Tom Shippey: »J. R. R. Tolkien – Autor des Jahrhunderts«
Eintrag, No. 529
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Der vorherrschende literarische Modus des zwanzigsten Jahrhunderts war der des Phantastischen.
Mit diesem prächtigen Satz eröffnet Tom Shippey (*1943) seine große Führung durch das Schaffen und die Gedankenwelt des Mittelerdemeisters. Zugestanden: meine Begeisterung für Tolkiens Werk hält sich in Grenzen, aber das mindert nicht meine Faszination für diesen schrullig-konservativen Kreativ-Revolutionär der Phantastik. Trotz der Bedenken die mich zu vielen Aspekten von Tolkiens Fantasy umtreiben, teile ich die empörte Verdutzung der Phantastophilen über die ignorante Ablehnung und das zickige Unverständnis, mit der sich das ›literarische Establishment‹ größtenteils dem Papa Hobbit nähert[01].
Andererseits finde ich es genauso beunruhigend, wie Teile des Mikromilieus der Genre-Phantastikfans Tolkien unbekümmert nach jeweiliger Lust und Laune zurechtbiegen. Zugestanden: sich mit eigener Interpretation und Aneignung für ein Werk zu begeistern, oder simpel gesagt: für sich zu entdecken, schafft neue Perspektiven auf dieses Werk (auch für andere Leser, wenn man sich austauscht), aber dennoch bleibt es eine wichtige Orientierungsmarke, wenn man Schwammigkeitsriffe und Wischiwaschistrudel zu meiden trachtet, was denn ein Autor mit seinem Werk beabsichtig hat. Auf meinen Warnschildern an der Tolkien-Interprationsgrenze zum Unsinn stünde z.B. »Pfeiffenkraut ist kein Mittelerde-Marihuana!« und »Tolkien ist kein Pionier neuheidnischer Popular-Spiritualität!«.
Nun bietet Tom Shippey als einer der angesehensten, lebenden Tolkien-Experten mit seinem Buch angenehm verständliche Erläuterungen zum Mittelerdewerk[02]. Ein besonderer Glücksfall, denn nicht nur wandelt Shippey als Gelehrter für angelsächsische Literatur auf den gleichen Pfaden wie sein Vorgänger Tolkien, darüber hinaus ist Shippey selbst Herausgeber von Phantastik und (unter dem Pseudonym John Holm) auch ein Fabulierer. Er blickt also sowohl aus der Vogelperspektive akademischer Gelehrsamkeit, als auch aus der Froschperspektive schriftstellerischen Erzählens auf die Thematik. Skeptisch-bockige Verächter und überbegeisterte Zurechtdeuter können die Bröselig- oder Festigkeit ihrer Vorurteile anhand dieses Sachbuchs prüfen.
Der Hauptteil des Buches gliedert sich (weitestgehend chronologisch) in sechs Kapitel. Alles beginnt mit der eintönigen Korrigiererei von Studentenarbeiten, einer leeren Blattrückseite und einem gelangweilten John Reul Roland der gedankenlos einen Satz hinkritzelt, und ich meine natürlich: Alles beginnt mit dem »Loch in der Erde in dem einst ein Hobbit lebte«. Woher kommt das Wort »Hobbit«, und was soll man von anachronistischen Vokabeln wie »komfortabel«, »Tabaksdose«, »Postzustelldienst« und »Pfiff einer Lokomotive« in »Der Kleine Hobbit« halten? Hier ein Beispiel für Shippeys willkommenes Orientierungsgeschick:
Ein Autor, der eine Erzählung vor dem Hintergrund einer fernen Zeit darstellt, wird oft finden, dass die Kluft zwischen dieser Zeit und dem Bewusstsein des modernen Lebens allzu groß ist, um sich leicht überbrücken zu lassen; und folglich wird dann in den historischen Rahmen eine Gestalt von wesentlich modernerer Haltung und Empfindungsweise eingeschleust, die den Leser in seinen Reaktionen anleitet und ihm hilft, sich vorzustellen, ›wie es wäre‹, dabei zu sein.«
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Bilbo, dieser bequeme Mittelschichtbürger der viktorianisch-edwardischen Epoche, dient als »Spiegelteleskop in eine fremde Welt«[04], und fühlt sich entsprechend Fehl am Platze in dem archaisch-heroischen Reich von Mittelerde. Wortklaubereien behagen nicht jedem, aber wer eben von Tolkien diesbezüglich infiziert wurde, wird bereits in diesem ersten Kapitel reichhaltig verköstigt, mit Interessantem zu Begriffen wie Baggins (altes Nordenglisch für Brotzeit), oder »burglar« und »bourgeois« (der eine bricht in Burgen ein, der andere wohnt darin). Aufregend fand ich zum Beispiel auch, wie Shippey zeigt, dass die Schlacht der Fünf Heere im Grunde viele Wendungen des Ersten Weltkrieges in eine Pfeil und Bogen-Szenerie versetzt. Da organisiert Bard wie ein Infanterie-Offizier die kollektive Abwehr, da wird bis zum letzten Pfeil gekämpft (statt bis zur letzten Kugel) und werden Stellung gehalten, und Shippey resümiert diese Schlacht entsprechend:
Zwar ist der Sieg am Ende einem einzelnen und seiner von den Ahnen ererbten Waffe zu verdanken, doch liegt der Nachdruck der Schilderungen auf dem kollektiven Handeln, auf Planung und Organisation – mit einem Wort, auf Disziplin.
[05]
Mit Spekulationen über den Zusammenhang von alten Wörtern für Höhlenbewohner (Holbytla), Hasen und Hobbits schließt Shippey das erste Kapitel ab, und verdeutlicht dabei, dass Tolkien daran gelegen war, eine Brücke zwischen Moderne und Vergangenheit zu bauen, und wie gut ihm das mit den Hobbits geglückt ist.
Als Herzstück des Buches folgen nun drei Kapitel über »Der Herr der Ringe« (desweiteren der Knappheit wegen HDR abgekürzt). Da (verständlicherweise) wohl kein deutscher Verlag auf absehbare Zeit (wenn überhaupt jemals) das Risiko und die ungeheuere Anstrengung wagen wird, die komplette dreizehnbändige »HISTORY OF MIDDLE-EARTH« zu übersetzen, sind diese Kapitel für alle, die sich hierzulande tiefer mit dem wichtigsten (wenn auch bei Weitem nicht einzigsten) Keimtext der heutigen Fantasy auseinandersetzen wollen, ein wunderbare Speisung, ein ausführlicher Ersatz für den editierten Nachlass. Zuerst widmet sich Shippey Tolkiens Tastversuchen um Struktur und Handlungsplan von HDR. Es ist eine verwickelte Queste für sich, wie sich Tolkien von Dezember 1937 an, Welle um Welle, lange Zeit planlos, mehrmals immer wieder von Vorne beginnend, langsam bis zur 1954/55 veröffentlichten Endfassung durchwurschtelte. Mit seiner Autopsie des Rats von Elrond (dieser unübersichtlichen Vorstandssitzung) verdeutlicht Shippey, dass dieses Kapitel in zweifacher Hinsicht einen bedeutenden Wendepunkt bezeichnet: erstens für Tolkien selbst, der bei seiner Arbeit an diesem Abschnitt endlich klare Sicht auf die großen tragenden Handlungssäulen seiner Wortkathetrale erlangte; zweitens als Wegscheide der Handlung, die mit der Mission der Ringzerstörung nun ein klares Ziel bekommen hat. Selbst für mich als Tolkienskeptiker ist es ein unterhaltsamer Unterricht, wie Shippey die ungeheuerlich unkonventionelle Komplexität von Tolkiens Schöpfung am Beispiel dieses Kapitels erläutert. In den beiden nächsten Kapiteln über die ideologischen und dann die mythologischen Dimensionen von HDR, legt Shippey die großen Themen aus, die Tolkien umtrieben. So zum Beispiel die quälende Menschheitsfrage nach dem Ursprung des Bösen, und warum es so viel Leid und Schmerz in der Welt gibt. Wie kann Gott das gewollt haben? Shippey zeigt, dass Tolkien sich dieser erzphilosophischen Probleme und Prüfungen des Glaubens annimmt, indem er zwei christliche Vorstellungen des Bösen, die ihn beschäftigt haben, gegenüberstellt: Erstens die orthodoxe Auffassung z.B. eines frühchristlichen Denkers wie Boethius, derzufolge das Böse keine eigenständige Wesenheit besitzt, nicht wirklich selbst etwas schaffen kann und nur durch die Abwesenheit des Guten Gestalt annimmt; zweitens das Gebäude des manichäischen Dualismus, demzufolge das Böse durchaus eine eigenständige dunkle Macht, und das Erdenrund ein Schlachtfeld des ewigen Kampfes zwischen Licht und Finsternis ist. Im Detail findet sich dieser Gegensatz z.B. in der Widersprüchlichkeit des Meisterringes wieder. Ist Saurons Über-Gadget ein psychischer Verstärker für unbewusste Ängste und egoistische Regungen? Oder ist der Ring selbst ein Charakter mit eigenem Willen? Auch als Nichtchrist kann einem dieses Beispiel Respekt für den Künstler Tolkien einflößen, wie er mittels dieses unentschiedenen Gegensatzes die zweifache Bitte um Schutz vor inneren und äußeren Versuchungen des Vater Unser-Gebets verarbeitet[06]. Beim Aufdröseln der mythologischen Dimension von HDR kommt Shippey schließlich auf zwei Vermittlungsambitonen Tolkiens zu sprechen. Einerseits war Tolkiens Anliegen, Verständnisbrücken zu errichten, zwischen christlichem Glauben und vorchristlicher heroischer Literatur (der sich J. R. R. und seine Inkling-Freunde, wie wir heute sagen würden, als Fans gewidmet haben), und andererseits zwischen christlichem Glauben und der nachchristlichen Gegenwartswelt (als welche der von den Schrecknissen der Moderne Traumatisierte seine Zeit empfand). Sozusagen locker nebenher liest sich das alles aber auch wie eine kleine (englische) Literatur- und Ideengeschichte, wenn Beziehungen zwischen Tolkiens Werk und solchen Klassikern wie Milton, Shakespeare und natürlich immer wieder »Beowulf« und die nordischen Sagas geknüpft werden.
Mit den beiden letzten Kapiteln leistet Shippey entsprechende Klärung zum »Silmarillion« und den kleineren Schriften Tolkiens. Da ich hoffentlich bereits genug Beispiele der klugen Beschäftigung Shippeys mit den Eingeweiden von Tolkiens Weltenbau angeführt habe, möchte ich das Augenmerk der geneigten Leser nun lieber auf die Einleitung und den Epilog von Shippeys Schatzkiste von einem Buch lenken. Diese beiden Teile sind nicht nur für Leser von Interesse, die ihre Sicht auf Tolkien schärfen möchten, sondern schildern anregend den merkwürdigen literaturkritischen Diskurs zu Tolkien und Phantastik. Shippey geht den Argumenten der Kritiker Tolkiens und dem überraschenden Erfolg vor allem von HDR auf den Grund, mit (wie ich finde) einer erfrischenden Portion streitbarer Plausibilität. Die Begeisterung des Publikums für Mittelerde wird drastisch kontrastiert durch die Ausgrenzung der Mehrheit der Gärtner der so genannten ernsthaften Literaturzirkel. Ein Exempel für die gespaltene Zunge der Kritik liefert Shippey z.B. mit Philip Toynbee, der 1961 in einem Artikel für die »Times« schrieb, dass die Kriterien, die ein guter Schriftsteller zu erfüllen habe, sein sollen:
- ein Privatmann zu sein, der sich nicht ums Publikum schert;
- er solle über alles schreiben und damit relevant machen können;
- er solle ein Artefakt schaffen, dass zuvörderst ihn selbst zufriedenstellt;
- und schließlich soll dieses Werk dann bei seinem Erscheinen schockierend, verblüffend und etwas für das Bewusstsein der Öffentlichkeit Unerwartetes sein.
Und dann tadelt dieser Toynbee im selben Jahr Tolkien, und war sich sicher, dass dessen Bewunderer ihre Mittelerde-Aktien bald wieder loswerden wollen, weil der ganze »Irrsinn« bereits der Gnade des Vergessens anheimfällt[07]. Shippey findet es kümmerlich, dass es Autoren wie James Joyce oder T.S. Eliot nicht angekreidet wurde und wird, dass sie ihre klar erkennbar modernen Werke mit Motiven alter Mythen und Sagen angereichert haben, genau dies aber gern gegen Tolkien angeführt wird. Und am ärgerlichsten: diese Ressentiments werden kaum jemals ordentlich begründet, und so vermutet Shippey, dass die damaligen Vorurteile der zumeist linksorientierten, protestantischen Literatur-Cliquen aus besserem Hause, gegenüber dem aus einfacheren Verhältnissen stammenden Katholen Tolkien für diese Betriebsblindheit verantwortlich waren, und sich diese Rhetorik gut eingeschliffen bis heute erhalten hat.
Wenn die Phantastik als Ganzes angegriffen wird, stelle auch ich Tolkien-Skeptiker mich beherzt auf die Seite des verständigen, aber alles andere als oberflächlichen Fürsprechers des Mittelerde-Meisters Shippey. Immerhin kann auch einer, der Tolkiens Werk für doof hält, die eigenen Argumente an so einem klugen Kenner wie Shippey schärfen. Nur zu gern habe ich mich von der Shippey-Lektüre zu »Hausaufgaben« anstiften lassen: z.B. mal mit Boetheus-Lektüre anzufangen und die Kurzgeschichten von Tolkien auf Englisch anzuschaffen und neuzulesen. — Abschließend möchte ich noch ganz unaufgeregt einem Wunsch Ausdruck verleihen: Eine günstige Taschenbuchausgabe von »J. R. R. Tolkien – Autor des Jahrhunderts« wäre sehr fein (und wenn’s noch’n büschen dauert bis dahin), denn immerhin kostet die gebundene Ausgabe 25,- € und es wäre schön, wenn ein verführerischer Taschenbuchpreis von ca. 12,– € weitere Leserkreise verführte, sich einmal »ernsthaft« mit dieser prominenten Zweitwelteschöpfung auseinanderzusetzen. Aber selbst wenn so eine Taschenbuchausgabe nicht zustande kommen sollte, ist es schön zu wissen, dass Klett-Cotta auch Shippeys »Der Weg nach Mittelerde« im Herbst 2007 auf Deutsch zugänglich machen wird. Ich freue mich schon darauf.
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ANMERKUNGEN:
[01] Hier zum Sich-gruseln die ersten Zeilen des exemplarisch zickigen und unverständigen Eintrags in Frank Schäfers »Kultbücher« (Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2000, S. 81ff):
Ein riesiger, stofflich ausufernder, immerhin dreibändiger Schmarrn der erst 1969 ins Deutsche übersetzt wurde, was einigermaßen erstaunlich ist, denn der notorische Nachkriegs-Eskapismus wäre mit diesem atavistischen {gemeint ist vulgo: »rückständigen«, womöglich sogar »zurückgebliebenen« – Molo} Pseudo-Mathos doch eigentlich auch recht gut bedient gewesen. So erlößte jene Romantrilogie die meisten deutschen Traumtänzer und Schwarmgeister erst in den 70er und 80er Jahren (im Gefolge des Fantasy-Booms) aus ihrer Realitätsstarre und schickte sie auf eine weite Reise nach »Mittel-Erde«.
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[02] Shippey ist mir schon bei den Dokumentationen der Jackson’schen
»Special Extended Edition« von
»Der Herr der Ringe« angenehm aufgefallen. – Ich gestehe freimütig: Tom macht als leidenschaftlicher Experte bei diesen Dokus auf mich einen herzerfrischend sympathischen Eindruck. Vom Team des ganzen Verfilmungszirkus traue ich nur den beiden Künstlern John Howe und Alan Lee, sowie Christopher Lee zu, eine mit Shippey vergleichbare sinnfällige Schau auf Tolkiens Schaffen zu haben. •••
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[06] »Führe uns nicht in Versuchung / und erlöse uns von dem Bösen.« •••
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[07] Knuffig auch Hermann Hesses Urteil 1922 über E. A. Poe:
Die ganze ihm nachfolgende Literatur des Grauens und der Phantastik wird rasch wieder untergehen.
»Schriften zur Literatur« ••• Zurück
Max Brooks: »Weltkrieg Z. Eine mündliche Geschichte des Zombiekrieges«
Eintrag No. 528
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Manche Medienwerke sind bewundernswert, weil sie sehr gut gemacht sind. Ein Gemälde kann inhaltlich fad sein, und doch bereiten Komposition und Farbhandhabung Genuss. Ein Film kann mau dahin dümpeln, aber die Kameraarbeit, oder die Musik oder die Darstellungskunst eines Schauspielers vermögen zu beeindrucken. Ein Buch mag nur eine belanglose, flache Geschichte erzählen, jedoch versteht es die Sprache uns zu fesseln.
Umgekehrt gibt es Werke, die zuallererst durch eine brillante, umfassende, neue Perspektiven eröffnende Idee auffallen. Der Amerikaner Max Brooks (1972) hat es mit seinem »World War Z – An Oral History of the Zombie War« vollbracht, mich dementsprechend umzuhauen, meinen respektvollen Neid und somit meine Begeisterung zu entfachen, indem er die in den letzten Jahren schier unübersichtlich angewachsene Epidemie von Zombiestoffen um ein grenzgeniales Meisterstück bereicherte.
Wermutstropfen und Grund zu Uffregung über hiesige Lektorat- und/oder Vermarktungsentscheidungen: Der deutsche Titel, »Wer länger lebt, ist später tot – Operation Zombie«, mit dem der Goldmann-Verlag das Buch bei uns in die Läden schickt, legt irrigerweise nahe, dass man es zuvörderst mit einem locker-schwarzhumorigen Schmunzel-Witzebuch zu tun hat. Auch wenn Humor in Max Brooks Zombie-Buch durchaus hie und da durchschimmert (kein Wunder, ist er doch der Sohn von Mel Brooks und Anne Banecroft), handelt es sich dabei doch mehr um bitter-galligen Humor.
Zombies: diese herzig-schaurigen Mob-Monster haben sich etwa mit dem Beginn des neuen Milleniums wunderbar zu einer Großmetapher für Spannungen und Probleme der so genannten Globalisierung gemausert. Wir erinnern uns: die ›klassischen‹ Zombies ab den Fünfzigern/Sechzigern waren ziemlich träge und ließen sich prima als phantastische Horror-Illustration für willenlose Konsumenten- und Konformationsträgheit deuten.
Die moderne Zombies seit der Jahrtausendwende aber rennen geschwind den lebenden Hirnträgern nach (wie im Remake von »Dawn of the Dead«, in »28 Days Later«), und entwickeln sogar Ansätze von Kooperation und Deduktion (wie in »Land of the Dead«). Verschiedentlich wurden diese flinkeren, wütenden Zombies durchaus einleuchtend als Metapher für ebenso zornige Globalisierungskritiker gedeutet. Jedoch, finde ich, liegt darin eine interessante Doppel- wenn nicht Vieldeutigkeit, denn Zombies können eben für alles mögliche stehen: willenlose Hinterherläufer (»Keiner will denken, aber alle wollen Menschenfleisch fressen. Ich auch.«), wütende Rebellen (»Wir sind die ehemaligen Konsummondkälber die wegen schlechter Arthaltung jetzt mit Tollwutgeifer zurückbeißen«), entmenschlichte Egoisten (»Schießt ruhig. Hauptsache, ich krieg Menschenfleisch«) und und und.
