine Ruhe lässt:

Die Atombombe hat den Planeten Erde zum Percussionsinstrument degradiert.

Septapack der Transzendenz

Eintrag No. 486 — Derzeit stöbere ich in Peter Sloterdijks neuestem Buch »Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen«. Sloterdijks Bücher lese ich sehr gerne, denn abgesehen von den Stellen, wo er mir mit Fremdworten, die ich in keinem meiner heimischen Wörtbuch finde, vor’s Hirn haut, bereiten die mir einfach Spaß. Da ich in meinem Alltag umgeben bin von lauter Menschen, die seufzend den Kopf schütteln, wenn ich Sloterdijk erwähne, muss ich mein Blog als Überlaufventil nutzen und ein bischen Begeisterung ablassen. Vorsicht, denn was ich hier nun folgt, ist ein Remix vermengt mit eigenen Gedanken, keine Rezension.

Dabei reicht es mir schon, nur über’s erste Kapitel von »Gottes Eifer« zu faseln. Das dreht sich um die Prämissen (›das Vorausgeschickte‹) des Buches, worum es so geht, was man als Leser beachten sollte, um sich nicht das Gemüt zu stossen. Richtig gehend fetzig fand ich dort eine Unterteilung der Phänomene, die mit dem Transzendenten, dem Heiligen zu tun haben.

Da gibt’s zuerst mal vier Phänomene, die sich mittlerweile ohne große Umstände auf weltliche Art und Weise beschreiben lassen, und wo also (sag ich jetzt mal) heiliges und sakrales Getue vielleicht eine nette Folklore darstellt, aber mehr auch nicht. Sloterdijk beschreibt entsprechend diese Transzendenz-Phänomene als ›Verkennungen‹.

  • 1—Verkennung des Langsamen: Praktischer Aspekt: Wie bewerkstelligt man die Koordinierung, wenn es gilt, über Generationen hinweg an einem Projekt zusammenarbeiten? Hier braucht’s Leute, die sich der langsamen Verwaltung widmen, und diese Leute nutzen dazu orientierende Ideal-Phantasmas. — Erkenntnis-Aspekt: Menschen im Lauf der Zeit immer besser gelernt, die langsamen Prozesse um sich zu beobachten und richtiger zu deuten, siehe z.B. die Evolutionstheorie. Also nix mit einem im Über oder Außen thronenden Schöpfer und Planer. Wir Menschen müssen uns selber organisieren, bzw. blubbert das Evolutionstreiben allein Geschöpfe hervor, ohne großen himmlischen Knetmeister.
  • 2—Verkennung des Heftigen: Superkrasse Wut-, Zorn- und andere aus der ›Wildnis von Innen‹ auflodernden heftigen Erregungszustände (inkl. ihrer Umkehr in sich selbst wegmachen wollende Scham) sind derart überwältigend, dass, wer von ihnen ergriffen wurde, sich als von etwas erfüllt wähnt, das von Woanders, von Oben, von Außen in ihn gefahren sein muss. Siehe Amoklauf und Berserker.
  • 3—Verkennung der »Unerreichbarkeit des Anderen«: Mein persönlicher Schwachsinns-Favorit. Weil ›etwas‹ nicht auf mein Zetern, Klagen, Bitten usw. reagiert, muss ›es‹ höher sein als ich oder die Welt. Sehr fein ist aber Sloterdijks prächtiges Resummee, wenn er schreibt:
    Selbst wenn hier also eine von Verkennung markierte Konzeption der Transzendenz vorliegt, sollte man »Gott«, sofern das schlechthin Andere gemeint ist, als ein moralisch fruchtbares Konzept würdigen, das Menschen auf den Umgang mit einem unmanipulierbaren Gegenüber einstimmt.
    Weitergedacht, invertiert und ein klein wenig übertrieben: zum »Gott« steigt man denen gegenüber auf, die einem nicht ans Bein pinkeln können, egal was man anstellt.
  • 4—Verkennung von Immunitätsfunktionen: Bei Immunitätsfunktionen geht’s um die Instanzen zur Abwehr von schädlichen Einflüssen (biologisch), zum Ausgleich von Dingen die außer Balance geraten sind (juristisch) und zum Motivieren in Situationen, wo es nach menschlichem Maßstäben nicht weitergeht (Chaosüberwindung).
    • a—Verarbeitung von Integrationsstörungen: Um mit solchen fiesen und piesakenden Naturkräften wie Tod, Zufall, Leiden fertig zu werden, hilft ritualisiertes Trösten, Mutmachen, Trauern usw. und aus dem narrativem Drumherum der entsprechenden Rituale lassen sich symbolisch gebastelte Weltbilder machen. Wenn man aber das aus den ›ritualisierten Sprechakten‹ zusammengefügte Weltbild verwechselt mit der höchsten Wahrheit, wird’s fatal, denn dann wird das helfende Mittel (die Lindernden Wirkungen der tröstenden Mumbojumbo-Rituale) zur Gottheit und fertig ist die Kulturhaltung eines Junkies, nur dass dort, wo dieser seinen Rausch-Kick braucht, der fundamentalistische Gläubige seinen Recht-behalten-Kick braucht.
    • b—Kanalisierung & Kodierung von Exzessbegabungen: Junge, was kann der Mensch auszucken! Gerade dann, wenn es durch das Zusammenleben von Menschen immer mehr Menschen besser geht und sie sich etwas gönnen oder sie sich ausruhen oder feiern oder Blödsinn anstellen können, werden Überschüsse frei und man will, muss, darf was anstellen. Besser also, man bändigt diese frei flotterenden Tatenergien, bevor sich allzu viele weh tun, die sich nicht weh tun wollen! Die einen Kasteien im religiösen Kontext sich selbst, andere peitschen sich mit lustigen Lederklamotten im sado-masochistischen Kontext, und der gemeine Proll verabredet sich zur großen Post-Fußballspiel-Prügelei irgendwo am Waldrand.

