Bester (deutschsprachiger SF-)Roman mit Erstausgabe 2012:
• Dietmar Dath, »Pulsarnacht«, Heyne-Verlag. — Stilistisch kraftvoll & extrem abwechslungs- & stimmungsreich. Thematisch anregend, phantasie- & ideenvoll, sowie engagiert.
Bestes ausländisches Werk (zur SF mit Dt. Erstausgabe) von 2012:
• China Miéville, »Stadt der Fremden«, Bastei-Verlag. — Gelungene Großmetapher über die Beziehung von Sprache, Bedeutung, Sucht & Abhängigkeit.
• John Scalzi, »Redshirts«, Heyne-Verlag. — Humorvolle & gehaltvolle Untersuchung narrativer Klischees der Space Opera, sowie berührende Meditation über die Verantwortung von Kreativen gegenüber ihrem Publikum und Figuren.
Beste Graphik 2012 (für Titelbild/Illustration einer deutschsprachigen Ausgabe zur SF von 2012):
• benSwerk (bürgerlichen Namen bitte z.B. über Hannes Riffel vom Golkonda-Verlag erfragen). Beispiel Titelbild- & Buchgestaltung der 3-bändigen Ausgabe von Samuel R. Delanys »Geschichten aus Nimmeya«, deren erster 2012 bei Golkonda erschienen ist. — Stellvertretende Titel-Nennung, da benSwerk seit Bestehen des Golkonda-Verlages für diesen tätig ist und zeigt, wie man geschmackvoll zum Inhalt passend Bücher und Umschläge gestalten kann, ohne billige Lösungen oder ausgelutsche Klischees heranzuziehen.
Sonderpreis 2012 (für einmalige herausragende Leistung im Bereich der deutschsprachigen SF im Jahr 2012):
• Ralf Bold & Wolfgang Jeschke (Herausgeber), Michael Haitel (Verlag) & Team. — Für Zusammenstellung, Gestaltung & Herausgabe der SFCD-Preisträger-Anthologie »Die Stille nach dem Ton«.
Sonderpreis 2012 (für langjährige herausragende Leistung im Bereich der deutschsprachigen SF mit besonderem Anlass 2012):
• Josefson (aka Jürgen Doppler) & Wissenschafts- bzw. Website-Verantwortliche von ›www.standard.at‹. — Verfasst bzw. veröffentlicht seit 5 Jahren (Mai 2008, soweit ich weiß) engagierte, kurzweilig zu lesende, mit Kennerschaft verfasste, klar argumentierende Rezensionen von deutscher & internationaler Genre-Phantastik für den Online-Auftritt der österreichischen Qualitäts-Tageszeitung ›Der Standard‹; immer noch das einzige Medium seiner Art, dass regelmäßigen Raum für Genre-Phantastik einräumt und damit hilft, die vermeintlichen Gräben zwischen U- & E-Literatur zu überwinden.
Ergänzung bei SF-Fan:
— Sehr schöne Bilder, z.B. seit Langem nicht so gute Nachtaufnahmen gesehen.
— Coole Leute gucken bei Explosionen nicht zurück? Von wegen: Richtig coole Helden genießen das Bumm mit Stolz und ohne schlechtes Gewissen.
— Don Johnson! Ich kann es nicht fassen, dass der Mann so gut sein kann. (Erinnert mich von der Überraschungswirkung her an Patrick Swayze in »Donnie Darko«.)
— Großartiges Come-Back des Reiß-Zooms!
Punkte auf meiner Skala. Bin noch nicht ganz sicher, auf jeden Fall aber im oberen Drittel, wahrscheinlich 9 von 10.
Links:
Freund Simi hat den Film besprochen und kommt zu einem für seine Verhältnisse positiven Urteil (was bei diesem kritischen Kritker viel heißt), obwohl er den Film für zu lang befindet.
Es ist wieder soweit: Hier der Jahresrückblick meiner Lese-, Glotz- & Lausch-Glanzlichter.
Gut Buch (Prosa)
Erstmal: Ich werde mich bei dieser Liste auf jene Titel beschränken, denen ich auf meiner 2012-Goodreads-Seite vier oder fünf Sterne gegeben habe (was aber nicht bedeutet, dass die dort von mir mit ›nur‹ drei Sternen bewerteten Sachen lau sind … ich habe seit Jahren nix mehr gelesen, was ich richtig schlecht oder auch nur seicht & langweilig fand, weshalb meine Qualitätsmaßstabe mittlerweile wohl etwas verzerrt sind).
Dann: Muss ich bei der Reichskulturkammer dafür Abbitte leisten 2012 keine deutsche Prosa gelesen zu haben (hab zwar zig Texte im Buchladen oder im Netz angelesen, von denen konnte mich jedoch keiner verführen).
