Samstag, 23. Dezember 2006
Verborgene Orte: Neun — Brunnen
(Eintrag No. 341)
Prosalyrische Wanderungen ins Unbekannte
»Reality is just a story thats taken on a life of its own.«
— John Constantine, Dez. 1997
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Brunnen
Irgendwo in den Gedankengängen
gähnt der Brunnen in das Dunkel.
Sein Wasser dürstet nach Haut,
nach einer verlangenden Kehle
in die es rinnen kann.
Kein Licht. Nur Schwärze.
Ein Durst läßt uns nach diesen Brunnen suchen,
sie verzeichnen und erforschen,
was für Quellen sie verbergen.
Alle sind einzig.
Man wird von den dunklen Wassern verschlungen.
Kälte läßt eine Quelle vereisen.
Doch schon im Flimmern eines Irrlichts,
können sich zwei spiegelnde Veränderungen
und zwei Brunnen ineinander stürzen.
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Verborgene Orte: Acht — Presse
(Eintrag No. 340)
Prosalyrische Wanderungen ins Unbekannte
»Reality is just a story thats taken on a life of its own.«
— John Constantine, Dez. 1997
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Presse
Sie ist eingesperrt. In einer Kammer.
Ohne Bewegungsmöglichkeit.
Versuche es, aber mach
dich auf etwas gefaßt…
Komme und öffne die Schachtel.
Greif hinein und spüre nackte Haut.
Reibe dich daran. Laß es wölben.
Steig dazu und vergrößere die Enge,
damit Aufstrebendes eindringen kann.
Sie schließt in sich wieder,
die nun zweifach zusammengekauerte Nacktheit;
umschlungen in die Ecke getrieben;
Finger beginnen zu gleiten;
Küsse suchen nach spießenden Zungen;
Schweiß wird gekeltert und
die tröpfelnden Bewegungen der Lust
erweiche die Wände;
der Raum wird warm und fleischlich;
umschließt die zwei Gedanken und pulsiert zart.
Die Schachtel schwillt an.
Sie bläht sich auf und reißt hie und da;
schließlich platzt sie und alles
zu einem Organ gewobene bricht auseinander,
verteilt sich im Wirbel driftender Spritzer.
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Verborgene Orte: Sieben — Vakuum
(Eintrag No. 339)
Prosalyrische Wanderungen ins Unbekannte
»Reality is just a story thats taken on a life of its own.«
— John Constantine, Dez. 1997
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Vakuum
Innerhalb eines Tages erreicht mich die Einsamkeit.
Wie jeden Tag vernichtet sie den Abstand zwischen mir und ihr.
So viel ich versuche zu vergessen;
so viele Bulldozer auch wegschieben;
die Sucht nach Menschen,
die Entzugserscheinungen der Liebe,
klettern aus jeder noch so bodenlosen Tiefe empor;
trocknet jedes noch so trennende Meer aus;
füllt jeden noch so gähnenden Leerraum
mit Abscheu und Ekel vor mir selbst.
…stürme den Tunnel.
Krieche in den Schächten.
Suche nach den Schlächtern
und bete zur Steckdose…
Die Adern krümmen sich vor Schmerz;
das Gedärm knirscht in stiller Disharmonie;
die Choreographie meiner Scham kommt aus dem Takt;
Gewaltverlust breitet sich aus;
Selbstverstümmelung scheint ein netter Bluttrost
für entschwundene Zärtlichkeit;
statt eines Streichelns eine dünne Spur rinnendes
Blut auf der verwaisten Haut;
die Augen sträuben sich irgend etwas
Schönes wahr zu nehmen;
der Anblick der Muse wird zur Singularitat
verstrudelter Unerreichbarkeiten.
…baumle am Knochengerüst.
Lache in den kalten Eimer.
Zertrete die Gehirnkrümel
und lästere der Zunge…
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Verborgene Orte: Sechs — Herren der Hölle
(Eintrag No. 338)
Prosalyrische Wanderungen ins Unbekannte
»Reality is just a story thats taken on a life of its own.«
— John Constantine, Dez. 1997
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Herren der Hölle
In erstickender Umschlingung würgen sich
ihre aufgedunsenen, riesenhaften Schwulstleiber umeinander.
Ihre stinkende Umgarnung und zärtlichen Verrate
umtanzen ihre blinden, einsam umhertastenden Traumgespinste.
Zusammen zerdrücken sie
mit arroganter Ahnungslosigkeit
der Lebenden Leute Leiber,
deren umherdribbelndes Blut
der Lindwürmer Liebesbrunnen ist.