Zwar bleiben die Zombies bei Max Brooks dem klassischen Zombiebild treu, aber seine dolle Idee, mit der er dem Genre enorm viel Neues abgewinnt, wiegt das locker auf (wobei ich zweifele, dass es bei Brooks’ Buch überhaupt einen gröberen Makel gibt, den es wett zu machen gilt). Normalerweise spielt die große, nation-, kontinent- oder weltweite Untoten-Pandemie eine dekorative Rolle im Hintergrund von Zombiegeschichten. Üblicherweise begleitet eine solche Geschichte über einen kurzen Zeitraum eine Handvoll Menschen, wie die sich eher schlecht als recht in einer Welt durchschlagen, -ballern, und -schnetzeln, in der plötzlich die Toten mit großem Hunger herumwackeln.
Brooks erklärt im Vorwort von »World War Z«, dass er nach dem großen Zombiekrieg von den Vereinten Nationen beauftragt wurde, einen Bericht über selbigen zu schreiben. Allerdings haben seine Vorgesetzten gemosert, sein Manuskript enthielte zu viel »menschelnde Anteile«, man wolle nur die harten, kalten Fakten, die Zahlen. Mitnichten wolle man es aber Brooks verbieten, das Material seiner Interviews in einem eigenen Buch zu verarbeiten. Dieses Buch halten wir Leser nun in Händen. Brooks nimmt sich selbst zurück und präsentiert uns in 58 Studs Terkel-artigen Interviewtranskripten[01] eine ungewöhnlich facettenreiche Geschichte des weltweiten Zombiekrieges.
Auch ohne Zombies böte Brooks Buch genug Grusel, denn es scheut sich nicht, konkrete Mißstände zu beschreiben, die auf enthemmtem Nutzen des globalen Handels- und Kommunikationsnetzwerkes gründen. So hat die Zombieseuche markanterweise ihren Ursprung irgendwo im Herzen Chinas. (Regelmäßig trachten Apokalyptiker danach, uns Erstweltbürgern heiligen Schrecken vor einem gedankenlosen »Weiter so!« unseres Zivilisationsstandarts einzuflößen, wenn wir uns der schrecklichen Konsequenzen gewahr werden sollen, dass die lebenstragenden Qualitäten von Mutter Erde schnell gänzlich erschöpft würden, sollten die Menschenmassen Chinas fortfahren mit ihrem Anliegen, unseren Konsum- und Verschwendungslebensstil nachzuahmen.) Die ersten Untoten steigen aus den Wassern eines Stauseegebietes, einem jener künstlichen Fortschrittsgewässer, die den wachsenden Energiebedarf Chinas sichern sollen. Die Chinesen halten die Zombies, wie die gegen sie gerichteten Säuberungsaktionen, natürlich erstmal fatalerweise streng geheim. Auch im weiteren Verlauf des Romanes ist Kritik an bisherigen Praktiken der materiellen und informellen Ressourcehandhabung ein Dauerthema. Die Schattenseiten einer entgrenzten und unzureichend überwachten Logistik schildert ein bald folgendes Interview, in dem ein Assistenz-Arzt erzählt, wie auf der anderen Seite der Welt, in Rio, ein tiefgefrorenes, chinesisches Zombievirus-tragendes Spenderherz (für einen riechen Österreicher über eine Schwarzmarkt-Connection aufgestöbert), für den ersten Zombie in Brasilien sorgt.
Freilich wäre es überspannte Verlobudelung zu behaupten, dass jedes der 58 Interviews eine Gemme für sich ist. Aber richtige Nieten gibt es keine, ja nicht mal seichtes Mittelmaß. Zu den Höhepunkten zählt aber sicherlich die eine kleine Reihe an Gespräche mit dem US-Army-Veteran Todd Wainio, der verschiedene Phasen des vieljährigen Überlebenskampfes gegen die Zombies mit seinen Berichten anschaulich schildert: vom desaströsen Versagen der noch unerfahrenen Streitkräfte beim ersten Kontakt mit einem womöglich millionenköpfigen Zombieschwarm, der sich von New York aus ins amerikanische Landesinnere bewegt, über seine Beurteilung der einige Jahre später erheblich verbesserten Taktik der Antizombiekampfverbände, bis hin zum zähen Wiedererschließen beim langsamen Säubern der aufgegebenen Städte. — Atemlos habe ich die Erlebnisse des als Jungen von der Hiroshimabombe geblendeten Japaners Sensei Tomonaga Ijiro gelesen. Alleine schafft er es trotz seiner Blindheit mittels Bewahrung eines kühlen Kopfes und Vertrauens in die Naturgötter eines Naturschutzgebietes zu überleben. Wahrhaft un-glaub-lich.
Sicher ist, dass Brooks für alle Horror- und Zombiefans exquisite Schock- und Gruselpassagen bietet. Erstaunlich jedoch, dass die typischen Gruseleien eigentlich recht rar (wenn auch geschickt) gesetzt sind. Im Laufe des Buches tritt deutlicher eine andere Art von Grauen in den Vordergrund, die Konfrontation mit den von Brooks vorgeführten menschlichen Abgründen, sowohl individueller wie institutioneller Art. Zum Beispiel, wenn in seinem Arktis-Exil ein gerissener Geschäftemacher zu Worte kommt, der die Furcht vor den Zombies ausnutzte um mit wirkungslosen Impfstoffen noch schnell Geld zu scheffeln bevor alles zusammenbrach; oder wenn die Sträflingssoldaten russischer Zombiesäuberungstrupps die unmenschlichen Disziplinierungstyrannei in ihren Lagern schildern. — »World War Z« gelingt es, dass sich im Hintergrund ein Grauen zusammenballt, wenn so manche dunkle Ahnung und Stimmung beschworen wird, wie es zuginge, (oder in absehbarer Zeit zugehen wird), wenn die zivilisatorischen Polster und Zügel verschwinden, und unzählige Menschenmassen sich wegen virulent ausbreitender Fanatismen, knapper werdenden Rohstoffen und rapide schrumpfenden Überlebensräumen, panisch gegenseitig an die Gurgel gehen.
Kurzum: Ein vielseitig unterhaltsamer Zombietitel, der wegen seiner Sensibilität für gesellschaftliche Probleme und gerade durch sein Augenmerk ›menschlichen Faktor‹ auch für Nicht-Zombiefreunde empfehlenswert ist. Ein wundervolles Beispiel dafür, wie man mit phantastischen Großmetaphern spielerisch und zugleich engagiert über die tatsächliche Welt sprechen kann.
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ANMERKUNGEN:
[01] Studs Terkel (1912-2008) erwarb sich als Gesprächspartner in unzähligen Interviews den Ruf (ab 1952 fürs Radio, dann auch in Buchform), der Mann zu sein der Amerika interviewte. Als Pionier der »Oral History« veröffentlichte er Gespräche, überwiegend mit »einfachen Menschen« zu Themen wie Jazzmusik, den Zweiten Weltkrieg, alltäglichen Rassismus, die »Great Depression«, Grenzerfahrungen, Ängste, Wünsche und Hoffnungen. •••
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Nick Harkaway: »The Gone-Away World«, oder: Ninjas, wandernde Städte nach dem großen Bumm und eine seltsame Freundschaft
Eintrag No. 521
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Nick Harkaway (1972 geborener Sohn von John le Carre) hat mit »Die gelöschte Welt« einen Debutroman hingelegt, der vollends meinem Verlangen nach kunterbunt-unterhaltsamer ›Anspruchs‹-Literatur gerecht wird. Zuerst aufgefallen ist mir die Sprache. Harkwaways Prosa suhlt sich mit Wonne in den vokabularischen Möglichkeiten, welche dem Englischen zuhanden sind (und ich bin sehr gespannt, wie die deutsche Übersetzung klingen wird), vermischt genussvoll hohe und niedere Ausdruckniveaus verschiedenster Milieus (mit besonderer Parodieaufmerksamkeit für Multi-Corperate-, Militär- und Studentenkneipen-Slang) und zuweilen durchquert man absatzlange Satzgeflechte, die sich durch exquisite Fizzelfreude auszeichnen.
Zur Szenerie: alles beginnt in einer an »Mad Max« oder »Fallout« erinnernden Restwelt damit, dass nach einer Explosion der Strom ausfällt, während der Erzähler und seine Kumpels und Kumpelinnen von der »Haulage & HazMat Emergency Civil Freebooting Company of Exmoor County« Billard in der »Namenlosen Bar« spielen. Irgend jemanden ist es gelungen, mit einem Sabotage-Akt die »Jorgmund Pipe«, das größte und wichtigste Objekt der noch bestehenden Welt empfindlich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Welt wie wir sie kennen ist nämlich, pardauz!, vor einigen Jahren bei einem Nicht-Krieg durch den Einsatz einer neuen, seltsamen Sorte Bomben verschwunden. Die wenigen Überlebenden haben sich zurückgezogen in den schmalen Streifen der »lebenstauglichen Zone«, welche sich an das mächtige Jorgmund Rohr schmiegt. Aus diesem Rohr wird eine mysteriöse Substanz versprüht, welche die monstergebärende Unwirklichkeit auf Abstand hält. Und eben dieses Jorgmund Rohr steht nun in Flammen. Der Erzähler und seine Freunde sind Veteranen des »Un-Krieges«, nach dessen Ende sie wegen unseliger Entwicklungen während der Wiederaufbau-Anstrengungen desertierten. Nun sollen sie als freie Söldner und Transportunternehmer mit einem Haufen dicker Sprengladungen per Vakuumeffekt den Großbrand löschen, um die Welt zu retten. Soweit die Infos des ersten Kapitels, die reich garniert werden mit Abschweifungen beispielsweise zu von Schweinen angetriebenen Notstromgeneratoren und zu den unterschiedlichen Entmenschlichungsgraden von administrativen Schnöseln.[01]
In einer sich über mehrere Kapitel erstreckenden Rückblende berichtet dann der Erzähler von seiner Kindheit: wie er vom Spielplatz weg vom gleichalterigen Gonzo William Lubitsch und seiner Familie adoptiert wurde; wie die beiden Jungs mit viel Hingabe und Talent Kampfsportkünste lernten (wobei Gonzo sich der harten, der Erzähler sich der weichen Schule widmet). Haarsträubende Erzähl-Umwege legen die Historie des »Hauses des Stimmenlosen Drachen« von Meister Wu dar und seiner obskuren Feinde, der Ninjas der »Uhrwerk Zeiger Gesellschaft«. — Der Amateur-Kampfsportler Harkaway ist (zurecht wie ich meine) stolz darauf, einen anspruchsvollen Roman mit Ninjas geschrieben zu haben. Entsprechend bietet »Die gelöschte Welt« atemberaubend inszenierte Kämpfe. Da wird vorgeführt, wie gefährlich Tupperware in den Händen eines einfallsreichen Kampfmeisters werden kann, oder wie selbst ein älteres Ehepaar mit Pheromonen und afrikanischen Bienen einem Pulg gutausgebildeter Meuchelmörder beizukommen vermögen. — Desweiteren geht’s mit Studentenabenteuern (sprich: Kneipenszenen, angeschickerte Politdiskussionen & Beziehungswirren), Anti-Terror-Razzien, Folterverhören durch quasi-staaliche Sicherheitsorgane, und schließlich landen der Erzähler und Gonzo bei der Agentenausbildung des Projekt Albumen, wo sie nicht nur Auto-Kampfsportunterricht erhalten, sondern sich auch die Entwicklungslabore für die Unbombe befinden.
Die im ersten Viertel des Buches hervortretenden politischen Wirren konzentrieren sich in einer Abschweifung wirtschaftliche Begehrlichkeiten auf globaler Bühne, wenn Harkaway über das Hickhack um das fiktive Land Addeh Katir (irgendwo an den Ostausläufern des Himalajas gelegen) sehr trefflich über die finstereren Machenschaften des neoliberalen Großkapitalwahnsinns und fatal-hirnloser internationaler Gierdiplomatie fabuliert. In dieser Fremde geraten der Erzähler und sein Kumpel Gonzo schließlich in die Nicht-Kriegswirren um Addeh Katir, und hier, etwa zur Halbzeit, beginnt sich der Roman endgültig zu einem überwältigenden Pandämonium zu entfalten, wenn wir lernen die Go Away-Bomben zu lieben und das kosmische Grauen aus dem freigesetzten, wankelmütigen »Zeugs«-Gewaber und dem Gestobe menschlicher Träume und Ängste steigt. Durch Go Away-Bombon beraubt man Materie und Wesen ihrer sie in Gestalt haltenden Information und verwandelt sie damit in »Stuff«. Die nichteinkalkulierte Knieschußfolge ist, dass sich dieses »Zeugs« und alles was mit ihm in Kontakt kommt planlos neue Informationen aus der Noospähre[02] zuzelt und dadurch in alles möglich Vorstellbare verwandeln kann.
Die zweite Hälfte des Romanes schildert die Ereignisse nach dem Un-Krieg, wenn die Reste der überlebenden Menschheit improvisierend mit Hilfe der zugänglichen technischen Großmitteln der zur Unwirklichkeit gewordenen Erde Überlebenszonen abtrotzt, kurz: das besagte Jorgmundrohr wird errichtet. Das lässt die dabei gebildete Jormundfirma zum alleinigen unheimlichen Weltherrscher der wenigen Komfortzonen alten Stils aufsteigen, und wahrhaft erschreckend sind die Grundlagen ihres Erfolges. — Nach der Rettungsaktion, zu welcher man im ersten Kapitel aufbrach, wird der Erzähler von seinen Kumpanen getrennt und er bricht auf zu einer Queste, um die dunklen Geheimnisse der Jorgmundfirma zu enthüllen, aber auch, um die Rätsel seiner zweifelhaften Freundschaft mit Gonzo Lubitsch und schließlich die trügerische Natur seiner eigenen Existenz zu ergründen.
Durch all diesen quirligen Garn zieht sich auch ein frech-zarter romantischer Faden der verhäkelt ist mit Elisabeth, der Adoptivtochter von Meister Wu. Hier ist auch eine interessante Argumentationsebene eingebettet, in der ergründet wird, was kraftmeierische Helden eigentlich liebeswürdig macht. Zudem ziehe und werfe ich meinen Hut johlend vor Begeisterung, immer wenn Harkaway einen anarchistisch-ulkigen Trupp Pantomimen auftreten lässt, über seine Idee und Schilderung eines Zirkus von Aussteigern, die sich Egalität halber alle K. nennen; wegen Zaher Bey, Pirat und Widerstandskämpfers von Addeh Katir; sowie wegen einem mit Safran handelndem, extrawortgewaltigem, dauerstreitendem Ehepaar. Die amüsanten Auftritte all dieser Figuren, und die stets gegenwärtige Schlagfertigkeit der Gedanken des namenlos bleibenden Erzählers ließen mich willig mit Milde über die zwei, drei dreisteren Hau Ruck-Kniffe des Handlungsverlaufes hinwegsehen, welche das ›In die Irre führen der Leser‹-Spiel des Romanes zumutet. Wer derartige Herausforderungen einzugehen gewillt ist, dem wird anhand dieses
Fantasyromans für Leute, die normalerweise Fantasy scheuen
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vorgeführt, wie vorzüglich produktiv sich reißerische Äktschn, relevante Satire, kosmisches Grauen und spekulierende Fabulierlust miteinander verschränken lassen.
(P.S.: Die Umschlaggestaltung der UK-Ausgabe ist perfekt. Hier geht es zu einer kleinen Flickr-Dokumentation der Entwicklungsgeschichte des Covers.)
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ANMERKUNG:
[01] Hier als Beispiel für Harkaways Systemsatire eine Zusammendampfung seiner Schreibtischhengst-Klassifizierung:
Typ M bis E: wirkliche Menschen die kreischend der seelenverschlingenden professionellen Beamtenpersona entkommen wollen;
Typ D: kecker Möchtegern-Zahlmeister mit verkümmerter Menschlichkeit;
Typ C: glucksender Lakai des entmenschlichenden Systems;
Typ B: herzlose bürokratische Maschine;
Typ A: wäre eine Person, die derart umfassend von den Mechanismen des Systems für das er oder sie arbeitet aufgesogen wurde, dass die Person aufgehört hätte eine eigenständige Wesenheit zu sein. •••
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[02] Noosphäre (in etwa:
›Welt der Gedanken‹) ist ursprünglich die Wortschöpfung eines heilsgeschichtlich überspannten Jesuiten aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, entsprechend theo- und teleologisch aufgebrezelt als Phase des kollektiven Menschengeistes auf dem Weg zum Omegapunkt, das heißt, dem am Jüngsten Tage wiedererscheinenden Christus. Die weltlich-mildere, heute gebräuchlichere Bedeutung bezeichnet mit Noosphäre schlicht die Welt der Ideen und denkbaren Gedanken. •••
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[02] So Harkaway selbst in einem Interview über seinen Roman. Man darf das auch lesen als Empfehlung des Romanes für
»Fantasyfreunde, die die Schnauze voll von Formel-Fantasy haben«. Wobei das Wort
›Fantasy‹ sich hier als
›Phantastik‹ sinnvoller begreifen lässt, und weniger als
›Fantasy‹ im Sinne von
›aufgewärmte Mittelalterromantisierung mit Offenbarungsglasur‹. •••
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Bescheidgeb wegen »Magira 2008«
Eintrag No. 520 — Leider leider leider wird es dieses Jahr keine große Sammelrezi von mir im »Magira«-Jahrbuch geben. All die für mich eigentlich guten Veränderungen, die mit der Umstellung von Hartz-IV-Teilzeit auf 200-Plus-Stunden-Vollzeit einher gehen, haben mich aus der Bahn geworfen. Wie schon für 2006 und 2008 hatte ich einen buntgemischten Empfehlungsrundumschlag geplant, diemal zu China Miévilles »Un Lun Dun«, Ju Honischs »Das Obsidianherz«, Thomas Pynchons »Gegen den Tag«, Hal Duncans »Das Ewige Stundenbuch« und Mark Z. Danielewskis »Das Haus«. Die Rohfassung steht, aber eben nicht die Endfassung. Trotz extrich für mich verlängerter Deadline musste ich also meine Herausgaber enttäuschen. Wenigstens habe es geschafft, die vielen Portrait-Anfragen zu erledigen (Puh!).
Aber: Immerhin könnt ihr im neuen »Magira« mein Interview mit Matt Ruff und eine Werksschau zu seinen vier Romanen lesen (basierend auf diesem Molochronik-Eintrag, erheblich erweitert).
Bleibt also, mich bei allen, die auf meinen Saisonrückblick 2007/2008 fibberten für den Ausfall zu entschuldigen. Ich hoffe, dass ich bald bald bald-möglichst die fertige Sammelrezi als Extra-Bonbon für den Internetauftritt von »Magira 2008« oder »Magira News« aufbereiten kann. Und natürlich werden die Rezis im Laufe der kommenden Monate Stück für Stück hier eingepflegt werden.