Daraufhin folgen zwei Transzendenz-Phänomene, die sich aufgrund ihres schon geheimnisvolleren Charakters ein bissi gegen eine Umsetzung in rein weltliche oder naturalistische Zusammenhänge sperren:

  • 5—Die höhere Intelligenz: Zu den selbstbezüglichen Seltsamkeiten des menschlichen Bewußtseins gehört die Fähigkeit, sich ›etwas‹ vorzustellen, das intelligenter ist als wir Menschen. Meine persönliche Vermutung ist ja schlicht, dass wir hier einfach unser Verhältnis zum Nutz- und Haustier umkehren, wenn wir uns in bangen Museaugenblicken fragen, ob wir selbst zum Nutzen für ›etwas‹ oder zu dessen Vergnügen gehalten werden, so wie wir uns einen Hamster, einen Hund oder ein Pferd halten. Bei Katzen gibt es ja bekanntlich eine große Fraktion, die annimmt, dass wir die Haustiere und Dosenöffner-Büttel der Viecher, und diese die eigentlichen Chefs der Tier-Mensch-WG sind. — Wie dem auch sei: Sloterdijk verweist am Rande darauf, dass es die Welt der Bücher ist, in der man seine entsprechenden Bedürfnisse nach Kontakt mit höherer Intelligenz weltlich ausleben kann.
  • 6—Das Reich der Toten: Ja wo tummeln sie sich denn alle, die von uns gegegangen sind? In einem idylischen Arkadien, in schrecklichen Höllenpfuhlen? Warten unvorstellbare Fremdartigkeiten jenseits der Schwelle des Todes auf uns, oder hinterfotzige Bürokratien einer vogonengleichen Karma-Recycle-Wirtschaft? Wir können es nicht wissen, bzw. was wir sicher wissen, ist nicht so wahnsinnig ermunternd (Wümer, Bakterien usw.) und deshalb stellen wir uns da halt von Herzen gerne etwas Erbaulicheres, storymäßig Griffigeres vor (statt dem Verdacht zuzustimmen, dass da eben nix kommt) und so haben sich Menschen anderwoige Jenseitse in manigfachen Varianten ausgesponnen.