Zwanghaft und pathologisch tolerant,
das ständige Hinken und Stolpern
zum grazilen Tanz erklärt.
Trotz aus ängstlich hilfloser Distanz
die Spiegelkabinettigkeiten zur Tugend erhoben,
sind sie mit all ihrer Macht eines nicht:
zwingend systemimmanent.
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Verborgene Orte: Fünf — Archiv
(Eintrag No. 337)
Prosalyrische Wanderungen ins Unbekannte
»Reality is just a story thats taken on a life of its own.«
— John Constantine, Dez. 1997
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Archiv
In den Regalen tümmeln sich allerlei Exponate.
Viele von gänzlich unscheinbarer Form.
Andere wirken monströs, melken Ekel in uns hoch,
aber doch sind sie von ungleichem Anmut und Reiz.
Viele der Sachen wirken alt und gebraucht.
Staub umgarnt viele Stücke, die in ihrer Art archaisch und roh wirken.
Wertvoll und einzig mögen all diese Dinge sein,
doch die wenigsten verraten diese Eigenschaft.
…komm und stirb. Stampfe in meinem Klang…
Den Plunder- und Tandgeschmack legen einige Stücke ab,
kostet man mehr von ihren Formen;
leckt man an ihrem geronnen Blut;
sehnt man sich nach zeremoniellen Gesängen.
…langsam und zucke.
Gegen meine Stille
hilft kein Pfeifen.
Weise und töricht
sind meine Bücher.
Allein dein Sinn
gibt ihnen Tat.
Die fahrige Angst
die uns umnebelt,
ist ehr eine Furcht
vor unserer Macht…
Man erkennt nun unter tausend Ornamenten
verbergender Frohnatur die tanzenden Krieger.
Man steht vor ihren wilden Weibern,
die dreieckigen Köpfe im Krampf verzückt,
aufrechte Glieder,
tanzende Speere,
vibrierende Brüste,
gespreizte Beine,
Tierfratzen,
verbrannte Feinde,
erlegtes Wild,
zertrampelte Dämonen,
verschwundene Wünsche,
gemarterte Engel,
verführte Märtyrer,
vergewaltigter Pöbel.
…so heiß wie die Bronze
beim Guß ein jederwelcher
betörend geilen GOttfigur,
ist das Leben in deinen Adern.
Wenn die Teufel dich genug gebissen haben
die Fledderer deiner Habe geifernde Diebe,
die Wucherer deiner Träume Hehler
wirst du die unverschämte Gabe haben,
nicht mehr vor uns ausweichen zu können.
Von Irgendwo weht Licht herein und der Schein ist hinweg.
Das wenig Helligkeit aus einem gedungenen Spalt reicht aus,
langweilige Schatten auf das Regal zu werfen.
Sind doch alle seine Gegenstände nur Schattenbilder dessen,
was sie eigentlich begatten sollten. Zwar sind sie alle Unikate,
doch so unendlich viele…
Sie gleichen sich unmündig
doch alle bis aufs Jota.
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Verborgene Orte: Vier — Fluß
(Eintrag No. 334)
Prosalyrische Wanderungen ins Unbekannte
»Reality is just a story thats taken on a life of its own.«
— John Constantine, Dez. 1997
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Fluß
Vergesse nicht.
Verspreche nichts was du nicht halten kannst;
lehne dich nicht auf gegen jene, von denen du nichts weißt.
Schönheit und Furcht haben ihre Wurzeln meist im selben Humus;
das fürchterliche Unbekannte keimt seit Denkensanbeginn
in allen Wünschen die wir gebären, deshalb ist die Schönheit
von unseren Ängsten umwoben. Versuche nicht
mit brackigem Wasser dem Verlangen feste Form zu geben;
schöpfe aus dem strömenden Naß
und schwemm deinen Staub vom Gemüt.
Harre aus.
Wache schlafend und fürchte nicht
das ewige Fließen und willkürliche Wirren der Zeit;
mach aus ihm keinen zerfressenden Strom des ätzenden Vergessens;
ertrinke nicht im reißenden Tod der potentiellen Möglichkeiten;
bewahre dir die wenigen Tropfen und wandle sie in behagliches Blut.
Erstarre nicht.
Verhake dich nicht in den Zahnrädern der Spontaneität;
die angstgepressten Kiefer maskiert als dachsisches Fletschen;
jeder Eindringling der Veränderung des Status Quo
der Diktatur wird gefoltert, mißverstanden ausgewiesen;
doch so festgefrohren statisch läßt sich kein Leben zappeln.
