Matt Ruff: »Set This House In Order«
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Eintrag No. 92 — Andrea war die letzten Tage auf der Leipziger Buchmesse. Eine Frage an den Hanser Verlag gab ich ihr mit auf die Reise:
— Wann kommt das neue Buch von Matt Ruff auf Deutsch heraus?
— Im Herbst 2004, antwortete Hanser.
Wie ich vermutet habe, läßt der Hanser Verlag der Übersetzung des dritten Buches von Matt Ruff angemessen Zeit (ca. 18 Monate). Wie die ersten zwei Romane »Fool On The Hill« und »Die Trilogie der Stadtwerke« locker und leicht zu lesen, bietet auch »Set This House In Order« eine waghalsige Geschichte … wenn auch nicht so ganz so reich an Nebenhandlungen und im guten Sinne durcheinander, wie seine beiden Vorgänger.
Eine Gelegenheit also, einen der besten spekulativen Autoren der Gegenwart neu anzugehen, wenn einem seine bisherigen Romane zu voll, zu bunt und zu wild waren. Ich habe ja deutsche Rezensionen der »Trilogie der Stadtwerke« gelesen, die sich beschwerten, der Roman habe zu viele Ideen, die ja mindestens für zwei Bücher reichten. Erinnert mich an Leopold und Mozart im Film Amadeus:
»Zuviele Noten, streichens a paar raus, und die Sache ist perfekt«
Als ich »Set This House In Order« im Frühjahr 2003 im Original las, begeisterte mich am meisten, daß Matt Ruff hier das neue Genre der Psycho-Fantasy erfunden hat, oder eine in der Gegenwart angesiedelte Psychologie-Science-Fiction. Keine Elfen, keine denkenden, sprechenden Tiere, keine Roboter oder Künstlichen Intelligenzen, keine offensichtlichen Phantastik-Requisiten und -Figuren liefern den Hintergrund für »Set This House In Order«, sondern die Erkenntnisse und Spekulationen der modernen Bewußtseins- und Persönlichkeitsforschung sind der Keim einer auf den ersten Blick nicht als Phantastik erkennbaren Idee.
Folgend nun eine grobe Übersetzung des Originalklappentextes, damit ich nicht Gefahr laufe zu viel zu verraten, und dennoch denen etwas bieten kann, die das Warten auf den neuen Ruff auf Deutsch kaum noch aushalten.
»Der Autor des Kultbuches Fool On The Hill erzählt uns eine seltsame und bewegende Geschichte einer Selbsterkundung. Vor zwei Jahren erst wurde Andy Gage gebohren, ins Leben gerufen um als Gesicht für die Umwelt einer multiplen Persönlichkeit zu dienen. Andy kümmert sich um die Außenwelt, während sich in seinem Kopf über 100 Seelen ein imaginäres Haus teilen und darum ringen ein friedliches Miteinander aufrechtzuerhalten: Aaron die Vaterfigur, der die Regeln macht; Adam der übermütige Teenager, der die Regeln bricht; Jake der verschreckte kleine Junge; Tante Sam die Künstlerin; Seferis der Beschützer; und Gideon die dunkle Seele, der Andy und die anderen loswerden möchte, um allein die Dinge in die Hand zu nehmen.
Andrews neue Arbeitskollegin Penny Driver ist ebenfalls eine multiple Persönlichkeit - ein Umstand, dessen sich Penny nur zum Teil bewußt ist. Als mehrere andere Seelen von Penny Andy um Hilfe bitten und der widerstrebend einwillgt, lößt das eine Folge von Ereignissen aus, die drohen, die Stabilität des Hauses zu zerstören. Andy und Penny müßen nun zusammenhalten um ein schreckliches Geheimnis zu lüften, daß Andy vor sich selbst verheimlicht hat…«
»Set This House In Order – A Romance of Souls«; HarperCollins 2003, 479 S. - Deutsch bei Hanser im Herbst 2004, wahrscheinlich wieder hervorragend übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini.
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DRAMATIS PERSONAE
zu Matt Ruffs »Set This House In Order« / »Ich und die anderen«
- Die Hausbewohner:
- Andy Gage: *1965; zerbrach in sieben Seelensplitter, von denen nur zwei überlebt haben.
- Aaron: der Hausbauer; Bruder von Gideon; Vater von Andrew; einer der sieben Splitter Andys.
- Gideon: Exilant auf Coventry Island; Bruder von Aaron; Vater von Adam; einer der sieben Splitter Andys.
- Andrew: (26), von Aaron aus dem See gerufen, um dessen Job zu vollenden: Bring das Haus in Ordnung; Tagespersönlichkeit für den Umgang mit der Außenwelt.
- Jake: (5) ängstlicher Junge; ging aus Jacob (gestorben 1973) hervor.
- Tante Sam(anta): Künstlerin.
- Seferis: riesenhafter Leibwächter.
- Adam: (15), mag Playboy, Alk und derbe Sprüche; natürlicher Lügendetektor.
- Silent Joe: eine von Aarons Helferseelen; begräbt die Toten auf dem Kürbisfeld.
- Captain Marco: eine von Aarons Helferseelen; kümmert sich um den See; Fährmann.
- Xavier Rayes: Ein Werkzeug.
- weitere Seelen: Simon (macht sich Sorgen um Justiz und Sicherheit); Drew, Alexander, Angel, Annis, Arthur, Rhea, Sander, Archie, Seth, die zwei Samuels, und an die hundert weitere kleine Zeugen-Seelen.
- Die Gesellschaft:
- Penny Driver: *1971; weiß nicht, daß sie eine Gesellschaft von Seelen in sich hat.
- Mouse: Pennys Spitzname von Mutter; auch: »worthless peace of shit«; kein Selbstwertgefühl und großer Feigling.
- Maledicta: Evil-Speaker, Wächterin, Raucherin, mag Pool und Alk, Zwilling von Maleficia.
- Maleficia: Evil-Doer, Wächterin, stummer Zwilling von Maledicta.
- Navigator: sorgt für Pennys Orientierung.
- Drone: macht was man ihr sagt, spührt nix.
- Loins: mag die Rolling Stones und Pornos; lebt in einer Grotte.
- Brain: das Genie, arbeitet als Programmierer und Techniker.
- Thread aka Penelope Ariadne Jones: zuerst Pennys Brieffreundin über die Englisch Society of International Correspondence; führt Tagebuch.
- Duncan: der Fahrer, immer nüchtern; achtet auch darauf, daß die anderen Seelen nicht so sehr über die Stränge schlagen.
- Zwei stumme Fluchtseelen, davon einer ein Sprinter; vielleicht identisch mit bereits angeführten Seelen.
- Reality Factory:
- Julie Sivik: * 1971, Chefin von Reality Factory und gute Freundin von Andy seit 1994.
- Irvin Manciple: aus Alaska; stiller und zurückhaltener Techniker; Bruder von Dennis.
- Dennis Manciple: aus Alaska; dickleibig und expressiv; ihm ist schnell zu warm; Programmierer; Bruder von Irvin.
- Weitere Personen:
- Horace Rollins: Andys Stiefvater, der Plünderer.
- Silas Gage: Leiblicher Vater von Andy Gage; ertrunken.
- Althea Gage: Andys Mutter.
- Mr. Cavinet: Tante Sams Französisch-Lehrer auf der High School; erster freundlicher Erwachsener gegenüber Andy Gage.
- Mr. Weeks: Vorgesetzter bei Bit Warehouse, wo Aaron/Andrew vor der Reality Factory arbeiteten.
- Oscar Rayes: Ungeziefer-Beseitiger und Anwalt in Seven Lakes.
- James (Jimmy) Cahill: Früher bei der Armee, jetzt Polizist in Seven Lakes.
- Gordon Bradley: Polizeichef in Seven Lakes.
- Kirstin Williams: Babysitterin für Andy in der Grade School-Zeit.