Ansonsten: Ab heute ist »Magira 2008« im Handel, bzw. kann hier bestellt werden. — Besonders freue ich mich und/oder bin gespannt auf:
- Thomas Gramlich: Robert E. Howards »Solomon Kane«
- Kirsten Scholz: Fritz Leibers Geschichten aus Lankhmar
- Werner Arend: Bücherkiste
- Das Interview mit Sergej Lukianenko
Sergeij Lukianenko: Die »Wächter«-Tetralogie, oder: Von den Einen, den Anderen und den ganz Anderen
Eintrag No. 509
»Russisch würd' ich genre können«, ist das erste was mir zu Sergeij Lukianenko (*1968) einfällt[01]. Der Mann mit der Schmauchpfeife ist in Russland ein Star der Phantastik. Und er ist ein extrem fleißiger Bursche. Ich kann kein Russisch, Englisch bringt nix, denn in UK/USA hinkt man hinter dem deutschen Veröffentlichungsstand sogar hinterher. Wir, das gute alte Europa (Russland und Moskau einfach mal brüderlich voll-eingemeindet), sind hipper als die Amis. Tja, so schaut’s halt aus, wenn die einstmals in Russland so exotisch-bezaubernde westliche Medienvielfalt mit zwanzig Jahren Verzögerung der Reifung und Mutation aus dem Osten zurückreflektiert wird. Nun hat »Wächter der Nacht« den typisch westlichen Medienindustrieverwertungsweg genommen: die Bücher waren ein Hit, eine Filmtrio wurde konzipiert und der erste Teil ließ nicht nur im Reich des Bären die Kassen klingeln, sondern fand weltweit sein Horror-Fantasy-Publikum. Dennoch, wenn man den ersten »WÄCHTER«-Film mit seinem westlichen Nächstverwandten »Underworld« vergleicht, findet man alle Vorurteile bestätigt: der unter amerikanischer Leitung hergestellte »Underworld« bietet poliertes Design selbst dort, wo’s schmuddelig und grindig wirken soll; die Hauptfiguren bewegen athletisch-lässig ihre knackigen, fitten Körper und gucken mit Kosmetikwerbung tauglichen Gesichtern vom Bildschirm; und die Unterschiede zwischen gewöhnlich und futuristisch/historisch werden stärker übertrieben. Bei den Russen herrscht eine verschwitztere, kaputtere und natürlich auch versoffenere Grundstimmung; die Oberfläche wirkt gewöhnlich-authentischer, auch detailfreudiger, und ich anders als bei »Underworld« hatte ich nicht das Gefühl, dass die Haar- und Make Up-Stylisten gleich ins Bild hetzen, um eine widerspenstige Locke oder eine rebellische Pore zu disziplinieren. In »Underworld« bewohnen Vampire schmucke alte Villen, in der »WÄCHTER«-Tetra schuften Vampire in ‘ner Großmetzgerei und wohnen in einem ziemlich unedlen Gemeindewohnklotz, kurz: verzwickte Plattenbauromantik statt edlem Goth-Lifestyle-Schickimicki. Als Film finde ich sowas wie »Underworld« (oder den noch weitaus beknackt-gekünstelteren »Van Helsing«) ganz vergnüglich, aber als Prosa … ich weiß nicht.
Der Weltenbau der »WÄCHTER«-Tetra ist erstmal alles andere als rasend originell: es gibt Magie und die funktioniert mittels des ›Zwielichts‹, einer mehrschichtigen Anderswelt, die sich durch den eigenen Schatten betreten und verlassen lässt. Jedoch: Nur ›Die Anderen‹ können in das Zwielicht wechseln[02], und es wird lange nicht erklärt, was genau die magischen Anderen von gewöhnlichen Menschen unterscheidet. Bei seinem ersten Aufenthalt im Zwielicht, muss sich der frisch initiierte Andere zwischen Licht oder Dunkel entscheiden: ob er mehr Engel (Gutmensch) oder mehr Dämon (Egoarsch) sein will, und man kann sich dazu entschließen, dem Ruf einer Wache zu folgen. Diese Wachen gibt es aufgrund des ›Großen Vertrages‹, denn vor langer Zeit hatten sowohl die lichten wie die dunklen Anderen genug vom ewigen Heckmeck um die Schicksalshoheit, und diesen Waffenstillstand vereinbart. Damit ist alles beieinander für den seit über tausend Jahren schwärenden kalten Krieg zwischen den einen und den anderen, kompletto mit entsprechendem lästigen Bürokratie- und Vertragsklauselkram, klandestinen oder detektivischen Missionen und Intrigen, die manchmal so verwickelt sind, dass sich die Parteien intern zuweilen selbst austricksen müssen, um den Gegner an der Nase herumzuführen.
Noch bevor der eigentliche Haupttext beginnt, passiert man eingangs der vier Bücher erstmal Bürokratensprech. In Band 1 heißt es:
Der vorliegende Text ist für die Sache des Lichts / des Dunkels dienlich und zur Verbreitung zugelassen. Die Nachtwache / Die Tagwache.
wobei sich dieses Pfortensprüchlein im Fortlauf der Reihe jedesmal leicht wandelt[03], ein deutlicher Zaunpfahlwink, dass Lukianenko nicht im Traum daran denkt, sich in der »WÄCHTER«-Reihe gänzlich auf eine der beiden Seite zu stellen. Das zunehmende Verwischen der vermeintlich klaren Grenzen zwischen Gut und Böse trägt gehörig zum Charme der Bücher bei, vor allem weil man als Leser diese Verkomplizierung durch die Augen des erfrischend gewöhnlichen Ottonormal-Lichten Anton Gorodezki erlebt (der bis auf Abwechslungssprengsel als Ich-Erzähler dient).
Der formale Aufbau ist übersichtlich. Jeder Band enthält drei (mehr oder weniger) in sich abgeschlossene Geschichten[04] , die mit (meist auktorial erzählten) Stimmungs-Prologen beginnen und in 5 bis 8 Kapitel unterteilt sind. Das Jahr, in dem die Bücher auf Russisch zuerst erschienen ist auch das Jahr der jeweiligen Handlung.
Zu Beginn des ersten Bandes »Wächter der Nacht« (1998) lernen wir Anton als den Hausprogrammierer der Nachtwache kennen. Er ist schon einige Jahre dabei, die Kollegen schätzen ihn als netten Kerl, aber als lichter Magier ist er keine große Wumme. Auffällig unumwunden erinnert die Einteilung der Fertigkeiten der Anderen an Rollenspiel-Erfahrungslevels, und Anton dümpelt zu Beginn im Mittelfeld. In der Eröffnungsgeschichte »Das eigene Schicksal« ist Anton als einsamer Fahnder unterwegs, um Vampire dingfest zu machen, die sich ohne ordnungsgemäße Lizenz über Menschen hermachen. Vampire (ebenso wie Werwölfe automatisch Dunkle) brauchen Blut für ihre Untotenexistenz und damit alles seine Ordnung hat, werden die Lizenzen zum Anknabbern oder Hoppsnehmen von Menschen durch die Lichten der Nachtwache gewährt (oder man greift als Langzahn halt auf Viehzeug und Blutkonserven zurück). Anton ist ein wenig durch den Wind, denn um sich auf die Wellenlänge der gesuchten Vampire einzustimmen, muss er Blut trinken, das er sich mit Hilfe einer im gleichen Plattenbau wohnenden Vampirfamilie besorgt. Ein erster kleiner Höhepunkt für mich, wie Anton sich an seine Bestürzung als frisch eingeweihter Lichter erinnert, als er feststellte, dass seine Nachbarn Vampire sind. Immerhin ist der Teenager Kostja ihm sympathisch, aber Anton kann sich der klaren Frontstellung Lichte vs. Dunkle nicht auf Dauer entziehen, und die Wiedersprüche zwischen Antons Kaderdisziplin als Nachtwachensoldat und der persönlichen Verbundenheit mit seinen Vampirnachbarn spannen sich als großer Bogen durch alle vier Bücher. Bei seiner Suche nach den wildernden Vampiren beobachtet Anton in der Moskauer U-Bahn eine junge Frau, über der (für Andere dank magischem Zwielichtblick zu sehen) ein schwarzer Wirbelsturm tobt, was bedeutet, dass jemand die unbekannte Schönheit, Swetlana, schröcklich heftig verflucht hat. So ein Fluch will sich früher oder später entladen, und der Unglückswirbel über Swetas Kopf ist so ungeheuerlich mächtig, dass bei seinem Ausbruch mindestens ganz Moskau, wenn nicht sogar mehr den Bach runtergehen würde. Und weil Lukianenko ein gut gerüttelt Durcheinander mehrerer Strängen als eine Tugend der »WÄCHTER«-Bücher pflegt, gibt’s als drittes Handlungselement das Gezerre um Igor, einen Jungen mit dem Zeug zum Anderen, denn (!): Eine Prophezeiung macht unter den Anderen die Runde, in der vom Ende des Waffenstillstandes die Rede ist, weil ein außerordentlicher Anderer, ein kommender Messias durch seine Entscheidung für Licht oder Dunkel den Konflikt ein- für allemal für eine der beiden Seiten entscheiden wird. Der junge Igor könnte vielleicht dieser Andere sein. — In der zweiten Geschichte »Der eigene Kreis« wird das Motiv des Wilderers umgekehrt: diesmal ist ein unbekannter Lichter unterwegs der ohne Genehmigung Dunkle killt. Egal welche Art von magischen Eingriff die Lichten oder Dunklen wirken, die Gegenseite hat das Recht zu einer gleichstarken Aktion (und wiederum an Spiele erinnert die haarkleine Gradeinteilung von Zauberspruchstärken, mit der die Balance verrechnet wird). Nach der ersten Geschichte steht Anton im Ruf, ein Lichter mit schmutziger Weste zu sein, und wird der Morde an den Dunklen verdächtigt. Zur Tarnung tauschen zur Wildererhatz er und Olga (die Geliebte von Antons Nachtwachenchef Geser) die Körper. Willkommener Anlass für Gender Studies zum schmunzeln. Zudem erfährt man bröckchenweise mehr über den »WÄCHTER«-Weltenbau. Die groben Verstöße werden von einer dritten magischen Gruppe geahndet, der (Tada!) ›Inquisition‹. — In der dritten Erzählung »Im eigenen Saft« erholt sich Anton größtenteils auf dem Land. Grillparty, Mukke, herzhaft Essen und ordentlich dem Wodka frönen sind angesagt, und ich war überaus begeistert: vom Themen- und Stimmungswechsel, von der hemdsärmelig deftigen und grad deshalb einnehmend menschlichen Art und Weise, wie die Lichten mit ihren Problemen ringen, sich über ihre Existenz als Andere und die Bürden des Wachendienstes beklagen, ihre Ängste und Zweifel aussprechen, sich gegenseitig Mut machen.
»Wächter des Tages« (2000) ist was die Erzählstimmen betrifft die Ausnahme der Reihe. In »Zutritt für Unbefugte erlaubt« hören wir die Stimme der rangmäßigen Gegenspielerin Antons, Alissa, einer dunklen Hexe. Bei dem Kampf um die (Nicht-)Festnahme einer illegal ihre finsteren Magiedienstleistungen anbietenden unregistrierten Hexe, verausgabt Alissa ihre magischen Energien und wird zur Regeneration krimwärts in ein Ferienkamp für Jugendliche geschickt. Dunkle, passend zu ihrer egoistischen Einstellungen vom Recht des Stärkeren, tun sich leichter mit dem Zauberkrafttanken, denn sie nähren sich von schlechten Stimmungen, von Zorn, Hass, Neid und Missgunst der Normalen und intensivieren diese Regungen. Lichte dagegen – die für Uneigenützigkeit und Gemeinwohl fechten – stehlen den Menschen die selteneren Gefühle der Freude, des Glücks und der Liebe. Geschwächt merkt Alissa nicht, dass ihr Hedonismus sie in eine unheilvolle Romanze schlittern lässt (es kommt sogar zu einer milden Pornoszene). — »Fremd unter Anderen« stellt eine neue Besonderheit des Lukianenko’schen Weltenbaus vor, den ›Zwielicht-Spiegel‹. Damit ist ein Ausgleich stiftender Anderer gemeint, den das Zwielicht bei eklatanten Kräfteungleichgewicht zwischen Licht und Dunkel hervorbringt. Höchst beklemmend fand ich es, der Icherzählerstimme des Spiegels Witali zu folgen, der sein Gedächtnis einbüßt hat, als er sich in einem kraftstrotzenden Dunklen verwandelt, und nicht begreift wie ihm geschieht. — Auktoial (also nicht von einer Ich-Stimme, sondern neutral) wird »Eine andere Kraft« erzählt. Nach zwei Geschichten, die auf persönlichere Weise vom intim-psychodynamischen Wechselspiel zwischen Licht und Dunkel berichteten, folgt als Abschluss des zweiten Bandes ein Äktschnhöhepunkt von »Die Hard«-Güte am Flughafen, komplett mit vierköpfiger finnischer dunkler Diebesbande, die eines der brazigsten Artefakte aus einem Sicherheitsdepot der Inquisition geklaut hat: die Kralle des Fafnirs. Ja ganz recht, laut Hintergrund der »WÄCHTER«-Welt war Fafnir ein mächtiger frühmittelalterlicher Anderer.
Die zweite Hälfte der Reihe bestreitet dann Anton als Erzähler. Die ersten beiden Bücher zeigten das Spielbrett und die wichtigsten Regeln, nun werden die Detektiv- und Agentenmissionen Antons persönlicher, er steigt zu immer höheren Magier- und Nachtwachengraden auf, und aus dem Eigenbrötler wird durch seine Verbindung mit Swetlana ein Familienmensch und schließlich ein hingebungsvoller Vater[05].
Mit Beginn von »Wächter des Zwielichts« (2003) rückt der spannungsgeladene Unterschied zwischen Anderen und Normalen in den Vordergrund. Tag- und Nachtwache geben sich gleichermaßen beunruhigt, als sie erfahren, dass ein unbekannter Lichter es wagt, mittels eines als Märchenlegende geltenden Zauberspruchs einen normalen Menschen zu einem Anderen verwandeln zu wollen. Also quartiert sich Anton in »Niemandszeit« als verdeckter Ermittler in einer Wohnanlage für Neureiche ein. — »Niemandsraum« erzählt vom winterlichen Landurlaub Antons und Swetlanas. Nahebei haben ein einige Werwölfe ein paar Kinder im Wald gejagt, aber einer nette unbekannte Hexe mit erstaunlicher Macht hat sie gerettet (die Kinder, nicht die Wölfe). Glanzpartien dieser Geschichte sind Antons Besuch bei der Hexe, wenn diese buchstäblich ihre weibliche Verführungszauberkünste gegen den Ermittler anwendet, und der Zauberkampf-Showdown auf einem Schlachtfeld des zweiten Weltkrieges. — »Niemandskraft« glänzt wieder als flottes Äktschnstück, das mich an James Bond-Situationen erinnerte, inklusive Tätersuche im Zug auf der Fahrt östlich durch den russischen Kontinent, Atombomben als letztes schreckliches letztes Mittel für die Guten, und Showdown im Weltraumbahnhof[06] (WARNUNG: Spoilerfußnote).
Im Abschlussband »Wächter der Ewigkeit« (2006) ist Anton dann als Hoher Lichter größtenteils in der Fremde unterwegs. In »Die gemeinsame Sache« soll er einen wildernden Vampir in Edinburgh aufspüren, und macht dabei unangenehme Bekanntschaft mit einem Untergrundkommando abtrünniger Lichter und Dunkler (und ihrer normalsterblichen Helfer), die das allerallermächtigste Artefakt wo’s überhaupt gibt stibitzen wollen: Merlins ›Kranz der Schöpfung‹[07]. — In »Der gemeinsame Feind« recherchiert Anton dann in Samarkand auf einem Schlachtfeld des Krieges der Dunklen gegen die Lichten aus Zeiten, als es noch keinen Großen Vertrag gab, und staunt nicht schlecht, wie locker Tag- und Nachtwachen in der abgelegenen Provinz einander tolerieren. — Das große Finale, »Das gemeinsame Schicksal«, spielt dann wieder zwischen Moskau und Edinburgh und hier erst werden die letzten Rätsel der Zwielicht-Zwiebelschalen entblättert.
Auffällig und erfrischend fand ich Lukianenkos Aufmerksamkeit für die Oberflächen von Popkultur und globalisierter Konsumgesellschaft. Am deutlichsten führt dies Anton mit seinem MD-Player vor, von dessen Zufallsmodus er sich gern überraschen, inspirieren oder trösten lässt. Schade, dass es noch keine Sammlung der in den »WÄCHTER«-Büchern vorkommenden Mukke gibt, bzw. dass man sich als mit russischer Pop- und Rockmusik Unvertrauter recken und strecken muss, um herauszubekommen, was für einen Musikstil genau Anton gerade hört. Auch die ein oder andere erklärende Fußnote hätte meines Erachtens nicht geschadet. Wenn es in einem Lied heißt[08] …
Du kannst Dich nicht mehr in die Büsche schlagen | Wenn dich der Schuss aus der Lupara fällt
… wäre es schon nett, wenn man als Hilfestellung ausdeutet, dass mit Lupara (Wolfstöter) eine abgesägte Flinte gemeint ist, und nur wenige werden ohne Recherche wohl verstehen, was gemeint ist, wenn Lukianenko mit Namen um sich wirft[09]:
Du bist unterwegs. Unternimmst deine eigene kleine Queste, in dir steckt etwas von Frodo und etwas von Paganel, dann noch ein Tröpfchen Robinson und ein ganz klein wenig von Radischtschnew.
Gut möglich allerdings, dass ich mit diesem Wunsch lediglich typische Allgemeinbildungslücken eines Wessis entblöße. Aber abgesehen von solchen kleinen Rätselstellen, war es eine Wonne, wie und wozu Lukianenko z.B. Auto- und Klamottenmarken, Essen und Getränke, Filme und Popikonen erwähnt.
Vor allem die beiden ersten »WÄCHTER«-Bände greifen merklich die Milleniumshysterie auf, und die durch radikalisierte Ideologien hochgeschaukelten Spannungen zwischen Apokalyptikern und Integrierten. Lukianenko lässt durch seine immer wieder über Gott und die Welt diskutierenden Figuren seine Skepsis gegenüber linken wie rechten Weltbildvernageltheiten raushängen, sorgt sich über die tatsächlich von statten gehenden Großkonflikte, die alle, die Einen, die Anderen und auch die ganz Anderen ins Chaos zu reißen drohen. Normalerweise erwärme ich mich kaum für Gutmenschenlulu, aber Dank der im richtigen Maße rotzigen Schreibe Lukianenkos, reich gewürzt mit tollen Magie-Spezialeffekten und -Kämpfen stimme ich gerne in das Resümee der »WÄCHTER«-Tetra ein, dass ich mit einem Lied umschreiben kann, mit dem schon die Beatles den Blaumiesen Angst einjagten: »All You Need Is Love« … (dann klappt’s auch mit dem Zwielicht).
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Alle vier Bände wurden aus dem Russischen übersetzt von Christiane Pöhlmann (mit Hilfe von Erik Simon der einige Liedverse übertrug).
- »Wächter der Nacht« (1998); 528 Seiten; Heyne 2005; ISBN: 978-3-453-53080-5;
- »Wächter des Tages« (2000) zusammen mit Wladimir Wassilijew; 528 Seiten; Heyne 2006; ISBN: 978-3-453-53200-7;
- »Wächter des Zwielichts« (2003); 480 Seiten; Heyne 2006; ISBN: 978-3-453-53198-7;
- »Wächter der Ewigkeit« (2006); 448 Seiten; Heyne 2007; ISBN: 978-3-453-52255-8.
