molochronik

Marcel mit seinem Kanon

(Grafimente) - Der Suhrkamp-Prospekt ist für mich seit langer Zeit eine Freudengrube seriöser Überseriosität. Im neusten gefiel mir Marcel Reich-Ranicki mit seinem Kanon, und ich stellte fest, daß ich ihn (Held meiner Kindheit) noch nie gezeichnet habe. Bitteschön.

Marcel und sein Kanon

Marcel Reich-Ranicki and his Canon

Based on a photography in the spring catalogue 2004 of Suhrkamp-Verlag (publishing house of Hesse, Adorno and Brecht). Pope of literature-critics is the inofficial titel of Marcel Reich-Ranicki, who now has published the second box (novellas) of his canon of german literature. The text on the box means »Da most smashing tales from da Germans«.

Verlag mag nicht: Zu Thor Kunkels »Endstufe«

Eintrag No. 44 - Vor wenigen Jahren im Cafe-Rowohlt der Frankfurter Buchmesse: ich hochnervös weil armer Hund stehe inmitten dieser gutgelaunten, einander ästheteisch taxierenden Gesellschaft, es gibt riesige Shrimps auf knoblauchgebutterten Baguetts, netter Cool- oder Bar-Jazz aromatisiert die Athmo. Verschiedene Autoren kommen in der Stehgruppe vorbei, zu der mein Herzelieb Andrea, ich und Freund HelK gehören. Beispielsweise wurde mir da der Herr Spinnen sympatisch wie Lottogewinn, als er mir gestand: »Ja, auf das Nikolaus Heidelbach-Umschlagbild für ›Belgische Riesen‹ bin ih sehr stolz … ja, ich würde mir gerne Originale von ihm zu Hause aufhängen, aber ein echter Heidelbach ist nicht billig.« »Ist er ja auch wert.« »Oh ja, gewiss« — ect.

Normale Gespräche und Begenungen dieser Art, bis auf einmal (endlich) auch ein waschechter irrer Autor für einige Zeit bei uns bleibt. Er redet schnell aber klar, wuschelt ab und an in seinen schulterlangen blonden Wuschelhaaren und erzählt, wie sehr ihn die Schreibarbeit freut, wie geil es ist sich vollkommen dem Manuskriptgebähren hinzugeben, vor dem Textprogramm zu verkriechen, Tür zu, HirnHerzBauchSchwanz auf und klapperdiklapperdiklapper die Buchstaben in das Manuskript hacken. Ich hatte Glück, denn dieser kleine Schreibteufel war Thor Kunkel und ich hatte erst vor wenigen Tagen seinen Erstling »Das Schwarzlichtterrarium« fertiggelesen. Ein großartiger Roman der Ende der Siebziger in Frankfurt/M spielt, und der - ganz kurz gesagt - es durchaus mit Pulp Fiction und Co aufnehmen kann. Ohne daß ich es merke, sind Thor Kunkel und ich am schnellschwätzen und loben/lästern über das Glasaugenschwemme-Cover von Schwarzlichtterrarium und irgendwann beginnt er zu umreißen, was sein derzeit in Arbeit befindliches Buch so bringen werde. »Da gehts umd die Pornogeschäfte der Nazis.« Seit damals gab es in meinem Hinterköpfchen einen Balkon, von dem aus ich manchmal in heimlicher Vorfreude in die Zukunft blickte und mich auf eben dieses Kunkel-Buch freute. Nix da. Nun, Jahre später, sollte endlich im März 2004 (sozusagen wieder als Geburtstagsbuch extra für mich - manchmal muß man sich die Welt zurechtinterpretieren, damit man noch was auf sich halten kann) dieser Roman unter dem Titel »Endstufe« erscheinen. Doch jetzt, so kurze Zeit vor Erscheinensollen macht der Rowohlt-Verlag einen Rückzieher, weil die Matrerie zu heikel ist oder was weiß ich. Genaueres erfährt man wie immer nicht in diesem Dünkelland und so werde ich weiter harren, auf eine Geschichte, in der Nazis mit Projektoren (Klack-Klack-Klack) in Wüstenzelten Scheichen Lichtspiele mit poppenden Herrenmenschen vorführen, in der Hoffnung, daß man für mehr solch rassige Naturkunst Rohstoffe tauschen kann. Wie bei vielem aus der Zeit des Dritten Reiches, glaubte ich zuerst, daß dies fiktiv sei, aber Thor versicherte, daß dies wirklich geschah, er hätte recheriert und sich einige der Pornos vorführen lassen, wäre herumgefahren und was nicht noch.

Romane von Maxim Biller (»Esra«) und Alban Nicolai Herbst (»Meere«) gerichtlich verboten, weil sich Ex-Lebenspartnerinnen der Autoren zu sehr in den Büchern abgebildet wähnen. Wirbel in der Die Andere Bibliothek um das Annonymia- (»Eine Frau in Berlin«) und das »Manieren«-Buch von Asserate, weil einigen Journalisten zu hoch ist, wie Bücher entstehen; oder private bzw. Freimaurerlogen-Pissigkeiten sorgen hier dafür, daß es eine Zeit lang heißt: nicht echt, kolportiert, Mosebach-Ghostwriterei usw.

Und bei anderen Verlagen sind Lektoren und Programmmacher wirklich so blind, dumm und geil, daß sie sich auf sensationelle Enten einlassen (obwohl, z.B. ein ganzes aus der Nase gezogenes Buch eines angeblichen Ex-Stasi James Bond ist keine Ente mehr, sondern eine ausgewachsene Gans).

Angesichts dieser Entwicklung (Donalds Des-Informationskader arbeitet offenbar mal ruckelzuckellos) kann man verstehen, daß Rowohlt Muffensausen hat und »Endstufe« erstmal wieder hintanstellt. Ein bischen Pa-hö um ein Buch ist ja ganz fein fürs damit man darüber spricht und das Ding bekannt wird, aber so mit Gericht und Verbieten und vom Markt nehmen wird das teuer und am Ende hat bustäblich niemand was davon.