- Verna (Dorset) Driver: Pennys sadistische Mutter aus Woods Basin (= Trash Town).
- Morgan Driver: Pennys Vater; Versicherungsvertreter, starb 1973 bei einem Flugzeugunglück.
- Großmutter Driver: schenkte Penny eine Underwood-Schreibmaschine und ein Kleid.
- Ben Deering, Chris Cheney, Scott Welch, Cindy Wheaton: Zusammen mit Penny auf der Junior High School.
- Ben Deering Senior: Bens Vater, Schrottplatzbesitzer aus Trash Town.
- Rudy Krenzel: Besitzer von Rudys Quick Fix, wo Penny arbeitete vor Realiry Factory.
- George Lamb: Wohnt in einem Trailer.
- Alyssa Geller: Zimmergenossin von Penny an der University of Washington im ersten Semester.
- Mr. Filchenko: Mitarbeiter des Bestattungsinstitutes Archangel.
- Mrs. Alice Winslow: hat Aaron als Mieter aufgeommen; Witwe, deren Mann und zwei Söhne von einem trampenden Mörder umgebracht wurden.
- ein namenloser Mörder-Tramp: Ermordete 1985 Mr. Winslow und seine beiden Söhne; schrieb bis 1990 Briefe und Postkarten an Mrs. Winslow.
- Warren Lodge, der Puma: Aus den Nachrichten.
- Dr. Danielle Grey: Psychatierin von Aaron; seit Herzattake im Januar 1995 im Ruhestand in Seattle; auf Rollstuhl angewiesen.
- Meredith Cantrell: Lebensgefährtin und seit Herzattake Pflegerin von Dr. Danielle Grey.
- Dr. Eddignton: Psychiater in Seattle; Übernimmt die Patienten von Dr. Danielle Grey; sieht Pennys Vater sehr ähnlich.
- Dr. Kroft: Westküsten-Psychiater, stellte 1987 MDP-Diagnose bei Andy Gage der sie 4 Jahre behandelt hat; Anhänger der Vasen-Theorie; hat Andy ein zweites Mal in Verwahrung eingewiesen.
- Dr. Bruno (Reinkarnation), Dr. Whitey (Außerirdische), Dr. Leopold (Rechtsweg): Weitere Westküsten-Psychiater mit denen Aaron nach Dr, Kroft und vor Dr. Grey Erfahrungen machte (´91-´92); alles Anhägner der Vasen-Theorie; in Klammern die jeweils speziellen Theorien dieser Ärzte.
- Billy Milligan: In den Medien bekannt gewordener MPD-Patient. – Mensch der realen Welt außerhalb des Buches.
- Cornelia Wilbur: Autorin von »Sybil«. – Mensch der realen Welt außerhalb des Buches.
- Erwähnt wird William Seferis: Autor von »Tales of the Greek Heroes«.
- Onkel Arnie: Julies Onkel beim Militär; macht Geschäfte mit vom Laster gefallenen Waren.
- Reggie Beauchamp: Automachaniker und Truckfahrer; Bettfreund von Julie 1995/96.
- Sowie:
- ein namenloser böser Vater mit seiner kleinen Tochter im Harvest Moon.
- eine Vampir-Thekenfrau der Bridge Street Bar.
- ein Verkehrspolizist in Wyoming.
- ein Hotelmanager von House of Pancakes nahe der Badlands Parks.
- Barmann (Ming) und Betrunkener (Flash Gordon) des Mammoth in South Dakota.
- Charles Daikos: Ein Lieferwagenfahrer.
- Mortimer: Polizist in Seven Lakes.
- Dave Bradley: Truckfahrer in Seven Lakes.
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Kapitelstruktur

Marcus Hammerschmitt: »White Light / White Heat« - Zusammenfassung
(Literatur) - Vor einem Jahr las ich den Aufsatz »White Light / White Heat - Science-Fiction und das Veralten der Zukunft« von Marcus Hammerschmitt (zu finden in »Der Glasmensch«, Suhrkamp, S. 173ff) aus dem Jahr 1995.
Hat mich ziemlich schwindlig gemacht vor lauter zustimmenden Nicken, aber bisher ich habe es bisher nicht geschafft, diese 16 Seiten (9 Abschnitte) wirklich zu überblicken. Hammerschmitt bietet einen kenntnisreichen Rundumblick auf die SF an, dabei die Avantgarde genauso im Visier, wie die massentauglichen Serialien. Dabei formuliert er zuweilen etwas komplex, da er sich bemüht eine kritische Reflektion der SF mit einer Verteidugung derselben zu verschmelzen.
Die Anmerkungen in {eckigen Klammern} sind wieder meine, der Rest stammt aus dem Essay.

HAMMERSCHMITT ANFANG
Eröffnungssatz: Die SF hat heute Möglichkeiten, von denen die sogenannte ernste Literatur nur träumen kann. {Schon mal sehr in meinem Sinne} Über Bruce Sterlings Wort vom SF-Autoren als Hofnarren und dessen Beziehung zum Herrscher; in drei Fälen wird Hofnarr ausgebuht: a) Wenn er den selben Witz zweimal erzählt; b) wenn der Witz zu weit ging; c) wenn der Witz nicht weit genug ging. {Das sind ja ganz hervorragende Kriterien zur Qualitätsbestimmung. Vor allem wegen c) nöle ich oft.} Woran soll der Hofnarr seine Zunge wetzen, wenn dem Herrscher die Gemeinheiten ausgehen?
Herausforderung für den Traum der SF: die technische Entwicklung ist dem Menschen weiter voraus, als dem guttut. Zwang der SF immer wieder dasselbe zu sagen, ist Reaktion auf beständiges bequemes Lügen der Massenmedien und Politiker, man hätte die technische Entwicklung schon im Griff. SF bietet da konsumierbare Katastrophen, aber nur selten wird der Rand hin zu unsagbarem Terror des schlechthin Unbekannten erreicht.
Die SF ist kindisch und das verleiht ihr große Kraft. Der kleine Professor {Bill Watersons Calivin und seine Zeitmaschine} verglichen mit dem großen Professor (Otto Hahn, Edward Teller). Der überzeugende Bluff der SF entspricht der Auftritt vom Hofnarren in den Gewändern des Herrschers … Aussage der SF dabei: Alle Geschichten bereits mit dem ersten durch Faustkeil erschlagenen Neandertaler erzählt.
Die Stadt als eigentlicher Schauplatz der SF {erscheint mir doch etwas einseitig}. Die Schilderung der Stadt als ein durch die Mittel der Technik ermöglichter Lebensraum entweder als a) trivialer Illusionismus, oder als b) schnodderige Punk-Kolportage. Über die Wüste als ein Biotop des einsamen elektronischen Cowboys (Lohngangster), dieser als Zeichen einer ermüdenden Technik, die ihre Niederlage (Hiroshima, Tschernobyl) nicht eingestehen will, weil die Puppen noch tanzen.
Schwäche der deutschen SF: Hang zur Tiefgründigkeit {wer ist schon frei davon? Hammerschmitt selbst offenbar auch nicht ganz}, Ablehnung der Unterhaltungskultur {Adronos Eisenkugel}. Bis Ende der Sechzigerjahre wird Grass mißtrauisch beäugt! Die SF wird verschmäht aber heimlich unter der Bettdecke verschlungen. Amerikanisierung {Einzug der Kulturindustrie} in Deutschland nur bezüglich Fernseh- und Essensgewohnheiten.