»The Mirage« von Matt Ruff: ›IX.IX.‹ und ›War on Terror‹ auf den Kopf gestellt, in einer Alternativwelt, die irgendwann zur Zeit des Ottomanischen Reiches von unserer Realwelt abzweigte. Ruff beweist wieder einmal, dass er einer der besten derzeit schreibenden Weltenbauer ist, wenn er durchspielt, wie es wäre, wenn der arabisch-islamische (angeführt von den UAS = United Arab States) und der euro-nordamerikanisch-christliche Kulturraum (unser Hegemon sind ja die USA) ihre weltgeschichtlichen Rollen tauschen würden. — Großartig, wie die erzählenden Kapitel ergänzt werden durch Einträge der ›Library of Alexandria‹, dem Wiki dieser Alternativwelt. Viel Gelegenheit für Denkanregungen und Popkultur-Witzelein. — Doll fand ich, wie eigentlich immer bei Ruff, die große Bandbreite an Stimmungen und Themen. Da gibts Humor, Thrillerspannng, grandiose Äktionsequenzen, politische Satire, berührende familiäre Geschichten und nicht zuletzt geheimnisvolle Fantasy-Magie.
»Angelmaker« von Nick Harkaway: Auch der zweite Roman (nach »The Gone-Away World«) von Nick rockt voll Pulle. Seine Virtuosität der Abschweifung entzückt mich, ebenso die Bandbreite der Stimmungen und Themen seiner ›Existenzialismus-Pulp‹-Romane. Hier müssen sich der nach Ruhe & Normalität sehnende Sohn eines legendären Londoner Gangsters und eine betagte Superspionin samt knorzigen Köter in einem apokalyptischen Plot gegen einen nach Apotheose gierenden Finsterling bewähren. Enthält neben vielem anderen eine wunderbare Verbeugung vor der ›Craftmanship‹-Ethik von John Rushkin; eine der pfiffigsten Sex-Szenen, die ich seit einiger Zeit gelesen habe; sowie Elephanten-Rachengel, U-Boot- & Eisenbahnabenteuer, apokalyptische Uhrwerk-Bienen, und eine wuchtige Hymne, wie geil es ist, mit einer Tommy-Gun alles kurz und klein zu ballern.
»Year Zero« von Rob Reid: Als Hörbuch genossen und reichlich geschmunzelt und gelacht. Kommt 2013 mit extrem doofem Cover unter dem Titel »Galaxy Tunes®« als Heyne-Taschenbuch zu uns. Begeistert hat mich, wie es Rob Reid (als ›listen.com‹-Gründer und Internet-Unternehmer hat der Mann einfach Ahnung) gelingt, die Themen Urheber- & Lizenzrecht, also trockenes Juristen-Mumbo-Jumbo, in Form einer satirischen SF-Klamotte durchzuschütteln (nebst vielen trefflichen Späßchen auf Kosten der Popkultur und des Zeitgeschehens). — Für Musikfans die auch Science Fiction mögen eigentlich ein Muss!
»Railsea« von China Mieville: Es zeichnet sich der Trend ab, dass Miéville bei seinen Büchern für junge Leser (dessen zweiter »Railsea« nach »Un Lun Don« ist) ungezügelter drauflos-abenteuert und -fabuliert, als bei seinen Stoffen für Erwachsene. Was als staunensreich-verquere Homage auf Melvilles »Moby Dick« anhebt (fanatische Kapitänin einer Jagdtmanschaft stellt mit Eisenbahn im Schienenmeer einem gigantischen fahlem Maulwurf nach) entwickelt sich zu einer wendungsreichen Meditation über die Natur des Erzählens, die Ethik von Besessenheiten und die Rechnungen, die einem für das Verfolgen von Wachsumsideologien präsentiert wird.
»Alif the Unseen« von G. Willow Wilson: Lange Rezension gibt’s hier — Kurzfassung: Gelungene & durch Engagement glänzende Mischung aus ›Urban Fantasy‹, hAcktivim-Thriller, Bürgerrechts-Panorama und Liebesgeschichte. Wenn dieser Roman nicht fluggs von einem deutschen Verlag aufgegriffen wird, ist das ein gleissendes Zeichen dafür, dass die Programmgestalter dort einfach null Ahnung haben.
Desweiteren kann ich als lesenswert empfehlen (bzw. dazu raten, nach den event. noch erscheindenden deutschen Übersetzungen Ausschau zu halten):
• »The Folly of the World« von Jesse Bullington: Nach »The Sad Tale of the Brothers Grossbart« und »The Enterprise of Death« der dritte Roman von Bullington. Ein schwules Verbrächerpärchen – ein ab & zu halluzinierender Schlagmichtot und ein skrupellose Pläne schmiedender Edelmann-Bastard – machen sich mit einem halbwilden Meisterschwimmer-Mädel auf, sich fette Beute zu ergaunern. Bullington traut sich Finten und Wendungen auszuführen, wie nur wenige. Im Mittelteil etwas planlos, aber als Ganzes sehr stimmungsvoll, sprachlich von großer Wucht (wo’s derb ist) und Schönheit (wo’s z.B. um das Setting geht, die überschwemmten Niederlande des 15. Jahrhunderts).
