Molos Übersetzung von Daniel Chandlers: »Eine Einführung in die Genre-Theorie«
Eintrag No. 572 — Vor etwa vier Jahren habe ich angefangen, diesen Text von Daniel Chandler zu übersetzen. Aus verschiedenen Gründen habe ich die Arbeit zur Seite gelegt. Damals hatte ich das Gefühl, noch nicht gut genug zu sein, um so einen ›trockenen‹ literaturtheoretischen Text brauchbar ins Deutsche zu übersetzen. Vergangene Woche aber bin ich in einem meiner Archive wieder wieder über das Dokument gestolpert, habe in den letzten Tage daran herumgefeilt und biete es nun also für deutsche Leser an.
Solch ein einführender Überblick zum Thema Genre hat meiner Meinung nach im deutschen Netzel bisher gefehlt (mir ist zumindest nichts Vergleichbares, frei Zugängliches auf Deutsch bekannt). — Immerhin grassieren die ärgsten Irrungen und Vorurteile. Zum Beispiel, dass sich Genres klar und eindeutig voneinander abgrenzen, bzw. einzelne Texte sich problemlos einem Genre zuordnen lassen, ähnlich der biologischen Unterteilung von Pflanzen und Tieren; oder dass Genres sich durch einen Kriterienkatalog bestimmter inhaltlicher Ein- und Ausschluss-Merkmale definieren lassen.
Hier nun lediglich eine Zusammenfassung. Wenn Ihr den ganzen Text von Daniel Chandlers »Eine Einführung in die Genre-Theorie« lesen mögt, dann klickt oben auf das Bild, oder hierher, um das PDF herunterzuladen.
- Das Problem der Definition
Zweifel — Tradition der Typologie — ›Keine neutrale Angelegenheit‹ — Vier Hauptprobleme (Ausdehnung, Normativismus, monolithische Definitionen, Biologismus) — Konventionen — ›Empiristisches Dilemma‹ — ›keine diskreten Systeme‹ — Familienähnlich- und Prototypenhaftigkeit — Eine Frage der Absicht — Genre sind ›Prozesse der Systematisierung‹ — Machtkämpfe zwischen Genres — A-historische Suche nach ›Idealtypen‹ — Drei Merkmale evolutionärer Genre-Entwicklung (kumulativ, konservativ, Ausdifferenzierung) — Gefahr des Essenzialismus — Genres als Verkörperung bestimmter Werte und Ideologien — Marxistische Sicht auf Genre: Instrument gesellschaftlicher Kontrolle — Absichten von Genres — Die ›rhetorische Dimesion‹ — Mitteilungsmodus und idealer Leser — Gesellschaftliche Prägung — Nutzen von Genres für Massenmedien — Wirtschaftliche Vorteile von Genres — Minderwertigkeit von Genretexten — Intertextualität — Schablonen — ›Kein Text ist ohne Genre‹.
- Innerhalb von Genres arbeiten
Genres als stillschweigende Verträge — Kreative Spannung und Effizienzsteigerung — Genres als Bezugsrahmen und Schablonen — Genrekenntnisse als ›kulturelles Kapital‹ — Studien über Kinder und Genres — Soziale Zugänge zu Genres — Vertrautheit und Abweichung — Arten der Beteiligung — ›Verwendung und Zufriedenstellung‹ — Erkennen von Vertrautem — Hinauszögerung und Vorfreude — ›Kognitive‹ Befriedigung — ›Wiederholung und Variation‹ — Urteile fällen — Austausch mit interpretierender Genre-Gemeinschaft — ›universelle Dilemmas‹ und ›moralische Konflikte‹.
- Die Konstruktion des Publikums
Erschaffung der Leserschaft — Verbreitung hegemonieller Ideologie — Konstruktion von Verschiedenheit und Identität.
- Vorteile der Genre-Analyse
Textualität, Lesart und gesellschaftlicher Zusammenhang — Gleichmacherei entgegenwirken — Historische Perspektive — Routinen und Formeln aufweisen.
- Hilfreiche Handreiche für eigene Genre-Analysen
- Allgemein
- Zum Mitteilungs-Modus
- Beziehungen zu anderen Texten
- Appendix 1: Taxonomie von Genres
Vier Arten des Handlungsverlaufes (Exposition, Argument, Beschreibung, Erzählung) — Fiktionale und Nicht-fiktionale Genres — Wissen und imaginäres Vergnügen — Hybridformen — Abbildung: TV-Genres.
- Appendix 2: Textmerkmale von Genre-Film und -Fernsehen
Narration — Charakterisierung — Grundthemen — Setting — Ikonographie — Techniken — Stimmung und Tonfall — Thema und Form.
- Quellen und empfohlene Lektüren
Mal was neues, meint die freundliche Welt: Urban Fantasy
(Eintrag No. 570; Woanders, Phantastik, Fantasy, Urban Fantasy) — Schon wieder »Die Welt«. Diesmal jedoch mit einem ihrer Artikel aus der Reihe: »Wir erklären Euch die Phantastik«. (Wohl ein Beitrag aus der Elternratgeberreihe: »Was ist das für ein seltsamer Quatsch, den meine Kinder lesen?«)
Wieland Freund darf da im Text »Dumbledore fährt jetzt U-Bahn« kund geben, dass ›Urban Fantasy‹ die neueste Modewelle sei. Und Urban Fantasy liegt nach Freund vor, wenn die …
Pseudo-Mythologie der herkömmlichen Fantastik in die Metropolen getragen wird.
Aber, Freund liefert auch diesen schönen Satz:
»Zur sogenannten High oder Epic Fantasy {…} verhält sich die Urban Fantasy wie einstmals die Rolling Stones zu den Beatles.«
Passt aber irgendwie nicht. — Ich schlag mal den Vergleich vor, dass High/Epic Fantasy ist Enja und Clannad und Urban Fantasy ist Pouges und Bellowhead.
Kleine Korrektur: Jeff Vandermeers Roman »Shriek« spielt mitnichten zur Gänze in der fiktiven Zweitschöpfungswelt-Metropole Ambra. Es gibt in »Shriek« zum Beispiel ein Schlüsselkapitel, das im Waldumland der Kleinstadt Stockton spielt; ein anderes spielt in der mittelgroßen Stadt Morrow.
Seufzen lässt mich folgendes:
Ohnehin: die Keimzelle der Urban Fantasy zu suchen, ist in etwa so schwer, wie dieses fantastische Sub-Genre von anderen zu unterscheiden. Wo etwa fängt die Urban Fantasy an und wo hört der sogenannte Steampunk auf {…}
Da wird wieder mal stillschweigend so getan, als ob anständige Genrebegriffe klar abgrenzbar und eindeutig zu sein haben (und alles andere ist irgendwie subversiv, oder was). Nochmal: Genrebegriffe sind selten klar und einfach zu bestimmen, aber so gut wie immer eine Vereinfachung und Zurechtbiegung. Und: Einzelne Werke können sehr wohl mehreren Genres angehören. Wenn sich also gewisse Urban Fantasy wie Science Fiction lesen, ist das kein Problem, sondern ein ›Blickwinkel wechsel dich‹-Angebot.
Wiederum arg versimpelt:
Und auch Neil Gaiman {…} schreibt nicht explizit über Städte.
Und was ist mit Gaimans erstem Roman »Neverwhere«? Was mit seinen vielen »The Sandman«-Kapiteln und Handlungssträngen die in Städten spielen (ich erwähne nur Heft 51, weil ganz besonders exemplarisch: »The Tale of Two Cities« aus dem »Worlds’ End«-Sammelband).
Dann macht Freund Werbung für Jugendbuchneuerscheinungen die wohl nur erwähnenswert sind, weil sie vom gleichen britischen Lektor vermittelt wurden, der auch Rowling entdeckt und Funke ins Englische gewuppt hat.