Weißes Glühen sich entfaltenden technologischen Fortschritts zeichnet gute SF-Texte aus (Hammerschmitt offenbart sich als Hard-SFler}. Schaudern über posthumane Eigenschaften dieses Glühens = nicht intergrierte Technik. Die Versuche, mit den wandernden Taugenichtsen der Romantik die Technik in den Traum zurückzuholen, oder die automatisierte Welt zu verstehen, sind mißlungen. Geräte spielen in SF Hauptrollen, dazu Vergleiche mit Western- und Krimiheld (Knarre, Brief, Geheimdokument, Zigarette). Über Entenhausen als kleinster gemeinsamer Nenner bezüglich Umgang mit Dingen. Scheitert Technikrezeption rückt Körper zum Thema auf. Körper hat Technik nur seine eigene Gesundheit entgegenzusetzten, ansonsten ist er unterlegen … Mißverhältnis der behäbigen Natur zur hektischen Technik offenbart Körper als einstmalig bewohnte Behausung der Seele.
Über Sekten (Hubbard & Co.) als Allianzen von SF mit den Zuständen, die der SF ihre Stoffe liefert. Adornozitat: wir leben in einer Welt, die krasseste Paranoia rechtfertigt, weil sie sie wahr macht. Im High-Tech-Disneyland schießen die Westworld-Roboter mit scharfer Munition.
Enge Nachbarschaft der SF zu Sympathie mit dem Menschen und dem Terror, den der Mensch gegen sich selbst entfesseln kann; dies lößt Unbehagen aus (Blick in Teufelsküche) und läßt staunen, daß SF vorhersagen kann. Dazu Glühbrinen-Eddison: ihr ahnt nicht die Nähe von Konstruieren und Schreiben {siehe Eco-Zusammenfassung: Konjekturverfahren}. Über den Nimbus der SF als Mahner und Seher … aber aus neuen Technologien neue {mögliche} Katastrophen zu spinnen ist der Job eines phantastischen Autors, keine Hellseherei.
Technik wird abgelehnt, wenn Rückholung des natürlichen Bewußtseins angestrebt {natürliches Bewußtsein ist ein ganz heikler Begriff}. Frauen mögen keine SF; Konkurrenz zwischen (männlichen) Fortpflanzungstechnikern und selber gebähren könnenden Frauen (Hüterinnen der Natur), bis hin zu zukünftigen feministischen Terrorismus. - Der Fortschritt von Gestern wird heute der Lächerlichkeit preisgegeben, doch Kafka sagt: Forschrittsglauben kann doch nicht annehmen, daß Fortschritt schon stattgefunden hat, sonst hieße es ja nicht glauben.- Eines Sinnes sind: a) Das arrogantes Staunen über (technische) Errungenschaften der Vergangenheit, und b) die Enttäuschung darüber, daß bisher die Technik das vom Menschen geliehene Leben nicht zurückerstattet hat (und das kurz vorm Milleniumswechsel, ooch Menno). Den Verfechtern einer Aszendenz-Theorie der Geschichte {Mythos vom Zivilisationsprozess, siehe Gegensatz Norbert Elias/H.P. Duerr} entgegnet die SF trotzig: Geschichte hat noch gar nicht stattgefunden … was die SF aber unbekömmlich ernst erscheinen läßt (den Hofnarren nicht gut steht). - Die SF ist und bleibt also vornehmlich paradox, weil sie einerseits verkündet, daß nichts Neues unter der Sonne geschieht, andererseits aber schildert, was in der Zukunft noch geschehen muß.
HAMMERSCHMITT ENDE
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Mein Eindrücke dazu: Die Beobachtung der Stadt als eigentlicher Schauplatz und der Gegenstände als Hauptakteure empfinde ich als überbewertet: da bekomme ich gleich Lust mir eine Provinz-SF auszumalen in Holzhütten, wo Leute sich nur menschliche Belange erzählen {die Prä-Cogs in Spielbergs »Minority Report« am Schluß}. Hammerschmitt übersieht dabei die Kolonie, die Forschungsstation und schließlich das Raumschiff (oder ähnliches), sprich: die Technik als Überlebens-Zelle in unwirtlicher Umwelt … in Verlängerung der Symbiose Mensch/Pferd zu Centaur (Mensch/Auto zu organischem Gefährt … siehe Babylon 5 Schattenschiffe, Borg bei TNG ff}. Hammerschmitt stellt zwar auch mal fest, daß die positiven Utopien der SF selten und meist schwachbrüstig sind, ist aber selber fixiert auf die Dialektik Technik-Mensch-Natur … den Kultur- und Zivilisdationspessimismus teile ich aber weitestgehend.
Interessant die Aussage über Frauen die keine SF mögen, denn das scheint mir (zumindest tendenziell) wirklich so zu sein. Solage also SF vornehmlich von einem Geschlecht bevorzugt wird, ist sie verbesserungsfähig (so verstehe ich Emanzipation), was ein vorrübergehendes Kriterium für gute SF abgibt, oder allgemeiner: Gute SF befriedigt den SF-Kenner einerseits, verschreckt andererseits den SF-Unbedarften nicht und unterhält beide.
Aus der Überschrift und dem Hauptthema von Hammerschmitts Essay entnehme ich ein weiteres neues Kriterium für gute SF: Die aus der Gegenwart extrapolierte Welt der Zukunft sollte möglichst langsam zur Lachnummer vergammeln (wenn sie ernst gemeint ist). - Wenn also z.B. »Auf zwei Planeten« heute mehr unfreiwillige Komik als Abenteurluft verbreitet, ist das ein Minus für die SF-Qualität des Romans. Selbst wenn darin solche noch nicht erreichten technischen Wunderwerke auftauchen, wie sich selbst an der Decke in Schlitze und Fächer wegsortierende Klamotten.
Der ganzen äußerst kritischen und leicht fatalistischen Haltung von Hammerschmitt extrahiere ich desweiteren die erstrebenswerte Qualität: Versuche die Versöhnung von Technik und Mensch zu unterstützen; denn daß deren Verhältnis arg unharmonisch ist, liegt auf der Hand {siehe: »Le monde diplomatique Atlas der Globalisierung«}.
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Weitere Beiträge zu Literatur, Science-Fiction, Fantasy und Phantastik:
• Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist Der Herr der Ringe ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«
• Umberto Eco: »Die Welten der Science-Fiction«
• Umberto Eco: »Mögliche Wälder«
Umberto Eco: »Die Welten der Science-Fiction« — Zusammenfassung
Eintrag No. 85 — Als eröffnenden Paukenschlag zum Thema Zukunftsfiktionen hier das Eröffnungszitat von Brian W. Aldiss »Der Milliarden Jahre Traum«, Bastei Verlag (leider vergriffen).
The mirrors of the gigantic shadows which futurity casts upon the present…
{Die Spiegelbilder der riesenhaften Schatten, welche die Zukunft auf die Gegenwart wirft…}
— P. B. Shelly: »The Defence of Poetry«
Ich habe mir bisher nie die Mühe gemacht, meine einzelnen Geschmacks-Urteile als zusammenhängendes Gebilde zu betrachten: kurz, meine Poetik zu formulieren. Im Forum von SF-Netzwerk habe ich eine Diskussion um die Frage entdeckt, was gute SF sei, und das spornte mich an mal zu stöbern, was denn bisher dazu an brauchbaren Bestimmungsversuchen in meiner Bibliothek zu finden ist.
Ein kleiner Vortrag von Umberto Eco (gehalten auf einer Tagung 1984) kam mir ins Gedächtnis, und ich habe ihn herausgesucht, wiedergelesen und biete nun diese Zusammenfassung von »Die Welten der Science Fiction« in Über Spiegel und andere Phänomene (Deutscher Tadschenbuch Verlag, 1990, Seite 214 ff) an.
Gemeinsam mit der Zusammenfassung der Havard-Vorlesung »Mögliche Wälder« (und erst recht, wenn man Eco selbst kosultiert) hoffe ich allen Phantastik-Lesen ein wenig Handhabe liefern können, mit der sich ahnugslose Verächter und Geringschätzer von SF-, Horror- und Fantasyliteratur schön genüßlich in der Luft zerpflücken lassen.
Meine Anmerkungen {finden sich in kleiner Schrift eckig eingeklammert}, der Rest stammt aus dem Vortrag.