Und zuletzt das siebte Transzendenz-Phänomen, das so heikel ist, dass hier, so Sloterdijk, derweil noch beim Deutungsspiel zwischen Wissen und Glauben letzter meistens siegt.

  • 7—Offenbahrungen: Woher kommen diese Stimmen in meinem Kopf? Wer flüstert mir die dollen Ideen, Weisungen, Befehle ein, die ich hab? Und freilich ist meine innere Stimme die einzig wahre und richtige und mit universeller Authorität ausgestattete, und deine innere Stimmen ist nur eine dämonische Irreleitungen, Truggebrabbel, Rückbänklergemurmel. — Jau, wie übersichtlich wird die Welt, wenn man sich vorstellt, es gäbe wirklich irgendwo in der Weltenmitte einen absoluten, über und in und jenseits von allem thronenden Herrscher, und manche von uns habe eine gute Antenne um seine Mitteilungen zu empfangen, ein exklusiv durch Gnade freigeschaltetes Free-Prophetie-Abo, während andere leider leider leider nur taube Hirne und Herzen mit so primitiven Kugelspielen haben, damit sie was zum in der Hirnschale Hin- & Herklappern haben.

Orientierende und dicht gepresste Kompaktversion von »Gottes Eifer« bekommt man in folgenden Rezensionen gereicht: Die harte Variante im aufzählendem Notat-Stil liefert Martina Wagner-Egalhaaf für »Literaturkritik.de«; eine weichere, erzählende Version bietet Hans Jürgen Heinrichs für »Die Welt«.

Die Sau zeigt nicht genug Ehrfurcht vor den Göttern!

(Eintrag No. 454; Gesellschaft, Religion, Kritik, Großraumphantastik, Deutungshickhack, Infowar) — Auf der Frankfurter Buchmesse letztes Jahr habe ich bereits hochvergnügt darin geblättert und hätte es ja gerne fürmeine Sammlung respektloser Bilderbücher: »Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel«von Michael Schmidt-Salomon (Text) und Helge Nyncke (Illustration), erschienen im Alibri Verlag.

Aber — Himmel hilf! — das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend will das Werk verbieten lassen! Der Humanistische Pressedienst berichtete unter der Überschrift »Großer Ärger um kleines Ferkel«, und hat als PDF-Anhang den Indizierungsantrag der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zugänglich gemacht.

Hanebüchender als der Verbotsantrag der Bundesprüfstelle geht’s ja schon eigentlich nimmer, wie man sich überzeugen kann, wenn man Bilderbuch und Verbotsantrag nebeneinander hält. Immerhin kann man dieses Pa-Hö aber auch so deuten: Das kleine Ferkel macht seine Sache hervorragend. Denn das Bilderbuch soll ja zeigen, wie Religionen mit krassen Phantastereien die wildesten Dinge mythos-bastamäßig behaupten. Wem nutzen solche religiösen Irrationalismen wohl mehr: Den Schäfchen, oder den Hirten? Und wenn man auf die Mythen- und Phantasmenkerne der Religionen zu sprechen kommt, kann man eigentlich gar nicht anders, als diese der Lächerlichkeit preiszugeben. Sich selbst herabsetzten tun jene, die mit Hirngespinsten noch großgesellschaftlich Gestaltungsmacht an sich reissen wollen, nicht jene, die darauf aufmerksam machen.

Exemplarisch für die Einseitigkeit fundi-religiöser Denke und Selbstdarstellung ist ein Bericht zum Verbotsantrag beim »Pro Christliches Medienmagazin«. Da wird über die Macher des Ferkelbuches, bzw. den neuen Atheismus den sie vertreten geschrieben, sie seien ›sendungsbewusst‹ und führten ihren Kampf gegen den Glauben mit ›missionarischem Eifer‹. Naja, kein Wunder dass man als Anhänger von (noch) priviligierten Spiritualitätsverwaltern da schnell mal pikiert reagierend auf seinem Monopol hockt und anderen das Recht auf Mission nicht gönnt. Wie wär’s mal zwecks Glaubwürdigkeitsaufbesserung mit einem kritischen Artikel zu Konkordatslehrstühlen bei Euch, liebes »Pro Chistliches Medienmagazin«?