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Verborgene Orte: Drei — Wüste
(Eintrag No. 335)
Prosalyrische Wanderungen ins Unbekannte
»Reality is just a story thats taken on a life of its own.«
— John Constantine, Dez. 1997
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Wüste
Wir verrichten unsere Notdurft des Geistes.
Sand schlängelt durch unsere Venen. Wasser verdunstet vor Schreck.
Unserer Angesicht wird starr, wie unsere Waffen scharf sind;
unser Blut erblaßt in konfuser Langeweile,
unsere fahle Haut nur noch Pergament der Zeit;
unsere Wünsche verfliegen schimmernd,
Hüftschüße der Platzpatronen unserer ungeborenen Tage.
Wir wischen unseren Seelenarsch mit Stacheldraht aus.
In der Ferne ein Luftspiegelungsbollwerk, der Elfengebeinturm unserer Herkunft.
Unsere Worte irren ins Leere, wie die anklagenden Zeigefinger
auf alles deuten was verwirrt, wenn bezeichnet wird um abzulenken;
unsere Gefühle verstecken sind zwischen den endlosen Dünen,
wie unsere Ehrlichkeit vom Wind sachte zerblasen wird;
unsere Sucht dörrt uns aus, wie unsere Inspirationen uns verdursten läßt.
Aus Sand und Lehm matschen wir unsere Labyrinthe;
zerstören uns selbst und helfen den anderen
sich in belanglosen Fallen des Geistes zu verirren.
Ein Vogel umkreist die Aussicht und gibt seine Wunder des Träumens preis;
Konzerte arbeitsloser Musiker trudeln durch unsere Ohren;
Salz träufelt sich auf unsere Gaumen und beißt unser Verlangen.
Wir schreiben unsere Fragen in den Sand.
Lassen uns von der Zeit erhitzen.
Echsen verwischen unser Tagwerk
und krabbeln in blinder Lebenswut
Hyroglyphen auf die Dünen;
der Vogel senkt sich auf den Horizont:
ein Geier. Wie eine Eingebung kommt er,
faltet seine schwarzen Flügel und zerrupft
die Kadaver unserer Erinnerung.
Einige Tropfen Wasser, von einer Wolke vergessen,
verdunsten eh sie glühenden Körpern Kühlung gönnen.
Wenn wir uns treffen in der unendlichen Wüste,
dann laß unsere Körper sich verflechten,
die Schuppen ineinander haken;
abtauchen in den Sand.
Bestandteil dieser Wüste werden.
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Verborgene Orte: Zwei — Zugfahrt & Cafehaus
(Eintrag No. 334; Juvenilia)
Prosalyrische Wanderungen ins Unbekannte
»Reality is just a story thats taken on a life of its own.«
— John Constantine, Dez. 1997
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Zugfahrt…
Aus den Tälern des Geistes
steigen die Nebel des Summens.
Häuser parademaschieren
am Fließband der Schienen.
Bewege ich mich im Zug,
oder gleitet die Landschaft?
Von den Höhen des Schmerzes
tönt das Rattern vom Herz.
& Cafehaus
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Donnerstag, 21. Dezember 2006
Neil Gaiman (& Co): »Marvel 1602«
Eintrag No. 320 — Als Marvel-Banause stehe ich ein bischen dumm, wie der redensartliche Ochs vorm Berg, vor »Marvel 1602« des Autors Neil Gaiman und der Zeichner Kubert & Isanove. Die allermeisten (bestimmt) geistreichen Dinge die, wie ich annehme, Gaiman & Co in dieses Comic eingewoben haben, gehen mir durch die Lappen. Ich merk, daß mir ein Handicap anhaftet, denn meine bisherigen Einblicke in die Welt(en) der verschiedenen Marvel-Helden & Heldinnen & Heldencliquen, reichen eben kaum über den Einblickshorizont hinaus, den die entsprechenden prallen (»Hulk«, »X-Men 1 & 2«, »Spiderman 1& 2«), labbeligen (»Daredevil«, »X-Men 3«) oder kurios-›lächerlichen‹ (»Fantastic Four«, »Elektra«) Spezialeffekte-Vehikel der diversen Marvel-Franchisefilme mir bisher ermöglichten. Ich habe kaum Kenntnis von den ganz alten, den nicht ganz so alten, den jüngeren und aktuellen legendären, umstrittenen oder kultverehrten kürzeren & längeren Erzählsträngen und Saga-Abschnitten des Marvel-Universums (nur vom Hörensagen weiß ich z.B. vom vielseits gelobten »Dark Phœnix«-Epos, das ja im 3. »X-Men«-Film verwurstet wurde). — Alle sich auf Marvel-tümliches beziehenden Anspielungen und Verweise (und davon hat's in diesem Band, wie ich vermute, eine wuselig-wimmelnde Menge) bleiben also, solange ich nicht Gelegenheit habe ein umfassendes Marvel-Comicstudium zu absolvieren, derweil für mich dunkel. Deshalb muß ich wohl ›gestehen‹, daß ich den Eindruck habe, als ob mein großer Mythenmixer-Held Gaiman es sich diesmal ein wenig zu einfach gemacht hat. So richtig spannende, oder lustige oder zünftige (usw) Stimmung will bei mir nicht aufkommen. Obwohl ich sonst Gaimans Sachen schnell mal toll finde, bin ich unterm Strich erstaunt, wie sehr mich die Story, der inhaltliche Gehalt diesmal kalt läßt. Naja: wenn der Marvel-Fan seit Kindeheitstagen Gaiman sich mit seinem bewunderten Gegenstand vergnügt, kann's eben sein, daß ein Marvel-Nichtfan (sondern eben ›nur‹ Ätschn-Phantastik-Leser) wie ich vorm Gatter bleibt.