••• ZUSAMMENFASSUNG: »DIE WELTEN DER SCIENCE FICTION«: •••
Eco stellt erstmal klar, daß jedes erzählende Werk eine mögliche Welt konstruiert, verglichen mir der
realen, wirklichen, normalen
Welt in der wir leben, zu leben meinen, wie sie durch den Gemeinverstand, die Kulturelle Enzyklopädie definiert wird.
{Kulturelle Enzyklopädie: Damit ist das gesamte kursierende Wissen über die Welt gemeint, von entzifferten babylonischen Keilschriften bis hin zur Auskunft eines Menschen, den wir in einer fremden Stadt nach dem Weg fragen. Als Individuum gebietet man über etwa ein Zehntel eigenes Wissen, und verläßt sich ansonsten zu neun Zehnteln auf die Kulturelle Enzyklopädie. Wer noch nie in Frankreich oder England war und dennoch »Falsch!« ruft, wenn behauptet wird, daß der Eifelturm in London steht und der Trafalgar Square dem Louvre in Paris zu finden ist, vertraut offensichtlich weitestgehend auf die Kulturelle Enzyklopädie. Figuren wie z.B. Agent Moulder aus der TV-Serie »Akte X« berücksichtigen darüber hinaus auch exotischere Gebiete der Kulturellen Enzyklopädie.}
Seit Alters her nun gibt es laut Eco eine realistische Erzähltradition und eine Gegentendenz, die das Konstruieren von möglichen Welten eben richtiggehend strukurell betreibt.
- Realistisch illustriert Eco durch die Frage:
»Was würde geschehen, wenn in einer biologisch, kosmologisch und gesellschaftlich ähnlichen Welt wie der unseren Dinge geschähen, die zwar nicht faktisch geschehen sind, aber die ihrer {der realen Welt} Logik nicht wiedersprechen?«
{Siehe z.B. die populären ›Realismus‹-Welten von Hannibal Lector in den Büchern von Thomas Harris, das Vendig und Italien von Commisario Brunetti bei Donna Leon, Franz Biberkopf in Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«, Annie Wilkes aus Stephen Kings »Sie« usw.};
- und phantastisch durch diese Frage:
»Was würde geschehen, wenn die wirkliche Welt nicht so wäre, wie sie ist, wenn also ihre Struktur anders wäre?«
wobei als beachtete, bearbeitete Struktur gemeint sein kann z.B. die kosmologische Struktur (sprechende Tiere, animierte Gegenstände, Dimensionslöcher allerorten) oder die soziale Struktur (Idealgesellschaft wie bei Thomas Morus, Francis Bacon, Karl Marx), usw.
Nun unternimmt Eco eine — wie ich finde — sehr einfache und doch griffige Einteilung der Phantastik, in folgende vier Wege:
- ALLOTOPIE: Hier wird unsere gegenwärtige Welt als tatsächlich andersartig geschildert. Tiere können sprechen, oder es gibt Magie, Zauberer, Feen, Geister ect.. Eco beobachtet, daß wenn eine solche Welt erst einmal vorgestellt ist, zumeist nur noch der allegorische Bezug zur realen Welt beachtet wird. {Beispiele: »Watership Down« von Richard Adams, die Harry Potter-Bücher, Bram Stokers »Dracula«, Neil Gaimans »Neverwhere«, Matt Ruffs »Fool on the Hill«, Elis Kauts »Pumukel« usw.}
- UTOPIE: Hier wird geschildert wie die Welt sein sollte {einschließlich der wie es nicht sein sollte-Umkehrung der Dystopie}. Die utopische Welt ist irgendwo, vielleicht parallel zu unserer Welt, an einem fernem Ort, in der Vergangenheit oder Zukunft, aber normalerweise schwer zu erreichen von unserer Welt (z.B. Samuel Butlers »Erehwon«), wenn überhaupt.
- UCHRONIE: Entwirft mögliche Welten nach folgender Frage:
»Was wäre geschehen, wenn das, was wirklich geschehen ist, anders geschehen wäre?«
z.B. {Bush der Zweite die Wahl 2000 nicht gewonnen, oder} Julius Cäsar die Iden des März überlebt hätte. Seitenhieb Ecos auf Verschwörungstheorien:
Wir haben sehr schöne Beispiele von uchronischer Historiographie zum bessern Verstädnnis der Ereignisse, aus denen die aktuelle Geschichte hervorgegangen ist.
{Eco berichtet in anderen Texten von interessanten Begegnungen mit Lesern, die z.B. seinen Roman »Das Foucaultsche Pendel« für bare Münzen nahmen. — Beispiele für derartige Alternativ-Phantastik: »Vaterland« von Robert Harris, »Oscar Wilde im Wilden Westen« von Walter Sattersthwait, »Morbus Kitahara« von Christoph Ransmayr.}
- METATOPIE / METACHRONIE: Hier wird die mögliche Welt als künftige Phase der wirklichen Welt von heute entworfen — hier können wir endlich wirklich von Zukunftsgeschichte sprechen. Ausgenommen solche Zukunftswelten, die eigetlich eine Weiterführung der Gothic Novel oder Romance sind (in denen Burgen und Drachen durch Raumschiffe und Blobs ausgetauscht wurden), oder die unter Allotopie besser aufgehoben sind {wie »Flash Gordon«, »Star Wars«, »The Matrix«}.
Eco grenzt ab und wird genauer:
»SF nimmt stets die Form einer Antizipation an, und die Antizipation kleidet sich stets in die Form einer Konjektur, die anhand realer Tendenzen der wirklichen Welt formuliert wird.«
Die Science der SF kann dabei eben nicht nur naturwissenschaftlich (sprich: technisch), sondern auch humanwissenschaftlich (z.B. linguistisch, sozial- und kulturwissenschaftlich) sein. Über die SF als erzählendes Spiel auf dem Wesenskern der Wissenschaft: dem Konjektivverfahren.
{Konjektur: 1. Vermutung (veraltet); 2. mutmaßlich richtige Lesart; Textverbesserung bei schlecht lesbaren Texten.}
- Beispiel Isaac Newton: Solange er seine Konjektur, Vermutung, Hypothese nicht auf die Probe stellt, bleibt sein Gravitationsgesetz lediglich das Gesetz einer möglichen Welt.
- Beispiel Pierce (Semiotik-Pionier): Auf einem Tisch liegt ne Handvoll weißer Bohnen, daneben ein kleines Säckchen. Orientiert sich die Konjektur an abzeichnender Plausibilität (= der organischen Form, die eine mögliche Welt annimmt) wird gefolgert:
»In dem Säckchen werden sich noch mehr weiße Bohnen befinden.«
Dies bleibt eine Aussage über eine mögliche Welt, bis man im Säckchen nachschaut und feststellt, ob sich tatsächlich weitere Bohnen darin befinden {oder doch herausgebrochene Goldzähne vom einem nahen Schlachtfeld, oder ungeschliffene Rohdiamanten, oder grüne Erbsen, oder oder.}.
Diese Art in möglichen Welten zu denken ist auch Philosophen, Detektiven, Psychoanalytikern, Historikern (und vielen mehr) zu eigen. Angesichts des Beispiels von Pierce aber lautet die Frage der SF:
(Der Tisch wird als leer angenommen) »Was würde geschehen, wenn auf dem Tisch eine Handvoll Bohnen läge?«
oder besser noch: eine Handvoll kleiner grüner Außerirdischer {ja — Eco führt wirklich solche Gedankenspäße auf}.
Eco erläutert die umgekehrte Symmetrie von Wissenschaft und SF:
- Wissenschaft muß ein mögliches Gesetz (Theorie) aufgrund wirklicher Befunde (Beobachtungen, Messungen, Fakten) entwerfen.
- Von möglichen Befunden (Replikanten, Klone, Künstliche Intelligenzen) ausgehend, kann die SF versuchen wirkliche Gesetze (Menschlich ist… z.B. das Mitgefühl?) zu finden.