Habe ich also gleich mal das blaue Solidaritäts-Netzbildchen hier unter Verwendung von Motiven aus Nynckes Zeichnungen gebastelt, weil das erste Webbanner zur Verteidigung der Ferkel-Meinungsfreiheit zu breit für die Molochronik ist. Mittlerweile hat man bei Alibri beschlossen, mein Banner zu übernehmen. Danke für die Ehre!

Wissenschaft und Fantasy

Eintrag No. 437Frank Weinreich, Autor der erfeulichen Einführung zur »Fantasy«, hat für die Phantastik-Couch unter dem Titel »Äxte am Stamm der Moderne — Fantasy und Romantik« einen lockeren und lesenswerten Essay geschrieben. Unter anderem reagiert er dabei auf das Buch »Romantik« von Rüdiger Safranski.

Im dazu erblüten Thread »Fantasy — Stiefbruder der Romantik« der »Bibliotheka Phantastika« geht man den Banden zwischen Romantik und Fantasy nach und sinniert u.a. über den (vermeindlichen) Gegensatz von Wissenschaft & Magie, von Moderne und Fantasy.

Vor allem meine Lektüren von China Miévilles Bas-Lag-Romanen (z.B. »Perdido Street Station« und »Der Eiserne Rat«), Neal Stephensons »Barock-Zyklus« und Susanna Clarkes wunderbaren Fantasygeschichten die in der Regency-Epoche angesiedelt sind, haben mich in den letzten Jahren heftig über solche Fragen grübeln lassen.

Hier auch für die Molochronikleser meine Ergenisse des Google-Orakels zum Thema.

Und ganz allgemein erhellend zum Thema sind die »Fantasy World Building Questions« von Patricia C. Wrede.

Ebenfalls sehr ertragreich und abseits des üblichen Fantasy-Mainstreams (wo, zumindest meiner Wahrnehmung nach, eine gewisse romantische Affinität für Magie und Neuheidentum vorherrscht) ist die Reihe »Die Gelehrten der Scheibenwelt« von Meisterfabulator Terry Pratchett und der Wissenschaftler Ian Steward & Jack Cohen. Meine Rezi dazu wird erst in den kommenden Monaten hier eingepflegt (hier derweil mein Trailer). Bis dahin bleibt nur, entweder das aktuelle »Magira — Jahrbuch zur Fantasy 2007« zu lesen, oder auf diese exzellente Besprechung von Andreas Müller beim Humanistischen Pressedient auszuweichen.

Kecker Blogger-Style bei der F.A.Z.

(Eintrag No. 431; Gesellschaft, Medien, Zeitungen vs. Blogger, Feindversteher) — Nachdem ich ja nicht ganz vor der Blogger-(Un)Art gefeit bin, schon mal mit Schmackes über die etablierten Einweg-Medien herzuziehen, muß ich jetzt mal als durchaus auch nach Ausgleich strebender Querdenker ein feines Beispiel anführen, wie etablierte Journalisten sozusagen mit gewitztem, subjektivem, frechem Bloggerstil brillieren.

Die »Pro & Contra«-Schubalde der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« vom vergangenen Heilig-Drei-Königswochenende wurde von Peter Richter und Nils Minkmar dazu genutzt, auf zwei Weisen das Bein zwecks Spottwasserlassens am Baum des Roland Koch’schen ›Gewaltkids Populismus Schwachsinnsgewächs‹ zu heben.

»Roland Koch pocht darauf, ausländische Gewaltkids zittern davor: Sollen deutsche Sitten eine größere Rolle spielen?«, lautet die zu verhandelnde Frage.