Aber jetzt ist's genug über das Gezwacke und Gezwicke meiner persönlichen Lese-Position; worum geht's denn in dem Teil?
Sozusagen von Außen nach Innen aufgezwiebelt, finde ich wiedermal verschiedene Genre miteinander vermengt. Marvel: das ist einer der großen, alteingesessenen US-Comicverlagshäuser. Selbst wenn man Comics (oder US-Comics, oder US-Superheldencomics) sonst scheut, sollte zu den Allgemeingrundkenntnissen eines jeden literaturinteressierten Phantasten gehören, daß es in Amiland diese beiden Titanic-Pötte des Superhelden-Genres gibt: DC (Superman, Batman, Justice League, Watchmen) und Marvel gibt.
»Marvel 1602« ist zuersteinmal ein Marvel-Superheldencomic; genauer: ein abgeschlossener Sonderband, der in 8 Einzelheftchen (= Kapiteln) 2003/2004 erschien, und dessen sogenanntes ›Tradepaperback‹ (= Sammelband) ich letzten Monat günstig für 16 Euronen erstanden hab. — Wie, rümpfen Sie etwa die Nase über's Superhelden-Genre?!? Also, da will aber mal ganz bildungshuberisch an Siegfried, Münchhausen, Dr. Mabuse (auch wenn der ein Anti-Held ist), Nick Knatterton, und da ich ein Schelm (und Spider Jerusalem-Fan bin) auch an Schweijk und Baby Schimmerlos erinnern! Womit ich hoffentlich, wenn auch nur fragmentarisch, klar genug andeute, daß die deutschsprachige Literatur und Kultur durchaus über manigliche superheldentaugliche Traditionen, Figuren und Stoffe verfügt. Schande und Schade, daß hierzuland so gar nix zu diesem Genre beigetragen wird. Wenn Sie also noch niemals nie ein Superheldencomic in die Hand genommen haben, ist »Marvel 1602« ein ganz gutes aktuelles Anschauungsobjekt, grad weil's so typisch und zugleich nicht-typisch ist.
Wie schon der Titel zudem verkündet, ist die Story im Jahre 1602 angesiedelt, also haben wir es mit einem Historienstoff zu tun, und weil hier durch ein großes Durcheinander des Raum-Zeit-Multiversums das Marvel-Superhelden-Univerum sich in die historische Mantel- & Degen-Epoche des Spätelisabethanischen Englands ergießt, handelt es sich also zweitens um ein Werk des Alternativwelt-Genres.
Drittens, viertens und so weiter ergibt dann grob gesagt ein munterer Abenteuer-Monomythusreigen den weiteren Inhalt des Comics: In der einen Ecke die Helden, in der anderen die Bösen. Seit dem saftigen »Elizabeth«-Biopic mit Cate Blanchet (dessen Fortsetzung »The Golden Age« ansteht) ist ja klar: The Virgin Queen, auch wenn sie hier schon eine sehr alte Königin ist, und ihre Leut sind die Guten. Berühmt-berüchtigt ist ja Elisabeths I. Geheimdienst gewesen, und so bekomme ich entsprechend das Agenten- und Spione-Genre geboten (Bond & Bourne), sogar in der Ausformung des Staats- & Reichskonflikt-Abenteuers (Tom Clancy & Co.). Der grimmige Soldaten-Stratege, eben Oberagent Sir Nicholas Fury (Hulk?) ist der Chef dieses Geheimdienstes, und er soll auf königliche Order zusammen mit dem Universalgelehrten (Alchemisten, Zauberer) Stephen Strange (Doctor Srange?) herausbekommen, was all die beunruhigend wilden Wetter- und Naturphänomene verursacht, die seit einiger Zeit immer schlimmer werdend auf der ganzen Welt für zunehmende Verstörung sorgen (Also Teilgenre: Weltuntergangs-Szenario bzw. Gloablisierungsreflektion).