Ansonsten aber keine Erwähnung von Michael de Larrabettis »Die Borribles«; kein Verweis darauf, wie Pratchett mit seiner Scheibenweltmetropole Ankh-Morpork reale Urbanitätseigenheiten (vor allem die Londons) satirisch-phantastisch aufs Korn nimmt; kein Wörtchen über Miéville und seine heftige Auseinandersetzung mit Städten in der Phantastik (mit London in »King Rat« und »Un Lun Don« und jüngst mit zwiestädtischen In- & Nebeneinander in »The City & The City«). — Dass in der »Die Welt« womöglich über solche Einflüsse und Entwicklungen berichtet wird, wie sie die »World of Darkness«-Rollenspiele darstellen, erwarte ich ja schon gar nicht mehr.
Also dann: bis zum nächsten Versuch, was rundum gescheites über Fantasy zu schreiben.
Leset & staunet: Hochliteratur-Magazin widmet sich Comics!
Eintrag No. 565 — Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Stolper ich doch im Buchladen über den aktuellen Sonderband (V/09) der »Edition Text + Kritik: ›Comics, Mangas, Graphic Novels‹«. Mjam-mjam-mjam, feines Lesefutter für die nächste Tage.
Na das ist doch eine mittelschwere Paradigmentektonik, wenn eines der Hochseeschiffe der Literatur-Literatur sich der graphischen Erzählkunst annimmt. Wie ungewöhlich, aber auch wie überfällig so ein pubizististisches Ehrenrettungssignal ist, umzirkelt bereits der Waschzettel auf der Sonderbandrückseite (nebst einigen Allgemeinplätzen).
Ja, Comics wurden (werden immer noch) lange pauschal als ›trivial‹ abgetan. Und Doppel-Ja: gerade die Sparte ›graphic novels‹ hat in den letzten Jahren viele Werke hervorgebracht, die diese Missachtung als ignorantes Larifari enttarnen. Tripple-Ja: auch Comics können ›ernste‹ Themen angemessen, originell behandeln.
Versammelt sind Werks- und Künstler-Portraits zu solchen Kapazundern wie Will Eisner, Robert Crumb, Hugo Pratt, Pierre Christin, Jacques Tardi und Alan Moore. Themenbezogene Aufsätze behandeln beispielsweise: das Verhältnis von Comics und Literatur; die Illusionsmaschine Entenhausen; Comics im Comic, sowie Mangas. Abgerundet wird der Band durch ein Gespräch mit dem »Reprodukt«-Verleger Dirk Rehm.
Leseeindrücke werde ich hier noch ergänzen, sobald ich Zeit gefunden habe, ausführlicher in dem Band zu stöbern. Derweil freu ich mich einfach.
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Dietmar Dath: »Die Abschaffung der Arten« und eine schöne Unterscheidung
Eintrag No. 525 — Auf der Website zu seinem neuem Buch »Die Abschaffung der Arten« bekommt man ein ausführliches Interview mit dem Autoren Dietmar Dath geboten. Unter anderem führt er dort eine, wie ich finde, sehr verführerische Unterscheidung der drei großen Schubladen des Phantastischen, SF, Fantasy, Horror vor.
{W}as ist das denn eigentlich, Fantasy, im Gegensatz zu den beiden anderen Untergattungen der heutigen Phantastik, Horror und Science Fiction? Fantasy ist diejenige Literatur, die sich mit den Gesetzen, Konsequenzen und Implikationen des magischen Denkens beschäftigt. Das magische Denken — Analogien, Totem, Tabu, Fetisch, Übernatürliches etc.
Im Gegensatz zu den Literaturen, die sich mit dem magischen Denken beschäftigen, steht…
…das wissenschaftliche — Induktion, Deduktion, Hypothesenbildung, Occams Rasierklinge etc. pp.
Dem entsprechend erläuert Dath desweiteren:
Fantasy beschäftigt sich mit Offenbarungen; Science Fiction damit, etwas auf anstrengendere Art herausfinden und anwenden zu müssen. Also nicht: Fantasy ist das Unmögliche, Science Fiction das Mögliche. Sondern: Fantasy will Erkenntnis-Effekte als Überwältigung durch das Nichtverstehbare, Science Fiction will dieselben Effekte als Beeindrucktsein von (durchaus manchmal gewaltigen) Arbeitsergebnissen. Gemeinsam haben die beiden Gattungen allerdings miteinander (und mit dem Horror, in dem es um das auf viszerale [= lat. ›Eingeweide‹ — A.v.Molo] Wirkungen berechnete Erschüttern und manchmal Wiedererrichten von stabilen sozialen, sexuellen und sonstigen Ordnungen geht, weswegen Horrorelemente sowohl in SF wie in Fantasy Platz haben, da sich dieses Problem sowohl magisch wie wissenschaftlich betrachten läßt), daß sie versuchen, vollständige Welten zu suggerieren (nicht »zu erschaffen«, das geht ja nicht, das sagt man nur manchmal als größenwahnsinniges Kürzel so daher).
Auch zum immer noch unermüdlich vorgebrachten Eskapismusvorwurf, mit der man die Phantastik gerne ins Abseits zu stellen trachtet, hat Dietmar Dath eine vorzügliche Replik parat:
Ich fand sehr nett, wie sich der große Wahnsinnige
John C. Wright in der Widmung zu seiner soeben erschienenen Fortsetzung von
A.E. Van Vogts Null-A-Geschichten bei Van Vogt bedankt hat: Dessen Welten, so Wright, seien in Wrights Kindheit diejenigen gewesen, die ihn, den lesenden Jungen, gern empfangen hätten, wenn er sich wieder mal von der andern, der empirischen sozialen Welt verstoßen gefühlt habe. Das ist, entgegen der beliebten Eskapismusschimpfe von Sozialpädagogen und anderen Wirklichkeitsdressurreitern, eine völlig legitime, im Gelingensfall sogar hoch ehrenwerte Leistung phantastischer Literatur oder Kunst. Ich meine, im Ernst, Kinder: Das könnte denen so passen, daß man ihre Scheißwirklichkeit nicht nur nicht verändern können soll, sondern noch nicht einmal das Recht zugestanden kriegt, sich mal eine Weile mit was ganz anderem zu befassen, um nicht komplett abzustumpfen.
NACHTRAG vom Samstag, den 28. Okt. ‘08:
Nun habe ich den Dietmar Dath endlich mal gesehen, bzw. gehört. Ist ja immer so eine Sache, die einem bei Zweifelsfällen weiterhilft, wenn man (also ich) nicht immer durchblickt, wie ein Autor (eben Dath) etwas meint. Ich tue mir ja zugegebenerweise oftmals schwer damit zu unterscheiden, wann jemand die Wahrheit sagt, und wann er es ernst meint.
Nun also weiß ich, das Dath so ein ganz schnell Sprechender ist. Leider leider hat er sich die meines Erachtens schwächste Stelle aus »Die Abschaffung der Arten« augesucht, um dem Buchpreispublikum im Literaturhaus zu Frankfurts Schöner Aussicht eine Kostprobe zu bieten.
Bei dem Buch wird ja viel durcheinandergemischt (und der Collageästhetetik nähere ich mich ja erstmal mit einem wohlwollendem Vorurteil, zumal das Buch ja gleich zu Beginn mit einem Motto von Lord Julius aus »Cerebus« aufwartet.). Das liest sich über weite Strecken wie ein Konversationsroman mit Tieren. Ziemlich lustig, wenn z.B. Kunstgalerie-Wichtigtuerei-Gesülze veräppelt wird, oder auch, wenn Dath mittels dem Jounglieren aller möglichen dollen SF-Ideen (oder sollte ich ›Spinnereien‹ sagen?) über die Doofheit der Gegenwart lästert. Immerhin wird als der rote Faden Buches die brenzlige Frage angeboten ›warum den Menschen passiert ist, was ihnen passiert ist‹.
Langweilig und arg verstelzt geriet Daths Roman — tragischerweise ausgerechnet — wenn er anfängt über Liebe und Sex zu schreiben. Da gelingt ihm leider nur alle paar Absätze mal ein mitreissender, nichtpeinlicher Satz (Romeo & Julia wird bemüht, um den selbstgenügsamen Dual-Narzismus eines ehemals männlichen, nun weiblichen Schwanenwesens zu schildern, dass sich in zwei Leiber aufteilen kann, bei Mondlicht! im Bombenkraterteich der Ruine der Uni Princton!).