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ANMERKUNGEN:
[2] Tja, wem fällt es schon leicht
»über seinen eigenen Schatten zu springen«?•••
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[3] Band 2:
»Der vorliegende Text ist … abträglich und nicht zur Verbreitung zugelassen«;
Band 3:
»Der vorliegende Text ist … belanglos«;
Band 4:
»Der vorliegende Text ist … akzeptabel«.•••
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[4] Vergleichbar mit dem Plott einer ca. 60-minütigen TV-Serienfolge, einer Konsolen/PC-Spiele-Mission, oder einem etwa drei Hefte langen US-Comichandlungsbogens. •••
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[5] Soweit ich von meiner bescheidenen Warte aus überblicke, ist ›echtes‹ familiäres Gemenschel (im Gegensatz zu den Aristokraten-Soaps der ›High Fantasy‹) in der Nicht-Kinder-&-Jugendbuch-Genrefantasy noch etwas ziemliches Seltenes. Aber wen wunderts: haben doch auch auf dem Krimifeld erst mit z.B. Donna Leons Commisario Brunetti und seiner Familienrasselbande entsprechend gewöhnliche Aspekte mit Erfolg ihren Weg ins Genre gefunden. — Meiner Meinung nach ist es ist höchste Zeit, daß solche »banalen« Herausforderungen auch in der Genre-Phantastik vermehrt zur Sprache kommen. Immerhin ist Drachen erschlagen oder die Welt retten Kleinkram im Vergleich zu der Megaqueste Familie. •••
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[6] Die Kirsche auf dem Sahnehäubchen aber war für mich in diesem Fall das Scheitern des Bösewichts, denn das von ihm so rigoros verfolgte Endziel portraitiert jugendlichen Idealismus so tragisch-packend, dass dem Teenager in mir zum harten Los des romantischen Weltverbesserers ein paar Tränen über die Wängelchen kullerten. •••
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[7] Damit man ein Gefühl für den oben erwähnten Prophezeihungs-Plot bekommt: In der »
WÄCHTER«-Welt war Merlin, wie Jesus auch, ein Messias. Viele halten Merlin für den
›Größen Aller Anderen‹, den die Welt je sah. Und: er gehört zu den wenigen Anderen, die ihre Gesinnung geändert haben. •••
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[9] Band 3, S. 461. Wem Frodo und Robinson nix sagt, sollte eigentlich gar nicht
»Magira« oder mein Blog hier lesen dürfen (
streng guck). Aber wegen Paganel (Figur aus Jules Vernes
»Die Kinder das Kapitän Grant«) und Radischtschnew (russischer Schriftsteller und Philosoph) mußte ich im Infoozean gründeln, um mir ein genaues Bild davon machen zu können, was Lukianenko meint. •••
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Hal Duncan »The Book of All Hours 1: Vellum«, oder: Die Mythen-Jukebox voll aufgedreht
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Eintrag No. 483 — Nicht vollends von der Hand zu weisen ist der Vorwurf, dass mit dem Schotten Hal Duncan (1971) ein junger Autor auf die Erzählbühne tritt, der sich geradezu versessen nach der ganz irre großen Bedeutung streckt und dabei die Gemütslaken von schamhafteren, zurückhaltenderen Lesern unflätig mit seinen Hirnwichsereien voll sudelt. Wer sich also nicht bekleckern lassen will, möge einen großen Bogen um »Vellum« machen. — Aber den Unentschlossenen und Neugierigen möchte ich folgendes zu bedenken geben (und die nach ästhetischen Exzessen Suchenden können’s als Empfehlung nehmen): stilistisches und ästhetisches Hirnwichsen ist eine sooo schändliche Sache nicht. Immerhin: wie soll und kann Literatur die Herausforderungen durch den Weltensturm an Verunsicherung, dem Scharaden- und Ränkespiel mit interessenstützender Großraumphantastik der Echtwelt begegnen, wenn nicht zum Beispiel mit einer schon ins Unanständige gesteigerten Fabulations- und Mythenmixmanie?
Worum geht’s? Tja, puh, äh, diese Frage überfordert mich ein wenig, denn eine Handlung im üblichen Sinne (eine Geschichte wird von A nach Z erzählt) aus dem heftigen Mythen-Shake und dem fortwährenden Randomwechsel der Zeiten- und Welten-Jukebox herauszulesen, ist nicht so einfach, oh nein. Auf jeden Fall aber kann ich sagen, dass mich der Stil und die in »Vellum« zusammengeschmissenen Themen überwiegend bezaubern. Vom Gebaren her kommt Hal Duncans Roman für mich daher, als ob ein zum rotzig-romantischen Goth-Punk mutiertes »Finnegans Wake«[01] sich ‘ne Acid-Pappe geschmissen hat, um anschließend mörderheftig im Darkroom mit Grant Morrisons Comichelden aus »The Invisibles«[02] zu knutschten, wovon es sich dann erholt, indem es abwechselnd beim Wasserpfeifenblubbern chillt bzw. zu lebhafter Musik abzappelt. — Mit typographischen Besonderheiten, mal links, mal mittig, mal rechts stehende Zwischenüberschriften, werden verschiedene Wirklichkeits-Verfassungen gekennzeichnet, ebenso wie mit dem Wechsel zwischen zwei verschiedenen Serif-Schriftgestaltungen des Fließtextes. In der zweiten Hälfte von »Vellum« kommt es anhand in einer beeindruckenden SF/Cyberpunk-Szenerie auch zu informationstechnologischen Spielereien, die mit kurzen sans serif-Einschüben darstellen, wie sich ein Schwarm mit künstlicher Intelligenz gesegneter Nanopartikel, so genannte Bitmites, durch die verschiedenen Schizoschichten einer Anarchoterroristenpsyche zu hacken versucht.
Los geht alles mit einer brennenden Welt-Karte. Vereinfachend gesagt prallen Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftswelten aufeinander im großen Kampf ums Dasein. Das zentrale Phantastikelement sind die ›Unkin‹, sprich: engel-/dämonenhafte Wesen die es druffhaben, mit dem ›Cant‹[03] die Wirklichkeit zu formen. Außerdem werden höllische Tattoo- und Blutmagie sowie himmlische Chakra-Wummen und KI-Nano-Schwärme eingesetzt. Auf der einen Seite steht die Herrschaft der Erzengel, das Imperium, die Faschos, die kapitalistischen Unterdrücker; auf der anderen Seite die rebellischen Dämonen, die Anarchisten und Freiheitskämpfer, die Arbeiterbewegung. Das Ganze wird recht ungestüm durch Zeiten und Welten springend erzählt, von Babylons Inanna-, und Griechenlands Prometheusmythos, über verschiedenste historische Konflikte (Erster Weltkrieg, Spanischer Bürgerkrieg, Irlandaufstand, Irakkrieg, Terrorismus in der nahen Zukunft) bis hin zu Andersweltgebieten, durch welche die Flüchtlinge eines die Wirklichkeit verschlingenden Sturms zigeunern. Verstrickt in diesen Himmel-, Fegefeuer- und Höllestrudel finden sich drei Studikumpels und ein Mädel und ihr überirdischer Sohn wieder, deren Wege sich quer durch die Dimensionen im so genannten ›Vellum‹ kreuzen. Das Vellum ist die Welt als Buch, GOttes ultimative Gebrauchsanleitung für die Realität, das alle wahren Namen enthält, mit denen sich der besagte ›Cant‹ zwecks Wirklichkeits-Kontrolle bewerkstelligen lässt. Dieses ›Ewige Stundenbuch‹ löst sich aufgrund der unerhörten Eingriffe und Trinkereien der Konfliktparteien auf, beziehungsweise verwandelt sich drastisch, dort wo die entsprechend bratzigen Engel und Dämonen durchlatschen und aufeinandertreffen. Nur hat noch keine der Figuren einen wirklichen Plan davon, was eigentlich los ist; sie irren durch die Vellum-Welt(en), umflirrt von Traumfetzenwirbeln, Erinnerungen und Visionen, unterwegs auf Expeditionen um die älteste Kultur der Menschheit zu finden, in Irrenhäusern darbend, in Schlachtfeldgräben kauernd, in Pubs mümmelnd und in Hotelzimmern grübelnd.
Zwei Dinge dünken mir bei »Vellum«, im Guten, bemerkenswert. Erstens der gewollt rand- und bandlose Umgang mit Genregrenzen, wenn mythische und utopische Register wechseln, wenn sich klar verortbare Genre-Stimmungen, wie beispielsweise Kriegs- und Spionageabenteuer, mit vom magischen Realismus bekannter doppelbödigen Stimmungspoesie verquickt. Da lässt sich nicht auseinanderklamüsern wie die mythische Archaik aufhört, in modernen Horror übergeht und die fetzige Cyperpunk-SF beginnt, denn gemäß der alles ihren Weltenbrandstrudel ziehenden Logik gemäß ist hier alles stets im Übergang und ein Vor- oder Nachecho seines gewandelten Selbst. Sprachlich versteht sich Duncan zuallermeist vorzüglich darauf, Punk-Jargon mit sakralem Mythenton zu kreuzen, zwischen legendengesättgtem Fantasygeraune und Science Fiction-typischen Gadgetsprech zu wechseln, auf abgefahrene Traumbildcharaden Schilderungen von realistischen Echtweltszenen folgen zu lassen. Zweitens, und das geht mit eben ausgeführten Stil- und Genremix prächtig Hand in Hand, beziehungsweise ist eine Folge davon, meistert Hal Duncan erzählend ein Desorientungshütchenspiel mit den fundamentalen Wirklichkeitskathegorien Ort, Zeit und Identität. »Nix ist fix« scheint das Buch mir als Leser einflüstern zu wollen, und nachdem ich mich damit abgefunden habe, dass Mich-treiben-lassen ohne Orientierung von diesem Durcheinander von mir gefordert wird, traten um so deutlicher die starken Gefühle der Figuren und die spezifischen Orts- und Zeitstimmungen (ob historisch oder andersweltlich) als eigentlich bestimmende Motive hervor. Da kommt dann unter anderem zur Sprache: Der Schmerz derer, die Verfolgung, Ausgrenzung und Folterung erleiden (oder zufügen), oder deren geistiger Halt durch den Verlust des/der Geliebten zerrissen wurde; der rebellische Trotz derer, die dem Schöpfer- und Ordnungszwang der selbstgerechten Positivisten ein trotziges Nein entgegenstellen; die schamgepeinigte Einsamkeit der Verräter und Feiglinge; das Erschrecken von Liebenden über die Mächtigkeit ihrer eigenen Leidenschaft.
Ich will nicht verhehlen, dass »Vellum« mir streckenweise auch gehörig auf die Nerven ging, vor allen mit seinen lyrisch-idyllischen Passagen, wenn wenig los ist, aber sich viel angeschmachtet oder weltschmerzlich gelitten wird, oder auch, wenn liturgisch-rituelle Partituren zu schematisch absolviert wird. Aber das ist nun mal der Preis, den man entrichten muss beim Lesen eines Buch, dass sich intensiv und mit zum Teil aktionsreicher Wonne auf alle möglichen Extreme einlässt, Orientierungs-Sicherheiten gewollt meidet, Grenzen zwischen Welten, Zeiten, zwischen Ich und Du, Innen und Außen mit Schmackes missachtet. Immerhin dauernd die Nervpassagen nie lange, da das Buch in hunderte kurze Tracks unterteilt ist. Anders gestimmte Leser werden vielleicht gerade die rrrromantischen Schmachtpassagen der in verschiedensten Weibchen/Männchen-, Männchen/Männchen-Kombinationen der Liebenden zu schätzen wissen, oder begeistert die formelhaften Schritte der Ereignis-Abfolge von altbekannten Mythen genießen (vor allem wenn man diese Mythen eben noch nicht durch das Selberlesen der klassischen Quellen kennt). — Leider habe ich den zweiten Band »Ink« nicht mehr rechtzeitig mit der gebotenen Sorgfalt zu Ende lesen können, um hier zu berichten, wohin die Reise mit Hal Duncans wildgewordener Mythen-Jukebox führt, und ob sich diese Reise letztendlich lohnt oder nicht. Nachdem ich aber bei »Vellum« die größere Mühe aufbringen musste, weil ich den Roman beim ersten Mal auf Englisch las, werde ich mich bei »Ink« (Deutsch »Signum«) zurücklehnen und gleich die höchster Bewunderung würdige Übertragung von Hannes Riffel genießen.
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ANMERKUNG:
[01] »Finnegans Wake« (1939) ist das letzte Werk des Erzexzentrikers James Joyce. Darin wird der Traum eines Kneipenbesitzers erzählt, und das ganze dicke Buch ist in einer viele Sprachen zusammenmischenden Brabbelsprache verfasst, die Figuren wechseln ihre Identität und Gestalt und entsprechend vieldeutig interpretierbar ist das Ganze. Eigentlich ist dieses Buch nicht ernsthaft lesbar, es sei denn, man trinkt vorher und dabei ordentlich und lässt sich das ganze von einer entsprechend angeschickerten Person vorlesen, die des mit irischem Dialekt gefärbten Englisch mächtig ist. — Der lockere Vergleich scheint mir zulässig, weil auch Duncan in »Vellum« mit der mehrsinnigen Vielstimmigkeit von Sprache hantiert. So lauten die Titel der beiden Großabschnitte des Buches
»The Lost Deus of Sumer« (Die verlorenen Götter/Tage des Sommers/der Sumerer) und
»Evenfall Leaves« (Fall der Herbstblätter / Abschied vom Ort Evenfall), und der Übersetzer Hannes Riffel hatte sich in seiner exzellenten Übertragung zu entscheiden und destillierte diese sprachliche Schlieren zu
»Sommertage« und
»Herbstdämmerung«. •••
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[01] »The Invisibles« (erschienen 1994 bis 2000) ist ein 59 Kapitel starkes Comic, das von Grant Morrisson geschrieben (bei uns wohl bekanntesten durch seinen Batman-Band mit Dave McKean: »Arkham Asylum«) und verschiedenen Künstlern gezeichnet wurde. Darin wird der Kampf einer Guerilla-Zelle des Invisible College gegen finstere Schreckensmächte geschildert. Die Invisibles gehen dabei mit Zeitreisen, verschiedensten Magietraditionen bis hin zu Meditation und Tantra, sowie Wummen, Bomben und Kampfsportkünsten gegen die überdimensionalen Archons vor, welche bereits weite Teile der Menschheit ohne deren Kenntnisnahme versklaven konnten. Verschwörungs-Popkultur, psycho-spekulative SF und moderne Szene-Esoterik finden sich hier zu einem verspielten und äktschenreichen Abenteuer zusammen. — Erscheint seit 2008 endlich auch auf Deutsch Panini DC/Vertigo. Bisher sind von den fünf geplanten Monstereditions-Bänden erschienen: Band 1 »Revolution gefällig«; Band 2 »Ordnung und Entropie«. •••
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[03] Ein Wort, das im Englischen irgendwo im durch die Begriffe
›Fachsprache‹,
›Gaunersprache‹ und
›Frömmelei‹ umzirkelten Bedeutungsfeld herumschwirrt; zudem klingt deutlich das Lateinische
›Cantus‹, für
›Gesang‹,
›Melodie‹, an. •••
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Hal Duncan:
»The Book of All Hours 1 – Vellum«; 238 Abschnitte in 17 Kapiteln zu zwei Teilen auf 499 Seiten; Taschenbuch bei Pan Macmillan, 2005; ISBN: 0-330-44433-6
Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 1 – Vellum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 594 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Shayol / Golkonda, 2007; ISBN: 978-3-926126-72-6
Taschenbuch bei Heyne, 2008: ISBN: 978-3-453-52254-1
Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 2 – Signum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 648 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Golkonda, 2010; ISBN: 978-3-942396-00-4
Pratchett, Steward, Cohen: »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, oder: Expeditionen in die Wirklichkeit der geschichtenerzählenden Affen
Eintrag No. 478
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Ich weiß, ich weiß! Terry Pratchett ist einer der großen lebenden kapitalen Platzhirsche der Phantastik, vor allem der humoristsichen Fantasy, und da mittlerweile sogar öffentlich-rechtliche Sender[01] und überregionale Feuilletons und Buchmagazine bei Erscheinen eines neuen Pratchetts wohlwollend über den Scheibenweltschöpfer berichten, warum also hier in einem Fantasyjahrbuch ›unter Kennern‹ noch viele Worte über ihn und seine Bücher verlieren?[02]
Pratchetts Scheibenwelt hat sich seit 1983 zur einer der erfolgreichsten und prägendsten Fantasy-Institutionen entwickelt.[03] Als attraktivste Eigenheit der Entwicklung von Pratchetts Schreiben empfinde ich, wie er sich im Laufe der Jahre vom parodistischen Satiriker, der vornehmlich (allzu) liebgewonnene Eigenheiten der Genre-Fantasy genüsslich aufs Korn nimmt, zu einem humoristischen Moralisten entwickelte. Über den Kurs der (derzeit etwa) 40-ebbes Scheibenweltbücher zeichnet sich Pratchetts Auseinandersetzung mit geschichtlichen, gesellschaftlichen und philosophischen Problemen und Spannung immer deutlicher ab. Als markante Stationen dieses Erstarkens von Pratchetts engagierten Zeitgenossenschaftskommentaren verweise ich auf das Geschlechterrollengerangel zwischen Magiern und Hexen (»Equal Rites«, 1987), die Gräuel des fundamentalistischen Monotheismus (»Small Gods«, 1992), den Missbrauch von sowohl fremdenfeindlicher als auch Multikulti-Denke durch Diplomatie und Politik in Kriegszeiten (»Jjngo«, 1997). Eine thematisch-stimmungshafte »Verdüsterung« der Scheibenwelt hat sich endgültig ab »Night Watch« (2002) etabliert, immerhin werden hier Revolutionsunruhen, Bürgerkriegsmassaker und Serienmörderpathologien ausgebreitet. Anders ausgedrückt, schafft es Pratchett scheinbar so nebenbei, sich für seine Fantasywelt Epochen wie die Industrielle Revolution oder die moderne Konsum- und Mediengesellschaft als Material nutzbar zu machen. Entsprechend abwechslungsreich finden sich in den Scheibenweltbüchern die verschiedensten modernen Milieus ein, wird spielerisch-erzählend vorgeführt, wie die Identitäten von Minderheiten Eigenleben entwickeln, individuelle Weltbilder von der sozialen Einbettung geprägt werden, und wie schwer die Bemühungen (ja leider oft gewalttätig die Konflikte) um eine vermittelnde, umfassende Sicht auf die Wirklichkeit sind.
Pratchett gehört zudem einer (wie ich finde begrüßenswürdigen) Avantgarde der Fantasy an, da er sich nicht scheut wissenschaftliches Bildungsgut und die moderne Informationsgesellschaft deutlich erkennbar in seinen Fantasyweltenbau einfließen zu lassen, und das eben nicht nur, um nette kleine Kalauer auf die Tücken der Technik zu platzieren, oder gar um der Wissenschaft vorzuwerfen, dass sie sich vom Menschen hat missbrauchen lassen, und damit den schrecklichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts (die beiden Weltkriege, Rassenhygiene und atheistische Gulags) förderlich gedient zu haben.[04] Das prominenteste Requisit[05] dieser erfreulichen Offenheit der Scheibenweltbücher für die tatsächlich stattfindende Moderne ist Hex, ein in »Soul Music« (1994) debütierendes Konglomerat aus Glasröhren, Ameisen und Magie, das als einfache mit Lochkarten betriebene Rechenmaschine anhob, und sich zu einer immer mächtigeren Denkmaschine und schließlich Großrechenanlage gemausert hat.[06]
Zur Reihe der »GELEHRTEN DER SCHEIBENWELT« selbst: Der erzählende Prattchet-Anteil[07] ist deutlich geringer als die Sachtextportionen von Jack Cohen[08] und Ian Steward (1945). Wer also zuvörderst neue Scheibenweltromane erwartet, wird vielleicht enttäuscht. Die Schreibenwelthandlung dient hauptsächlich als lockerers Korsett und kurzweilige Intermezzi des großen Sachbuchbogens. Steward und Cohen glänzen zwar oft durch ihren Schalk, aber verglichen mit dem Humorvirtuosen Pratchett erscheint ihre Kalauerei ab und zu ein wenig zu harmlos oder zu willkürlich. Wer wilde Bücher mit herumschlenkernden Habitus, z.B. solcher Sachbuchphantasten wie Robert Anton Wilson, Douglas R. Hofstadter oder Rudy Rucker mag, wird mit der stellenweise blumig-albernen Ideenjoungliererei von Steward und Cohen seinen Spaß haben. Was das Hin und Her zwischen Scheibenwelt-Novelle und Sachtext-Argumentation betrifft: Ich selber habe (beim ersten Mal) nicht gewagt, mich dem schwindelerregenden Wechsel auszusetzen, und habe die beiden Stränge jeweils für sich am Stück genossen.