Unter der Überschrift »Sitten und Geräusche«, dem »Pro«, unterbreitet Richter die erzpragmatische Idee, die gewalttätigen Jugendlichen mit ausländischem Herkunftshintergrund aus Westdeutschland zu den gewalttätigen Jugendlichen mit neonazistischem Gebahren nach Ostdeutschland zu schicken. Eurosport könne das Gekloppe dann übertragen. Das wäre, so Richter, effizient, was ja mal als deutsche Sitte galt (, oder noch gilt, oder wieder mal gelten sollte). Alle glücklich.

Und mit dem Titel »Bitte ohne Sitte«, dem »Contra«, zählt Nils die drei tatsächlichen deutschesten Sitten der Gegenwart auf: (i) Ausdiskutieren, (ii) Beschildern und (iii) Reservieren.

Zu der ekligen Kampagne von Koch, CDSU und Co fällt mir eigentlich nur folgendes ein. Ehrlichkeit, Anstand, Offenheit und Gastfreundschaft, sind das nicht Werte, die auch für uns Deutsche wertvoll sind, oder mal waren, oder wieder werden sollten?

Was kann man von einem Politiker wie Koch halten(?), der z.B. schon mal das Nachtflugverbot vom Himmel verspricht, um es wieder zu entsorgen, wenn es denn dem ›An der Nase herumführen der Betroffenen‹ beim Ausbau des Frankfurter Flughafens dienlich ist. Wie ehrlich und aufrecht hat sich dieser Koch wirklich für eine ›brutalstmögliche Aufklärung‹ von Korruption und Schwarzgeldgeschiebe ins Zeug geworfen, wenn außer ein paar lächerlich kosmetischen Rügen und harmlosen Konsequenzen nichts geschah? Herr Koch. Machen Sie sich mal stark für eine Überführung von Herrn Schneider aus der Kanadischen Ferne.

Wie dem auch sei, ich freue mich, dass Richter und Minkmar in der »F.A.Z.« so schön in Tucholsky-Beltz’scher Manier herumwitzeln, repektlos und larifarisch, wie es sonst (angeblich) nur pöbelnde Stinkebloggern tun. — Als bereits in jungen Jahren von Kabarret und Satire versauter Springinsfeld ist mir eh klar: Als Satire verpackt, darf man die Wahrheit klar und deutlich auch öffentlich verkünden. Wer jedoch als seriös gelten will, muß sich eiertanzender Euphemismen- und VerSchleiertanzakrobatik bedienen.

»Ihr habt alle recht obwohl Ihr nicht diskutieren könnt!«

(Eintrag 429; Gesellschaft, Medien, Deutungshickhack, Alltag) — Hierzulande läßt sich in letzter Zeit desöfteren ein ›Krach-Peng‹ und ›Ka-Wumms‹ vernehmen, wenn die Animösitäten von Vertretern der etablierten (Old School-)Medien und frischfrommfröhlichfrei daherschreibender Blogger aufeinanderkrachen.

»Ihr seid raunzender, Dummgrütze verbreitender Pöbel, ohne Relevanz, ohne Qualitätsansprüche, ohne Hirn und Geschmack oder Anstand und kritzelkratzelt den lieben langen Tag eierschaukelnd und chipsverschlingend die Klowände der Öffentlichkeit voll«, so in etwa die bescheidene Kritik der Etablierten an den Bloggern, Forums- und Chitchat-Parasiten.

»Ihr brutzelt, saturiert und gepuderzuckert mit’m Rüssel am Schwanz des Vorderelephanten in Eurem an der Tatsächlichkeit der Verhältnisse vorbeitüdelnden Klügnelpool und maßt Euch an, die Lahmarschigkeit Eurer Weltsicht als Qualitätsjournalismus zu postulieren«, so dreckschleudert es aus der Blogosphäre zurück.

Die Wahrheit liegt wie immer wohl irgendwo zwischen diesen beiden Refrains des Deutungshoheits-Watschentanzes. So lästig und verwirrend das alles sein mag, das Vielerlei an hysterisch-behämmerten Extremmeinungen ist eine Schau.