Im Schatten ihrer finsteren Burgen bosseln die Bösen derweil an ihren üblichen Welteroberungs-Unternehmen. Da ist einmal der fanatische Große Inquisitor (Magneto), der in Spanien Hexenbrut verbrennt. Mit ›Hexenbrut‹ sind die z.B. aus X-Men bekannten ›Mutanten‹ gemeint. Superhelden funktionieren ja meistens so: Da ist ein normaler Mensch (irgendwer, mit dem oder der sich eine bestimmte Zielgruppe gut idendifizieren kann, deshalb eben auch meist mit gewissen ›menschelnden Verliehrereigenschaften‹ und Achillesfersen ausgestattet), der durch einen schicksalsträchtigen Zwischenfall (Freakstrahlung, Experiment, Unfall) oder eben sogar schlicht evolutionären Mutations-Quantensprung, übermenschliche Fähigkeiten erlangt hat. Dabei kann einiges variiert und mit metaphorischer Spannung aufgeladen werden: sind die Superkräfte dauerhaft zuhanden, oder ›schaltet‹ der Held zwischen einem Normalo- und einem Übermenschen-Modus hin und her (siehe Jeckyll & Hyde)? Und wenn ge-switcht wird, welche Umstände, Emotionen, Reize sorgen für einen kontrollierten bzw. unkonrollierten Wechsel?
Die eigentliche Schirmherrschaft über die gute Hexenbrut hat natürlich Prof. X inne, der Obermentor aller gutgesinnten Mutanten, die keine Pest für die Menschheit sein, sondern ihre Hexenbrutkräfte halt für’s ›Gute Wahre Schöne‹ einsetzten wollen. ›Master Carolus Javier’s Select College for the Sons- of Gentlefolk‹ heißt sein Mutantenstadel allerdings in der Renaissance. Zum ersten Mal bekomme ich den feinen Mottospruch von Xaviers Schule mit:
Omnia mutantur, nos est mutamur in illis.
Die Dinge ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen.
Es sind solche klaren, erhebenen Meme, weshalb ich das Superheldengenre für im Grunde ziemlich wertvoll halte. Zu den großen echten Mutationen, die wir alle durchmachen, gehört nun mal das Älterwerden, der Pupertäts-Übergangsritus vom Kind zum Erwachsenen. Ich denke, daß wer immer auch aus dem Tritt kommt durch erblühende Körperteile, sprießende Härchen und Hormentsunamis, kann sich spielerisch mit Fabelmenschen trösten. Das ist dann der wertvollste und schönste Aspekt der Superhelden: ihre einfachen aber kräftigen Maximen und Parabeln, über solche Dinge wie Verantwortung und Hoffnung.
Noch ein paar Einblicke in den Inhalt, damits nicht heißt, ich fasel hier nur deviant am Thema vorbei. — Ein bischen gegähnt hab ich, als wieder mal die Untergrund-Tempelritter einen Gegenstand von großer Macht aus Jerusalem nach Europa schmuggeln. Ein gutgelaunter blinder Barde (Daredevil) soll sich darum kümmern, daß diese goldene Kugel (siehe Platons Sonnengleichnis) nicht in falsche Hände gerät. — Aus der neuen Welt komm derweil Virigina Dare, die erste dort geborene Untertatin der Königin, zusammen mit ihrem Indianerbeschützer nach England. Virginia will um Hilfe für die Kolonie bitten; außerdem hat sie ein kleines Verwandlungsproblem. — Und es gibt fliegende Segelschiffe; Beobachter des Universums die sich verrenken, um nicht zu direkt in die Geschehnisse einzugreifen; in der Luft schwebende Mœbiusbänder die einen Raum-Zeit-Riss markieren; und vier ganz besonders ›fantastic‹ Helden, die aber erstmal einem Felsgefängnis entkommen müssen.