In der Erzählung des ersten Bandes der Reihe, »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, beginnt alles mit Ponder Stibbons (Hex-Experte der Unsichtbaren Universität) Projekt der Spaltung des Thaums (= elementare magische ›X-Teilchen‹), gedacht als billige und effektive Energiequelle und Möglichkeit die Grenzen des Wissens zu erweitern. Da der Energieausstoß so gigantisch ist, dass er das Scheibenweltuniversum zu vernichten droht, leitet man die Energie in eine Glaskugel um, in der es keine Materie, keine Realität und, am wichtigsten, keine Magie gibt. Durch das neugierige Rummgefummel der Zauberer entsteht sozusagen als Unfall unser Universum. Die Zauberer haben ihren ›Videospielspaß‹ damit Materieklumpen aufeinanderzudonnern (= Sonnen zu schaffen), mittels des Schnellvorlaufs die aberwitzig langfristige Entwicklung des Universums auf etwa einen Monat zu verkürzen, und der allerweil hochstressierte weil überängstliche Zauberer Rincewind wird in einer Art ›Virtual Reality‹-Tauchanzug in unser Universum geschickt, um sich vor Ort genauer umzugucken. Die Zauberer verfolgen erstaunt das hartnäckig als Unwahrscheinlichkeit erscheinende Aufkommen von intelligenten Lebensformen. Andererseits drohen kosmische (es reichen auch globale) Katastrophen höhere wie niedere Arten mit Massenexitus. Das Buch klingt damit aus, dass die Scheibenweltgelehrten beobachten wie eine höhere Lebensform die Erde mittels eines Weltraumaufzuges verlässt, rechtzeitig bevor die nächste fiese Eiszeit zuschlägt.
In »Die Philosophen der Rundwelt« gibt es dann mit den parasitären Elfen und ihrer Königin richtige Bösewichter, die sich aus der Scheibenwelt in die Rundwelt eingeschlichen haben, um mit ihrer verführerischen und täuschenden Magie die Menschen in abergläubischer Ehrfurchtsdummheit dümpeln zu lassen und damit zu versklaven. Da die menschliche Gabe der Vorstellungskraft das empfindliche Einfallstor für die Elfenmagie ist, sorgen die Zauberer der Scheibenwelt bei ihrem ersten Rettungsversuch in der Steinzeit dafür, dass die Frühmenschen ihren Hang zum Aberglauben nicht entwickeln[09]. Dadurch aber bleiben die Menschen so beschränkt, dass sie sich nie über das kulturelle Niveau der Steinzeit hinaus entwickeln. Beim zweiten Rettungsversuch, diesmal zur Zeit der englischen Renaissance, trachten die Zauberer deshalb danach, mit der richtigen Art von Geschichten die Kreativität der Menschen über das anfängliche Maß hinaus zu steigern, um die Menschheit gegen die unheilbringenden Elfenverführungen zu immunisieren (wobei Shakespeare und sein Theater ›The Globe‹ eine entscheidende Rolle spielen).
Der dritte Band »Darwin und die Götter der Scheibenwelt« nimmt sich dann insbesondere die Evolutionstheorie vor, sowie die Kontroversen über sie, was nichts anderes ergibt, als ein gründlichen Exkurs über die Rivalität zwischen Wissenschaft und Religion. Die Gegner der Menschheit sind diesmal die Revisoren der Realität, ein Rudel ›himmlischer Bürokraten‹, die alle höheren Lebensformen hassen, weil die mit ihrer quirligen Umtriebigkeit nicht zum Ideal der Revisoren von einem wie ein perfektes Uhrwerk ablaufendes Universum passen. Durch die Eingriffe der Revisoren verfasst Charles Darwin statt seiner »Entstehung der Arten« eine »Theologie der Arten«, in der er darlegt, dass die Evolution von der ordnenden Hand eines Schöpfer geleitet wird. Leider führt das Werk zu einer stagnierenden Denkblockade der Menschheit, der Weltraumaufzug droht wieder nicht rechtzeitig zur gnadenlosen Eiszeit fertigzuwerden. Es kommt zu einem aberwitzigen Krieg der Zauberer gegen die Revisoren, in der beide Seiten wieder und wieder in den historischen Zeitenlauf eingreifen. Schließlich verschlägt es Darwin auf die Scheibenwelt, wo er seine Unschlüssigkeiten zur ihn selbst arg beunruhigenden Evolutionstheorie[10] im Gespräch mit dem Scheibenweltgott der Evolution überwindet.
Die Sachtextabschnitte erzählen vom Werdegang der wissenschaftlichen Durchdringung der Welt. Es gibt spannende Anekdoten über Forscher und Philosophen und ihre Heureka- und Homer Simpson-Momente. Berühmt-berüchtigte und nicht so bekannte Gedankenexperimente und Spezialmetaphern sprühen hier Funken und es wird (ziemlich aktuell) über den Stand von kontrovers verhandelten Fragen referiert. Löblich vor allem, dass Wissenschaft hier nicht als Hort absoluter Wahrheiten dargestellt wird. Immerhin, desto eingehender man sich mit irgendeinem wissenschaftlichen Thema beschäftigt, um so deutlicher wird, dass wir Menschen eben nicht genau wissen wie und warum etwas so oder so funktioniert oder beschaffen ist. In einem Podcast der BBC anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Albert Einsteins Publikations-Wunderjahr 1905, sprechen die drei Scheibenweltgelehrten munter über die Ambivalenz der Begriffe Technik und Magie[11], und dass die Phantasie ein eminent wichtiges Talent für jegliche Wissenschaft ist. Tatsächlich muss ja jeder Person, die nicht nicht hinreichend in die Mysterien der Technik eingeweiht ist, ein Mikrowellenherd, Lichtschaltermagie, Fernsehen und Telefon wie Zauberartefakte erscheinen. Banal umschrieben wurde Magie dann angewandt, wenn am Ende eines Prozesses augenscheinlich mehr Ergebnis / Produkt / Auswirkung geerntet wird, als man anfänglich Aufwand / Arbeit / Tat investiert hat. – Die Evolutionstheorie kann hierzu als Beispiel für konkurrierende Erklärungs-Phantasmen dienen. In ihren Rückzugsgefechten um die Deutungshoheit zur Beschaffenheit der Welt, berufen sich die fundamentalistischen Religiösen auf einen Schöpfergott (oder in kosmetischer Verschleierung: auf Intelligent Design), um hochkomplexe Hervorbringungen der Natur, wie das Auge oder den Menschen selbst mit seinem wundersamen Bewusstseinsvermögen, zu erklären. Solche Leute hängen ihre Argumentation an dem Himmelshaken ›Schöpfergott‹ auf, und Gott wird schlicht als wahr vorausgesetzt, basta.[12] Wissenschaftliche Denke aber ist zu der Erkenntnis gelangt, dass genügend Zeit und Variation in kleinteiliger, aufeinander aufbauender Krahnarbeit eben vollkommen ausreichen, um die wundersamen Höhen an Gestaltungsarbeit zu erreichen, als die wir Menschen uns selbst gerne wähnen. Und bezügliche menschlicher Selbsterhöhung hat mich der feinsinnigen Spott des Trios beeindruckt, wenn sie derartige allzumenschliche Schwächen bloßstellen und z.B. lausbübisch statt der selbstglorifizierenden Bezeichnung ›Homo sapiens‹ (Weiser Mensch) den – zumindest auch für mein Empfinden – zutreffenderen Begriff ›Pan narrans‹ (geschichtenerzählender Schimpanse) vorschlagen.
Abschließend ein paar Worte zur neuen deutschen Auflage der Reihe bei Piper-Taschenbuch. Gut übersetzt von Andreas Brandenhorst (Pratchett) und Erik Simon (Cohen & Steward); erfreulich, dass die Paul Kidby-Illustrationen für die Umschlagszier übernommen, und die Reihe schön einheitlich gestaltet wurde. Ein Ärgernis aber ist das Papier, bzw. die Untugend, durch schweres und dickes Papier das Volumen von Büchern künstlich aufzublähen.[13] Die englischen Taschenbücher kann man in der Gesäßtasche einer Jeans mitnehmen, für die deutschen Ausgaben braucht’s schon mindestens Military- oder Baggy-Klamotte mit großen Beintaschen. Zudem finde ich es betrüblich, dass die ausführlichen Stichwort-, Namens- und Werksregister der Originalausgaben nicht übernommen wurden. Nur schwachen Trost spendet da der bibliographische Anhang mit weiterführende Lektüre des dritten Bandes. So lästig diese Makel auch sind, mindern sie nicht die einzigartige Bereicherung, die diese Reihe Wissbegierigen zu bescheren vermag.
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»Die Gelehrten der Scheibenwelt« (
»The Science of Discworld 1«) engl 1999, erweitert 2002; 528 Seiten; Piper Taschenbuch 2006; ISBN: 3-492-28616-X
»Die Philosophen der Rundwelt« (
»The Science of Discworld 2 – The Globe«) engl. 2002; 478 Seiten; Piper Taschebuch 2006; ISBN: 3-492-28624-6
»Darwin und die Götter der Scheibenwelt« (
»The Science of Discworld 3 – Darwins Watch«) engl. 2005; 430 Seiten; Piper Taschenbuch 2006; ISBN: 3-492-26622-3
Alle drei Bücher übersetzt von Andeas Brandenhorst (Pratchett), Erik Simon (Steward & Cohen) und mit Titelbildern von Paul Kidby.
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ANMERKUNGEN:
[02] Zu Pratchett siehe auch
»MAGIRA 2003«:
»Welt und Spiegel aller Welten« von Lydia Eslinger, S. 267; Carsten Kuhr über
»Der Zeitdieb«, S. 327. –/–
»MAGIRA 2004«: Erik Schreiber über
»Rettet die Rundwelt«, S. 252. –/–
»MAGIRA 2004«: Michael Scheuch über die Hörbücher von
»Gevatter Tod« und
»Wachen! Wachen!«, S. 301. –/–
»MAGIRA 2006«: Michael Scheuch über die Hörbücher von
»Ein Hut voller Sterne« und
»Pyramiden«, S. 405, 408. •••
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[03] Der moderne Volksmund der Engländer mutmaßt z.B., daß die Eisen-, S- und U-Bahnen auf der Insel dem ungeschriebenen Gesetzt folgen, daß kein Zug losfahren darf, ehe nicht mindestens ein den neuesten Pratchett lesender Fahrgast anwesend ist. •••
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[04] Menschen haben Menschen gedient, und sich bei Planung und Durchführung der Technik bedient. •••
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[05] Vielleicht doch genauer: der
›prominenteste Charakter‹? •••
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[06] Die Portrait-Skizze von
Paul Kidby in dem prächtigen Bildband
»Die Kunst der Scheibenwelt« (Heyne, 2006) läßt als Bestandteile von Hex u.a. erkennen: einen skeletierten Widderschädel; eine Tastertur mit Hebeln und kleinen Lochkartensteckschlitzen, nebst einem A4-Schreibfederplotter; einen Teddybären; ein nacktes, verknicktes Regenschirmgestell an dem Fische hängen; ein etwas schlapper Wasserball; ein Glockenwindspiel; eine wabbelige Dali-Kuckucksuhr; ein Aquarium; ein Miniatursteinkreis; ein traditionell-geflochtener Bienenkorb; eine Sanduhr an einer kräftigen Federwage; eine Mondphasenuhr, viele viele Zähnräder verschiedenster Größe und das allem zugrundeliegende ameisendurchwuselte (
›Anthill inside‹) Gewirr aus Glasröhren, Retorten und Kolbenflaschen. •••
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[07] Etwa 30% in Band 1 & 2 und 25% in Band 3. •••
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[08] Ich muß einfach auf Jack Cohens
»X-FILES« und
»MILLENIUM«-Connection hinweisen. Neben vielen anderen Tätigkeiten arbeitet Cohen als Berater für die Filmindustrie, z.B. wenn möglichst realistische Aliens entwickelt werden sollen. Cohen hat die TV-Leute wohl gehörg beeindruckt, denn der durchgeknallteste Drehbuchautor der für die beiden Serien schrieb, Darin Morgan, hat mit der Figur des SF/Sachbuchautoren Jose Chung eine zum Kringeln lustige Homage auf Cohen geliefert, zu genießen in
»Andere Wahrheiten« (
»X-FILES«, Staffel 3, olge 20) und
»Die Phantasien des José Chung« (
»MILLENIUM«, Staffel 2, Folge 9). •••
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[09] Die schönste mir bekannte Klage über Aberglauben findet sich in Caesars erstem Tagebuchbrief an Lucius Mamilius Turrinus aus Thornton Wilders
»Die Iden des März« (1948):
Dem Paket dieser Woche schließe ich ein halbes Dutzend jener unzähligen Berichte bei, die ich als Pontifex Maximus von den Auguren, Wahrsagern, Himmerlsbeobachtern und Hühnerwerfern erhalte. Was ist zu tun? Ich habe diese Last von Unsinn und Aberglauben geerbt. Ich regiere unzählige Menschen, muß aber anerkennen, daß ich von Vögeln und Donnerschlägen regiert werde. Das hemmt und hindert häufig die Staatsführung. {…} Vor allem wird durch diese Observanzen der wahre Lebensgeist im Gemüt des Menschen angegriffen und untergraben. Sie gewähren unsern guten Römern vom Kehrichtfeger bis zum Konsul ein unbestimmtes Gefühl der Zuversicht, wo es keine Zuversicht gibt, und flößen ihnen gleichzeitig eine Ängstlichkeit ein, die weder zum Handeln anspornt, noch den Geist erfinderisch macht, sondern nur lähmt. Mit den anderen Feinden der Ordnung läßt sich fertigwerden.
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[10] Apropos: Eine alternativ-historische Fantasy-Auseinandersetzung mit der vielleicht großartigen Idee aller Zeiten, der Evolutionstheorie, legte der von mir letztes Jahr für
»Aether« (»The Light Ages«) gelobte Ian R. McLeod 2005 mit
»House of Storms« vor. •••
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[12] Etwas origineller ist das Manöver der transzendenten Metaverkettung von Himmelhaken. Wenn der buchstäblich im Nichts hängende Himmelshaken an einem übergeordneten Himmelhaken befestigt ist, und dieser wieder an einem noch höheren Himmelshaken …
ad infinitum. •••
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[13] Auch der Heyne-Verlag ließe sich da wegen seiner Aufbereitung der
»WÄCHTER«-Tetralogie von Lukianenko rügen. Legt die gewichtige Mehrheit der (womöglich überwiegend jugendlichen, leichtblendbaren?) Leser tatsächlich Wert auf solche
›Ich tu so, als ob ich dicker (= wichtiger? seriöser?)
wär‹-Ausgaben? Ist das so ein haptischer Fetischismus? Bestehen richtige Genre-Leser womöglich auf derartig aufgeblähte Mimikri-Ziegel? •••
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Susanna Clarke: »Jonathan Strange & Mr. Norrell« / »Die Damen von Grace Adieu«, oder: Ein edles Tröpfchen des berauschenden Weins der Magie
Eintrag No. 434
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Das gute Stöffche der Susanna Clarke’schen Phantastik wurde mir zum ersten Mal in der von Neil Gaiman herausgebenen Anthologie mit Kurzgeschichten aus dem Universum seiner »Sandman«-Comics kredenzt, und später lag einer Gallery-Mappe zu Gaimans und Charles Vess »Stardust« eine weitere Kurzgeschichte von Clarke bei[01]. In der Autorenbio der »Sandman«-Antho von 1996 heißt es (Übersetztung von Molo):
Derzeit arbeitet sie an einem Roman, der im England des 19. Jahrhunderts spielt, in dem Zauberei eine mehr oder minder angesehene Profession ist.
Gute zehn Jahre hat Clarke an »Jonathan Strange & Mr. Norrell« (= JS&MN) gefeilt, bis der Roman 2004 erschien.
Welch eine Freude! Was für eine Wohltat, wie JS&MN mittlerweile aufgenommen wurde, sowohl bei den Genre-Lesern, als auch von der Zunft der berufsmäßigen Literaturmeinungsverbreiter in Großmedien und Feuilletons. So jubelt beispielswiese Denis Scheck für die TV-Sendung »Druckfrisch«:
Susanna Clarke hat eines jener raren Bücher geschrieben, die uns daran erinnern, dass die Realität nur der Ort des Eskapismus derjenigen ist, die für das Reich der Magie nicht stark genug sind
und Nina May für »Die Zeit«:
Mit einer wunderschönen Bildersprache hat Susanna Clarke ein Buch für lange Herbstschmökerabende geschrieben, ein Buch, auf dessen honigfarbene Seiten einfach Schokoladen- und Kaffeeflecke gehören.
Aber, in beiden Lagern (bei Fantasylesern und Literatuuurverköstern) äußerte man verschiedentlich auch Befremden oder Unwohlsein über einige Eigenschaften von Clarkes Roman. Befremdet zeigte sich auch eine angesehene englische Literatin[02], die Clarke im Vorfeld der Veröffentlichung von JS&MN zwar begeistert bescheinigte, einen außergewöhnlich guten Roman vorgelegt zu haben, aber Clarke solle das Buch doch besser nicht selbst freimütig als ›Fantasy‹ bezeichnen, dass würde ja die anspruchsvolle oder ernste Leserschaft auf falsche Fährten locken und verschrecken. Diese Denkfigur ist ja bekannt: wenn ein Buch gute Literatur ist, dann kann es keine Genre-Fantasy sein. (Und ergänzend das andere in meinen Augen genauso dumme Vorurteil: Fantasyleser können eigentlich niemals wirklich ›ernsthafte‹ oder ›anspruchsvolle‹ Leser sein.)
Natürlich sind Einwände gegen die prägnanten Eigenschaften solch guter Literatur wie JS&MN nicht immer gänzlich kraftlos. Wer auf einen zügigen Fortlauf und klaren Bezug von Ereignissen wert legt, wer positive, leicht zu handhabende Rollenverteilung bevorzugt, wer mehr eine Schwäche (oder grad eben eher Gelegenheit) für ›Auf Sie mit Getöse‹-Äktschn und verlässliche Achterbahn-Thrill- und/oder Gefühlskissen-Einlagen hegt, wird hart und wohl weitestgehend freudlos an JS&MN zu knabbern haben, und nach einigen hundert Seiten beiseit legen. Wem es so ergeht, ist nicht automatisch ein schlechter oder dummer Leser. Man outet sich halt nur, ein ungeduldigerer Leser[03] in Sachen ›Worum geht’s denn nu?‹-Haltung zu sein.
Da ist es bequem, dass sich mittlerweile die nicht oft bietende Gelegenheit auftut, und man sich wie bei einem guten alten Rollenspiel-Buch[04] auf, in diesem Fall, zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen in eine Fantasywelt begeben kann:
- »Möchtest Du lieber in einem munter ausufernden dicken Roman versinken, dann greife zu ›JS&MN‹;
- Wenn Du elegant geschnürte Kurzgeschichten vorziehst, dann gib Dich den ›Die Damen von Grace Adieu‹ hin.«
Da JS&MN bereits mit einiger Aufmerksamkeit bedacht wurde, stelle ich im Folgenden »Die Damen von Grace Adieu« (= DVGA) ausführlicher vor[05].