Es zeichnet sich für mich als Tendenz ab: Als Thesenschleuder und anregender Ideenbäcker ist Dath, wie immer eigentlich, echt ein Genuß. Aber leider krankt seine Erzählerei an Nervigkeit. — Extremst daneben finde ich Daths begeisterte Hillfslosigkeit, wenn seine tierischen Zukunftsbewohner sich die Namen von SF-Autoren aufsagen, und welche dollen Dinge die in ihren Büchern diagnostiziert, vorhergesehen haben.
Ach ja: in Richtung (Schutz)Umschlaggestalter des Suhrkampverlages. Das Cover ist total in Hose gegangen! Hat höchstens Chancen auf den Preis des langweiligsten Covers des Quartals.
Ich gebe bescheid wenn ich mit dem Buch fertig bin (ich bin derzeit auf Seite 319 von 552).
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Dietmar Dath: »Die Abschaffung der Arten«; 552 Seiten (122 Kapitel gebündelt in XVIII Abschnitten unterteilt in Vier Sätze), mit Tiervirgnetten von Daniela Burger; Suhrkamp 2008 (gebunden); ISBN: 978-3-518-42021-8
»Kritische Ausgabe – Abenteuer«
Eintrag No. 514 — Kenner meiner unverschämt langen Link-Leiste (rechte Säule weiter unten) wissen ja, dass ich schon lange auf »Kritische Ausgabe«, das Literatur- und Germanistik-Magazin der Uni Bonn verlinke. Das Online-Angebot dort ist hübsch vielfältig und immer einen Klick wert, wenn man Musenzeit übrig hat um interessante Rezensionen und Berichte aus dem Literaturbetrieb zu lesen.
Auch die gedruckten themenbezogenen Hefte lohnen sich. Zuletzt hatte ich Gelegenheit dazu und Freude damit »Rausch« und »Werkstatt« zu genießen (in letzterem findet sich z.B. ein langes, feines Interview mit Helmut Krausser!).
Über meine prinzipielle Begeisterung für dieses Magazin hinaus, habe ich nun weitere Gründe, auf die aktuelle Ausgabe zum Thema »Abenteuer« aufmerksam zu machen. — Der persönlichere sei zuerst aber schnell abgehakt: mit dem Text »Das Abenteuer Phantastik« bin ich selbst vertreten. Darin schwurble ich (deutlich von der Lektüre der Sloterdijk’schen »Sphären« beeinflusst) ganz hyper-maximalistisch allgemein über das Abenteuer des (Phantastik-)Lesens. Den ganzen ca. 40000-Zeichen langen Text werde ich ab Herbst/Winter 2008 hier in der Molochronik einpflegen.
Auf alle etwa 30 Beiträgen kann ich nicht näher eingehen, aber die folgenden drei Stück will ich doch extrich erwähnt haben:
- Der erste Text den ich unbedingt lesen musste, weil ich am neugierigsten auf ihn war, stammt von Nadja Nitsche: »Monsters in Translation. Gisbert Haefs vs. Beowulf vs. Grendel«. Mit einem hinreissenden Beieinander von Respektlosigkeit, Freude am Thema und Gelehrigkeit berichtet sie über die Probleme, welche die Neuübersetzung oder Neunachdichtung in Prosa eines Stoff wie Beowulf selbst einem veritablen Übersetzermeister und Selberfabulierer wie Gisbert Haefs bereitet, welchen Schindluder Heafs bei seinem Versuch trieb, was ihm aber auch gelang und überhaupt, wie Geschichte und Historisches mitunter in trashig-subversiven Schundliterazurzusammenhängen Metapherwellennkraft entfalten und dass letztendlich, wenn überhaupt etwas, nur die Phantasie der Leser die verschollenen Vorgänge erhellen können.
- Vergnüglich viel gelernt und angeregt wurde ich durch Stefan Andres Beitrag »Ein Bandit, der Böses dabei denkt? Die Gattung Schelmenroman, kurzgeschlossen mit Hobsbawms ›Sozialrebellen‹«. Das Buch »Banditen. Räuber als Sozialrebellen« (engl. 1969; dt. 2007!) des Engländers Eric Hobsbawm, seines Zeichens ein marxistischer Historiker, reizt mich ja sowieso. Um so feiner, einiges über die literatur-historischen Wurzeln heutiger Konventionen des Abenteuergenre zu lernen, sprich, über die Pikaros, die als Gegenentwurf zu idyllischen Schäferspielchen und idealisierten Ritterabenteuren im barocken Spanien aufgekommen sind.
- Und als Freund heimischer Klassiker ließ ich mich gerne (wieder)anstecken von der virulenten Begeisterung, von der das Gespräch der »K.A.«-Redakteure Andreas Jüngling und Nina Treude mit Prof. Dr. Norbert Oellers erfüllt ist: »Schiller war ein Abenteurer – Nicht nur in Liebesdingen, auch in Weltdingen«.
Ebenso lohnend fand ich die Beiträge über eine politische Lesart der Werke von Karl May, über Erich Kästner als verhinderten Südsee-Abenteuerautoren, über Parzival und Erec. Ebenfalls eine besondere Erwähnung wert ist Claude Haas unaufgeregt lobende Rezension von Littells »Wohlgesinnten«, die statt Polemik Argumentation bietet. Gut so.
Entwicklungsstufen von Genres
Eintrag No. 414 — Kurz mal zur allgemeinen Bildung aus dem Buch »Hollywood Genres« (1981) von Thomas Schatz zitiert, gefunden in »Superhero – The Secret Origin of a Genre« (2006) von Peter Coogan.
Zur Einstimmung für alle, die sich unsicher mit dem Begriff ›Genre‹ sind, empfehle ich, sich mal Daniel Chandlers »Introduction to Genre Theory« anzutun (englisch).
Vier Phasen, die eine Genreform durchschreitet, unterscheidet Thomas Schatz:
- Zuerst gibt es das Gebrodel der experimentellen Phase, in dem sich die genre-typischen Konventionen herauskristallisieren und verfestigen (etabliert werden);
- Darauf folgt eine klassische Phase, in der die Konventionen ein Gleichgewicht (›equilibrium‹) erreicht haben, das von Machern und Publikum gleicherwiese verstanden wird;
- In der anschließenden Phase der Verfeinerung werden bestimmte formale und stilistsche Einzelheiten der Genre-Form ausgeschmückt;
- Schließlich mündet die Entwicklung in eine barocke Phase, wenn die Genre-Form und ihre Verfeinerungen in einem Ausmaß betont werden, so dass sie selbst zum ›Gegenstand‹ oder ›Inhalt‹ des Werkes werden.
Coogan klappt diese Stufen auf die bekannten Epochen der Superheldencomics um, und ergänzt Schatz’ Modell um eine nullte und fünfte Phase der Genre-Entwicklung:
- 0. ›Vorsindflutliches‹ Zeitalter (Antedeluvian Age): Bestimmte Charaktere, Motive, Ikonen und Themen kommen auf, die später entscheidende Rollen bei der Entwicklung des {Superhelden-}Genres spielen (»Frankenstein« 1818, der Science Fiction-Übermensch; »Nick of the Woods« 1835, die zweigeteilte Identität, verbrechensbekämpfender Rächer-Vigilant; »Tarzan of the Apes« 1912, der Pulp-Übermensch).
- 1. Goldenes Zeitalter: Die Konventionen des {Superhelden-}Genres kristallisieren sich heraus und werden etabliert (»Action Comics Nr. 1« 1938, erster Auftritt von Superman; bis »Plastic Man Nr. 64« 1965, das Ende der simpleren und humoristischeren Herangehensweise zu Superhelden).
- 2. Silbernes Zeitalter: Die Konventionen des {Superhelden-}Genres haben einen Gleichgewichtszustand erreicht, der gleichermaßen von Produzenten und Konsumenten verstanden wird (»Showcase Nr. 4« 1956, erstes Auftreten des Erde-1 Flash {Roter Blitz}; bis »Teen Titans Nr. 31«, 1971, plötzlicher Wandel weg von Relevanz hin zur Formel).