Gar grimmig ärgert mich das diesmal, denn Thor Kunkel ist ein sehr guter Autor, ihm traue ich zu, diesen Nazi-Porno-Irrwitz adäquat zu erzählen. Mal schauen: vielleicht wird Endstufe gleich auf Englisch in Übersetzung erscheinen, denn Engländer und Amis sind bestimmt hochbegeistert, wenn sie diese Geschichte in die Hand bekommen. Ich drück Thor Kunkel die Daumen, wünsche dem Rowohlt-Verlag Mut und Glück und Herzeruck, das Buch doch noch zu veröffentlichen: ich habe Ende März Geburtstag.

(P.S. Bericht zu all dem stand heute in SPIEGELonline. Da die aber früher oder später alle Artikel auf Bezahlen-dann-Lesen stellen, habe ich jetzt keinen Link gelegt. Aber bei <a href="hoehereweltenblog.twoday.net" target=_blank">hoeherewelten berichtet auch darüber.)

Nachbemerkung: Inzwischen hat sich - hurrah - der Eichborn-Verlag gefunden und wird nun im April Endstufe erscheinen lassen. Selbst wenn Thor Kunkel sich entpuppen sollte als politisch bedenklich verantwortungsloser oder unumsichtiger Autor, überrascht davon können nur Leute sein, die seine zwei bisherigen Bücher nicht kennen, denn die erfrischende, ihm künstlerische Autorität verleihende Qualität ist gerade seine Amoralität - frisches klares Menschendenken, daß den Chor der Moral im Angesicht des faktisch Realen als heuchlerisch begreift.

Ich sage: Beweist ein Künstler Talent und Können sind seine Werke über Kritik erhaben, Wurscht was für ein Charakterschwein oder Extremist der Küstler ist … natürlich mit Ausnahmen, aber ich denke nicht, daß Thor Kunkel ein Künstler ist, der sich einen Krieg, Genozid oder Weltenuntergang herbeisehnt, ja ihn herbeischreiben will … er scheint mir vielmehr bewußter als die meisten zu spühren, daß unsere so selbstverständliche Zivilisation bereits all dies längst ist und zeigt halt auf Dinge und Probleme, die er interessant findet. Mehr kann/darf man von einem Künstler nicht erwarten.

Die massenhaften Vergewaltigungen der deutschen Frauen sind schlimmer als der Holocaust. Das reizt natürlich das morallische Empfinden, und stellt die geschriebenen und ungeschriebenen Hierarchien an Greul und dem was wir das Böse nennen in Frage. Deutungshoheit muß deshalb verteidigt werden. So aber ist die Kunst: sie deutet auch ohne Hoheit, aus bloßer Faszination widmet sie sich auf Leben und Tod einer erzählerischen Sache, bietet letztendlich immer nur Phantastik.

Letztendlich ist das Thema so ungeheuerlich, daß wohl jeder weiß: Liebe Leut', vergleichen hat hier eigentlich keinen Sinn. Wie ich aus den Berichten erfahre, wird es aber nicht nur solche Vergleiche zwischen Kriegsverbrechen verschiedener Parteien geben, sondern auch solche zwischen damals und heute. Ich vermute mal ins Blaue, daß dieses Buch viel Ablehnung erfahren wird, wegen der zweiten Art von Vergleich, denn keiner möchte aufgeschreckt werden aus seiner Gewißheit, mit den Verbrechen der Nazis liege sowas wie der absolute Nullpunkt der Zivilisationsscheußlichkeiten vor. Jaaa, damals hat die Weltgemeinschaft wirklich mal nicht aufgepaßt, als eben ausgerechnet in Deutschland alle Sicherungen im Mitmenschlichkeits-Sicherheitskasten durchbrannten. Aber seitdem konnte es ja Gottlob nicht mehr SO weit kommen.. Naja, zumindest nicht mehr so offensichtlich. Solange wir aber weltgemeinschaftlich in einer merkantilen Technokratie und nicht in einer altruistischen Amoenokratie leben, wird Menschenverachtung und -mord ein wesentlicher Bestandteil der Zivilisation bleiben.

Hurra, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da

Eintrag No. 42 — China Mieville und sein Roman »Perdido Street Station« haben 2002 meine fast vollkommen erloschene Begeisterung für neue Fantasy/SF wiederbelebt. Ich dachte schon, ich finde nur noch auf dem Totenacker der Literatur mich nicht langweilende oder platt dünkende Genre-Phantastik.

Nun freue ich mich, daß der Bastei-Verlag auch den zweiten Roman aus der Welt Bas-Lag »The Scar« veröffentlicht. Eva Bauche-Eppers hat wiederum die Übertragung ins Deutsche besorgt, und ich habe nach den ersten Dutzend Seiten den Eindruck, daß ihr das anerkennungswürdig gelungen ist, bedenkt man die kurze Zeit (die das Verlagsgeschäft für eine Taschenbuchübersetzung einräumt). Immerhin ist China Mievilles Stil sprachlich und imaginativ recht komplex, überbordend und das Buch ein dickes (engl. Ausgabe: 795 Seiten). Leider konnte die sehr schöne Umschlagsgestaltung des Originals nicht übernommen werden, da der Roman in zwei Teile aufgespalten wurde (Band 1: »Die Narbe«, Band 2: »Leviathan«), aber immerhin wurden die deutschen Umschlagbilder von Arndt Drechsler diesmal passend zum Inhalt gestaltet.