DIE KURZGESCHICHTEN
Leider wurde für die deutsche Ausgabe nur das ornamentale Blumenmotiv des Umschlags übernommen, die restlichen, entzückend anmutigen Illustrationen von Charles Vess[06] der hiesigen Leserschaft aber traurigerweise vorenthalten. Da blühen Prunkwinden, Sterne und Vollmond kehren mehrmals wieder, Eulen im Flug; zwei der drei Damen von Grace Adieu halten sich beschwörend an den Händen, die dritte betet, alle tragen typische Regency-›Elfenkleidchen‹ mit Kaschmirschultertuch, Puffärmeln und gesogten Bündchen; aus einem Buch klettern kleine Kobolde und ranken sich belaubte Ästchen; ein kleiner Junge steht auf der Mauer einer Turmruine umflattert von einem Rabenschwarm; nächtliche Hügel mit Hirsch, Hundemeute und rufenden Gestalten im Nebel; eine junge Frau mit Haube und Korb guckt in einem dichten Wald durch einen schmalen Ausblick auf einen Weg der zu Steinkreisen und einem ummauerten Turm führt; an einem Kirchturm fliegt ein kleines Schiffchen mit drei fröhlich musizierenden Engelsmännekens vorbei; Mary of Scottland sitzt vor einem Gobelin und stickt mit finsterem Blick; drei Heilige schauen ehrfurchtsgebietend auf den Betrachter herab.
Zuerst spricht ein gewisser Prof. James Sutherland (im Jahre 2006 Direktor für Sidhe-Studien[07] an der Uni Aberdeen) zu uns, als Autor des Vorwortes und Herausgeber der Kollektion, später noch mal als Erzähler/Bearbeiter einer der Geschichten. Die magisch-historische Alternativwelt von Clarke umfasst sich nicht nur die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vergangenheit bis zum Regency. Laut Sutherland soll DVGA zum einen helfen, die Entwicklung der Zauberei auf den Britischen Inseln zu verstehen, zum zweiten dem Leser einige Einblicke und Rat liefern betreffs des Umgangs mit Elfen sowie deren schwer durchschaubaren Manipulationen menschlicher Angelegenheiten.
In dem Roman JS&MN ist Zauberei ja zuvörderst eine Männer-, genauer gesagt eine Gentleman-Angelegenheit, und der Erzählungsreigen ergänzt vorzüglich, da uns (nicht nur) durch die titelgebende Eröffnungsgeschichte »Die Damen von Grace Adieu« (1996) etwas von den weiblichen Zauberkünsten gezeigt wird. Hier lernt man die vielleicht drei fähigsten Zauberinnen des Regency-Englands zur Zeit von JS&MN kennen, die in dem kleinen (fiktiven) Kaff Grace Adieu leben, und sich bei ihren abendlichen Unterhaltungen über ihre männlichen ›Kollegen‹ Norrell und Strange uffregen, ansonsten sie als Kindermädchen auf Weisen aufpassen (Miss Tobias), als Witwe ein angenehmes Dasein pflegen (Mrs Field) oder mit Unbehagen über Heiratsfragen grübeln (Cassandra Parbringer). Der illustre, jüngere Meisterzauberer im Dienste Englands, Jonathan Strange, besucht zusammen mit seiner etwas überdrehten Frau Arabella deren Bruder Henry, von dem es heißt, er wolle die junge Cassandra ehelichen (die dazu lieber nix sagt). Wie überall, wo Jonathan weilt, ist er die Attraktion des Ortes, und er begegnet nächtens den drei zauberhaften Damen zwischen Wald und Hügel. Zugleich werden die Damen von unangenehmen Zeitgenossen heimgesucht, und ›Eulen sind nicht das, was sie zu sein scheinen!‹
In »On Lickerish Hill« (1997) lesen wir die dialektgefärbten Aufzeichnungen von Miranda, einer schlauen jungen Dame aus einfachen Verhältnissen, die mit dem wenig umgänglichen Sir John Sowreston verheiratet ist. Zum einen schildert die Geschichte eine Variante des Rumpelstilzchen-Märchens, und wie Miranda sowohl ihren Gatten als auch den spinnenden Elfen austrickst. Andererseits ist Miranda auch Gastgeberin eines wuseligen Gelehrtengrüppchens (die Royal Society ist noch in ihren Kindertagen), zu denen auch John Aubrey gehört[08]. Die Herren Gelehrten tummeln sich als Elfenkundler im moorigen Umland, entwerfen Fragenkataloge, für den Fall, dass sie mal einen Elfen erwischen, streiten natürlich immerfort leidenschaftlich und versuchen sich im Beschwören von Elfen.
Venetia, die Heldin der Geschichte »Mrs. Mabb« (1998) ringt mit dem Wahnsinn, denn ihr Geliebter weilt mit seinem Regiment in der Ferne im Kampf gegen Napoleon, oder doch nicht? Fiel er nicht vielmehr der Becircung der geheimnisvollen Mrs. Mabb anheim? Insekten spielen eine wichtige Rolle[09] und Venetia verbreitet bei ihren Versuchen die Schliche von Mrs. Mabb zu ergründen Unruhe unter deren Gästen und Familienangehörigen. Ins Irrenhaus eingeliefert zu werden dräut der Verzweifelten als Schicksal.
»Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig« (1999) ist der kürzeste Beitrag der Sammlung und lässt den große Helden (eine Art Rockstar seiner Epoche) Lord Wellington triumphieren, indem er es versteht, mit Nadel, Faden und Schere um sein Leben zu kämpfen.
»Mr. Simonelli und Der Elfen-Witwer« (2000) kommt in Form von Tagebuchauszügen der Titelfigur daher. Mr. Simonelli, ein junger Protestant italienischer Abstammung, nimmt, um den unaufhörlichen Intrigen Cambridges zu entkommen, eine Stelle als Landpfarrer an. Dort lernt er John Hollyshoes kennen, einen ihm bisher unbekannten Verwandten, der in dem heruntergekommenen Anwesen Allhope lebt. Hier treibt Clarke das Scharadenspiel zwischen Elfenprunk und tatsächlichem Verfall am weitesten, und Simonelli findet sich zu seiner Überraschung in der Rolle es beherzten Frauenretters wieder.
»Tom Brightwind oder Wie die Brücke in Thoresby gebaut wurde« (2001) ist die munterste Geschichte, mit den tollsten Zaubereikunststückchen. Herausgeber James Sutherland erzählt auktorial (mit Fußnoten) von einem im Jahre 1780 spielenden Abenteuer der Freunde David Montefiore, einem betont vernünftigen jüdischen Arzt, und Tom Brightwind, einem wohlhabenden Elfen, geschlagen mit einer quirligen Rasselbande junger Prinzessinstöchter.
»Antickes & Frets« (2004) handelt von der Konkurrenz zwischen Elizabeth I. und Mary von Schottland. Mary sinnt auf Rache und Thronübernahme und gibt sich zu diesem Zwecke alle Mühe, von der Heiratskarrieristin Bess Hardwick zu lernen, wie man mittels Stickereien Leute killt.
Zuletzt widmet sich Clarke/Sutherland mit »John Uskglass und der Cumbrische Kohlenbrenner« (2006) dem legendären Rabenkönig, dem mittelalterlichen Champion der englischen Zauberei, der schon in JS&MN eine wichtige und verrufene Rolle inne hat. Der junge Rabenkönig Uskglass verbreitet leichtfertig Chaos auf einer Waldlichtung, dem Zuhause eines einfachen Kohlenbrenners und seines Schweins. Der Kohlenbrenner will Vergeltung und klappert dazu die nächstgelegenenen Kirchen ab, wo die Heiligen (St. Kentigern, St. Barbara & St. Oswald) aus ihren Glasmalereihimmeln herabsteigen, um mit perfiden Zauberein dem aus Leichtsinn rücksichtslosen Uskglass erzieherische Lektionen zu erteilen.
Letztes Jahr habe ich gemosert wegen zu schnell und unbedacht gezogener ›Typisch Englisch, halt so wie bei Charles Dickens‹-Vergleiche. Bei Clarke kann aber auch ich solchen Vergleichen mit den üblichen Verdächtigen zustimmen: Clarkes alternativgeschichlich-magischer Weltenwurf verdankt nicht wenig den Romanen von Dickens und Jane Austen, denn Charakterzeichnung und die Schilderungen komplexer Standes- und Gesellschaftsregeln ist mehr Raum gewidmet, als knalliger Äktschn, und sind auf anregend durchdachte Art mit den magischen Vorgängen verbandelt. Clarke zeigt sich in ihrer Kurzgeschichtensammlung als meisterhafte Stimmenimmitatorin, die scheinbar mühelos die manchmal formelhaften Schematas von Märchen zu überraschend zu varieren und neuzubeleben versteht, mit dem für Kleinigkeiten aufmerksamen Alltags-, Konversations- und Sehnsuchtshin- und her, durch das eben die Romane von z.B. Thackery, Austen oder der Brontegeschwister zur Weltliteratur aufstiegen. Zwischen diesen beiden Erzählkonventionen pendelnd (Märchenfantasy hie, realistische Gesellschaftsprosa da), gelingt es Clarke spielerisch, ihre Leser und Protagonisten amüsant an der Nase herumzuführen und zu überraschen.
DER ROMAN
Spätestens seit Shakespeare ist ja bekannt, dass die Welt eine Bühne, und wie wichtig es deshalb ist, sich gemäß des eigenen Platzes in der Gesellschaft zu verhalten. Doch wer verteilt die Rollen und wie ergeht es Personen, die sich partout danach sehnen, von ihrem zugedachten ›Text‹ abzuweichen? Eine ganz ähnliche Frage, nur von ungleich größerem Format, eröffnet Clarkes dicken Roman JS&MN[10]. »Warum gibt es keine Zauberei mehr in England?«, will eine Versammlung von Gentleman-Zauberern zu Beginn ergründen, und einige unter ihnen sind nicht Willens, dieses Schicksal länger hinzunehmen. Diese Herren studieren zwar (allerweil streitend) die Geschichte der Zauberei, sind aber selbst zu keinerlei magischen Taten im Stande. Wegen des Rufes seiner exzellenten Bibliothek, treten die Gentlemen-Zauberer brieflich in Kontakt mit dem schrulligen und dauerschlechtgelaunten Bücherwurm Mr. Gilbert Norrell auf, der laut eigener Auskunft der einzige wahrhafte lebende Zauberer Englands ist. Nach einigem Zögern entschließt sich Norrell die Provinz zu verlassen und siedelt nach London über, um sich in den dortigen Salons darum zu bemühen, der englischen Zauberei zu neuem Glanz zu verhelfen., und mit ihr England im Krieg gegen Napoleon beizustehen. Mit seinen ersten magischen Kabinettstückchen überwindet Norrell das anfängliche Misstrauen der Entscheidungsträger aus Politik und Militär. Doch, ›Oh je!‹, der scheue Misanthrop findet sich dann, sehr zu seinem Missfallen, bedrängt von der aufgeregten Neugierde und den mannigfachen Begehrlichkeiten der besseren Gesellschaft, und begeht einen großen Fehler, als er eine junge Dame vor dem Tod errettet. Norrell sichert sich eifersüchtig und despotisch die Stellung des exklusiven Staatszauberers, ringt sich aber schließlich durch, seine Kenntnisse und Fertigkeiten mit einem Schüler zu teilen. Als solcher kommt verhältnismäßig spät, am Ende des erstens Drittels, Jonathan Strange in die Geschichte.
Der Kontrast der beiden Titelfiguren erinnert mich im besten Sinne an das Couplet, das Walter Matthau und Jack Lemmon in ihrer Laufbahn mehr als einmal grandios geboten haben: der Ältere ein emotionell harter und zerknautschter Griesgram, der Jüngere ein verplapperter und naiv-hochmütiger Hupfdibupfdi. Während Norrell in England bleibt um stets gereizt, verkrampft und paranoid das seine zum Krieg und der Magie-Renaissance beizutragen, begibt sich Strange ins Ausland zu den Truppen auf der iberischen Halbinsel[11]. Im diesem zweiten Drittel des Romans kommen nun auch Äktschn-Fans vermehrt auf ihre Kosten. — Überhaupt: Clarke steigert (für meinen Geschmack wunderbar) altmodisch sachte und subtil die Spannungs- und Spektakel-Dosis. Nicht selten schlendert der Romanfortgang scheinbar planlos herum, lässt sich athmosphärisch hie und da ein klein wenig treiben, schildert aber sonst mit der gewitzten Präzision die scharfer Beobachtung eigen ist, und die hier zudem gut Hand in Hand mit der (typisch) britischen Sitte einhergeht, Gemeinheiten und Tiefschläge zwischen feinen Ranken von spitzen Unterschneidungen zu platzieren. Zudem, und hier bedient Susanna Clarke ganz besonders meine speziefischen Phantastik-Gelüste, lässt sie gern auch mal kecke Büschel kleiner Groteskerien sprießen, oder balanciert souverän ganze Szenen auf einem schmalen Grad zwischen augenöffnender Plausibilität und prickelnder Abstrusität.
Als einer, dem mittlerweile einfach gestrickte Macho-, Strahle- oder Antihelden abhold sind, fand ich mein exquisitestes Vergnügen bei Clarkes feinem Amüsement über den Hang von Männchen zur geheimniskrämerischen Wichtigtuerei bzw. flamboyanter Prahlerei[12]. Keine Zweifel habe ich, dass sich Susanna Clarke mit ihren beiden Büchern jetzt schon in die Riege der ganz großen Vertreter der Phantastik geschrieben hat. Sie versteht vorzüglich, ihre Figuren als leicht übertriebene Karikaturen zu gestalten, und sie dennoch mit Würde und Einfühlungsvermögen zu behandeln — ein leider nur ziemlich selten zu findendes Lektürevernügen. All diese Qualitäten von Clarkes Schreibe, lassen mich der in Arbeit befindlichen (für sich stehenden) Fortsetzung von JS&MN entgegenfiebern. Immerhin: nach der feinen Salongesellschaft und ihrer Handlanger, will sie sich diesmal vermehrt mit den unteren Schichten der Gesellschaft auseinandersetzten. Ich hoffe nur, dass sie nicht nochmals 10 Jahre braucht.
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»Die Damen von Grace Adieu« (engl. »The Ladies of Grace Adieu«, mit Illus von Charles Vess, Bloomsbury 2006), übersetzt von Anette Grube, 300 Seiten;
Gebunden Bloomsbury Berlin (2006) ISBN-13: 9783827006882;
Taschenbuch bei Berlinverlag (2008) ISBN-13: 9783827006882.
»Jonathan Strange & Mr. Norrell« (engl. mit Illustrationen von Portia Rosenberg, Bloomsbury 2004), übersetzt von Anette Grube & Rebekka Göpfert, 1021 Seiten;
Gebunden Bloomsbury Berlin (2004) ISBN-13: 9783827005229;
Taschenbuch bei Berlinverlag (2005) ISBN-13: 9783833303333
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ANMERKUNGEN
[01] »Stoppe’d Clock Yard« in
»Book of Dreams«, Hrsg. von Neil Gaiman & Ed Kramer, Harper-Prism 1996 (HC), 1997 (SC).
»A Fall of Stardust« von Neil Gaiman & Charles Vess, enthält
»Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig«. Diese Geschichte wird als Umsonst-Bonbon auf der wunderschönen Promowebsite zu Clarke angeboten:
www.jonathanstrange.com
Leider —
ach Menno! — ist derzeit die deutsche Version dieser Promoseite derzeit kaputt.
Bleibt zu hoffen, daß die »Sandman«-Antho nu’ irgendwann mal übersetzt wird (immerhin sind da u.a. Beiträge solcher Fantasy-Kapazunder wie Gene Wolfe, Steven Brust, und Clarkes Lebensgefährten Colin Greenland versammelt), jetzt da der Panini-Verlag seit dem ersten Quartal 2007 damit begonnen hat, eine »richtige« deutsche Ausgabe von
»Sandman« zu publizieren. Panini bringt mich zudem zum Jubeln, denn dort erschien nun auch endlich die mit 400 Zeichnungen von Charles Vess illustrierte Prachtversion von
»Stardust« (dt. »Sternenwanderer«).
Ach ja: da ich
Tad Williams’ Romane in der Vergangenheit
›mit Wonne‹ gedisst habe, hier ein vielleicht versöhnender Tipp: in der Debüt-Nummer des neuen Phantastikmagazins
»Pandora« aus dem Hause Shayol/Otherland-Buchhandlung findet sich eine schöne Übersetzung des Williams-Beitrags der »Sandman«-Antho:
»Das Schriftstellerkind«. Auf kurzer Strecke bereitet auch mir Williams Vergnügen. •••
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[02] Eine launische Spekuation: Ich habe die vorzügliche und streitbare Dame A.S. Byatt im Verdacht. •••
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[03] Der hier auch besprochene
Neal Stephenson hat das in seinem Roman
»Diamond Age« schön umschrieben:
Hackworth hatte sich die Mühe gemacht, einige chinesische Schriftzeichen zu lernen und sich mit den Grundprinzipien der fremden Denkweise vertraut zu machen, aber im großen und ganzen hatte er seine Transzendenz lieber unverhohlen und bloßliegend, so daß er sie im Auge behalten konnte — beispielsweise in einem hübschen Schaukasten aus Glas —, und nicht in den Stoff des Lebens eingewoben wie Goldfäden in Brokat.
Heyne 2001, S. 87, übers. von Joachim Körber. ••• Zurück
[05] In heller Begeisterung entbrannt habe ich eine (wie ich finde) Gemme in Sachen Genre-Beschäftigung der anglo-amerikanischen Blogosphäre ins Deutsche übersetzt: das Seminar des akademischen Gruppenblogs
»Crooked Timber« über und mit Susanna Clarke zu JS&MN, nachzulesen oder als PDF ausdruckbar unter:
http://molochronik.antville.org/stories/1511971/
und nachgereicht dazu eine kleine deutschsprachige Rundschau (zu Feuilleton-, Forums- und Blog-Rezis) unter:
http://molochronik.antville.org/stories/1513801/
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[06] Einen willkommenen Werkstattbericht mit einigen Vergleichen zwischen Bleistiftentwurf und Tuschefederreinzeichnung kann man in
Vess’ Blog genießen:
http://greenmanpress.com/news/archives/59#
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[07] Sidhe: Keltisches Wort für Elfen, das sich von
›Hügel‹ ableitet. •••
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[08] John Aubrey (*1625, †1697): Autor des kuriosen Buches
»Brief Lives« (
»Lebensentwürfe«, Buch 114 der Reihe
»Die Andere Bibliothek«, Eichborn 1994), von dem sich auch schon Gaiman den Titel für einen seiner »Sandman«-Sammelbände (Band 7 wird deutsch als »Kurze Leben« erscheinen) entliehen hat. •••
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[09] Geglückte Insekten/Elfen-Darstellung sah ich zuletzt im grandiosen
del Toro-Film »Pans Labyrinth«. Ebenfalls in »Magira 2007« enthalten ist eine ausführliche Würdigung dieses exzellenten Fantasy-Märchen-Films von
Uwe Kraus unter dem Titel
»Goyas Erben«. •••
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[10] Mit 1021 Seiten, 69 Kapitel
(abgepackt in drei Teile mit 22, 22, und 25 Kap.) und 184 Fußnoten wird dem Leser eine Menge Holz vor’n Latz geknallt. Laßt Euch nicht von den z.T. ausführlichen Fußnoten verwirren und ablenken, in denen Clarke meistens Erzählungspralinen aus der englischen Zauberei-Vergangenheit zum Besten gibt. Ich empfehle, immer zuerst dem Faden eines Kapitels unterbrechungslos zu folgen, und die Fußnoten nach dem Lesen eines Kapitals zu goutieren. Andere Möglichkeit: Man verdirbt sich keine Überraschung, wenn man nach Lust und Laune vorblätternd die kleinen Fußnotenerzählungen als Zwischendurchkonfekt genießt. •••
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[12] Wobei Clarke nicht den langweiligen Fehler begeht, nur die Männer als belächelnswerte Figuren zu präsentieren. •••
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Neal Stephenson: Der »Barock-Zyklus«, oder: »It’s the economy, stupid«, neben, ach, so vielen anderen Dingen
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Eintrag No. 430 — Die Zwickmühle ist erstmal, wie ich einen Autoren und sein neuestes Großwerk beschreiben soll, zu dem ich als Leser (und erst recht als noch schubladenbeliefernder Selberfabulierer) mit schon fast ehrfürchtigem Staunen aufblicke? Oder für alle, denen das zu weihrauchrig klingt: Was kann ich Stubenhockerdolm schon groß Kluges über so ein exorbitant reichhaltiges, vielstrangig- und gestaltig ausuferndes, klug und exzessiv recherchiertes, tolldreist-spekulierenden Firlefanz verbreitendes, entwaffnend facettenreich inspirierendes Ideengroßpanoptikum schreiben? Noch dazu, wenn es wahrscheinlich ist, dass empört oder zweiflend Einspruch erhoben wird aus Gründen der Genrereinheit , da der Barock-Zyklus strenggenommen ja ein historischer Roman und keine Fantasy ist. — Bitte, seid mal nicht sooo streng mit den Grenzkontrollen und laßt Euch davon beschwichtigen, dass es keine verrenkte Sichthaltung braucht, um manch enge verwandschaftliche Bande zwischen Historien- und (vor allem epischer) Genre-Phantastik erkennen zu können.