Als Überblick zu diesem Ringelreih seien Andreas Einträge »The Poesiealbum strikes back« und »Dekadente Artefakte«, sowie (etwas allgemeiner) »Bärtige Prinzessinen und seltsame Geweihe« empfohlen. — Sehr schön ist auch die lustige von Florian Steglich zusammengestellte Liste, mit den 50 exemplarisch Schwachsinnsröhrern über das Internet des Jahres 2007.

Meine Meinung? — Nun, ich lese gerne Zeitungen, höre gerne Radio, auch wenn ich mich ärgere, dass die etablierten Medien so gleichgeschaltet sind. Ich les auch gerne manche Blogs, und tummle mich auch gern in einigen Foren. Gottseridank kann ich Englisch, denn das deutschsprachige Internet würde meinen Bedarf an Qualitätsbeiträgen (egal ob etablierte Medien oder Blogger und Co) nicht zu decken vermögen.

Zur allgemeinen Auffrischung hier noch ein kleiner Auszugs-Remix aus dem Buch »Praxis Internet – Kulturtechniken der vernetzten Welt«, Hrsg. von Stefan Münker und Alexander Roesler (edition suhrkamp, 2002 {sic}), Essay »Vom Mythos zur Praxis« (Beitrag der Herausgeber), S. 15 bis 17. (Fette Hervorhebungen von Molo.)

Medien sind nicht neutral. Was sie sind, wird bestimmt durch das mehr oder weniger offene Wechselspiel dreier Faktoren: ihrer technischen Beschaffenheit, ihrer mythischen Aufladung und ihrer pragmatischen Verwendung. {… es ist} die mythische Aufladung, welche durch phantasiereiche Erzählungen und eingängige Bilder den kollektiven Willen unterstützt, das neue Medium in der Gesellschaft umzusetzten. {…} Die Parallelität von Entwicklung, Mythos und Verwendung des Internet läßt sich beispielhaft an drei ebenso grundlegenden wie folgenreichen Prinzipien illustrieren, die der technischen Struktur des Mediums implementiert sind, sich in seinem pragmatischem Gebrauch immer wieder fortschreiben und Ausgangspunkt aller utopischen Aufladung sind: Den Prinzipien der Dezentralität, der Unabhängigkeit und der Interaktivität.
Soweit, so gut. Auf S. 21 dann etwas wichtiges über die Natur des Internetes:
Die Kommunikationsstruktur, als welche das Internet entwickelt wurde, ist — Resultat der strategischen Erfordernis der Flexibilität — von Anfang an und unwiderruflich so realisiert, daß theoretisch jeder User Sender und Empfänger in einer Person sein kann. {…} Klassische Verbreitungsmedien und Archive aber sind gerade nicht interaktiv. {…} Der Verzicht auf Interaktivität ist die Bedingung der Möglichkeiten von Massenmedien.
Und jetzt hineingezoomt in das Hin- und Her bzgl. Zähmung des Internets (S. 23 u. 24):
… sowenig die utopischen Impulse der Netzgemeinschaft(en) sich gesamtgesellschaftlich umsetzten ließen, sowenig läßt sich das Intertnet je vollständig gesellschaftlich integrieren und politisch, sozial oder ökonomisch regulieren. {…} Will man das anarchistische Potential des Netzes kontrollieren, dann gibt es nur eine Möglichkeit: das Netz in seiner Gesamtheit abzuschalten. Das jedoch könnte nur ein totalitärer Weltstaat.

Und gleich der zweite Beitrag des Buches, »Remilitärisierung des Cyberspace« von Claus Leggewie, bietet weitere beherzigenswerte Gedanken zum Thema. — Da findet sich erstmal auf S. 27 der Internet-kritische Satz, dass…

{… das} Internet auch ein gigantisches Desinformationsmedium {ist}, auf dem sich unsägliche Trittbrettfahrer des Wahnsinns tummeln und den Terror der wirklichen Welt kongenial vollenden.
Ein gigantisches Desinformationsmedium zu sein, trifft aber genauso auf mancherlei z.B. privatwirtschaftlich initierte Propaganda-Kampagnen zu (siehe z.B. Privatisierung öffentlicher Güter). Abgesehen davon, pflegen auch so manche Staaten und Politiker ein entsprechend laxes Verhältnis zur Wahrheit (Rumsfeld, Barschel und Konsorten).