- 3. Bronzenes Zeitalter: Bestimmte formale und stilistische Einzelheiten peppen die Genre-Form auf (»Superman Nr. 233« 1971, Kryptonit neutralisiert, Supermans Kräfte halbiert; bis »Legion of Super-Heroes Nr. 259« 1980, Superboy verläßt die Legion of Super-Heroes).
- 4. Eisernes Zeitalter: Die Genre-Form und ihre Verfeinerungen werden so weit betont, dass sie selbst zum ›Gegenstand‹ oder ›Inhalt‹ des Werkes werden (»DC Comics Presents Nr. 26« 1980, erster Auftritt der New Teen Titans; bis »Justice League of America Nr. 261« 1987, das Ende der ursprünglichen JLA; und bis »Heroes Reborn/Heroes Return« 2000, dem Versuch Marvells die Comics von Image zu imitieren).
- 5. Zeitalter der Renaissance: Die Konventionen des {Superhelden-}Genres werden erneut etabliert (»Justice League Nr. 1« 1987, das Debut der wiederhergestellten Justice League; »The Sentry Nr. 1« 2000, Marvel nimmt sich alternativer Comic-Ästhetiken an).
So. Nach dieser Lektion möcht ich niemanden mehr leichtfertig und ohne Begründung davon schwätzen hören, dass Werk X oder Y ja gar nicht dem Genre A oder B angehören. Oftmals stellt sich die Frage: welcher Entwicklungsphase eines Genres entspricht ein Werk.
Danke Frau Prof. Dr. Monika!
Eintrag No. 399 — Als ob es ein Gutzi für das heutige 2000-Tage-Jubiläum wär, stolpere ich über die frischest hochgeladenen Skripte von Frau Dr. Prof. Monika Schmitz-Emans, die im Sommer dieses Jahr eine elfteilige Vorlesungsreihe über Phantastische Literatur an der Uni Bochum gehalten hat. Soweit ich sagen kann, lohnt es sich die PDFs dort runterzuladen und zu verköstigen, obwohl Monika erstmal — wie so viele — auf Todorovs mir sehr unsympathischer »Einführung…« aufbaut. Aber wie ich in letzter Zeit desöfteren erleben durfte, kann man den guten T. auch vorzüglich als Bocksprungunterlage nutzen.
Simon Spiegel: »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des SF-Films«, oder: Über plausiblen Luftschloßbau.
Eintrag No. 387 — Zur Einstimmung: Was ist eigentlich so besonders (im Guten wie im Schlechten) an der Phantastik-Sparte Science Fiction? Handelt es sich dabei nicht schlicht um eines jener Genres, in denen man noch in aller naiven Ruhe Cowboy und Indianer spielen darf, nur halt mit fesch ausgerüsteten Space Rangern und schleimig-befremdlichen Außerirdischen? Auch, ja, schon, aber zieht Euch mal folgenden Abschnitt aus »Girlfriend in a Coma« (1998) Douglas Coupland rein. Da wird knapp und virulent zur Sprache gebracht, welche roten Fäden das Grundgewebe der SF bilden. (S. 269 der TB-Ausgabe von Flamingo; Übersetzung von Molo):
Ask whatever challenges dead and thoughtless beliefs. Ask: When did we become human being and stop being whatever is was we were before this? Ask: What was the specific change that made us human? Ask: Why do people not particularily care about their ancestors more than three generations back? Ask: Why are we unable to think of any real futury beyond, say, a hundered years from now? Ask: How can we begin to think of the future as something enormous before us that also includes us? Ask: Having become human, what is it that we are now doing or creating that will transform us into whatever it is that we are slated to next become? {…} What is destiny? Is there a difference between personal destiny and collective destiny? {…} Is Destiny artificial? Is it unique to Man? Where did Destiny come from?
Was immer toten und gedankenlosen Glauben herausfordert, das frage. Frage: Wann wurden wir zu menschlichen Wesen und hörten aus zu sein, was immer wir zuvor waren? Frage: Welcher Wandel war es genau, der uns zu Menschen machte? Frage: Warum haben Menschen keine besondere Verbundenheit mit ihren Vorfahren, die weiter als drei Generation zurückreichen? Frage: Warum sind wir unfähig uns irgendeine echte Zukunft jenseits von, sagen wir, einhundert Jahren vorzustellen? Frage: Wie können wir damit anfangen, uns die Zukunft als etwas riesiges das vor uns liegt und das uns beinhaltet vorzustellen? Frage: Was von dem das wir, nachdem wir zu Menschen geworden sind, nun tun oder erschaffen, wird uns umwandeln, was immer vorgesehen ist, in das, was wir als nächstes werden? {…} Was ist Schicksal? Gibt es einen Unterschied zwischen dem Schicksal eines Einzelnen und dem Schicksal einer Gruppe? {…} Ist Schicksal etwas künstliches? Ist es etwas nur dem Menschen eigenes? Woher kommt Schicksal?
Weil die erzählten Vorstellungen von der Zukunft immer auch ein Jounglierspiel mit Aufputsch- und Beruhigungsreizen zwischen Hoffnungs-Versprechen und ›Teufel an die Wand‹-Malerei sind, gehört SF (und Phantastik allgemein) zur fordersten Front im Infowar um die Imagination der Massen. Kolonisierungsgerangel um die Konsumenten-Hirne nennt sich das dann.
Da ist es für mich eine außergewöhnliche Freude die Sachbuchneuerscheinung eines SF-Forum-Kumpels vorzustellen, bei der ich mit Lob kaum übertreiben kann. »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des SF-Films« von Simon Spiegel ist nicht das x-te Durchhechel-Lexikon, sondern bietet einen im besten Sinne abwägenden und klärenden Rundgang durch Geschiche und Eigenheiten des SF-Films, und liefert dabei ganz nebenbei so manch erhellende Einsicht zu Genre- und Verfahrens-Problemen der phantastischen Disziplinen.
Spiegel spricht dabei offen von der Herausforderung sich als ›Film-Fan‹ film- und medienwissenschaftlich objektiv mit seinem geliebten Genre auseinanderzusetzten. Doch er hat diese Schwierigkeit gemeistert, denn es bleibt immer kenntlich, wo Spiegel mit geisteswissenschaftlicher Distanz über den Gegenstand referiert, und wo er sparsam (sozusagen zur Auflockerung) seinen persönlichen Geschmack offenbart. Erfrischend persönlich, und einnehmend sympathisch sind schon Widmung und Motto: In der Widmung kommt die Tragik vieler männlicher SF-Begeisterten zur Sprache, daß SF Frauen überwiegend kalt läßt. Und statt einem klugen oder coolen Spruch, gibts einen (Tusch!) Gary Larson-Witz als Motto. Perfekt.
Das Buch ist zweigeteilt: die ersten 120 Seiten bieten eine (Schnell-)Übersicht der SF-Forschungsgeschichte, auf die Umzirkelungen der Definitionsbemühungen, und der (auch literatur-)geschichtlichen Entwicklung sowie der philosophisch-gesellschaftlichen Aspekte des SF-Genres folgen.
Für mich als Vertreter einer maximalphantastischen Genre-Sicht ist die Dilemmaschwemme des ersten Teils so vergnüglich zu lesen wie ein Intrigantenstadel, sozusagen beste Diskurs-Seifenoper, vor allem, weil ich Simon Spiegel die meiste Zeit schmunzelnd zustimmen kann. So ist die SF ein dauerhaft populäres Genre, wird zugleich aber von den vermeindlichen Kulturfuzzis (wenn überhaupt) überwiegend scheel beäugt. Macher und Leser der SF stehen in innigeren Austausch, als das in ›relevanteren‹ und ›wertvolleren‹ Fiktionsgefilden üblich ist. Nicht selten waren SF-Macher erstmal selbst Fans, und da die etablierten Akademiker nur langsam in die Puschen kamen, haben vor allem zu Beginn der SF-Kernepoche (das sogenannte ›Golden Age‹, etwa Ende der Dreissigerjahre bis zu den Fünfzigern des letzten Jhd.) die Fans selbst die Forschung erledigt. Spiegel erteilt dabei den oftmals peinlichen Adelungsabsichten von SF-Liebhabern, aber auch den auf idologiekritischen Vernageltheiten fußenden Schlechtreden von SF eine klare Absage. Vielmehr geht es dem Autor darum, genauer darauf zu achten, wie SF-Filme als Prozesse funktionieren, und welche Konstruktionsleistungen das Publikum anstellen muß, um SF-Filme verstehen und genießen zu können.