Zudem! Schon die schriftstellerische Entwicklung die Neal Stephenson (1959) bisher hingelegt hat, macht ihn von Beginn weg als einen Maximalliterarten kenntlich: seine beiden ersten nichtveröffentlichten Romane waren epische Fantasy-Versuche (einer davon mit Schwerpunkt Geologie). Stephenson debütierte erst mit seinem dritten Manuskript, dem ungestüm-munteren Campuskriegsreisser »The Big U« (1984), in dem bereits u.a. intelligente Ratten, fanatische Rollenspielfreaks und alternative Realitäten vorkommen. Mit seinem (stilistisch schon barock anmutenden) Cyberpunk-Flick »Snow Crash« (1992) erlangte Stephenson Kultautoren-Status, dank seiner Vision eines Internets mit 3D-Graphik, die angeblich so manches Sillicon Valley-Start Up-Unternehmen zum Geschäftsplan inspirierte (siehe »Second Life«), und verschmolz damit eine Einführung in die Meme-Theorie anhand babylonischer Mythologie/Frühgeschichte. Mit »Diamond Age« (1995), einer schwindelerregenden Nanopunk-SF-Achterbahnfahrt, diesmal mit der Viktorianischen Epoche als historischen Ideen-Wetzstein, spekuliert Stephenson merklich reifer als zuvor über die Möglichkeiten z.B. maßgeschneiderter Erziehung und die gesellschaftlichen Verwerfungen beim Eintritt in ein Zeitalter schier unbegrenzter Überflußökonomie[01]. Dann verabschiedete sich Stephenson von der klar bestimmbaren Genreschublade der SF und legte 1999 mit »Cryptonomicon« den ersten anständigen Abenteuerroman über das heutige, von Computern geprägte Informationszeitalter vor, und diesmal zeitnäher als bisher, dem 2. Weltkrieg als geschichtlichem Schallraum. »Cryptonomicon«, und der nun damit in loser familiärer Verbindung stehende »Barock-Zyklus« gehören keinem der normalen Phantastik-Genres an, auf den ersten Blick zumindest. Immerhin spielen diese Romane in unserer Welt (naja: einer leicht überhöhten Räuberpistolen-Mutation unserer Welt), und die phantastischen Elemente quellen einem nicht gleich mit großem Hallo entgegen, noch sind sie sonderlich zahlreich. Doch wie Stephenson erklärt, hat er sich in »Cryptonomicon« der Gegenwart der Internet-New Economy und der Geheimbotschaftskriege, und im »Barock-Zyklus« der Zeitenwende vom 17. zum 18. Jahrhundert, mit den sehr spezifischen Sensibilitäten eines (SF)Phantastik-Genreautors gewidmet. Das macht nun vor allem den umfangreichen »Barock-Zyklus« zu einem jener Bücher, die man völlig zurecht als phantastische Meta-Fiktion bezeichnen kann. Die wenigen Betrachtungsrahmen die genug Weitwinkelperspektive zulassen, damit die dieser Zyklus durchpaßt, sind zu komplex, um daraus griffige Vermarktungsettiketchen abzuleiten.
Andererseits läßt sich Stephenson aber damit locker einer Autorengruppe zusprechen, die sich eben herzlich wenig um das Eiteitei von Genregrenzen schert, und der (grad deshalb?) außerordentlich frische und kraftvolle Phantastik gelingt. Aufgrund meiner gehegten Schwäche für diese Grenzüberflieger empfiehlt sich mir Stephenson als einer der reizvollsten zeitgenössischen Fabulatoren. Auf meiner Lektürekarte liegt ›Mount Stephenson‹ an einem Lauf des schillernden Flußgeaders, von dessen Ufern auch Meta-Phantasten wie Umberto Eco, Matt Ruff, Michael Chabon oder Lawrence Norfolk ihre Romanschiffchen auf den Weg schicken[02]. Als jemand, der stets auch schon mit der Romanform selbst spielt und diese auszureizen trachtet, macht Stephenson auch im Vergleich mit solchen regelmäßig außer Rand und Band geratenden US-Romanciers wie Thomas Pynchon[03] oder T.C. Boyle (z.B. »Wassermusik«) eine gute Figur. Stephensons Romane eignen sich vorzüglich dazu, gedankenknoblerische Probleme zu bereiten[04], oder sich zu 1001 ertragreichen Recherechespaziergängen in Sachbuchgefilden anregen zu lassen.
Der »Barock-Zyklus« ist keine Trio, auch wenn der Handhabe wegen seine acht Einzelbücher in drei Bänden erschienen. Band 1 »QUICKSILVER« beginnt mit Buch 1 »Quicksilver« (27 Kapitel), widmet sich vornehmlich dem brodelndem Kessel der Vergangenheit. In der Gegenwartshandlung kommt Enoch Root, ein unsterbliche Alchemistenmeister, 1713 in die neue Welt nach Bosten, um dem alten (Ex-)Puritanier Daniel Waterhouse den Auftrag einer Prinzessin zu überbringen: Daniel soll nichts weniger, als den weltbilderschütternden Magier- äh Gelehrtenstreit zwischen Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz schlichten. Daniel regelt seine Familienangelehenheiten und bricht mit dem Schiff ›Minerva‹ nach Europa auf, und Stephenson versteht es meisterhaft, uns eine langwierige jedoch äußerst fingernägelgefährende maritime Verfolgungsjagd zu liefern, denn im Auftrag obskurantistischer europäischer Mächte will der für seine Grausamkeit berüchtigte Pirat Blackbeard Daniel aufhalten[05]. Vermengt damit wird dem Leser in längeren Rückblicken auf den Zeitraum von 1655 bis 1673 der Werdegang Daniels geboten. Abwechslungsreich wird davon erzählt, wie der Sohn eines radikal-fundamentalistischen Predigers als Jugendlicher zum Busenfreund des (im unheimlichen Sinne) engelsgleichen Newton wird; wie er sich mit diesem zusammen für die Naturphilosophie begeistert und Isaac z.B. bei schweißtreibenden Augenexperimenten behilflich ist. Überhaupt: die Einblicke in die Kindertage der Royal Society bieten haarsträubende und nervenaufreibende Passagen, weniger, wenn Isaac Sonnenuhrenschatten beobachtet, schon eher, wenn Robert Hooke durchs Mikroskop guckt, aber getollschockt hat mich dann doch, wie eine Handvoll Naturphilosophen Hunde bei lebendigem Leib sezieren. Über den gemeinsamen Mentor in Sachen symbolische Logik[06], den einzigartigen Bischof Wilkins[07], lernt Daniel auch Leibniz (›Das Monster‹) kennen und schätzen[08]. Daniel macht seine ersten wackeligen Schritte als politischer Hinter den Kulissen-Spieler im Ringen um Englands Verfassung in Sachen Religion und Thronfolge. Zudem gilt es den ersten Sabotageplott aufzudecken (Manipulation von Kanonenpulver, durch das englische Schiffe in die Luft fliegen).
Szenenwechsel und zurückgesprungen in der Zeit bis 1665, stellt Buch 2 »König der Landstreicher« (18 Kapitel) die zweite männliche Hauptfigur vor, Jack Shaftoe, der mit seinen Brüdern aus der Gosse Londons stammt. Als kleine Buben verdienen die Shaftoes ihr erstes Geld damit, unachtsame Freier zu beklauen, und sich als Gewichte an die Beine von Galgenvögeln zu hängen[09]. Kleiner Zeitsprung vorwärts und wir begleiten Jack als jungen Twen auf dem Weg zum Krieg gegen die Wien belagernden Türken. Die ca. 20 Seiten mit Jacks chaotischer Jagd eines Straußenvogels quer durch das türkische Lager und wie er die Haremssklavin Eliza mitten im Schlachtgetümmel aus den Fängen ihrer Henker befreit, gehört zu der Handvoll bester Äktschnpassagen, die mir in über 20 Leserattenjahren untergekommen sind. Als Kind wurden Eliza und ihre Mutter von einem französischem Sklavenschiff vom Strand ihrer (fiktiven) Heimatinsel Quwglm entführt. Jack und Eliza geben im »Barock-Zyklus« das melodramatische Liebespaar. Es ist eine Wonne, wie der tollkühne Jack von der hochintelligenten und verführerischen Manipulationsmeisterin Eliza gezähmt wird[10]. Die beiden schlagen sich durch das unheimliche und trübe Deutschland, das nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges immer noch als Wüstenei darbt. Es gibt: Hexensabbat auf dem Brocken; Kriechabenteuer in Bergwerksschächten (mit ›leuchtet im Dunklen‹-Superheldenhomage); nettes Geplausche mit Leibniz über Romane und Geheimbotschaftverschlüsselung; Jacks Kapriolen als Partyschreck die Ludwig XIV. einen schönen Party-Abend versauen; Elizas Begegnung mit Wilhelm von Oranien, der ihr einen geheimen Herzoginnenstitel verleiht, ihre Anfänge als durchtriebene Börsenbrokerin und schließlich das tragische Zerwürfnis zwischen Eliza und Jack, weil er sich naiverweise (ohne es zu ahnen) am Sklavenhandel beteiligt. Auf dem Schiff ›Die Wunden Gottes‹ reist er ins Unglück und wird von arabischen Piraten vor der Nordafrikanischen Küste gefangen genommen.
Buch 3 »Odalisque« (22 Kapitel) knüpft wieder an Daniels Geschichte weiter, wie er sich in den heruntergekommenen Whitehall Palace begibt, um James II. offiziell vom Ableben George II. zu unterrichten. Ansonsten steht Eliza im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wir begleiten sie von 1685 bis 1689 durch Norddeutschland, die Niederlande, und Frankreich, zu den inneren Kreisen des Versailler Sonnensystems mitsamt seinen vertrackten Intrigen und Eifersüchteleien, Big Brother-Überwachung und Satanisten-Machenschaften, Maskenbällen, Finanz- und Rohstoffproblemen. Eliza unterstützt als Spionin das geheime Großprojekt von Leibniz und Daniel (Baus einer Denkmaschine), wird von einem Bastard Ludwigs geschwängert und rettet eine Prinzessin.
Band 2 »CONFUSION« springt nun von 1689 bis 1702 zwischen Europa und Exotik hin und her, vermengt beides, ganz der Programmatik des Titel entsprechend. In Buch 4 »Bonanza« (14 Kapitel) sind wir mit Jack Shaftoe unterwegs, der wieder frei mit neun seiner Ruderbankkammeraden einen gigantischen Riffificoup durchzieht[11]. Die bunte Truppe verdeutlicht für mich sehr überzeugend, dass Aliens, Elfen und andere seltsame Humanoiden der Genre-Phantastik oftmals nix anderes sind, als dekorativ übertriebene oder vereinfachte Fremde und/oder Außenseiter[12]. Ostwärts geht's für Jack & Co einmal um den Globus, mit Straßenschlachten auf dem großen Markt von Kairo, Sprengstoffgewinnung aus Pisse in Indien, den Geheimnissen der Edelstahlfertigung, ausgeklügelten Quecksilberschwingungsfallen in einem japanischen Hafen, von Sturm und Feuersbrünsten heimgesuchten Pazifiküberquerungen, und als finsterer Höhepunkt münden die beiden Romane des zweiten Bandes in einer mark- und beinerschütternden Folter/Vergewaltigungs-Doppelpackung.
Derweil folgt Buch 5 »Das Komplott« (50 Kapitel) Elizas und Daniels Wegen. Eliza steigt zur Doppelherzogin auf und glänzt als Finanzmagiern, Beschützerin von Prinzessinen und leidgeprüfte Mutter. Ach ja: Peter der Große und sein Rudel poltern in diesem Band auf eine Art durch die Szenerie, dass mir ganz flau vor Lachen und Gruseln wurde. Newton und Leibniz (bzw. ihre Anhänger) debatieren sich in den großen Streit hinein, u.a. dazu, ob Newtons atomistisches oder Leibniz monadisches Weltbild stimmt[13]. Newton entschließt sich die Leitung der englischen Münze zu übernehmen, und das zu einem Gutteil auch, weil er aus alchemistischem Interesse äußerst erpicht darauf ist, dass von Jack & Co. geklaute spanische Gold in die Finger zu bekommen. Daniel schließlich bricht am Ende des Bandes ‘gen Bosten auf, um für die nächsten 17 Jahre (siehe Beginn des ersten Bandes) einen (fiktiven) Vorläufer des MIT zu betreiben, und sein ›Comenius-Wilkins-Leibniz'sches, Pansophisch, Arithmetisches Maschinenlogisches Vernunftalgebraisches, Automatisch Rechnendes Behältnis allen Wissens‹ voranzutreiben[14].
Hat man bisher geglaubt, dass Stephenson schon sein Limit an kleinteiliger Ausbreitung historischer Feinheiten erreicht hat, wird von »PRINCIPIA« (engl: »The System of the World«) (Januar bis Oktober 1714) wohl nochmal überrascht werden. Die Detail- und Lebensfülle mit der London, vor allem der berüchtigte Tower und das Newsgate-Gefängnis beschrieben werden, hat mich schlicht geplättet (Oh, welch Wonnen der lustvollen Überforderung!). Zugegeben: ohne einem zumindest ansatzweise vorhandenem Interesse für Stadt- und Gebäudearchitektur und/oder Sozial- und Kulturgeschichte ist das sicherlich nicht sooo aufregend, wie ich hier juble. Aber es tut sich ja auch ordentlich viel, so kommt in Buch 6 »Salomons Gold« (29 Kapitel) der alte Daniel in Südengland an, und bestaunt die ersten Versuche des Dampfmaschinenbaus. Irgendwer trachtet entweder ihm oder Isaac mit Höllenmaschinen (Bomben mit Uhrwerkzeitzündern) nach dem Leben, und in Buch 7 »Währung« (29 Kapitel) und Buch 8 »Das System der Welt« (41 Kapitel & 5 Epiloge) geht es dann richtig rund mit bürgerkriegsartigen Unruhen in London, verbissenen Kämpfen bei denen die Gegner wie Gozillas ganze Häuser platt machen, einem Duell zwischen Sklaven und Sklavenhändler mit Kanonen, und es schließt sich der Kreis des großen Hauptthemas ›modernes Finanz- und Währungswesen‹, dass in Buch 1 mit einem jugendlichen Newton anhob, als dieser über das unübersichtliche Münzdurcheinander seiner Heimat bass erstaunt ist. Zuletzt gipfelt alles in einem philosophischen (sic) Showdown zwischen Newton und Leibniz, bei dem Globen rollen.
Diese Zusammenfassung ist freilich eine lächerliche Peinlichkeit, denn selbst doppelt oder dreimal so viel Worte könnten nur einen vagen Überblick des enorm stoffreichen Zyklus bieten, und ich komme mir vor, wie ein Kandidat, der an dem von Monthy Python erfundenden Wettbewerb teilnimmt, Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlohrenen Zeit« in einer Minute nachzuerzählen.
Schon mit seinen SF-Romanen hat mich Stephenson überrascht, mit der angenehm flüssig zu lesenden Kurzweiligkeit seiner erklärenden Prosa, denn unspannendes Technikblabla ist auch für mich eine lästige und ermüdende Plackerei, durch die mir SF-Lektüre schnell zu anstrengend und freudlos wird. Nicht so bei Stephenson, dem ich zutraue, dass sogar von ihm verfasste Mobiltelefongebrauchsanleitungen noch eine spannendere Lektüre für mich abgäben, als der x-te Band eines Genre-Franchise.
Für die Leser bleibt eigentlich nur die Möglichkeit sich dem Zyklus zu ergeben, hineinfallen und von seinen Strömungen mitnehmen zu lassen, und wie so manche begeisterte Rezensenten zu jauchzen: »Zu viel, denkt man, zu konfus, mehr davon!«[15], oder diese drei Bücher eben zu meiden. Da ich hier ausdrücklich Lese- und keine Kaufempfehlungen gebe, sei empfohlen, auf die (nicht ganz so schmerzlich kostspieligen) Taschenbücher abzuwarten, oder mal bei Freunden und Büchereien zu lugen, und in den ein oder anderen Band des »Barock-Zyklus« reinzulesen, denn ich wage zu versprechen: findet man hinein in dieses gewundene Labyrinth, bleibt man erstmal darin hängen, ist das Vergnügen ein auf Jahre prägendes.
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»Barock-Zyklus I: Quicksilver« (engl. 2003 / dt. gebunden 2004, Taschenbuch 2006), Karte vorne: Europa; Karte hinten: London im Jahre 1666 nach dem großen Feuer; Personenverzeichnis, Stammbäume und einige Abbildungen; 62 Kapitel, ca. 1152 Seiten; ISBN: 978-3-442-46183-7
»Barock-Zyklus II: Confusion« (engl. 2003 / dt. gebunden 2006, Taschenbuch 2008); Karte vorne: Europa, Afrika, Vorderer Orient / Nordsee; Karte hinten: Indischer und pazifischer Ozean / Mittelamerika; 64 Kapitel, ca. 1024 Seiten; ISBN: 978-3-442-46662-7
»Barock-Zyklus III: Principia« (engl. 2004 / dt. gebunden 2008); Karte vorne: London / Fleet-Gefängnis; Karte hinten: Die Themse und Umgebung / Tower von London; 104 Kapitel, ca. 1120 Seiten; ISBN: 978-3-442-54607-7.
Alle drei Bände brillliant übersetzt von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller.