Doch leider sind mir auf dem Weg von Bahnhofsbuchhandlung nach Hause auch schon wieder die ersten Ausreißer aufgefallen:

  • Das Impressum gibt an, daß der erste Band die Kapitel 1-20 enthält. Das letzte Kapitel des ersten Bandes ist aber das sechsundzwanzigste.
  • Der erste Satz im Original: A mile below the lowest cloud, rock breaches water and the sea begins. Daraus wird im Deutschen: Eine Meile unterhalb der tiefhängendesten Wolke mit ihren geblähten Schlechtwetterbäuchen, stürzt Fels lotrecht in Wasser und der Ozean beginnt. - Wie der unterstrichene Teil des Satzes sich aus dem, was da im Englischen steht ergibt, kann ich nicht ganz nachvollziehen … kreativ ist es aber schon.
  • Lustiger Sachfehler auf Seite 101 (dt) wo das englische pirates of pantomime übertragen wurde mit Piraten der Pantomime. In England gibt es in der Winterzeit um Weihnachten und Neujahr die Tradition, lustige Theaterabende zu veranstalten, z.B »King Lear And His Ugly Daughters«. Da wäre Faschings- von mir aus auch Karnevalspiraten besser gewesen. Die Welt Bas-Lag ist ja gehörig phantastisch, aber ich glaube auch dort, hätte eine Schauspieltruppe mit dem Schwerpunkt Piratenpantomome kaum Ruhm.

Aber, weg ihr Nörgelgedanken. Ich bilde mir ein deutlich zu bemerken , daß Frau Bauche-Eppers mit der vielstimmigen Sprache von Mieville vertrauter ist, als noch bei Perdido Street Station. Nicht oft kommt es vor, daß mir das Lesen einer Übersetzung dermaßen Spaß macht. Also ihr Fantasy-Recken und Phantastik-Gourmets: lauft in den Buchladen oder klickt euch diese Romane ins Postloch..

Doch noch ein Fragebogen

Eintrag No. 35 — Freund David hat zehn Fragen zum Thema Bücher beantwortet (hier) und schon bin ich animiert, meine eigene Prognose in den Wind zu schießen, daß es hier wohl kaum mehr als einen Fragebogen geben wird.

•••

1. Welches ist das längste und/oder langweiligste Buch, durch das Du Dich, aus welchen Gründen auch immer, erfolgreich hindurchgekämpft hast?

Tad Williams »Der Drachenbeinthron«-Fantasy-Saga. Vier mal ca. 700-800 Seiten oberöder Tolkien-Abschklatsch. Wollte wissen, was für Fantasy im Mainstream so gelesen wird.

2. Von welchem Autor/Autorin kannst Du behaupten: Von dem/der habe ich wirklich jedes Buch gelesen?

Matt Ruff (sind nur drei: Fool on the Hill / Sewer Gas & Electric / Set This House In Order); J.K.Rowling (sind nur fünf, die Harry Potter-Bücher eben); Laurece Norfolk (sind nur drei: Lempriers Wörterbuch / Ein Nashorn für den Papst / In Gestalt eines Ebers); Helmut Krausser (8 Romane, 2 Kurzgeschichtensammlungen, eine Anthologie, 2 Gedichtbände, 10 Monatstagebuchbände und ein Bilderbuch); China Mieville (wieder nur drei: Perdido Street Station, The Scar, King Rat); Arthur Schopenhauer (was es gibt: also Hauptwerke; Vorlesungen habe ich noch nicht so lang; Handschriftlichen Nachlaß suche ich noch)

3. Welches ist Dein liebster Klassiker (vor mindestens 50 Jahren veröffentlicht)?

Derzeit wohl Balthasar Gracian »Das Kritikon«, erschienen 1651.

4. Welchen Titel hast Du in den letzten Jahren sicherlich am häufigsten verschenkt?

Komme kaum zum Buchverschenken.

5. Von welchem Autoren würdest Du nie wieder freiwillig ein weiteres Buch in die Hand nehmen?

Martin Walser (Tod eines Kritikers gelesen und Auszüge aus Lebenslauf der Liebe, Mesmers Reisen).

6. Welches Buch hast Du mehr als zweimal gelesen?

Ulysses von James Joyce (3 mal englisch, 2 mal deutsch); Melodien von Helmut Krausser (3-einhalb mal und steigend); Welt als Wille und Vorstellung von Schopenhauer (derzeit beim zweitenmal); Unser Kosmos von Carl Sagen (mindetens 3 oder 4 mal seit 15 Jahren); Name der Rose und Foucaultsche Pendel von Umberto Eco (ersteres 3, zweiteres 2 mal). Man sollte öfter Bücher mehrmals lesen. Beim ersten Lesen weiß man doch gerade mal, worum es geht.

7. Welchen Titel hast Du erst nach einigen Seiten beiseite gelegt und dann tatsächlich später nochmals in die Hand genommen und durchgelesen?

Praktisch alle Bücher. Lese sehr viele Bücher gleichzeitig und nur ganz ganz ganz wenige sind dergestalt, daß ich sie ratz fatz an einem Stück von vorne nach hinten lese.

Bemerkenswert war aber »Thanatos« von Helmut Krausser. Das Buch hat nach ca 100 bis 200 Seiten begonnen, mich persönlich anzupöbeln, hat mich fertig gemacht, beschimpft, ausgespottet und ich mußte mich erst eine Weile zurückziehen um genug zu sammeln, dieses schwarze Buch weiterlesen zu können; entwickelte sich noch zu einer düster-euphorischen Lesereise.

8. Wenn man Dich drei Wochen in eine Mönchszelle in Klausur stecken würde, und Du darfst nur drei Bücher mitnehmen, welche drei Titel würdest Du wählen?

Drei Wochen ist doch lächerlich. Aber wenn ich könnte und da demnächst der dritte Teil erscheint nehme ich Peter Sloterdijk Trilogie Sphären (1. Blasen; 2. Globen; 3 Schäume).

9. Bei welchem Titel sind dir schonmal ernsthaft die Tränen (nicht vor Lachen!) gekommen, obwohl es doch nur ein Buch war?

Owen Meany von John Irving; Girlfriend in a Coma von Douglas Coupland; Göttliche Zwischenfälle (Biographie Philip K. Dick) von Laurence Sutin; Der Glöckner von Notre-Dame von Victor Hugo; Besessen von Antonia S. Byatt; ... ich weine, lache, wüte, häme gern schnell und laut beim Lesen.

10. Welches sonst recht erfolgreiche Buch ist Dir bis heute ein großes Rätsel geblieben, d. h. Du hast es einfach nicht verstanden?