Kurz gesagt: wo die Wissenschaft ihre möglichen Welten irgendwann verifizieren, falsifizieren muß, kann die SF (und die Phantastik) dies ins Unendliche vertagen {wobei Fiktionen die emotionelle Abrundung einer Geschichte meist wichtiger oder zumindest ebenso wichtig ist, wie die Logikknotenaufdröselung}.
Zum Ende macht Eco auf die Fälle gegenseitiger Befruchtung und Verwandschaft von Wissenschaft und SF aufmerksam:
- daß z.B. Orwell mit der »1984«-Zukunft warnt — die mögliche Welt zeigt sich als abschreckender Leichnam eines dann schon gestorbenen Patienten;
- daß es den Moment gibt, wo der Unterschied zwischen forschender Intelligenz und künstlerischer Intuition verschwindet;
- und schließt damit, daß die SF ein lebendes Beispiel der Verwandschaft von Phantasie und Wissenschaft ist.
ECO ENDE
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Meine Eindrücke: Für mich postuliert Eco die Plausibilität der aus der Gegenwart in die Zukunft extrapolierten möglichen Welt als klar ausgemachtes Kriterium zur Bestimmung guter SF. Oder ungeschwurbelt: In der realen Welt vorliegende Entwicklungen sollen weitergedacht werden und eine stimmige Geschichte darüber erzählt werden. Wobei stimmig hier als Platzhalter dient, der in weitern Betrachtungen — über den eigenen Geschmack bezüglich Stil, Sprache und Form — festgemacht werden müßte.
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Weitere grundsätzliche Beiträge zu Literatur, Science-Fiction, Fantasy und Phantastik:
- Über Anspruch: —Besser kompliziert oder einfach genial? Stegreifvortrag über Zaunpfahlwinkerei, Lesehaltungen, den östlich-westlichen Begriffsrahmendiwan, Glatte und raue Konventionen, Form und Inhalt.
- Lesende Weltenwanderer: —Warum ist Phantastik so hipp; Molo findet, daß Norbert Bolz (in »Cicero« 12/2005) und Rüdiger Safranski (in »Literaturen« 12/2005) darüber ganz anregend sinnieren.
- Molosovskys Wahrheitsbegriff (schnelle Fassung):
—Über Fiktions- und Wahrhaftigkeitsverträge, Verschwörungen und die Kulturelle Enzyklopädie.
- Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist ›Der Herr der Ringe‹ ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«: —Betrachtung Mittelerdes als exzentrische Christen-Mystik.
- Zusammenfassung von Umberto Ecos »Mögliche Wälder«: —Über die Grundlage des Fiktionsvertrages, Beglaubigungsverfahren, Romane als Spiele, die Kulturelle Enzyklopädie und das Wahrheitsprivileg von Fiktionen.
- Zusammenfassung von Marcus Hammerschmitts »White Light / White Heat«: —Über die SF als Hofnarr, kleine und große Forscher, die Stadt und die Dinge, Entenhausen, Sekten, Terror und Mahner.
Portrait: China Miéville
(Grafimente & Literatur) - Diese Zeichnung wurde leider nicht genutzt, also muß ich sie mal herzeigen, sonst grämt sie sich. Damit sich literaturinteressierte aber in Sachen moderne Phantastik weitestgehend scheue und unbeleckte Menschen eine vage Vorstellung machen können, welchen Schlages die Bücher des Engländers Miéville sind, habe ich folgend und nur auf Deutsch eine sprechende Inhaltsangabe des zweiten auf der Welt Bas-Lag angesiedelten Romans The Scar angefertigt. Damit Sie selbst entscheiden können, ob sie diese lesen wollen, habe ich sie als ersten Kommentar in meinen Kapitelstruktur-Bildern zu den drei Bas-Lag-Romanen aufgespielt, damit niemanden verraten wird, was er oder sie vielleicht gar nicht verraten bekommen möchte.
Wenn Sie sich wirklich einen guten Überblick verschaffen wollen, was an China Miéville so toll ist, dann kann ich Ihnen den gutgeschriebenen und profunden Artikel von Marcus Hammerschmitt bei Heise empfehlen. Sapere aude!
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Weitere Beiträge zu China Miéville:
• Kapitelstruktur der Bas Lag-Romane von China Miéville;
• Tolkien als Bilbo;
• Hurrah, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da.
Ich hoffe bald eine ausführliche und kommentierte Inhaltsangabe der zwei Bas-Lag-Romane hier vorlegen zu können, zum Zwecke der Steigerung des Ansehens der Phantastik.
Portrait: China Miéville
This drawing was not printed, so i have to show it here. — {Drawn in Fabruary 2003, digitally upgrade March 2004}
Other grafimente concerning China Miéville: Tolkien as Bilbo for Chinas »Middle-Earth meets Middle-England«.
Hurra, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da
Eintrag No. 42 — China Mieville und sein Roman »Perdido Street Station« haben 2002 meine fast vollkommen erloschene Begeisterung für neue Fantasy/SF wiederbelebt. Ich dachte schon, ich finde nur noch auf dem Totenacker der Literatur mich nicht langweilende oder platt dünkende Genre-Phantastik.
Nun freue ich mich, daß der Bastei-Verlag auch den zweiten Roman aus der Welt Bas-Lag »The Scar« veröffentlicht. Eva Bauche-Eppers hat wiederum die Übertragung ins Deutsche besorgt, und ich habe nach den ersten Dutzend Seiten den Eindruck, daß ihr das anerkennungswürdig gelungen ist, bedenkt man die kurze Zeit (die das Verlagsgeschäft für eine Taschenbuchübersetzung einräumt). Immerhin ist China Mievilles Stil sprachlich und imaginativ recht komplex, überbordend und das Buch ein dickes (engl. Ausgabe: 795 Seiten). Leider konnte die sehr schöne Umschlagsgestaltung des Originals nicht übernommen werden, da der Roman in zwei Teile aufgespalten wurde (Band 1: »Die Narbe«, Band 2: »Leviathan«), aber immerhin wurden die deutschen Umschlagbilder von Arndt Drechsler diesmal passend zum Inhalt gestaltet.
Doch leider sind mir auf dem Weg von Bahnhofsbuchhandlung nach Hause auch schon wieder die ersten Ausreißer aufgefallen:
- Das Impressum gibt an, daß der erste Band die Kapitel 1-20 enthält. Das letzte Kapitel des ersten Bandes ist aber das sechsundzwanzigste.
- Der erste Satz im Original: A mile below the lowest cloud, rock breaches water and the sea begins. Daraus wird im Deutschen: Eine Meile unterhalb der tiefhängendesten Wolke mit ihren geblähten Schlechtwetterbäuchen, stürzt Fels lotrecht in Wasser und der Ozean beginnt. - Wie der unterstrichene Teil des Satzes sich aus dem, was da im Englischen steht ergibt, kann ich nicht ganz nachvollziehen … kreativ ist es aber schon.
- Lustiger Sachfehler auf Seite 101 (dt) wo das englische pirates of pantomime übertragen wurde mit Piraten der Pantomime. In England gibt es in der Winterzeit um Weihnachten und Neujahr die Tradition, lustige Theaterabende zu veranstalten, z.B »King Lear And His Ugly Daughters«. Da wäre Faschings- von mir aus auch Karnevalspiraten besser gewesen. Die Welt Bas-Lag ist ja gehörig phantastisch, aber ich glaube auch dort, hätte eine Schauspieltruppe mit dem Schwerpunkt Piratenpantomome kaum Ruhm.
Aber, weg ihr Nörgelgedanken. Ich bilde mir ein deutlich zu bemerken , daß Frau Bauche-Eppers mit der vielstimmigen Sprache von Mieville vertrauter ist, als noch bei Perdido Street Station. Nicht oft kommt es vor, daß mir das Lesen einer Übersetzung dermaßen Spaß macht. Also ihr Fantasy-Recken und Phantastik-Gourmets: lauft in den Buchladen oder klickt euch diese Romane ins Postloch..