»Marvel 1602« würde ich am ehesten mit den mir bekannten »League of Extraodinary Gentleman« vergleichen, auch wenn »LGX« — die Comics! — um einiges wilder, bitterer, brutaler, sprich: was für ab 16 sind, wohingegen Gaimans Superhelden/Alternativhistorie definitiv ab 12 (wenn nicht sogar ab 6) ist. Damit will ich nicht sagen, daß »Marvel 1602« lasch und lahm ist. — Kinderkram kann sogar ziemlich ›hart‹ sein. Ich finde z.B. das die beiden »Schweinchen Babe«-Filme (nebenbei: ex-zel-len-te Phantastik) mit zu den härtesten Filmen der letzten 20 Jahren gehören (vor allem Teil 2 mit dem ›Hitlerhund‹; sowas wie »Rambo« oder jüngst »Poseidon« sind im Vergleich dazu harmlose Märchen), und die »Babe«-Filme haben, soweit ich weiß, gar keine Altersbeschränkung. (Bildungsbürgerappell: — Denkt darüber mal nach!)
Bleibt: das Comic ist zum Niederknien schön; die Zusamenarbeit von Andy Kubert (Bleistift) & R. Isanove (digitale Kolorierung) haut mich schlicht vom Hocker: der kunsthandwerkliche ›Vorsprung‹ der (grob vereinfacht gesagt:) Amis verblüfft mich immer wieder. — Aber besonders zum Fingerschlecken find ich die Einzelheft/Kapitelcovers von Scott McKowen, einem Kerl, der sonst eigentlich für z.B. Theaterplakate in New York bekannt ist. Für mich ist er der Star dieses Comics. Genial, dieses Plakat Romeo & Julia oder diese Kinderbuchgestaltungen (cooler Holmes, coole Alice!, und sogar eine gutgelaunte Heidi in den Alpen!!!).
Kleiner Gang durchs Comic:
- 2 Seiten vorwortliche Einleitung von Kritiker und Comic-Akademiker Peter Sanderson (lehr »Comics als Literatur« and einer Uni in New York City);
210 Seiten Comic in 8 Kapiteln (inkl. der Einzelheft-Covers);
2 Seiten Nachwort von Master Gaiman (u.a. über das Vergnügen, an einem schönen Junitag Comics auf einem Boot in der Mitte eines Park-Sees zu lesen);
14 Seiten mit dem Originalmanuspript von Gaiman von Heft/Kapitel No. 1;
12 Seiten mit s/w-Bleistiftskizzen von Kubert;
3 Seiten Erläuterungen von Master McKowen über die Covergestaltung;
1 Seite farbiger Promo-Trailer mit teasernden Dramatis Personae (zumindest der Figuren, deren Auftauchen im Comic nicht als mittleres oder höheres Pa-Hö! und Ah-Ha! inszeniert wird).
Dienstag, 12. Dezember 2006
»Der Eiserne Rat«: Das Blog-Seminar von Crooked Timber über und mit China Miéville. Deutsche Fassung
Eintrag No. 319 — Nach meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Strange un Mr. Norrell«, kann ich heute meine deutschsprachige Fassung der sechs Essays über China Miévilles »Der Eiserne Rat«, sowie Chinas Reaktion darauf anbieten. Das PDF hat 72 Seiten und ist 1,4 MB groß, und gedacht für alle, die lieber in Ruhe soviel Text aufm Papier lesen. — (Tausend Dank von Herzem dem phantastischen TeichDrachen für seine Servergastfreundschaft.)
Falls der PDF-Link Probleme bereitet, schicke ich es auf Anfrage gern per eMail zu. Zwecks Kontakt: siehe Ende dieses Eintrages (oder auch mein Impressum).
Damals, im Januar 2005 bin durch das Seminar zu »Der Eiserne Rat« auf Crooked Timber aufmerksam geworden und seitdem von diesem wunderbaren Akademiker-Gruppenblog hellauf begeistert. Ich will nicht am Niveau der deutschsprachigen Beschäftigung mit Genre-Werken herumnörgeln (denn soooo seicht ist das gar nicht; man klicke sich entsprechend durch meine Linkliste), hoffe aber doch, daß allen, die sich gerne ausführlicher und ›tiefer‹ mit Phantastik, Literatur und der Beziehungen zwischen Ästheteik und Engagement beschäftigen, hiermit ein weiteres sattes Bonbon geboten wird. — Auch wenn es vermessen klingen mag: Ich fände es superb, wenn dieses Format eines Blog-Seminars mit Beteiligung des Autoren vielleicht auch bei uns Schule macht. Ich würde mir dafür gern einen Haxen ausreißen (mit dem Zaunpfahl wink).