BOCKSPRUNG ÜBER TODOROV HINWEG
In seiner Übersicht zu den Definitionsanstengungen begeistert mich Simon Spiegel mit seiner Art, wie er die im deutschprachigen unseelig einflußreiche Arbeit »Einführung in die fantastische Literatur« von Tzvetan Todorov als Leiter nutzt, die man getrost vergessen kann, sobald mit mit ihrer Hilfe fruchtbarere Aussichtsplattformen auf Phantastikgenre erklommen hat. Warum hack ich so polemisch auf Todorov rum? Na weil sein Genre-Ansatz ein systematischer ist (es gibt auch normative, narratologische, historische, wirtschaftliche und rezeptionsorientierte), mit dem Genres anhand (S. 24) …
»›objektiver‹«, textueller, formal-semnatischer Merkmale bestimmt und voneinander abgegrenzt {werden}.
Todorov ist überhaupt nicht daran gelegen zu untersuchen, wie Phantastik in freier Wildbahn daherkommt, sondern es geht ihm um einen Idealtypus, nämlich: wenn der Leser bei einem Werk nicht klar entscheiden kann, wie die Wirklichkeitsverfassung geartet ist. Je nachdem, wie ein unerklärliches, übernatürliches Ereignis in einer ›realistischen‹ Fiktion aufgelöst wird (realitätskonform oder nicht), unterscheidet Todorov dann zwischen:
- Reiner Phantastik: Übernatürliches wird weder als Lug und Trug rational aufgelößt, noch als wirklich Übernatürlich bestätigt. Der Leser bleibt am Ende zweifelnd zurück (z.B.: »Total Recall«);
- Phantastisch-Wunderbarem: Übernatürliche Dinge werden am Ende als genau das, Übernatürlich, erklärt. (z.B.: »The Sixth Sense«);
- Phantastisch-Unheimlichen: Was zuerst wie eine übernatürliche Unmöglichkeit scheint, wird rational erklärt (mein Beispiel: »Pakt der Wölfe«);
- Unvermischt Wunderbares: Der Weltenbau ist unverhohlen von übernatürlichen Dingen geprägt (mein Beispiel: »Harry Potter«);
- Unvermischt Unheimliches: Viele als realistisch verortete Krimis bieten Spannung, indem eine Tat präsentiert wird, die sich augenscheinlich nur mittels ›Magie‹ vollbringen ließ. Exemplarisch z.B. das Motiv des Ermoderten im von innen verschlossenen Zimmer, bekannt durch Kriminalerzählungen von z.B. Agatha Christie und Arthur Conan Doyle.
Diese systematische Einteilerei steht und fällt mit dem Gegensatz zwischen ›realistisch‹ (im Sinne von wirklichkeitskonform, was der Fall ist) und ›unrealistisch‹ (im Sinne von Hirngespinst und was nicht der Fall sein kann, z.B. eierlegende Wollmilchschweine). Und was Autoren und Leser, sprich: Menschen überhaupt für realistisch und unrealistisch nehmen, hängt nun mal sehr von der jeweiligen Sicht auf Welt und Leben ab. Zudem ist Todorov herzlich Wurscht, ob die in einer Geschichte gegebene (oder nicht gegebene) Aufklärung lediglich eine formale Konvention ist oder nicht (Ätsch, war alles nur geträumt). Als Begriffssteigeisen für die ersten Dutzend Höhenmeter taugen Todorovs fünf Begriffe durchaus, alle anderen Wörter seine »Einführung…« kann man jedoch getrost dem Vergessen anheim fallen lassen.
Spiegel kommt zur nützlichen Einsicht, daß Phantastik weniger ein fixes Genre ist, daß sich mittels inhaltlicher Merkmale bestimmen läßt, sondern vielmehr ein Modus, eine Art und Weise der Vermittlung von Fiktionen ist, und Spiegels Versuch einer Definition trägt dem mit gebotener Umsicht Rechnung, wenn er schreibt (S. 41):
Der phantastische Modus definiert sich duch die Dominanz eines phantastischen Elements. Ein phantastisches Element liegt dann vor, wenn ein unaufgelöstes, durch einen Realitätskompatibilitäts-Klassifikator als solches markiertes, nicht-realitätskompatibles Ereignis oder Phänomen in einem klassisch erzählten Film oder Text auftritt, der sonst keinen Hinweis auf eine ›nicht-wörtliche‹ oder ›poetische‹ Leseweise gibt.
Dabei sind die Übergänge und Heftigkeiten fließend und es ist durchaus keine endgültig objetive Sache, ob man als Leser ein Werk eher dem Gebiet der reinen Phantastik, des Unheimlichen oder des Wunderbaren zuordnet. Wer z.B. als überzeugter Gläubiger von der Existenz von Engeln, Dämonen und Magie überzeugt ist, wird andere Grenzen zwischen Phantastik, Unheimlichem und Wunderbarem ziehen, als ein skeptischer Naturalist.
GESCHICHTLICHES & PHILOSOPHISCHES
Im historischen Teil bietet Spiegel die sinnvolle Betrachtungsschwerpunkt-Unterscheidung zwischen der Entwicklung einzelner SF-typischer Motive, der Entstehung SF-typischer Vermittlungsmethoden und dem Auftreten der SF als eigenständiger Marktsparte an. Typische SF-Motive finden sich ja zuhauf schon in Werken, die lange vor dem Aufkommen des Begriffs SF entstanden sind. Als Mutter der modernen Phanatstik wird deshalb auch korrekterweise die Gothic Novel genannt (nur in etwa dem deutschen Begriff Schauerroman entsprechend). Ausgangspunkt sind Reaktionen von Autoren des späten 18./frühen 19. Jhd auf die Umwälzungen der im Aufstieg befindlichen Moderne, der erblühenden Wissenschaften und der Industriellen Revolution. Die Widersprüche zwischen alten und neuen Wegen der Weltbildgewinnung bilden das Spannungsfeld, auf dem bis heute die SF wie auf einem Trampolin seine Fabulationssprünge leistet. Spiegel führt das anhand von Horace Walpoles Ambition seinen Roman »Das Schloss Otranto« (1764) betreffend vor. Bis heute aber ragt Mary Shellys Roman »Frankenstein – Der moderne Promeutheus« (1818) aus dem Feld der Gothic Novels hervor, denn hier wird eindrücklich Heil und Unheil der menschlichen Ambition behandelt, sich als Schöpfer und Macher von naturgegebenen Grenzen zu befreien, und typisch SF ist bei diesem Roman eben, daß ausdrücklich Medizin und Wissenschaft (siehe frühe Forschung zur Elektrizität) als Glaubwürdigkeitsstützen für die Schilderung widernatürlicher Machenschaften und unnatürlicherVorfälle herangezogen werden.
Als zwei weitere bis heute prägende SF-Strömungen läßt Spiegel dann den französischen Kintop-Pionier Gerge Méliès, und den amerkanischen Verleger Hugo Gernsback auftreten. Bei Méliès ist klar zu sehen, wie wunderbare Effekte erstmal für sich stehen, nur lose zu Handlungen verknüpft werden und seine Filme mehr mit marktschreierischem Tingeltangel-Spektakel als z.B. mit erzählendem Theater gemein habe. Gernsback ist ein Paradebeispiel für die Ambition, vergnüglich-unterhaltene ›romances‹ mit wissenschaftlichen Fakten und prophetischen Visionen (sic!) zu vermengen (Das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal!!! Soviel steht auch fest: Bescheidenheit ist selten der SF größte Zier … To infinity and beyond!).