Babel denotiert in Fabrikhalle
Eintrag No. 24 — Mit Lava in den Adern scheint Helmut Krausser seine Gedichte zu schreiben. Manche mögen die Spannweite seiner Sprache und Bilder als unansehlichen Spagat deuten. Tatsächlich aber hat Helmut Krausser in seinen großen Romanen, Kurzgeschichten und Tagebüchern sich um die Wiederaufnahme einer vernachlässigten Tradition gekümmert: die bewußt strotzende Sprache sowohl Himmelhochjauchzend als auch Hosenruntersehenwollend einzusetzten. Angenehm sein Oszillieren zwischen den Niederungen der Parasitenwelt und der Hingabe für antiken Traditionen.
»Denotation Babel«. 1998 geschrieben ließt es sich seit dem 09. Sept. wie eine Prophetie aus jüngerer Zeit:
»Was wirklich groß ist, geht nur unter, um stärker, unaussprechlicher zurückzukehren [...] als Montsalvat, Neuschwanstein, als Eifelturm, Big Ben, die Skyline von New York...«
Als Wahl-Ff/M-ler hab ich mich wie Schnitzel auf die dramatische Umsetzung dieses Textes gefreut. Bin ja nur selten im Theater, aber wenn das Neuste von Helmut Krausser aufgeführt wird, komm ich gerne bei.
Also ins Schauspielhaus, genauer einer kleinen Außenstelle von denen im Gallus. »Denotaion Babel«, eigentlich ein zehnteiliges Gedicht (hier drinn), ist Helmuts kompaktester Text … das meine ich nur so vor mich hin, diese Einschätzung findet sich so in Helmuts Tagebüchern.
Was tut sich?
Drei männliche Stimmen, Veteranen im Archetypencafe, resümieren die wechselreiche Geschichte des Turmes, der sich in den Veränderungen selbst wandelnd in Wahrheit niemals eingestürtzt ist.
Das Trio HCD (Mitglieder des Ensemble Modern) hat für den HR eine Hörspiel- (oder Soundscape?)-Fassung erarbeitet. Besonders schön das Gläsersingenlassen, daß abwechselnde Holzhämmerchenklacken, das Lied vom Fest.
Baff war ich, daß Felix von Mannteufel mit von der Partie war, kenne ich ihn doch schon lange Zeit als eine wichtige Stimme in der Hörspielfassung von »Per Anhalter duch die Galaxis«. So sieht man alte Bekannte zum ersten mal.
Sehr empfehlenswert für alle Freunde poetisch-mythischer Sprach-, Musik- und Klang-Collagen ist die CD (noch amazon.de, aber hier zu finden).
Philip K. Dick: Kurzgeschichten (2)
Eintrag No. 22
(Stories 14 bis 25 von 118)
War krank am Wochenende. Viel mehr als willenlos rumliegen und lesen war nicht. Deshalb heute hier auch schon der zweite Teil der Kurzinhaltsangaben aller 118 Kurzgeschichten meines Lieblings-Science-Fiction-Autors. - {Nach der zehnbändigen Ausgabe des Haffmans-Verlages. Hier zu Teil eins der Zusammenfassungen.}
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BAND ZWEI: Kolonie
14. Der unermüdliche Frosch: Professor Hardy und Grote wollen ihren Streit um ein Paradoxon Zenons mit experimenteller Vorrichtung klären. Groty fällt dabei durch die Moleküle, das Experiment schlägt fehl.
15. Die Kristallgruft: Drei terranische Saboteure entführen eine marsianische Ratzentrumstadt als Druckmittel für Freihandelszonenerweiterungsbestrebungen der Erde.
16. Das kurze glückliche Leben des braunen Halbschuhs: Doc Labyrinth erfindet eine Maschine, mit der gewöhnliche Gegenstände zum Leben erweckt werden, mittels des Prinzips der hinreichenden Belästigung.
17. Der Erbauer: Elwood baut ein riesiges Holzboot und wird deswegen von seinen Mitmenschen immer scheeler angeguckt. Ihm selbst ist auch unklar, wofür das Boot gut sein soll, bis der erste große Regentropfen fält.
18. Eindringling: Illegale Zeitsonden zeigen eine Erde in 100 Jahren mit blühenden Muhkuhwiesen, aber gänzlich menschenfrei. Agent Hasting soll den Störfaktor finden und schleppt den Grund (Schmetterlinge!) mit seinem Zeitwagen ein.
19. Zahltag: Zeitschleifenkrimi um einen Mann, dessen Gedächtnis über zwei Jahre Arbeit bei einer Firma gelöscht wurde, und der mit einer Handvoll Krimskrams als Bezahlung mehr anfangen kann, als mit 50 Tausend Credits.
20. Der Große C: Nachdem der Große C vor 50 Jahren das Atom vom Himmel holte und die Erde wüst machte, schickt ein Bunkermenschenstamm wie jedes Jahr einen jungen Mann zum Großen C, um die drei Fragen zu stellen.
21. Draußen im Garten: Für meinen Geschmack sehr unheimliche Eifersuchtsgeschichte, in der ein Mann zunehmend davon überzeugt ist, daß nicht er, sondern ein Erpel der Vater seines Sohnes ist. - {Variation auf das Thema: Leda und der Schwan.}
22. Der König der Elfen: Ein Tankstellenbesitzer aus der Provinz wird König der Elfen und erschlägt den großen alten Troll.
23. Kolonie: Der verzweifelte Kampf der Kolonie von Planet Blau mit Protoplasmalebewesen, die fähig sind, alle Gegenstände zu immitieren. Bitteres Ende, das Gaskammermulmigkeit beschwört.
24. Beutestück: Vier Terraner machen einen planlosen Probeflug mit vermeidlichen Überlichtgeschwindigkeitsschiff der gegenerischen Ganymedier. - {Schöne Homage auf Swifts Guillivers Reisen.}
25. Nanny: Über das Rüstungswettrennen in der Robot-Kindermädchenindustrie.
Philip K. Dick: Kurzgeschichten (1)
Eintrag No. 22
(Stories 1 bis 13 von 118)
Zum Filmstart von »Minority Report« hat der Heyne-Verlag fünf oder sechs Taschenbücher von Dick herausgebracht, darunter auch zwei Auswahlbände seiner Kurzgeschichten, die aber zusammen nur circa die Hälfte der Geschichten von Philip K. Dick enthalten.
Schade schade, daß es auf dem deutschen Buchmarkt nicht möglich ist, eine Entsprechung der fünfbändigen englischen Sammlung der Kurzgeschichten auf den Markt zu bringen... so als Paperback, für zusammen ca. 30 bis 50 Euros?
Bevor er unterging, hat aber der Haffmans-Verlag seine zehnbändige, gebundene Umsetzung der »Collected Stories« abschließen können. Diese Ausgabe habe ich inzwischen kompletamente und werde ihr folgend Zusammenfassungen aller 118 Philip K. Dick-Kurzgeschichten hier reinstellen.
Los geht's.
Nachtrag: Nochmal gezählt und Gesamtanzahl der Geschichten von 119 auf 118 korrigiert. Hier außerdem der Link zum zweiten Teil der Zusammenfassungen.
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BAND EINS: Und jenseits - das Wobb
1. Stabilität: Durch ein Zeitschleifenparadox gerät ein Erfinder (in Deutschland) immer tiefer in düstere Alternativwelten.
2. Roog: Ein Hund entwickelte eine Verschwörungstheorie gegen die Müllmänner und will sein Herrchen, wenn auch vergebens, darüber informieren.