Da es mir nicht um ›das Verstehen‹ geht, ›verstehe‹ ich diese Frage nicht ganz. Ich ›verstehe‹ für mich zwar, warum Tolkiens "Der Herr der Ringe" so erfolgreich ist, aber nicht verstehe ich, warum die neue schlechte verzerrende Übersetzung von Wolfgang Kerge so viele gekauft und gelesen wird, und finde den Tolkien insgesammt einen kuriosen Autor, mindestens so wichtig und marginal zugleich wie Joyce.

Ebenso »Minima Moralia« von Theodor W. Adorno. Sicherlich ein interessantes, gedankenanregendes Buch, doch dermaßen hermeneutisch, daß man nach einiger Zeit beginnt, seine eigene Nase zu suchen.

Der schönste Schlußsatz eines Buches

Eintrag No. 34 — Über Kumpel David wurde ich aufmerksam auf den Fragebogen ex Langeweile von Kollege DonDahlmann. Alle meine Antworten gibt es bald, aber hier ein Vorgeschmack, meine längste Antwort auf die Frage nach dem schönsten Schlußsatz eines Buches.

Nu denn...

Prinzipiell weiß ich lange Schlußformeln zu schätzen, doch das Der Demiurg ist ein Zwitter als Ende von »Die Andere Seite« bei Alfred Kubin drängelt sich immer wieder aufs höchste Treppchen meiner persönlichen Schlußsatzpokalverleihung. Aber es gäbe soviele Preise zu verleihen, ich will keine Zeit verliehren...

• Im Namen der Hessischen Drogenwohlfahrt spreche ich (posthum) Arthur Conan Doyle die Auszeichnung für sein bedröhntes Ausklingenlassen in »Das Zeichen der Vier« zu: »Mir«, erwiderte Sherlock »bleibt immer noch die Kokainflasche«, und er streckte seine lange, weiße Hand nach ihr aus.

• Die Spiralmusterplakette der Katholischen Psychonauten geht an Keith Gilbert Chesterton für »Der Mann der Donnerstag war«: Und in der Schwärze, die auf sein Bewußtsein herniedersank, vernahm er nur noch eine ferne Stimme, die einen abgedroschenen, schon irgendeinmal gehörten Satz vor sich hinsagte: »Können Sie aus der Tasse trinken, aus der ich trinke?«

• Für den Schlußsatz: Das ist ein Anfang. aus »Erledigt in Paris und London« von George Orwell, erwartet die Gesellschaft für Humanitäre Paradoxie eine Überweisung des Preisgeldes vom Konto der Orwell-Rechteinhaber auf das Konto der GHP in Höhe von nicht weniger als 10 Euro.

• Der Preis des Klassikerlesezirkels der Deutschen Pathologen für ›Leiche mit Pathos am Buchende‹, geht an Victor Hugo für »Der Glöckner von Notre-Dame«: Als man sein Gerippe von demjenigen trennen wollte, das er umschlang, zerfiel es in Staub.

• Für »Thank goodness!« said Bilbo laughing, and handed him the tobacco-jar. bekommt »The Hobbit« von J. R. R. Tolkien die Auszeichnung Besonders Wertvoll des Pädagogischen Verbandes Europäischer Tabakwarenhersteller.

• Neil Gaiman erhält die Goldene Nadel der Arkadischen Guerilla (Zelle Frankfurt) für: And they walked away, together through the hole in the wall, back into the darkness, leaving nothing behind them; not even the doorway. aus »Neverwhere«.

• Die Stiftung der Erbengemeinschaft Molosovsky vergibt den Amœnokratische-Zukunft-Preis an François Marie Arout aka. Voltaire für: »Wohl gesprochen«, erwiderte Candide, »nun aber müssen wir unseren Garten bestellen.« aus »Candide oder Der Glaube an die Beste aller Welten«.

• Den dritten Platz für ein feines weitschweifiges Ende ergatterte Baltasar Gracian für seinen Schlußsatz aus »Das Kritikon«: Was sie dort zu Gesichte bekamen, welche Genüsse sie dort erwarteten, wer das wissen und erfahren möchte, der gehe selbst Richtung Tugend und Vortrefflichkeit, Richtung Tapferkeit und Heldentum, und er wird am Ende zum Schauplatz der FAMA gelangen, zum Thron der Hochschätzung und mitten hinein ins immer währende Leben.

• Auf dem zweiten Platz für ein geiles weitschweifiges Ende gelangte Arno Ethymhansel Schmidt mit seinem »Gadir oder Erkenne dich selbst«: So schreibt Abdichiba, der Knecht der Knechte vor den großen Suffeten, ich schlage die Stufen Deines Stuhles mit meiner niedrigen Stirn, mein Rücken sei Dein Schemel; gebiete über mich und mein Haus, meine Weiber, meine Töchter und Sklavinnen, meine Söhne, meine Knechte, mein Vieh, mein Vermögen, gebiete über alles, o Liebling des Moloch, o Wonne der Gerechten, Du mein Herr! -

• Hans Pleschinski erhält für das Ende von »Pest und Moor« den ersten Preis. Da klammerte sich in Felljacken und Pelzen Alt und Jung, Groß und Klein, da rieb es sich gaßauf, gaßab, daß der weiße Atem aus den Mündern quoll, ungestüm waren die Bäckersfrauen an den Rücken der Waschweiber zugange, scheuerten die Winterjoppen der Stellmacher über die bunten Joppen der Färber, die Pelzbäuche der Augustiner über die Ärsche der Stadtwache, da blitzen die Funkengarben so wild durch die Luft, daß der Tod geblendet davon die Augen schloß und es durch seinen Schädel tönen hörte: »Los, alles enger zusammen, ja, reib dich feste! Feste!«

••••• {EDIT: Neu formatiert und dabei einige Schlampereien gemerzt.}

Potter per Post

Eintrag No. 27 — Bin gespannt, ob ich hier in Frankfurt, Griesheim Harry Potter Band 5 heute per Post empfangen darf, oder ob ich noch bis Montag (Dienstag, bitte nicht) harren muß, bis ich Harry lesen kann. Amazon hat den Schinken auf jeden Fall irgendwann Donnerstag Nacht, Freitag Herrgottsfrüh verschickt.