Im philosphischen Teil zeigt Spiegel dann, daß moderne Phantastik sozusagen eine Verweltlichung religiöser Sprech- und Weltdeutungspraktiken ist. Die Rede von der Zukunft war bis zum Aufbruch der Moderne religiösen Darstellungen vorbehalten und unterlag heilgeschichtlichen Imperativen. SF (und andere Genre-Phantastik) kommt dagegen als Kunst-Mythos von allen für alle daher, genauer: als Neu-Aufbereitung und Wiederverwurschtung von althergebrachten Mythen, oder wie Spiegel knapp ausdeutet (S. 103):
In der oft beschworenen nüchternen Wissenschaftlichkeit der SF steckt nämlich auch der ganz und gar irrationale Wunsch nach Erlösung durch den technischen Fortschritt: Die Geschichte dieses Fortschritts ist für die SF gernbackscher Prägung eine Heilsgeschichte.
Das Spektrum des Geschichtenerzählens über die Zukunft und den technischen Fortschritt kennt nun freilich mittlerweile nicht nur die diese Propaganda- und Verführungsfabulas der Gewinnerauch sie immer noch prägender sind (und sich besser verkaufen lassen) als pessimistische und kritische SF-Weltenbauten (was natürlich darauf ankommt, was ich hier genau mit ›pessimistisch‹ und was mit ›Verführungsfabulas der Gewinner‹ meine. Dazu nur soviel: die Bugs sind auch nur Menschen! Don’t join the Spacecore.)
Klärend arbeitet Spiegel heraus, daß SF ein Modus ist, in dem Zukunfts-Ängste und -Hoffnungen dargestellt und verhandelt werden (S. 111):
SF ist also weniger der Mythos der Moderne, sondern der Modus, in dem sich moderne Mythen vorzugsweise manifestieren und im Film zur Sichtbarkeit gelangen.
Die erste Hälfte endet damit, indem Simon Spiegel seinen Lesern Einblick gewährt in den von vielen Köchen umgerührten Hexenkessel der flottierenden neu-religiösen und neu-mythischen Haltungen des SF-Fandoms. Das ist eine nette Gelegenheit für einen Fußnoten-Gastauftritt des Wissenschaftsphilosophen (und Bright) Daniel C. Dennett, der in seinem Buch »Breaking the Spell – Religion as a Natural Phenonemon« schreibt (S. 392, Fn 5. Übersetzung von Molo):
May the Force Be With You! Is Luke Skywalker religious? Think how differently we would react to this incantation if the Force were presented by Geroge Lucas as satanic. The recent popularity of cienmatic sagas with fictional religions — The Lord of the Rings and The Matrix offer two other examples — is an interesting phenomenon in its own right. It is hard to imagine such delicate topics being tolerated in earlier times. Our growing self-consciousness about religion and religions is a good thing I think, for all its excess. Like science fiction generally, it can open our eyes to other possibilities, and put the actual world in better perspective.
Um eine Unterscheidung von Dennett aufzugreifen, bietet SF wie alle moderne Genre-Phantastik spirituelle Erlebnisse an, ohne daß man gleich in religiöse Haltungen verfallen muß. Es ist dieser der SF innewohnende transzendeniere Drive, der für Fans so attraktiv ist, und der viele SF-Fans mit einem gewissen Elitenbewußtsein speißt. Spiegel scheut sich dabei nicht, zu erwähnen, daß im SF-Fandom deshalb heikle, fließende Übergänge zwischen wissenschaftlicher Spekulation, esoterischer Grenzwisschenschaft (ich selbst nenne das grad heraus ›Aberglauben‹) und Verschwörungstheorien zu beoabachen sind. Aber Spiegel macht daraus keine Häme oder Denunziation des SF-Fandoms und rückt die SF auch nicht gleich in die Depperlecke. Diese mythisch-spirituelle Macht der SF bietet, meiner Ansicht nach, erfeuliche Handhabe zur Befreiung vom instrumentalisierenden Apparate- und Insitutionenen-Weltbild; aber ich stimme Simon Spiegel zu, wenn er auf die sich aus dem gleichen Quell nährenden, beunruhigenden Monsterentwicklungen wie Scientology und Aum-Sekte verweist. Man denke auch an die quasi-religiöse Erregtheit von unheilbringenden Utopie-Eroberungsunternehmung, die z.B. als fundamentalistische Kommunismus-, Nationalismus- und Kapitalismus-Heilslehren herumwüsten.
WILLKOMMEN IN DER MONTAGEHALLE
Im etwa 200 Seiten umfassenden Hauptteil seines Buches nimmt uns Spiegel dann in sieben Kapiteln mit in die Werkstatt der SF, und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen SF (aber zu einem Gutteil eben die ganze moderne Phantastik) ihre Werke zusammenbosselt. Es geht dem Autor dabei nicht darum zu postulieren, wie gute SF zu sein hat, sondern Spiegel will genauer herausstellen, was SF-Werke auszeichnet, die als gelungen angesehen werden. Dies beginnt er erstmal mit der Erörterung narratologischer Fragen, also Fragen dazu, wie Geschichten erzählt werden und wie sie warum funktionieren. Nun kann man lernen, was genau fiktionale Welten sind, wie sie auf unserem Verstädnis und Wissen die reale (faktischen) Welt aufbauen, und wann sie in besonders in Filmgestalt ihre Zuschauer simpel gesagt überwältigen und kidnappen (ich sag nur Klangwelten & Heftigkeits-Steigerungs-Spirale).
(Peergroup-Druck mal beiseit) entscheidet letztendlich und wertet jeder Konsument einer Fiktion für sich selbst, wann ihm eine ausgedachte Geschichte oder gar Welt zu abgedreht, beleidigend, übertrieben ist. Solche Entscheidungen hängen davon ab, über welches Fakten-Wissen die Wirklichkeit betreffend der Leser verfügt, welche Art von Genuß er aus einer Fiktion ziehen will, welche Methoden der Darstellung, welche Themen und welche Handlungswendungen im vertraut und genehm sind, und wie flexibel die Vorstellungskraft und das Hineinsetzvermögen des Lesers ist. Um es kurz zu machen: gerade am Beispiel der in den letzten Jahren aufgekommen ›Virtuel Reality‹-SF-Sparte führt Simon Spiegel vor, wie vermeidlich Reales sich als Täuschung, Traum oder Halluzination entpuppt. Der Eigentümlichkeit von Filmen wie »The Matrix«, »eXistenZ« und »Vanilla Sky« beruht nach Spiegel darauf (S. 162),
daß wir vorrübergehend keine Aussenansicht auf die fiktionale Welt erhalten und deshalb nicht sicher sein können, auf wie vielen Realitätsebenen sich die Handlung bewegt.
Und zu den Glanzstücken von Spiegels Buch gehört eine genaue Analyse der Gefängniszellen-Szene von David Lynchs Film »Lost Highway«. Hier zeigt der Autor sehr gewitzt, wie ein willentlich äußerst rätselhafter Film plausibel aufgedröselt werden kann, wenn man bestimmte Konventionen, z.B. der SF (Beam me up), als Erklärung heranzieht.
Zum wesentlichen Werkzeug von SF (wie aller Phantastik) gehört die Metapher, also das Kostümieren von Gedanken und Inhalten. Metaphern zeitigen Erkenntnis, indem sie locker Gemeinsamkeiten und Verbindungen herstellen, und somit neue Blickwinkel befördern. Achtung: Metaphern funktionieren nicht so streng wie Allegorien, denen immer fixe Entsprechungsregeln zugrunde liegen. Eine Metapher bietet mehrere Deutungsmöglichkeiten an, eine Allegorie nur eine (eine Frau mit Augenbinde, Schwert und Wage ist immer Justitia; das böse Imperium aus »Star Wars« kann man deuten als Anspielung auf die Nazis, oder auf den militärisch-industriellen Komplex Amerikas, oder auf die kommerzielle Hollywoodmaschinerie). Interessant ist, wie Spiegel zeigt, daß sich bei Metaphern im Kleinformat die Spannung zwischen Konvention (Vertrautem) und Abweichung (Originellem) wiederholt, von der auch die Entwicklung eines Genres angestrieben wird. Grob gesagt: Was heute ungewöhnlich ist, schleift sich schön langsam zu etwas Üblichen ein und verkommt schließlich zur langweiligen Rezeptur (und mit etwas Glück und der Hilfe vieler dienstbarer & begeisterter Geister kann ein Revival den Kreisel neu andrehen).