3. Die kleine Bewegung: Kleine Spielzeug-Blechmänner wollen mittels Beeinflussung der Kinder die Weltherrschaft erlangen. Doch haben sie nicht mit dem Widerstand der Stofftiere gerechnet. - {Vielleicht eine Anregung gewesen für Toy Story von Pixar.}
4. Und jenseits - das Wobb: Raumschiffbesatzung kauft ein marsianisches Riesenschwein, Wobb genannt, als Proviant für unterwegs. Es entpuppt sich als gern philisophierende sehr hoch entwickelte Lebensform, die sich nur kurz in seiner Konversation unterbrechen läßt, als es geschlachtet und gegessen wird
5. Die Kanone: Heftige H-Bomben-Explosionen künden vom Untergangskrieg einer Zivilisation. Ein Raumschiff besichtigt den Ruinenplaneten und wird von einem automatischem Großgeschütz abgeballert, daß auf alles schießt, was fliegt. Inspiriert von alten Sagen, entdeckt die Besetzung einen Schatz unter der Kanone (= der Drache). - {Sehr Star-Trek-Classic-like, aber in den frühen Fünfzigerjahren geschrieben.}
6. Der Schädel: Zeitschleifenkrimi, in dem der angeheuerte Killer des unbekannten First-Church-Gründers sich in der Vergangenheit als eben dieser entpuppt.
7. Die Verteidiger: Roboter gauckeln den unterirdisch in Atombunkern lebenden Menschen zu deren Besten eine strahlenverseuchte Erdoberfläche vor. Außergewöhnlich optimistisches Ende!
8. Mr. Raumschiff: Alter Professor läßt sein Gehrin als zentrale Steuereinheit in einen Raumschiffprototyp einsetzen, setzt sich mit ehemaligen Schüler und dessen Exfrau ab um Garten Eden zu spielen.
9. Pfeifer im Wald: Auf der Asteroidengarnision Y-3 halten sich immer mehr Besatzungsmitglieder für Pflanzen.
10. Die Unendlichen: Nach der Untersuchung eines eigenartigen Asteroiden, durchleben alle Besatzungsmitglieder eine drastisch beschleunigte Evolution. - {Wer Meerschweinchen im Weltall mag, sollte diese Story kennen. Erinnert mich entfernt an den Plot von Clive Barkers Great and Secret Show.}
11. Die Bewahrungsmaschine: Doc Labyrinth hat einen Weg gefunen, Musikpartituren in Tiere zu verwandeln. Doch Mozartvogel, Bach- und Beethovenkäfer, Brahmsinsekt, Schubertschaf und Wagnertier verändern sich im Wald hinter Doc Labyrinths Haus auf unerwartete Weise.
12. Entbehrlich: Ein Mann wird zuerst Zeuge, dann Opfer eines uralten Krieges zwischen Insekten und Menschen, bei dem Spinnen eine besondere Rolle spielen.
13. Der variable Mann: Mit 99 Seiten eigentlich schon ein kleiner Kurzroman, der vom durch Wahrscheinlichkeitsberechnungen bestimmten Krieg der Terraner gegen die Centauri-Blockade handelt. Die manuelle Rückholaktion einer Zeitsonde befördert unvorhergesehen einen Gelegenheitsarbeiter aus dem Jahre 1914 in die zweihundert Jahre in die entfernte Zukunft, wo er zum entscheidender Faktor für die Entwicklung der Terraner wird.
Gilbert Keith Chesterton: »Der Mann der Donnerstag war«, oder: Bombe und Kursbuch
Eintrag No. 20
Version 1.0 erschienen in
»MAGIRA 2003 – Jahrbuch zur Fantasy« , herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert.
Version 2.0 vom 20. September 2007: Portrait und viele Links eingepflegt, um Verehrerrundschau erweitert Fehler gemerzt.
Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zählt neben Herbert George Wells, Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling zu den klassischen Alleskönnerautoren Englands am Ende der Viktorianischen Epoche bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Wie diese hat er Texte verschiedenster Art hinterlassen, darunter äußerst originelle Beiträge zur Phantastik. Und wie Tolkien gehört er zu den ›schrulligen Katholiken‹ der anglikanischen Insel (siehe die beiden Essay-Bände »Ketzer« und »Orthodoxie«). In Deutschland ist er wohl, wenn überhaupt, vor allem als Erfinder des von Heinz Rühmann (bzw. Ottfried Fischer) dargestellten Pater Brown bekannt. Comiclesern ist vielleicht sein Aussehen bekannt, immerhin leiht sich das die Figur (bzw. der Ort) Fiddlers Green in Neil Gaimans »The Sandman«.
Der Wagenbach-Verlag hat dankenswerterweise »Der Mann der Donnerstag war« wieder mal dem deutschem Leser zugänglich gemacht, wenn auch in einer gewöhnungsbedürftigen Übersetzung aus dem Jahre 1910.
Das 1908 erstmals erschienene Buch handelt vom apltraumdurchwirkten Ringen um eine gesicherte Sicht auf die Auseinandersetzung zwischen Anarchie und Ordnung. Es beginnt mit der Begegnung zweier gegensätzlicher Poeten in einem Künstlerviertel Londons. Der Platzhirsch des Saffron Park, Lucien Gregor, verherrlicht den Archetypen des bombenwerfenden Anarchisten als DEN Künstler schlechthin. Seinem Herausforderer Gabriel Syme dünkt das Chaos aber öde und er preist lieber den Zugfahrplan als Triumph des menschlichen Willens. Gregor möchte nicht nur Konventionen und Regierungen, sondern sogar Gott abschaffen, Syme aber wirft ihm vor, es mit dem Anarchismus nicht wirklich ernst zu meinen. Gregor will Syme von seiner Ernsthaftigkeit überzeugen und Syme folgt Greogor zu einem geheimen Treffen. Beide offenbaren zuvor einander ihre Geheimnisse und geloben Verschwiegenheit darüber. Gregor entpuppt sich als Anarchist, Syme als Geheimpolizist, beide nur als Poeten getarnt. Beklommen stellen die sie fest, daß ihre Angst aufzufliegen und ihre Ehrenworte sie voneinander abhängig machen.
Bei einem Treffen des geheimen Anarchistenzirkels schafft es Syme, Gregor den Posten des Donnerstag wegzuschnappen. Die sieben Oberanarchisten sind nämlich nach den Wochentagen benannt, womit sich der seltsame Titel des Romans erklärt. Montag ist ein Sekretär, Dienstag ein polnischer Fanatiker, Mittwoch ein dubioser Marquis, Donnerstag in Person Symes ein Poet, Freitag ein alter Professor und Samstag ein praktischer Arzt. Anführer ist der monströse Präsident Sonntag, der sich selbst ›den Frieden Gottes‹ nennt. Der Rat beschließt ein Bombenattentat auf den russischen Zaren und den französischen König in Paris, das Syme und Greogor verhindern wollen. Von da an geht es zunehmend drunter und drüber.
Chesterton hatte merklich großen Spaß daran, Atmosphären zu übertreiben und moderne Allegorien zu erschaffen. Nichts ist, was es scheint, und die Verschwörer stolpern von einer Bredouille in die nächste.
Besonders bemerkenswert ist der Oberbösewicht Sonntag, eine grandiose Übersteigerung der Figur des Verbrecherkönigs. Er ist eine prophetische Mischung aus Goldfinger und Groucho Marx, wenn er z.B. bei der finalen dadaistischen Verfolgungsjagd nicht nur immer aberwitzigere Fluchtuntersätze nutzt, sondern dabei auch noch ständig Zettel mit rätselhaften Unsinnsmitteilungen hinterläßt. Durch solche Kapriolen wirkt der Roman über weite Strecken, wie eine Vorwegnahme von höherem Zeichntrickblödsinn. Dabei wird immer wieder auf das Grundproblem angespielt: die unvereinbare Gegensätzlichkeit der menschlichen Wünsche nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit einerseits, nach Freiheit, Individualität und Vertrauen andererseits.