Noch nachdenklicher aber stimmt Leggewies Auseinanderklamüserei dazu, welche vier bedenklichen Entwicklungen die politische Qualitätsinformationen bedrohen (S. 32f):

  1. Entpolitisierung der öffentlich-rechtlichen Medien durch Konkurrenz- und Quotendruck durch Kommerzmedien; Zuflucht zu Klamauk und Infotainment;
  2. Private Unterhaltungskonzerne wollen das Internet zu einem ihre Sender ergänzenden ›Push-Medium‹ zurechtstutzen; (kritische) Politikinhalte werden zu einem Spartenprogramm für entsprechende Freaks;
  3. Auf dem öffentliche Bildungssektor droht das Vordringen der neuen Medien zu einem Vehikel für Technik- und Ökonomisierungsoffensiven zu werden; Allgemeinbildung, Sozial- und Kulturwissenschaften werden dadurch aufs Abstellgleis geschoben;
  4. Freie Meinungsäußerung droht beschnitten zu werden, weil man aus Angst vor Radikalismus und Porno die Cyberpolizei, Zensur und Filtertechniken zu Hilfe ruft.
Leggwie resummiert desweiteren (S. 34 bis 36), dass sich das Internet als Medium bestens dazu geeignet, Einweg-Formate zwischen Sender und Empfänger zu überwinden. Nicht als Massenmedium, sondern durch seine ›klein aber fein‹-Aspekte kann das Internet …
… im Erfolgsfall weit mehr Menschen in den demokratischen Verständigungsprozess einbeziehen, als es sich herkömmliche Medien in ihrer »Interpassivität« auch nur träumen lassen können.

Oder wie ich das seh: Weg mit dem Monopol der Pyramiden, her mit dem flauschigen Gewuschel von Pilzgeflechten. — So. Jetzt hab ich Euch wieder vollgeschwätzt. Dabei wollte ich eigentlich den Lesern und Kommentiern der Molochronik ein Kompliment machen. Hier gibts bisher keine Trollereien, keine ekligen Polemiken, sondern zuweilen sogar intensiven, sich durch Respekt auszeichnenden Meinungsaustausch. Woanders mag das anders sein, aber ich bin froh und (soweit ich das Gefühl trotz Verklemmtheit zulasse) auch stolz auf Euch. Weiter so, Ihr Lieben!

Idee für Organspende-Ausweis

(Eintrag No. 428; Gesellschaft) — Derzeit gibt es noch zuwenig Organspenden und so sterben Patienten, die welche brächten. Jedoch: die Kontrolle in Sachen Organspende funktioniert nicht so recht. Die zuständigen Kontrollen fassen nicht, da die Unterlagen nicht ordentlich ausgefüllt werden. Dennoch spiegelt sich in den unvollständigen Statistiken über Organspenden und Organempfängern etwas, was Angst und Mißtrauen auslöst: Privatpatienten werden — wie auch sonst in unserer Zweiklassenmedizin — als Empfänger für Organspenden bevorzugt.

Falls ich meinen Hintern mal hochbekomme, dann werd ich mich erkundigen, ob sich ein Organspender-Ausweis durch eine Zusatzklausel ergänzen ließe. Ich würde Organe spenden (wohlgemerkt: nach meinem Ableben), aber nur, wenn gerantiert werden kann, dass ein bedürftiger Mensch, kein Privatpatent, meine Organe bekommt.

Ansonsten: willkommen im neuen Jahr. (Kann ja nicht immer nur brütent Muffeln, muß auch ein wenig die Form der Jahreszeitenrituale pflegen.)

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