Hier Henry Farrells einleitende Worte vom Januar 2005.
Die Namen-Links der einzelnen Autoren und Autorinnen führen zu den englischen Originalfassungen bei Crooked Timber, die Essay-Titel-Links zu den hier in den Kommentaren gelieferten deutschen Fassungen.
Einleitung
China Miéville ist einer der interessantesten Autoren auf den Gebieten der Science Fiction und Fantasy. Sein erster Roman König Ratte[1] greift Drum'n'Bass, Max Ernst[2], Robert Irwin[3] auf und ist im zeitgenössischen London angesiedelt. Sein zweites Buch Perdido Street Station[4], ein von Kraft, Witz und grimmiger Wildheit erfüllter urbaner Phantastikroman, hat das Genre im Sturm erobert, und wurde mit dem Arthur C. Clarke Award[5] ausgezeichnet. Wie Michael Swanwick[6] 2002 in der Washington Post schrieb, ist es »ein bischen frech von mir, ein Buch das erst vor zwei Jahren erschienen ist, als Klassiker zu bezeichnen. Doch ich denke, ich befinde mich mit dieser Behauptung auf sicherem Boden.« Sein dritter Roman Die Narbe[7] erhielt vergleichbares Lob. China Miéville gehört zur offiziellen Auswahl Beste Junge Britische Autoren 2003 von Grantas salon de refusés. Zudem engagiert sich China für sozialistische Politik — er kandidierte für das Parlament bei den letzten Wahlen. Das auf seiner Ph.D.-These basierende Buch Between Equal Right: A Marxist Theory Of International Law[8] wird diesen Monat bei Brill Publishers verlegt.
Im August 2004 erschien Der Eiserne Rat[9], Chinas jüngster Roman. Michael Dirda[10] von der Washington Post beschreibt ihn »als ein Werk, daß sich sowohl durch leidenschaftliche Überzeugung als auch höchste Künstlerschaft auszeichnet.« Vor ein par Monaten hat die Miéville-Fraktion von Crooked Timber beschlossen, daß es Spaß machen könnte ein kleines Mini-Seminar über Der Eiserne Rat zusammenzustellen und China zu fragen, ob er darauf reagieren möchte. Äußerst entgegenkommend sagte er zu und das Ergebnis liegt Ihnen hiermit vor. Wir haben zwei regelmäßige Gastautoren eingeladen an diesem Mini-Seminar teilzunehmen. Matt Cheney blogt über Literatur und Science Fiction bei The Mumpsimus und schreibt darüber hinaus für das Locus Magazin[11] und die SFSite[12]. Miriam Elizabeth Burstein blogt unter The Little Professor, unterrichtet über Viktorianische Literatur an der Suny Brockport Universität von New York. Miriam hat im fortgeschrittenen Verlauf dieser Unternehmung freundlicherweise zugestimmt, sich anzuschließen und eine bereits geschriebene lange Besprechung (auf die China sich unabhängig bereits bezogen hat) zu überarbeiten.
Die Essays hier sind in der Reihenfolge angeordnet, in der China auf sie in seiner Antwort eingeht (wer Der Eiserne Rat noch nicht gelesen hat, sollte wissen, daß vom Inhalt einiges verraten wird).
John Holbo beginnt in seinem Aufsatz Für ein einziges Wort… mit Anmerkungen zur Beziehung zwischen Miéville und Tolkien; dann greift er die Auseinandersetzung von Bruno Schulz über Eskapismus und die Fruchbarkeit unbelebter Materie auf, um dargzulegen, daß China sich bei seinem Mitteilungsmodus nicht zwischen politischer Ökonomie und expressionistischen Puppentheater entscheiden kann.
Belle Waring beschwert sich in New Crobuzon: Wenn du es hier um-modeln kannst…, daß die unerbittliche Grimmigkeit von Miévilles urbanen Schauplätzen und das Schicksal seiner Figuren etwas formelhaft sind; er sollte seine Charaktere vorankommen und vielleicht sogar Erfolg haben lassen.
Matt Cheney hat mit Ausgleichende Traditionen… teilweise eine alte Besprechung überarbeitet, in der er meinte, daß Miéville seine Bösewichter etwas realistischer darstellen sollte; er legt seine Gründe dar, warum Miéville das hätte tun sollen, und beschreibt, wie Miéville Pulp- und Avantgarde-Literatur in seinen Werken miteinander versöhnt.
Mein Essay Ein Argument in der Zeit vergleicht Miévilles Neubearbeitung von Historie, Mythos un Revolution mit Walter Benjamins Thesen zur Philosophie des Geschichsbegriffes.