Ganz nebenbei, mein Tipp, welche wichtige Figur sterben wird in »...Order of the Phoenix«: Hagrid oder Dumbledore. Das große Geheimnis von Harry ist ja, daß seine Mutter eine Voldemortanhängerin war, die ihren Sohn gegen ihren Meister verteidigte, als der Meister herausfand, daß nur einer seine Macht gefährden kann.

Genug dummes Geraune, sonst beginne ich womöglich noch irgendwann mal recht zu haben.

Babel denotiert in Fabrikhalle

Eintrag No. 24 — Mit Lava in den Adern scheint Helmut Krausser seine Gedichte zu schreiben. Manche mögen die Spannweite seiner Sprache und Bilder als unansehlichen Spagat deuten. Tatsächlich aber hat Helmut Krausser in seinen großen Romanen, Kurzgeschichten und Tagebüchern sich um die Wiederaufnahme einer vernachlässigten Tradition gekümmert: die bewußt strotzende Sprache sowohl Himmelhochjauchzend als auch Hosenruntersehenwollend einzusetzten. Angenehm sein Oszillieren zwischen den Niederungen der Parasitenwelt und der Hingabe für antiken Traditionen.

»Denotation Babel«. 1998 geschrieben ließt es sich seit dem 09. Sept. wie eine Prophetie aus jüngerer Zeit:

»Was wirklich groß ist, geht nur unter, um stärker, unaussprechlicher zurückzukehren [...] als Montsalvat, Neuschwanstein, als Eifelturm, Big Ben, die Skyline von New York...«

Als Wahl-Ff/M-ler hab ich mich wie Schnitzel auf die dramatische Umsetzung dieses Textes gefreut. Bin ja nur selten im Theater, aber wenn das Neuste von Helmut Krausser aufgeführt wird, komm ich gerne bei.

Also ins Schauspielhaus, genauer einer kleinen Außenstelle von denen im Gallus. »Denotaion Babel«, eigentlich ein zehnteiliges Gedicht (hier drinn), ist Helmuts kompaktester Text … das meine ich nur so vor mich hin, diese Einschätzung findet sich so in Helmuts Tagebüchern.

Was tut sich? Drei männliche Stimmen, Veteranen im Archetypencafe, resümieren die wechselreiche Geschichte des Turmes, der sich in den Veränderungen selbst wandelnd in Wahrheit niemals eingestürtzt ist.

Das Trio HCD (Mitglieder des Ensemble Modern) hat für den HR eine Hörspiel- (oder Soundscape?)-Fassung erarbeitet. Besonders schön das Gläsersingenlassen, daß abwechselnde Holzhämmerchenklacken, das Lied vom Fest.

Baff war ich, daß Felix von Mannteufel mit von der Partie war, kenne ich ihn doch schon lange Zeit als eine wichtige Stimme in der Hörspielfassung von »Per Anhalter duch die Galaxis«. So sieht man alte Bekannte zum ersten mal.

Sehr empfehlenswert für alle Freunde poetisch-mythischer Sprach-, Musik- und Klang-Collagen ist die CD (noch amazon.de, aber hier zu finden).

Philip K. Dick: Kurzgeschichten (2)

Eintrag No. 22

(Stories 14 bis 25 von 118)

War krank am Wochenende. Viel mehr als willenlos rumliegen und lesen war nicht. Deshalb heute hier auch schon der zweite Teil der Kurzinhaltsangaben aller 118 Kurzgeschichten meines Lieblings-Science-Fiction-Autors. - {Nach der zehnbändigen Ausgabe des Haffmans-Verlages. Hier zu Teil eins der Zusammenfassungen.}

•••

BAND ZWEI: Kolonie

14. Der unermüdliche Frosch: Professor Hardy und Grote wollen ihren Streit um ein Paradoxon Zenons mit experimenteller Vorrichtung klären. Groty fällt dabei durch die Moleküle, das Experiment schlägt fehl.

15. Die Kristallgruft: Drei terranische Saboteure entführen eine marsianische Ratzentrumstadt als Druckmittel für Freihandelszonenerweiterungsbestrebungen der Erde.

16. Das kurze glückliche Leben des braunen Halbschuhs: Doc Labyrinth erfindet eine Maschine, mit der gewöhnliche Gegenstände zum Leben erweckt werden, mittels des Prinzips der hinreichenden Belästigung.

17. Der Erbauer: Elwood baut ein riesiges Holzboot und wird deswegen von seinen Mitmenschen immer scheeler angeguckt. Ihm selbst ist auch unklar, wofür das Boot gut sein soll, bis der erste große Regentropfen fält.

18. Eindringling: Illegale Zeitsonden zeigen eine Erde in 100 Jahren mit blühenden Muhkuhwiesen, aber gänzlich menschenfrei. Agent Hasting soll den Störfaktor finden und schleppt den Grund (Schmetterlinge!) mit seinem Zeitwagen ein.

19. Zahltag: Zeitschleifenkrimi um einen Mann, dessen Gedächtnis über zwei Jahre Arbeit bei einer Firma gelöscht wurde, und der mit einer Handvoll Krimskrams als Bezahlung mehr anfangen kann, als mit 50 Tausend Credits.

20. Der Große C: Nachdem der Große C vor 50 Jahren das Atom vom Himmel holte und die Erde wüst machte, schickt ein Bunkermenschenstamm wie jedes Jahr einen jungen Mann zum Großen C, um die drei Fragen zu stellen.

21. Draußen im Garten: Für meinen Geschmack sehr unheimliche Eifersuchtsgeschichte, in der ein Mann zunehmend davon überzeugt ist, daß nicht er, sondern ein Erpel der Vater seines Sohnes ist. - {Variation auf das Thema: Leda und der Schwan.}

22. Der König der Elfen: Ein Tankstellenbesitzer aus der Provinz wird König der Elfen und erschlägt den großen alten Troll.

23. Kolonie: Der verzweifelte Kampf der Kolonie von Planet Blau mit Protoplasmalebewesen, die fähig sind, alle Gegenstände zu immitieren. Bitteres Ende, das Gaskammermulmigkeit beschwört.