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ANMERKUNGEN:
[01] »Diamond Age« ist immer noch mein persönlicher SF-Lieblingsschmöker eines Zeitgenossens. Warum? Hier nachzulesen:
http://molochronik.antville.org/stories/766431/ •••
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[02] Umberto Ecos in der Zeit von Barbarossa spielender
»Baudolino« verarbeitet die Fantasy-Propaganda über fiktive christliche Reiche im Orient; Matt Ruff legt mit
»Ich und die Anderen« eine Innenwelt-Psycho-Fantasy-Quest-Romanze im heutigen Amerika vor; Chabon erzählt in
»Die unglaublichen Abenteuer von Kevalier und Clay« über zwei fiktive Comic-Pioniere und ihren eskapistologischen Superhelden und Norfolk hat in
»Lamprier's Wörterbuch« und
»In Gestalt eines Ebers« köstlich über Confusionen von Fakt und Phantasie fabuliert. •••
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[03] Was Willi Winkler in der
»Literaturen« vom März 2007 über Pynchons neusten Wahnwitzschmöker
»Against the Day« schreibt, scheint mir auch bis auf I-Tüpflechen auf Stephensons Romanen passen:
»Diesen Autor treibt das studentische Bedürfnis, die Welt nicht nur zu durchschauen, sondern auch noch zu retten. {…} Er ist Bastler, Ingenieur und möchte nichts Geringeres, als dem Welträtsel auf die Spur zu komen.«
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[04] Jedoch: Probleme bieten Gelegenheiten fürs Raffinessezeigen. Knoten wollen gelöst werden und Geschichtenerzählen ist immer Knüpfkunst bzw. -handwerk. •••
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[05] Erste
›Cliffhanger‹-Zumutung, und typisch für ein derart ambitioniertes Werk: erst nach über 1000 Seiten wird dieser Handlungsfaden zu Beginn des dritten Bandes wieder aufgenommen. •••
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[06] Grob gesagt Vorläufer u.a. moderner zeichentheoretischer, mathematischer & steuerungstechnischer Disziplinen wie Kybernetik, Programmierung und Informationstheorie. •••
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[07] Mit
»Mercury, or the Secret and Swift Messenger« (1641) der erste Sachbuchautor in Sachen Geheimcodes, zudem mit seinem satirischen Mondfahrtabenteuer von 1634 ein SF/Phantastik-Pionier. Wilkins dient Stephenson auch als Anschauungskandidat, wie elendig in der damaligen Zeit Leute an so einer
›Kleinigkeit‹ wie Nierensteinen verreckt sind. Wie betet doch Samuel Pepys (dessen
erotische Tagebücher von Helmut Krausser herausgegeben jüngst bei Eichborn erschienen sind) so schön ehrfürchtig:
»Herr des Universums, … Preis und Dank sei Dir dafür, dass Du uns die Gaben der Vernunft geschenkt hast, dank deren das Verfahren der Lithotomie erfunden wurde…«
Aus: »Confusion«, S. 623. Siehe auch Fußnote 10. ••• Zurück
[08] »Es gibt zwei berühmte Labyrinthe, in denen sich die menschliche Vernunft oft verwirrt« wie Leibniz meint. Der eine Irrgarten hat mit dem Wiederspruch zu tun, ob der Mensch bei seinen Entscheidungen und Meinungen Willensfreiheit genießt, oder ob er nicht doch gemäß göttlicher Vorherbestimmung (Predestination) handelt. Das zweite Labyrinth bezieht sich auf das Problem der Kontinuität oder des Unendlichen, was sich auch als Frage formulieren läßt, die in ihrer Einfachheit schon wieder mystisch klingt: Was ist der Raum? •••
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[09] Köstlich, wie die Knaben den Verurteilten mit einer theatralischen Werbung augenfällig vorspielen und singen, welchen Todesqualen verkürzenden Wert ihre Dienstleistung bietet. •••
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[10] Unter anderem durch Elizas Tantra-Gaben, mit denen sie Jacks vom Druck jahrelang angestauter »gelber Gallenflüssigkeit« befreit. Jacks Geschlecht wurde nämlich bei einer schiefgelaufenen, besoffenen Syphilis-›Operation‹ durch ein glühendes Eisen verbrutzelt, was ihn den Spitznamen
›Schuß-in-den-Ofen-Jack‹ (Half-Cocked Jack) bescherte. •••
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[11] Guckt Euch mal
»Oceans 11«, 12 und 13, oder entsprechende Klassiker wie
»The Sting« durch die Fantasy-Genrebrille an; Einbruchsmagische Künststüchcken in leicht überhöhter Echtweltwirklichkeit. •••
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[12] Bei den Schwarzalben der Edda überkommt mich kein Elfenschauer, sondern die Vermutung, daß die alten Nordeuroäer damit wohl die dunkelhäutigeren Südeuropäer, Afrikaner und Araber meinten. Und wenn ich daran denke, daß im Bergbau der Altvorderen bis hin ins junge 20. Jahrhundert sich Kinder kaputtschufteten, erscheinen mir die typischen McFantasy-Zwerge beunruhigend schal und verlogen. Aber warum sollte es bei Phantastik anders sein, als bei Wurst- und Gesetztmacherei? Weiß man erstmal, wie Wurst und Gesetzte fabriziert werden, kann einem der Appetit, bzw. der Glaube zum aktuellen Stand des Parlamentarismus vergehen.
Hier sozusagen als Trailer Jacks Meisterdiebande (
»Confusion«, S. 42):
1) Jewgeni, der Raskolnik, auch der
›Rus‹ genannt;
2) Mr. Foot, ehemaliger Inhaber des
›Bombe & Enterhaken‹ in Dünkirchen und jetzt Unternehmer ohne Portfolio;
3) Dappa, ein Negerlinguist und Anti-Sklavereipamphletautor;
4) Jeronimo, ein unflätiger, aber hochgeborener Spanier;
5) Nyazi, ein Kamelhändler vom oberen Nil;
6) Moseh de la Cruz, der Kohan mit
dem Plan;
7) Gabriel Goto, ein Jesuitenpriester aus Japan und Samuraischwertmeister;
8) Otto van Hoek, ein holländischer Seemann und Piratenhasser;
9) Vjej Esphahnian, Spross einer in aller Welt verstreuten armenischen Händlerfamilie.
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[13] Leibniz im Zwiegespräch mit Newtons Fanboy Fatio:
»Perzeption (Wahrnehmungsvermögen, A.d.Molo) und Denken sind Eigenschaften der Seelen. zu postulieren, dass der Grunbaustein des Universums Seelen sind, ist nicht abwegiger, als zu behaupten, es seien kleine Stücke harten Stoffes, die sich im leeren Raumumherbewegen, welcher von geheimnisvollen Feldern durchdrungen sei.«
Aus: »Confusion«, S. 388). ••• Zurück
[14] »Confusion«, S. 755. Auf englisch:
›Comenius-Wilkins-Leibniz Arthmetickal Engine-Logick-Mill-Algebra of Ratiocination-Autopmatic Computation-Pepository of all Knowledge project‹ (S. 624). •••
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Vorschau auf Molos Rezis in MAGIRA 2007 (mit Portraits)
Eintrag No. 411
Jetzt im Oktober erscheint zum siebten Mal
»Magira – Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Hermann Ritter & Michael Scheuch. Weil die Manuskripte von mir Ehren-Legastheniker sicherlich Zumutungen für jede Redaktion und Korrekturlesertruppe sind, ist es angebracht, daß ich den ehrenamtlichen Korrekturleser(n)Innen ganz demütig
Danke!
(Ich verbeuge mich herzlich grüßend vor Margit M.
und Thomas G.
!) Und
Krischan S. hat sich wie immer heldenhaft mit den Scans meiner Portrait-Skibbels herumgeschlagen. Zu Dank verpflichtet bin ich auch meinen Habereren der verschiedenen Phantastik-Foren, in denen ich mich herumtreibe. So manche Wendung, Idee oder Einsicht, die Eingang in meine Sammelrezi fand, verdanke ich dem tastengeklapperten Tratsch mit Euch!
Wie schon in den vergangenen Jahren, gibts hier als Trailershow eine Übersicht meiner diesjährigen Empehlungen, die mit einiger Höflichkeitsverzögerung ab Anfang 2008 auch Stück für Stück in die Molochronik eingespflegt werden.
Aussicht auf 2008? Gerne will ich mal was anderes ausprobieren. Vielleicht eine Mischung aus Story, Rezi und Essay; vielleicht etwas, mit vielen kleinen Illus (so wie die TB-Ausgabe der Balzac'schen
»Tolldreisten Geschichten« mit den Illus von Gustave Doré) … mal schaun.
Im Folgenden nun das
»Introdubilo« und die Überleitungsabschnitte meines ca. 13.000 Worte langen
»Magira 2007«-Beitrages.
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GUT GELAUNTE PHANTASTIK-EMPFEHLUNGEN
DES LEKTÜREJAHRES 2006/2007
Da der Spielraum der Sinne enger ist als der Phantasie: so entsteht die Täuschung, dass wir uns jene nur in den Ketten des Körpers und diese nur in den Zügeln des Willens denken, da wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen. {…} So zieht das Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, um das gelobte Land der Zukunft. {…} Noch größer ist die phantasierende Kraft, wenn sie auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht.
—Jean Paul (1763-1825), »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft«[01]
Dicke, teilweise erschreckend anspruchsvolle Bücher, bzw. flotte Mehrteiler, haben mich im vergangenen Jahr in ihren Bann gezogen. Meine Eingeschüchtertheit vor einigen dieser Werke kann ich gar nicht übertreiben, und wieder mal[02] wurde ich heftig angestubst, mich mit Fragen über das Wesen der Phantastik im allgemeinen und insbesondere der Genre-Schublade Fantasy zu beschäftigen.
Streck- und Lockerungs-Übung: Wie lässt sich möglichst einfach erklären, was Phantastik eigentlich ist? Das Wort kommt ja aus dem Griechischen und bedeutet in etwa »erscheinen lassen«, »sehen lassen«. Gemeint ist, dass ein »Absender« durch Mitteilungen (»Medien«) beim »Empfänger« eine möglichst anschauliche Vorstellung hervorruft. Primitivstes Beispiel das mir dazu einfällt: ein der Sprache noch nicht mächtiges Kleinkind schreit und deutet auf sein geliebtes Stoffhäschen, und z.B. die große Schwester entschlüsselt diese Äußerung und bringt dem Kind das ersehnte Häschen. Oder nehmen wir Trunkenheit. Hält man sich an exakte Vermessungsmethoden, dann kann man den Grad seiner Trunkenheit »ganz nüchtern« in Zahlen ausdrücken, indem man das Mischverhältnis Blut/Alkohol ganz streng benennt: »Gestern hab ich heftig schwer gebechert und als mich der Herr Wachmeister in Röhrchen blasen ließ, zeigte das Gerät, dass ich mit 2,4 Promille unterwegs gewesen bin« (= wissenschaftlich-amtlicher Phantastik-Modus). Wer keine Ahnung hat von diesem Promillezeugs hat, kann ausweichen und sich helfen, indem die einverleibten Getränke aufgezählt werden: »Ach ja, gestern waren's fünf Weizen, drei Korn und zum Schluss noch ein Tequila« (= pragmatischer Modus). Schließlich kann man auch völlig blumig-skladische Umschreibungen verwenden, um den alkoholisierten Bewußtseinszustand kneipenpoetisch zu umschreiben: »Gestern abend haben wir so heftig gesoffen, dass wir einigen Bergen die Gipfel abgebrochen haben« (= umgangssprachlicher Modus[03]). Diese letzte Variante ist zwar total ungenau im Vergleich zu den ersten beiden, aber dennoch: man kann sich ein lebhaftes Bild davon machen, wie trunken durch die Gegend getorkelt wurde.
Das Pro und Contra zur Phantastik lässt sich im Grunde auf Deutungshoheitrangelein darüber zurückführen, welche Sprachgepflogenheiten, Bilderwelten, Vorstellungskonventionen und Denkkonstukte als zulässig bzw. unzulässig gelten sollen. Bei kontroversen Gesprächsrunden muss man meist nicht lange warten, bis jemand empört den Satz äußert: »Das kann man so nicht sagen!«. Unsere Sinneswerkzeuge können halt nur einen leidlich kleinen Ausschnitt des unendlich chaotischen Teiges der Echtweltwirklichkeit erfassen, und unsere Bewusstseins- und Denkorgane backen aus den handlichen Teigbröcken dann mundgerechte Impressions- und Erinnerungsbrötchen. Und weil wir Menschen nun mal derart beschränkt und (vor allem) zu fibbrig sind, als dass wir in das Wittgenstein'sche »Schweigen, worüber man nicht sprechen kann« verfallen wollen, hat die Menschheit aus unzähligen konkurrierenden Phantasma-Steinen und Metaphern-Verstrebungen einen Kommunikations-Turm zu Babel errichtet.
Die folgenden Titel meines zurückliegenden Lektürejahres haben alle mehr oder minder heftig mit nichts weniger als diesem vielgestaltigen Turm zu tun. Auf meinen ersten drei Stationen bereiste ich England, womöglich das Mutterland der modernen Phantastik, und mit vergnügten Eifer studierte ich Tom Shippeys Ausführungen über Tolkien; bewunderte die ungewöhnlich elegante Magie des Romandebuts und der versammelten Kurzgeschichten von Susanna Clarke; bestaunte hingerissen, wie die Gelehrten der Scheibenwelt unsere Rundwelt-Wissenschaft und -Kultur in einer ungewöhnlichen Novellen/Sachtext-Reihe bespiegeln, und im zeitgenössischen Russland entspannte ich mich von dermaßem viel Bildungsanstrengungen, indem ich meine Gaudi damit hatte, wie Sergei Lukianenko Fantasy, Horror und Poproman zu einem zwielichtigen Prosacomic vermengte.
Ich beginne mit einem J. R. R.-Schlenker (da ich auch mit Tolkien abschließen werde). Sein »Der Herr der Ringe« ist ja eines dieser Bücher, das dem Vernehmen nach von seinen begeistertsten Lesern immer und immer wieder, womöglich zur alljährlichen Besinnung und Erbauung gelesen wird[04]. Bei mir haben die folgenden voluminösen Brocken ‘ne gute Chance, genauso zu einer solchen (mehr oder weniger) regelmäßig-bereichernden Vergewisserungslektüre zu werden.
Neal Stephenson: Der »BAROCK-ZYKLUS« (I. »Quicksilver«; II. »Confusion«; III. »System of the World«) —oder: »It's the economy, stupid« … neben, ach, vielen vielen anderen Dingen.
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Wie locker oder verkrampft Phantastik betrieben und gehandhabt wird, hängt meiner Ansicht nach entscheidend davon ab, wie ruppig-leidgeprägt oder segensreich-glatt ein Kulturraum die Groß-Umwälzungen der Zeitenwende zur Moderne erlebte und empfand. Der Anglist Dietrich Schwanitz (1940-2000) schreibt dazu[05]:
»Während die Modernisierung {die Epoche des Übergangs von einer ständisch geprägten Gesellschaft zu einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft} in Deutschland die Gestalt einer finsteren Tragödie annahm, ist die englische Kulturgeschichte bei allen Kosten und Krisen im Vergleich zur deutschen eine Glücksgeschichte – und das heißt eine Comedia Anglica«.
Von allen internationalen Strömungen der Phantastik, ist mir die englische schon früh als besonders verführerisch und ergiebig nahegekommen. Es ist mir deshalb ein besonderes Vergnügen, mit einiger (hoffentlich verzeihbarer) Verspätung nun eine Autorin ausführlicher für MAGIRA zu besprechen, die sich ebenfalls dieser großen Zeitenwende widmet.
Susanna Clarke: JONATHAN STRANGE & MR. NORRELL« / »DIE DAMEN VON GRACE ADIEU« —oder: Ein edles Tröpfchen des berauschenden Weins der Magie.
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Oh je, die böse »Entzauberung der Welt«! Auch wenn sich hinter diesem Schlagwort von Max Weber eine tiefsinnige Reflexion zu dem sich über lange Zeit erstreckenden Intellektualisierungsprozesses der Menschheit, von dem der wissenschaftliche Fortschritt nur ein Teil ist, verbirgt, habe ich mir diese Sicht der Dinge, diese heftige Klage über ein Zuviel an Desillusionierung und ›Ent-Täuschung‹ niemals wirklich zu eigen machen können. In unseren gegenwärtigen Zeiten eines unseeligen »Kampfes der Kulturen« wird diese Klage wieder vermehrt in den verschiedensten Formen vorgebracht, und tritt zum Beispiel als Reibung zwischen religiös-spiritueller und wissenschaftlich-naturalistischer Weltauffassung zutage. Während die einen vom begrüßenswerten, weil notwendigen, Wiedererstarken des Religiösen sprechen, gehen andere kritisch bis hart mit den Religionen ins Gericht und grenzen sich z.T. heftig gegen Mumbojumbo jeglicher Coleur ab.
Pratchett, Steward, Cohen: »DIE GELEHRTEN DER SCHEIBENWELT« —oder: Expeditionen in die Wirklichkeit der geschichtenerzählenden Affen.
Diese Reihe besteht (bisher) aus drei Titeln: »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, »Die Philosophen der Scheibenwelt« und »Darwin und die Götter der Scheibenwelt«.
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Die Übergänge zwischen dem, was man als »Realismus« preist, und dem was man »Phantastik« schimpft sind ja meistens fließender, als auf Dauer bequem ist. Schlicht um nicht durchzudrehen, sparen sich Menschen deshalb üblicherweise, ihre stillschweigenden Annahmen, Übertreibungen und Vereinfachungen die Wirklichkeit betreffend auszubreiten., aber es reicht schon, kurz irgendeiner langfristigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung Aufmerksamkeit zu schenken, um das Knacksen und Rumpeln plattentektonischer Weltbild-Spannungen zu hören. Ziemlich nichtig ist freilich so eine Frage, wie man sich einen »idealen Apfel« vorstellt (grün oder rot), aber bei folgenden Angelegenheiten wird's dann brenzlig: ob Geschlechterrollen biologisch oder durch kulturelle Gepflogenheiten bestimmt werden; ob der Verlauf zivilisatorischer Entwicklungen zyklisch, aufsteigend, irgendwas dazwischen oder völlig anders geartet ist; wie man mit den Widersprüchlichkeiten zwischen solchen Werten wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit umgehen soll; wie man sicher sein kann, was Gut und Böse ist. Das klingt jetzt vielleicht ganz schon heavy, aber die nächste Station meiner Lektürereise führt unterhaltsam vor, wie solche Probleme sich auch mit kurzweiliger Abenteuerprosa umkreisen lassen.
Sergeij Lukianenko: DIE »WÄCHTER«-TETRALOGIE —oder: Von den Einen, den Anderen und den ganz Anderen.
Diese Reihe besteht aus vier (no na, deswegen ja Tetralogie) Büchern: »Wächter der Nacht«, »Wächter des Tages«, »Wächter des Zwielichts« und »Wächter der Ewigkeit«.
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Zum Ausklang nach soviel ›englischer Extrentrik‹ und russischem Gemütskolorit, nun eine Rückbesinnung anhand eines Sekundärwerks, dass keinen geringeren Gegenstand behandelt, als den großen (unfreiwilligen) Initialzünder der (auch von mir) oftmals so schmählich beäugten modernen »Feudalismus-Light«-Fantasy.
Tom Shippey: »J. R. R. TOLKIEN – AUTOR DES JAHRHUNDERTS« —oder: Über das Menschenrecht auf Phantasie.
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ANMERKUNGEN:
[01] Aus der dritten Abteilung von
»Quintus Fixlein, Hanser 1975, Band 7, S. 195ff. •••
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[03] Gehört an einem Frankfurter Poetenstammtisch. •••
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[04] Zum Beispiel:
»Vint Cerf aus Kalifornien {Anfang der 80ger einer der Entwickler des Internet-Verbindungsprotokolls TPC und z.B. Vorstandsvorsitzer der ICANN. – Molo}, der sich selbst als Nerd bezeichnete und sich jedes Jahr ein paar Tage freihielt, um wieder einmal den »Herr der Ringe« zu lesen, ist einer der wenigen Männer, die sich wirklich als Väter des Internets bezeichnen können.«
Aus: »Das Lächeln der Medusa – Die Geschichte der Ideen und Menschen, die das moderne Denken geprägt haben« von Peter Watson; GEO/C. Bertelsmann, S. 1048. ••• Zurück
[05] Dietrich Schwanitz:
»Englische Kulturgeschichte«, Eichborn 1996; Seite 9 und 10. •••
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