Die folgenden Kapitel beschreiben nun im einzelne SF-spezifische Ästhetikfragen (wie Naturalisierung und Verfemdung, Erhabenes und Groteskes) und absolvieren dabei quasi nebenbei auch philosophisch-anthropolgisch Steifzüge, am deutlichsten im Kapitel über (konzeptionelle) Durchbrüche, wenn Simon Spiegel seinen Leser einen Diskurs zur Frage »Was ist der Mensch?« offeriert. Das ist für mich wahrhaftige Sachbuchwonne, denn alle Phantastik wird zutiefst von ›philosophischen Energien‹ durchströmt.
›ERLEUCHTUNG DURCH FABULATIONEN‹
Bisher habe diesen enorm wichigen Begriff der SF, Sense of Wonder, ausgespart, obwohl er sich wie ein Leitmotiv mit Variationen (das Novum, der Conceptual Breakthrough) durch Simon Spiegels Buch verteilt. In seinem knappen, dafür aber sehr persönlich gehaltenen Schlusswort legt Spiegel die Haltung des nach strenger Distanzierung trachtenden Wissenschaftlers ab, und schildert richtiggehend ergreifend seine Kino-Sense of Wonder-›Initiation‹, wenn er sich erinnert, wie er als Sechzehnjähriger zum ersten Mal »Blade Runner« sah (S. 331f):
…nichts hatte mich auf das vorbereitet, was ich in den folgenden zwei Stunden erleben sollte — denn ein Erlebnis war diese Vorführung in der Tat. Ich sah nicht einfach einen Film, ich wurde vielmehr von ihm in Bann geschlagen, verfolgte mit offenem Mund die Geschehnisse auf der Leinwand, tauchte ganz in das düstere Los Angeles des Jahres 2019 ein. {…} Am nächsten Tag war ich immer noch wie benommen. Mir war klar, daß ich etwas Besonderes gesehen hatte, daß »Blade Runner« mehr war als ›bloß ein Film‹. Auf der Kinoleinwand hatte sich eine neue Welt entfaltet, wurden große Themen und tiefe Gedanken verhandelt, die ich zwar kaum artikulieren, dafür umso intensiver fühlen konnte. Kino war mit einem Mal mehr als reine Unterhaltung, es war zu etwas Wichtigem un Kostbaren und Wunderschönem geworden.
Wenn ich nun ›Sense of Wonder‹ schlicht mit ›umfassenden Staunen‹ übersetzte, kann ich hoffentlich überzeugend meine Ansicht unterstreichen, daß Phantastik-Genres mit nichts weniger hantieren, als eben der grundmenschlichen Sehnsucht und Fähigkeit, sich vom eigenen Leben und der Welt an sich hingerissen verblüffen zu lassen. Die SF bedient sich zum Herstellen glaubwürdiger Einbettung für dieses umfassende Staunes vornehmlich des Fundus, den Wissenschaften und Technik zur Verfügung stellen. Diese Fähigkeit zum Staunen ist es, die Menschen einerseits davor bewahrt, von den niederziehenden und beengenden Tatsachen des wirklich stattfindenden Lebens vollends entmutigt zu werden; aber (leider) kann andererseits dieses Staunen mißbraucht werden, um daraus betäubende, entmündigende Verführungskarotten zu machen, denen Spektakeljunkies willig hintergerzockeln.
Simon Spiegel schafft es Dank klaren Stils, gewissenhafter Recherche sowie einem guten Händchen für griffige Zitate und augenöffnende Beispiele (dem Buch liegt eine DVD mit wundervollen Exempeln bei!), seinen Leser ein aufgewecktes Gespür für dieses Staunen zu vermitteln, vor allem natürlich, was SF-Filme angeht, aber auch Phantastik und Geschichenerzählen überhaupt betreffend. Die argumentative Schärfe und umsichtige Art Spiegels essentialistischen, idealistischen und (durch welche Motive auch immer) ›willkürlich‹ bestimmten Wertungs-Hierarchien auszudribbeln, macht darüberhinaus das Buch zu einer unverzichtbaren Lektüre für alle, die sich für SF, Film und Medien interessieren.
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Simon Spiegel: »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films«
Zürcher Filmstudien 16; Schüren Verlag; Marburg 2007; 33 z.T. farb. Abb., DVD mit Filmbeispielen, 385 Seiten.
Unbekannte Gefilde
EDIT vom 14. Okt. 2007: Schöneres Cover-Img eingepflegt.
Eintrag No. 378 — Frank Weinreich hat mich schon beeindruckt, mit seinen umsichtigen Artikeln zu Tolkien. Klar, für mich als Tolkien-Skeptiker schreibt Frank zwar immer noch zu nachsichtig über JRR, aber dennoch gehört Frank zu den klügeren deutschen Tolkien-Exegeten und Fantasy-Erklärern.
Da freut es mich, daß im neuesten (Juno-)Magazinteil der Phantastik-Couch eine zusammenfassende Vorschau auf sein neustes Buch geboten wird, in dem es um nichts weniger gehen wird, als eine »Einführung in die Fantasyliteratur«.
Oftmals fühle ich mich wie ein querulantischer Kobold, wenn ich meine literaturgeschichliche Maximalsicht auf »Fantasy« (ich rede halt lieber von »Phantastik«) verbreite und auf dieser meiner Sicht beharre;— und es taugt mir deshalb enorm, daß Frank eine ganz ähnlich unverschämte Weitwinkelobjektivsicht auf das Genre pflegt, wenn er z.B. schreibt (Hervorhebung von Molo):
Vielleicht wäre es am treffendsten, die Fantasy als nicht geglaubte Mythen zu bezeichnen. Das zeigt dann auch, dass die Geschichte der Fantasy nicht erst mit muskelbepackten Schwertschwingern wie Conan beginnt, sondern schon mit muskelbepackten Schwertschwingern wie Achilles. Nur dass Homers Geschichten über den Letzteren allgemein als Fanal für den intellektuellen Aufschwung des Abendlandes gehalten und als erster glänzender Höhepunkt der Literatur im speziellen und der Kreativität im allgemeinen interpretiert werden, während man Conan auch ganz gerne als Symbol für kulturellen Trash empört in die Höhe hält. Und auf hohem homerischen Niveau geht es ja weiter, wenn man schaut, welche namhaften Menschen Fantasy schrieben, auch wenn man es zu ihrer Zeit natürlich nicht so nannte: Dante, Chaucer, Shakespeare, Goethe und und und. Der Autor hält sich jedoch nur kurz bei der Geschichte der Vorläufer der eigentlichen Fantasy auf und legt den Schwerpunkt der Darstellung auf die moderne Fantasy, die im 19. Jahrhundert mit den Werken George MacDonalds und William Morris´ beginnt.
Schade nur, daß in der Vorschau das Trösten und Sinnmachen für meinen Geschmack zu einseitig betont. Nix gegen den Sinnmach-Aspekt der Phantastik, aber neben dem Trösten gibts halt noch viel anderes, was »Fantasy« kann. Nicht umsonst fransen die drei Hauptgenre der Phantastik — Fantasy, Horror, SF — an den Rändern aus und werden von entsprechenden Kreativen miteinander munter verflochten.
Fantasy/Phantastik übertreibt und fuhrwerkt mit Zauberdingen, Wunderorten, Monstern, Halbmenschen und vielerlei anderen Extotismen. Sie bedient also zuallererst unsere Neugier bzw. unseren Sinn für das Wundersame (Sense of Wonder), unser menschliches Verlangen danach, das Gesichtsfeld zu erweitern, Neues zu entdecken (und dieses Neue kontrolliert zu erschließen, zu beherrschen).