Chestertons satirische Gesellschaftsphantastik ist allemal ein Wiederentdecktwerden wert, besonders anempfohlen in unseren Zeiten, da man als Echtweltbürger feststellt, daß die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos sich immer mehr verwischen, und der Übersichtlichkeit halber amal neu definiert werden müßten. Egal ob man sich (aus welchen Grund auch immer) für Bombe oder Kursbuch entscheidet, die Gegenseite lauert immer und überall.
Meine liebste Fundstelle des Romans illustriert das dialektisch-paradoxe Ideenjoungliervergnügen, das ich mich Chesterton hab. Im ersten Kapitel werden zwei gegensätzliche Dichter — der dandyhafte Anarchist Lucien Gregor und der bürgerliche Ordnungs-Anakreont Gabriel Syme — im Streitgespräch gegenübergestellt.
Gregor: »Ein Künstler ist dasselbe wie ein Anarchist. Man kann auch umgekehrt sagen: ein Anarchist ist ein Künstler. Der Mann, der eine Bombe wirft, ist ein Künstler, weil er einen großen Augenblick allem anderen vorzieht. Er erkennt, wie viel wertvoller das einmalige Aufflammen, der einmalige Donnerschlag einer wirkungsvollen Explosion ist, als die alltäglichen Körper von ein paar Polizisten. Ein Künstler kümmert sich um keine Regierung, er bricht mit jeglichem Herkommen. Den Dichter erfreut nur die Verwirrung. Wäre dem nicht so, dann müßte das poetischte Ding der Welt die Untergrundbahn sein.«
Syme: »[...] Chaos ist öde, weil im Chaos der Zug tatsächlich irgendwohin gehen würde, nach Baker Street oder nach Bagdad. Der Mensch aber ist ein Magier, und seine ganze Magie besteht darin, daß er sagt: Victoria {Station}, und siehe da, es ist Victoria. Nein, behalten Sie Ihre Bücher mitsamt Ihrer Poesie und Prosa und lassen Sie mich einen Fahrplan lesen mit Tränen des Stolzes. Behalten Sie nur Ihren Byron, der die Niederlagen der Menschheit feiert und geben Sie mir das Kursbuch, das ihre Siege verherrlicht.
[...] Sie behaupten verächtlich, es sei selbstverständlich, daß einer nach Victoria kommen muß, wenn er Sloane Square verlassen hat. Ich aber behaupte, daß in der Zwischenzeit tausenderlei Dinge geschehen könnten und ich jedesmal, wenn ich wirklich mein Ziel erreicht habe, den Eindruck habe, mit knapper Not davongekommen zu sein.«
Zitiert nach der Ausgabe bei Heyne »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«.
Und wer mehr von diesem außergewöhnlich unbekannten Werk kennenlernen möchte: hier der ganze Roman auf englisch und noch ein Link zu einer netten Chesterton-Page.
BLICK IN DIE RUNDE DER VEREHRER:
- Wie klassisch dieser Roman im anglo-amerikanischen Raum ist, und wie lebendig er dort auch von jüngeren Genreationen goutiert wird, führt das Computerspiel »Deus Ex« vor, das u.a. von »Der Mann der Donnerstag« deutlich inspiriert wurde und in dessen Levels der Spieler immer wieder auf Zitate aus dem Buch stößt.
- Neil Gaiman schreibt in seinem Blog:
»The Man Who Was Thursday« is one of the most ambiguous books I've ever encountered, and its morals are deeply uncertain.
(Molos Übersetzung) »Der Mann der Donnerstag war« ist eines der undurchschaubarsten Bücher das mir je untergekommen sind, moralisch zutiefst unbestimmbar.
- Susanna Clarke zählt »Der Mann der Donnerstag war« zu ihren Lieblingsbüchern:
Es ist so etwas wie ein sehr aufregender Detektivroman und fast wie ein Gedicht und wie ein theologisches Rätsel — und die meisten Dialoge lesen sich, als hätte Oscar Wilde sie geschrieben. Es ist etwas ganz Besonderes. Die Szenen laufen als eine Serie von Bildern ab — präzise, überraschende, einfache, farbenfrohe Bilder. Es ist wie eine wunderschöne Halluzination oder ein angenehmer Alptraum. Wie in allen Detektivromanen (oder Gedichten oder theologischen Rätseln) können die einfachsten Gegenstände oder Handlungen eine immense Bedeutung haben. Gleichzeitig zeichnet das Buch ein interessantes Bild der Zeit und vermittelt einen guten Eindruck davon, was es hieß, im Jahr 1908 ein dandyhafter englischer Gentleman zu sein.
- Hierzulande hat z.B. Carl Amery G.K.C. enthusiasmiert bejubelt, wie im Vorwort zu »Der G. C. Chesterton Omnibus 1« (Heyne 1993)
Chestertons Romane sind, da ist kaum ein Zweifel möglich, durchaus der modernen Form der Science Fiction, das heißt des spekulativen Genres zugehörig. »Was wäre wenn…?« oder auch: »Was wäre gewesen, wenn…?« — das ist die Frage, welche die wundersamen Maschinen dieses Genres in Bewegung setzt. {…} Wer von all den wissenschaftlich orientierten Prognostikern hat die Geburt des Tory-Faschismus (in »Don Quijotes Wiederkehr«), die Islamisierung Englands (in »Fliegendes Wirtshaus«), die totale Abstrusität des Terrorismus und der Terrorismus-Bekampfer (in »Der Mann der Donnerstag war«) so scharfsinnig antizipiert? Wer hat die Schnappfallen des bürokratischen Wohlfahrtsstaates, die Diktatur der psychiatrischen Normalitäts-Festsetzer, die Reduktion der Kunst zu Ware und die Reduktion der menschlichen Geschicklichkeiten durch die gloabe Normierung so gut gewittert und so amüsant ins Erzählerische übersetzt?
- Michael ›Harry Potter ist superduper‹ Maar zitiert in seinem feinen Rundfunkessay für den SWR den Chesterton-Kenner Joachim Kalka, der folgendermaßen »Der Mann der Donnerstag war« lobpreist:
Der {Roman} hat viel von genialer Kolportage. Das eigenartige Lächeln des Montags, des Sekretärs, der nur auf einer Seite des Gesichts den Mund verzieht, erscheint später großartig als coup de théatre. Ganz in der Ferne scheint es, als ob man eine Menge von Verfolgern drohend herandringen sähe; die Helden mustern den Auflauf unruhig durchs Fernglas. Die Anführer tragen schwarze Halbmasken. Und »schließlich lächelten sie während ihres Gespräches alle, und einer von ihnen lächelte nur auf einer Seite.« An solchen Momenten, in denen es den Leser leise überläuft (…), ist das Buch überreich: Maske und Duell, Attentat und Flucht, Hetzjagd und Verschwörung. Es ist kennzeichnend für Chestertons Werk, daß die stärksten Wirkungen im Ineinander von romance und Reflexion liegen.
- Und in »Cicero« (Sept. 2007) begeistert sich Daniel Kehlmann (nebenbei auch erfrischend über die hiesige Verlagslandschaft spottent) für Chestertons Alptraum, indem er z.B. schreibt:
Ein aktuelles Buch? Aber natürlich — denn es geht um Terror und terroristische Geheimorganistaionen, es geht um den Übereifer bei der Verfolgung des Bösen, es geht darum, dass Zivilisation und Glauben plötzlich selbst jene Gefahren sein können, vor denen sie uns schützen wollen.
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Der Mann der Donnerstag war (The Man who was Thuesday, 1908) aus dem Englischen von Heinrich Lautensack; 192 Seiten; Taschenbuch; Wagenbach-Verlag; Berlin, 2002.
oder antiquarisch z.B.:
übersetzt von Bernhard Sengfelder in der Bearbeitung, einem Vorwort und herausgegeben von Carl Amery; zusammen mit »Der Held von Notting-Hill« in »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«; 428 Seiten; Taschebuch; Heyne, ›Bibliothek der Science Fiction Literatur‹; München 1993. — Aufgrund der deutlich flexibleren, klareren Sprache zu bevorzugen.