24. Beutestück: Vier Terraner machen einen planlosen Probeflug mit vermeidlichen Überlichtgeschwindigkeitsschiff der gegenerischen Ganymedier. - {Schöne Homage auf Swifts Guillivers Reisen.}

25. Nanny: Über das Rüstungswettrennen in der Robot-Kindermädchenindustrie.

Philip K. Dick: Kurzgeschichten (1)

Eintrag No. 22

(Stories 1 bis 13 von 118)

Zum Filmstart von »Minority Report« hat der Heyne-Verlag fünf oder sechs Taschenbücher von Dick herausgebracht, darunter auch zwei Auswahlbände seiner Kurzgeschichten, die aber zusammen nur circa die Hälfte der Geschichten von Philip K. Dick enthalten.

Schade schade, daß es auf dem deutschen Buchmarkt nicht möglich ist, eine Entsprechung der fünfbändigen englischen Sammlung der Kurzgeschichten auf den Markt zu bringen... so als Paperback, für zusammen ca. 30 bis 50 Euros?

Bevor er unterging, hat aber der Haffmans-Verlag seine zehnbändige, gebundene Umsetzung der »Collected Stories« abschließen können. Diese Ausgabe habe ich inzwischen kompletamente und werde ihr folgend Zusammenfassungen aller 118 Philip K. Dick-Kurzgeschichten hier reinstellen.

Los geht's.

Nachtrag: Nochmal gezählt und Gesamtanzahl der Geschichten von 119 auf 118 korrigiert. Hier außerdem der Link zum zweiten Teil der Zusammenfassungen.

•••

BAND EINS: Und jenseits - das Wobb

1. Stabilität: Durch ein Zeitschleifenparadox gerät ein Erfinder (in Deutschland) immer tiefer in düstere Alternativwelten.

2. Roog: Ein Hund entwickelte eine Verschwörungstheorie gegen die Müllmänner und will sein Herrchen, wenn auch vergebens, darüber informieren.

3. Die kleine Bewegung: Kleine Spielzeug-Blechmänner wollen mittels Beeinflussung der Kinder die Weltherrschaft erlangen. Doch haben sie nicht mit dem Widerstand der Stofftiere gerechnet. - {Vielleicht eine Anregung gewesen für Toy Story von Pixar.}

4. Und jenseits - das Wobb: Raumschiffbesatzung kauft ein marsianisches Riesenschwein, Wobb genannt, als Proviant für unterwegs. Es entpuppt sich als gern philisophierende sehr hoch entwickelte Lebensform, die sich nur kurz in seiner Konversation unterbrechen läßt, als es geschlachtet und gegessen wird

5. Die Kanone: Heftige H-Bomben-Explosionen künden vom Untergangskrieg einer Zivilisation. Ein Raumschiff besichtigt den Ruinenplaneten und wird von einem automatischem Großgeschütz abgeballert, daß auf alles schießt, was fliegt. Inspiriert von alten Sagen, entdeckt die Besetzung einen Schatz unter der Kanone (= der Drache). - {Sehr Star-Trek-Classic-like, aber in den frühen Fünfzigerjahren geschrieben.}

6. Der Schädel: Zeitschleifenkrimi, in dem der angeheuerte Killer des unbekannten First-Church-Gründers sich in der Vergangenheit als eben dieser entpuppt.

7. Die Verteidiger: Roboter gauckeln den unterirdisch in Atombunkern lebenden Menschen zu deren Besten eine strahlenverseuchte Erdoberfläche vor. Außergewöhnlich optimistisches Ende!

8. Mr. Raumschiff: Alter Professor läßt sein Gehrin als zentrale Steuereinheit in einen Raumschiffprototyp einsetzen, setzt sich mit ehemaligen Schüler und dessen Exfrau ab um Garten Eden zu spielen.

9. Pfeifer im Wald: Auf der Asteroidengarnision Y-3 halten sich immer mehr Besatzungsmitglieder für Pflanzen.

10. Die Unendlichen: Nach der Untersuchung eines eigenartigen Asteroiden, durchleben alle Besatzungsmitglieder eine drastisch beschleunigte Evolution. - {Wer Meerschweinchen im Weltall mag, sollte diese Story kennen. Erinnert mich entfernt an den Plot von Clive Barkers Great and Secret Show.}

11. Die Bewahrungsmaschine: Doc Labyrinth hat einen Weg gefunen, Musikpartituren in Tiere zu verwandeln. Doch Mozartvogel, Bach- und Beethovenkäfer, Brahmsinsekt, Schubertschaf und Wagnertier verändern sich im Wald hinter Doc Labyrinths Haus auf unerwartete Weise.

12. Entbehrlich: Ein Mann wird zuerst Zeuge, dann Opfer eines uralten Krieges zwischen Insekten und Menschen, bei dem Spinnen eine besondere Rolle spielen.

13. Der variable Mann: Mit 99 Seiten eigentlich schon ein kleiner Kurzroman, der vom durch Wahrscheinlichkeitsberechnungen bestimmten Krieg der Terraner gegen die Centauri-Blockade handelt. Die manuelle Rückholaktion einer Zeitsonde befördert unvorhergesehen einen Gelegenheitsarbeiter aus dem Jahre 1914 in die zweihundert Jahre in die entfernte Zukunft, wo er zum entscheidender Faktor für die Entwicklung der Terraner wird.

Gilbert Keith Chesterton: »Der Mann der Donnerstag war«, oder: Bombe und Kursbuch

Eintrag No. 20

Version 1.0 erschienen in »MAGIRA 2003 – Jahrbuch zur Fantasy« , herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. Version 2.0 vom 20. September 2007: Portrait und viele Links eingepflegt, um Verehrerrundschau erweitert Fehler gemerzt.

Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zählt neben Herbert George Wells, Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling zu den klassischen Alleskönnerautoren Englands am Ende der Viktorianischen Epoche bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Wie diese hat er Texte verschiedenster Art hinterlassen, darunter äußerst originelle Beiträge zur Phantastik. Und wie Tolkien gehört er zu den ›schrulligen Katholiken‹ der anglikanischen Insel (siehe die beiden Essay-Bände »Ketzer« und »Orthodoxie«). In Deutschland ist er wohl, wenn überhaupt, vor allem als Erfinder des von Heinz Rühmann (bzw. Ottfried Fischer) dargestellten Pater Brown bekannt. Comiclesern ist vielleicht sein Aussehen bekannt, immerhin leiht sich das die Figur (bzw. der Ort) Fiddlers Green in Neil Gaimans »The Sandman«.

Der Wagenbach-Verlag hat dankenswerterweise »Der Mann der Donnerstag war« wieder mal dem deutschem Leser zugänglich gemacht, wenn auch in einer gewöhnungsbedürftigen Übersetzung aus dem Jahre 1910.

Das 1908 erstmals erschienene Buch handelt vom apltraumdurchwirkten Ringen um eine gesicherte Sicht auf die Auseinandersetzung zwischen Anarchie und Ordnung. Es beginnt mit der Begegnung zweier gegensätzlicher Poeten in einem Künstlerviertel Londons. Der Platzhirsch des Saffron Park, Lucien Gregor, verherrlicht den Archetypen des bombenwerfenden Anarchisten als DEN Künstler schlechthin. Seinem Herausforderer Gabriel Syme dünkt das Chaos aber öde und er preist lieber den Zugfahrplan als Triumph des menschlichen Willens. Gregor möchte nicht nur Konventionen und Regierungen, sondern sogar Gott abschaffen, Syme aber wirft ihm vor, es mit dem Anarchismus nicht wirklich ernst zu meinen. Gregor will Syme von seiner Ernsthaftigkeit überzeugen und Syme folgt Greogor zu einem geheimen Treffen. Beide offenbaren zuvor einander ihre Geheimnisse und geloben Verschwiegenheit darüber. Gregor entpuppt sich als Anarchist, Syme als Geheimpolizist, beide nur als Poeten getarnt. Beklommen stellen die sie fest, daß ihre Angst aufzufliegen und ihre Ehrenworte sie voneinander abhängig machen.

Bei einem Treffen des geheimen Anarchistenzirkels schafft es Syme, Gregor den Posten des Donnerstag wegzuschnappen. Die sieben Oberanarchisten sind nämlich nach den Wochentagen benannt, womit sich der seltsame Titel des Romans erklärt. Montag ist ein Sekretär, Dienstag ein polnischer Fanatiker, Mittwoch ein dubioser Marquis, Donnerstag in Person Symes ein Poet, Freitag ein alter Professor und Samstag ein praktischer Arzt. Anführer ist der monströse Präsident Sonntag, der sich selbst ›den Frieden Gottes‹ nennt. Der Rat beschließt ein Bombenattentat auf den russischen Zaren und den französischen König in Paris, das Syme und Greogor verhindern wollen. Von da an geht es zunehmend drunter und drüber.

Chesterton hatte merklich großen Spaß daran, Atmosphären zu übertreiben und moderne Allegorien zu erschaffen. Nichts ist, was es scheint, und die Verschwörer stolpern von einer Bredouille in die nächste.

Besonders bemerkenswert ist der Oberbösewicht Sonntag, eine grandiose Übersteigerung der Figur des Verbrecherkönigs. Er ist eine prophetische Mischung aus Goldfinger und Groucho Marx, wenn er z.B. bei der finalen dadaistischen Verfolgungsjagd nicht nur immer aberwitzigere Fluchtuntersätze nutzt, sondern dabei auch noch ständig Zettel mit rätselhaften Unsinnsmitteilungen hinterläßt. Durch solche Kapriolen wirkt der Roman über weite Strecken, wie eine Vorwegnahme von höherem Zeichntrickblödsinn. Dabei wird immer wieder auf das Grundproblem angespielt: die unvereinbare Gegensätzlichkeit der menschlichen Wünsche nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit einerseits, nach Freiheit, Individualität und Vertrauen andererseits.

Chestertons satirische Gesellschaftsphantastik ist allemal ein Wiederentdecktwerden wert, besonders anempfohlen in unseren Zeiten, da man als Echtweltbürger feststellt, daß die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos sich immer mehr verwischen, und der Übersichtlichkeit halber amal neu definiert werden müßten. Egal ob man sich (aus welchen Grund auch immer) für Bombe oder Kursbuch entscheidet, die Gegenseite lauert immer und überall.

Meine liebste Fundstelle des Romans illustriert das dialektisch-paradoxe Ideenjoungliervergnügen, das ich mich Chesterton hab. Im ersten Kapitel werden zwei gegensätzliche Dichter — der dandyhafte Anarchist Lucien Gregor und der bürgerliche Ordnungs-Anakreont Gabriel Syme — im Streitgespräch gegenübergestellt.

Gregor: »Ein Künstler ist dasselbe wie ein Anarchist. Man kann auch umgekehrt sagen: ein Anarchist ist ein Künstler. Der Mann, der eine Bombe wirft, ist ein Künstler, weil er einen großen Augenblick allem anderen vorzieht. Er erkennt, wie viel wertvoller das einmalige Aufflammen, der einmalige Donnerschlag einer wirkungsvollen Explosion ist, als die alltäglichen Körper von ein paar Polizisten. Ein Künstler kümmert sich um keine Regierung, er bricht mit jeglichem Herkommen. Den Dichter erfreut nur die Verwirrung. Wäre dem nicht so, dann müßte das poetischte Ding der Welt die Untergrundbahn sein.«

Syme: »[...] Chaos ist öde, weil im Chaos der Zug tatsächlich irgendwohin gehen würde, nach Baker Street oder nach Bagdad. Der Mensch aber ist ein Magier, und seine ganze Magie besteht darin, daß er sagt: Victoria {Station}, und siehe da, es ist Victoria. Nein, behalten Sie Ihre Bücher mitsamt Ihrer Poesie und Prosa und lassen Sie mich einen Fahrplan lesen mit Tränen des Stolzes. Behalten Sie nur Ihren Byron, der die Niederlagen der Menschheit feiert und geben Sie mir das Kursbuch, das ihre Siege verherrlicht.