Die echte Welt ist zuallermeist eben banal, eintönig und langweilig, und die Gravitationskräfe des Daseins ziehen uns alle in Richtung Vergänglichkeit und Auflösung. Die Phantastik bietet nun mit ihrem als Eskapismus übel beschimpften Moment einer raumerschließenden Horizontserweiterung eine Milderung zu dieser alles niederziehenden Schwerkraft des Daseins an. Und ohne einem entsprechenden Talent zum Selberstiften solcher Fluchtbewegungen ist keine Kultur denkbar (siehe das Nietzsche-Zitat am Ende).
Was ich aber gerne betone ist, daß so wie die Fantasy Sinn zu stiften vermag, so kann sie auch alle sicher geglaubten Sinngerüste zum Wanken bringen; und so wie sie zu trösten vermag, kann Phantastik eben auch beunruhigen. Mit Namen wie George McDonals, William Morris und JRR Tolkien wird eine bestimmte Spielart der modernen Phantastik betontz, die ihre Stimme überwiegend als kritisch-romantische Gegenstimme zur ach so bösen Moderne erhob. Bin schon neugierig, ob (und wenn wie) Frank hier einer gegen die Übel der Moderne anwetternden Fantasy das Wort redet, oder nicht. — Aber so im Großen und Ganzen macht die Vorschau auf Frank Weinreichs Buch einen guten Eindruck bei mir.
So zum Beispiel, wenn er sich auf das Übernatürliche als Definitionsfundament beruft. Gespannt bin ich auf das kommende Buch, denn schon bei der Aufdröselung des für die Fantasy grundlegenden Übernatürlichen bekomme ich ein wenig Schwindelgefühle, wenn es heißt (Hervorhebung von Molo):
Meist wird das Übernatürliche in Form von drei charakteristischen, ebenfalls auf der inhaltlichen Ebene zu findenden Motiven in Szene gesetzt: durch das für die Geschichte bestimmend wirkende Vorhandensein von Heldinnen und Helden (die können auch mal negativ gezeichnet sein), durch eine imaginäre Welt als Haupthandlungsort (dies kann auch ein irrealer Teil der realen Welt sein, wie die Zauberschule Hogwarts) und durch die Ausübung von Magie (im Sinne von Praktiken, die den Verlauf von Ereignissen auf übernatürliche Weise beeinflussen) als für die Erzählung selbstverständliches Faktum.
Magengrummeln bereiten mir die Helden, bzw. daß pauschal alle Protags der Fantasy gleich als Held bezeichnet werden. (Andereseits kann man freilich alle Protagonisten aller Genre-Felder als Helden bezeichnen. Hat sich halt so eingeschliffen.) Aber wahrscheinlich bin ich da voreingenommen, weil ich nun mal den Begriff Held mit großer Vorsicht und Skepsis nehme. Helden sind die Figuren der großen Taten, sind die Burschen und Mädels, die der Welt ihre Meinung/Haltung aufprägen müssen. Helden sind zwielichtige/zweischneidige Figuren, was deutlich wird wenn man beobachtet, daß die eigenen Krieger, Beschützer, Eroberer und Trickser gefeiert & verehrt, die Helden der anderen aber als Monster, Unholde und Kriegsverbrecher gefürchtet & verachtet werden.
Weiter: gern les ich, daß Weinreich sich in seinem kommenden neuen Buch mit den literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Helmut Pesch und Northrop Frye auseinandersetzten wird. Ersterer (Pesch) hat die bis heute ergiebigste deutschsprachige Arbeit zu Geschichte und Wesen der Fantasy (1982/2001, »Fantasy—Theorie und Geschichte«) geschrieben; zweiterer ist ein englischer Literaturwissenschaftler, der für die Güte seines Buches »Analyse der Literaturkritik« (1957, »Anatomy of Criticism«) hierzulande sträflich-beschämend unbekannt ist (Meine Meinung lautet ja, daß die Germanisten den Anglisten und Amerikanisten was Literaturbeschäftigung betrifft ca. 20 Jahre hinterherhinken. Allein wie die bereichernden Entwicklungen der Genre Studies und Cultural Studies hierzulande nicht in die Puschen kommen {¿dürfen?}, läßt mich wähnen, in einem kirchturmfixierten Dorf zwischen Runkelrüben und Kühen zu weilen). — Aber ich gräme mich, daß auch Weinreich den unsäglichen, zu nichts außer zur Abschreckung zu gebrauchenden Tzvetan Todorov aus der Mottenkiste verschwurbelter Siebzigerjahredenke vervorzerrt (1970, »Einführung in die fantastische Literatur«), in der Todorov einem die entweder/oder-Pistole auf die Brust setzt, und für die Phantastik nur einen ziemlich kleinen Raum übrig läßt, der von kläglich wenigen Genre-Texten eingenommen werden kann. Klassisches Beispiel einer Theorie, die am Gegenstand vorbeitüdelt und damit vielleicht als Denkschwulst beeindruckt, aber als Leitfaden und Werkzeug völlig versagt.
Gespannt bin ich auf Weinreichs Behandlung des innigen Zusammenhangs von Phantastik und Mythos. Immerhin kannten die alten Griechen schon zwei Begriffe für Wort: einerseits nannten sie die vernünftige Rede, das Be-sprechen Logos, das ›unnüchternde‹ Reden in Sagen- und Legendenformat aber nannten sie Mythos. Man sieht also: so neu ist das Alternativkultur-Thema des ›Wilden Denkens‹ (und Fabulierens) gar nicht. Und es ist, wie Nietzsche so trefflich sagte, ein ›umhüllender Wahn‹ der Kulturgemeinschaften bindet. Phantastik ist nicht zuletzt wegen seiner Auseinandersetzung mit diesen Wahn ein so wertvolles und wohl auch heikles Genre.
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Zuckerl:
Nietzsches Wort vom ›umhüllenden Wahn‹ findet sich in seinen »Unzeitgemäßen Betrachtungen«, 1974):
Aber selbst jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht einen solchen umhüllenden Wahn, eine solche schützende und umschleiernde Wolke; jetzt aber hasst man das Reifwerden überhaupt, weil man die Historie mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphirt darüber, dass jetzt »die Wissenschaft anfange über das Leben zu herrschen«: möglich, dass man das erreicht; aber gewiss ist ein derartig beherrschtes Leben nicht viel werth, weil es viel weniger Leben ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt, als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch Instincte und kräftige Wahnbilder beherrschte Leben.
Molosovskys Literatur-Würfel
Eintrag No. 332 — Mir z.B. cartesianische Systeme über mögliche Literatur-Räume zu basteln, macht mir ziemlichen Spaß.
Folgendes hab ich mal angedacht, um generelle inhaltliche, stilistische Eigenarten von Texten darzustellen:
- —Harmonisch (Einklang, narrativ gesehen: Plausibel, angenehm, wohlklingend)
—Disharmonisch (›Missklang‹, narrativ gesehen: Verrückt, unangenehm, unbehaglich klingend);
- —Homophon (vertikale Ausrichtung mit Melodie oben auf, Rest begleitet drunter gefügt; narrativ gesagt ›Spannungsliteratur‹)
—Polyphon (horizontale Ausrichtung mit mehreren selbstständigen Stimmen, narrativ ›Facettenliteratur‹);
- —Objektiv (Orientiert sich ›Weltenbau-mäßig‹ an möglichst allgemeinen, gültigen ›realistischen‹ Konventionen)
—Subjektiv (Spiegelt das Weltverständnis- Empfinden von kleineren Gruppen oder Einzelnen wieder).
Es gibt natürlich noch eine große Menge weiterer Gegensatzpaare, die man eigentlich ganz fein zu solchen Koordinatenknäul zusammenknüpfen könnte. Die Art wie Raum (stationär oder mobil) , Zeit (linear oder nonlinear) und Körperlichkeit (Herr/Lust oder Sklave/Leid) behandelt werden.
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Dank an M. im BibPhant-Forum für die Anregung.