Miriam Elizabeth Burstein untersucht in Aufhebung von Messiasfiguren, wie Miéville Ideen des Märtyrertums und des Messianismus mit der Figur des Judah Low umarbeitet.
Schließlich schreibt John Quiggin mit Vergangenheit (und Zukunft) um-modeln über Der Eiserne Rat im historischen Zusammenhang, und legt dar, wie der titelgebene Zug des Romans sich zu einem Mythos entwickelt der wiederkehrt um uns zu ›retten‹, so wie auch die revolutionären Traditionen des neunzehnten Jahrhunderts die in Der Eiserne Rat gefeiert werden, weiterhin als Quellen der Inspiration dienen.
Auf all das Vorgebrachte und mehr antwortet China mit seiner Erwiderung Mit einem Sprung sind wir frei….
Dieses Seminar wird unter den Bedingungen einer Creative Common Lizenz 2.0 zugänglich gemacht, wobei gemäß der Gepflogenheiten der angemessenen Verwendung von zitierten Material, die jeweiligen Urheberrechte von Der Eiserne Rat und anderer Werke, nicht verletzt werden.
Dieses Seminar ist auf englisch als PDF verfügbar, für alle, die Texte lieber ausdrucken und auf Papier lesen.
— Henry Farrell, Januar 2005.
Zur Übersetzung des Seminars
Wie schon bei meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Srange & Mr. Norrell«, finden sich die Quellenangaben der angeführten Zitate in den Fußnoten dieser Übersetzung. Zudem habe mir erlaubt, in den Fußnoten diese Übersetzung um hilfreiche Handreiche für deutsche Leser zu ergänzen. Ich hoffe, daß die wenigen Fußnoten der Autoren sich leicht von den Quellenangaben und meinen Handreichungen unterscheiden lassen.
Alle ursprünglichen Fußnoten der Autoren sind wie der Haupttext in normaler Größe wiedergegeben, meine Anmerkungen dagegen wie diese Anmerkung zur Übersetzung in kleinerer Schrift formatiert.
Da ich kein ausgebildeter, professioneller, sondern nur ein (hoffentlich im positiven Sinne des Wortes) ›dilettantischer‹ Hobbyübersetzer und ›Edel-Phantastik-Fachdepp‹ bin, bitte ich etwaige Fehler und Ungereimtheiten, die Ihnen auffallen mögen nicht allzu Übel zu nehmen.
Über entsprechende Korrekturmeldungen würde ich mich freuen und bin im Voraus dankbar dafür.
— Alex Müller / molosovsky, Dezember 2006.
Korrekturmeldungen bitte per eMail an
*molosovsky*@*yahoo*.de
richten (Sternchen weglassen)
Beginn der Arbeit an dieser Übersetzung: 17. November 2006.
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1 King Rat (1998):
König Ratte, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2003. •••
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2 Max Ernst (1891-1976): Deutscher Maler und Bildhauer, Surrealist und Dadaist. •••
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3 Robert Irwin (1928): Amerikanischer Insterlationskünstler. •••
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4 Perdido Street Station (2000): dt. in zwei Bänden als
Die Falter und
Der Weber, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2002; sowie als einbändige Sonderausgabe bei Amazon, 2004. •••
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5 Arthur C. Clarke Award: Seit 1987 verliehener, nach dem Autor von
2001 – Odysse im Weltraum benannter, Preis für den den besten in England erschienenen Science Fiction-Roman des jeweiligen Vorjahres. •••
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6 Michael Swanwick (1950): Amerikanischer SF-Autor. Miéville hat desöfteren Swanwicks ungewöhnlichen Fantasyroman
Die Tochter des stählernen Drachens gelobt (
The Iron Dragon’s Daughter, 1993; dt. Heyne 1996). •••
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7 The Scar (2002): dt. in zwei Bänden als
Die Narbe und
Leviathan, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2004. •••
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8 Between Equal Right: A Marxist Theory Of International Law (2005). Liegt (noch) nicht auf Deutsch vor. •••
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9 Iron Council, 2004:
Der Eiserne Rat, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2005.
Desweiteren dER. •••
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10 Michael Dirda (1948): Amerikanischer Literaturkritiker. •••
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11 Locus – The Magazine Of The Science Fiction & Fantasy Field: Seit 1968 monatlich erscheinendes Fachblatt der SF & Fantasy-Literatur mit Sitz in Kalifornien. •••
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12 SFSite: Angesehene Kanadische Website die sich seit 1996 der Genre-Phanatstik widmet. •••
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