[...] Sie behaupten verächtlich, es sei selbstverständlich, daß einer nach Victoria kommen muß, wenn er Sloane Square verlassen hat. Ich aber behaupte, daß in der Zwischenzeit tausenderlei Dinge geschehen könnten und ich jedesmal, wenn ich wirklich mein Ziel erreicht habe, den Eindruck habe, mit knapper Not davongekommen zu sein.«

Zitiert nach der Ausgabe bei Heyne »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«.

Und wer mehr von diesem außergewöhnlich unbekannten Werk kennenlernen möchte: hier der ganze Roman auf englisch und noch ein Link zu einer netten Chesterton-Page.

BLICK IN DIE RUNDE DER VEREHRER:

  • Wie klassisch dieser Roman im anglo-amerikanischen Raum ist, und wie lebendig er dort auch von jüngeren Genreationen goutiert wird, führt das Computerspiel »Deus Ex« vor, das u.a. von »Der Mann der Donnerstag« deutlich inspiriert wurde und in dessen Levels der Spieler immer wieder auf Zitate aus dem Buch stößt.
  • Neil Gaiman schreibt in seinem Blog:
    »The Man Who Was Thursday« is one of the most ambiguous books I've ever encountered, and its morals are deeply uncertain.

    (Molos Übersetzung) »Der Mann der Donnerstag war« ist eines der undurchschaubarsten Bücher das mir je untergekommen sind, moralisch zutiefst unbestimmbar.
  • Susanna Clarke zählt »Der Mann der Donnerstag war« zu ihren Lieblingsbüchern:
    Es ist so etwas wie ein sehr aufregender Detektivroman und fast wie ein Gedicht und wie ein theologisches Rätsel — und die meisten Dialoge lesen sich, als hätte Oscar Wilde sie geschrieben. Es ist etwas ganz Besonderes. Die Szenen laufen als eine Serie von Bildern ab — präzise, überraschende, einfache, farbenfrohe Bilder. Es ist wie eine wunderschöne Halluzination oder ein angenehmer Alptraum. Wie in allen Detektivromanen (oder Gedichten oder theologischen Rätseln) können die einfachsten Gegenstände oder Handlungen eine immense Bedeutung haben. Gleichzeitig zeichnet das Buch ein interessantes Bild der Zeit und vermittelt einen guten Eindruck davon, was es hieß, im Jahr 1908 ein dandyhafter englischer Gentleman zu sein.
  • Hierzulande hat z.B. Carl Amery G.K.C. enthusiasmiert bejubelt, wie im Vorwort zu »Der G. C. Chesterton Omnibus 1« (Heyne 1993)
    Chestertons Romane sind, da ist kaum ein Zweifel möglich, durchaus der modernen Form der Science Fiction, das heißt des spekulativen Genres zugehörig. »Was wäre wenn…?« oder auch: »Was wäre gewesen, wenn…?« — das ist die Frage, welche die wundersamen Maschinen dieses Genres in Bewegung setzt. {…} Wer von all den wissenschaftlich orientierten Prognostikern hat die Geburt des Tory-Faschismus (in »Don Quijotes Wiederkehr«), die Islamisierung Englands (in »Fliegendes Wirtshaus«), die totale Abstrusität des Terrorismus und der Terrorismus-Bekampfer (in »Der Mann der Donnerstag war«) so scharfsinnig antizipiert? Wer hat die Schnappfallen des bürokratischen Wohlfahrtsstaates, die Diktatur der psychiatrischen Normalitäts-Festsetzer, die Reduktion der Kunst zu Ware und die Reduktion der menschlichen Geschicklichkeiten durch die gloabe Normierung so gut gewittert und so amüsant ins Erzählerische übersetzt?
  • Michael ›Harry Potter ist superduper‹ Maar zitiert in seinem feinen Rundfunkessay für den SWR den Chesterton-Kenner Joachim Kalka, der folgendermaßen »Der Mann der Donnerstag war« lobpreist:
    Der {Roman} hat viel von genialer Kolportage. Das eigenartige Lächeln des Montags, des Sekretärs, der nur auf einer Seite des Gesichts den Mund verzieht, erscheint später großartig als coup de théatre. Ganz in der Ferne scheint es, als ob man eine Menge von Verfolgern drohend herandringen sähe; die Helden mustern den Auflauf unruhig durchs Fernglas. Die Anführer tragen schwarze Halbmasken. Und »schließlich lächelten sie während ihres Gespräches alle, und einer von ihnen lächelte nur auf einer Seite.« An solchen Momenten, in denen es den Leser leise überläuft (…), ist das Buch überreich: Maske und Duell, Attentat und Flucht, Hetzjagd und Verschwörung. Es ist kennzeichnend für Chestertons Werk, daß die stärksten Wirkungen im Ineinander von romance und Reflexion liegen.
  • Und in »Cicero« (Sept. 2007) begeistert sich Daniel Kehlmann (nebenbei auch erfrischend über die hiesige Verlagslandschaft spottent) für Chestertons Alptraum, indem er z.B. schreibt:
    Ein aktuelles Buch? Aber natürlich — denn es geht um Terror und terroristische Geheimorganistaionen, es geht um den Übereifer bei der Verfolgung des Bösen, es geht darum, dass Zivilisation und Glauben plötzlich selbst jene Gefahren sein können, vor denen sie uns schützen wollen.

•••

Der Mann der Donnerstag war (The Man who was Thuesday, 1908) aus dem Englischen von Heinrich Lautensack; 192 Seiten; Taschenbuch; Wagenbach-Verlag; Berlin, 2002. oder antiquarisch z.B.: übersetzt von Bernhard Sengfelder in der Bearbeitung, einem Vorwort und herausgegeben von Carl Amery; zusammen mit »Der Held von Notting-Hill« in »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«; 428 Seiten; Taschebuch; Heyne, ›Bibliothek der Science Fiction Literatur‹; München 1993. — Aufgrund der deutlich flexibleren, klareren Sprache zu bevorzugen.
Sie sind nicht angemeldet