• »Soulless« von Gail Carringer: Einer meiner Ausflüge in das für mich sehr wundersame Genre der ›Vaginal Fantasy‹ (gepriesen sei Felicia Day für diesen nützlichen Genre-Begriff) und ich bin entzückt. Die Krimihandlung um Vampire, Werwölfe und ihre Gegener im viktorianischen England ist eher Stangenware und reichlich vorhersehbar, aber die stets für humorvolle Griffe bereite Sprache, sowie die stellenweise exzessiven Flirt- & Knutsch-Einlagen zwischen Heldin Alexia und Werwolfrudelführer Lord Maccon sind allererste Kajüte. — Muss unbedingt rumgranteln, dass die deutschte Übersetzung der Titel einfach nur furchtbar ist (ich muss dass hier einfach auflisten. Die englischen Titel der 5 Romane der ›Parasol Protectorate‹-Reihe heissen: 1. »Soulless«; 2. »Changeless«; 3. »Blameless«; 4. »Heartless«; 5. »Timeless«. Und daraus wurde auf Deutsch: 1. »Glühende Dunkelheit«; 2. »Brennende Finsternis«; 3. »Entflammte Nacht«; 4. »Feurige Schatten«; 5. »Sengendes Licht«) und dass die deutschen Coverbilder auch nicht sooo der Hit sind. — Ach ja: Dank an Ju für den Tipp!
• ›Acacia‹-Trilogy von David Anthony Durham (1. »The War With The Mein«; 2. »The Other Lands«; 3. »The Sacred Band«): Große Polit-Fabel auf Sklaverei, Rohstoffabhägigkeit, die Fragwürdigkeit ›gerechter Kriege‹, Völkerverständigung, Machterhalt und Bevölkerungsunterwerfung und nicht zuletzt darüber, die wie Kommerzfürsten alle gegeneinander ausspielen und bescheissen. Hätte durchaus noch einen Lektoratdurchgang vertragen können, denn teilweise is datt Janze ein bisschen sentimental, und mir sind in der englischen Originalfassung einige ungeschickte Wortwiederholungen aufgefallen. Dennoch: tolle, ›fast klassische‹ Fantasywelt, die den Mumm zeigt, so mancher Routine vors Schienbein zu treten und mit vielen Details gewohnte Klischees geistreich umzukrempeln (vor allem was Geschlechterrollen, Rassen & Kulturen betrifft). Dadurch z.B. einige sehr interessante weibliche Hauptfiguren. Mit Magie und Zauberwesen geht’s erst ab Band zwei so richtig los, dann aber mit Wumms (wo gekämpft wird) & allerliebst (wenn z.B. wunderschöne Vogelechsen-Drachen gezähmt werden und die dann auch noch Eier legen). — Nochmal »Mercie!« an Gero für seine Empfehlung auf dem Dreieich-Con 2012!
• »John Saturnall’s Feast« und »The Pope’s Rhinocerous« von Lawrence Norfolk: Hier geht es zur ausführlichen Rezension von »Ein Rhinozeros für den Papst«. Dauerte ›nur‹ ca. 16 Jahre gedauert, mich durch dieses reichlich vertrackt geschriebene Renaissance-Abenteuer zu kämpfen, hat sich aber dicke gelohnt. — »Das Festmahl des John Saturnall« ist der bisher zugänglichste Roman von Norfolk, auch weil er sich immer wieder eines etwas märchenhaften Duktus bedient (und die Stimmung hat mich streckenweise entfernt an Mervyn Peakes »Gormenghast« erinnert), bzw. Fantasy-Flair aufkommen lässt. Mit den Wirren der Cromwell-Zeit als Hintergrund wird der Aufstieg des Sohns einer Kräuterfrau/Hexe zum angesehensten Koch seiner Ära geschildert. Sehr gefallen hat mir die Behandlung von protestatischem Glaubens-Eifer und der Überlieferung von (römischer) Geschichte in Form von Legenden, bzw. wie sich Biblisches und Heidnisches in Legenden mixen zu neuen Rezepten können. Zudem ein feines Stück über Arbeit, in diesem Fall vor allem natürlich der, die in der Küche anfällt. Und die Liebesgeschichte geht auch ans Herz.
• ›Millenium‹-Trilogy von Stieg Larsson (1. »The Girl With The Dragon Tattoo«; 2. »The Girl Who Played With Fire«; 3. »The Girl Who Kicked The Hornet’s Nest«): Wenn das Ex- & Hopp-Mainstream-Unterhaltungsliteratur ist, dann gerne her damit, bzw, dann kann’s um den Geschmack ›der gemeinen Massen‹ sooo schlimm nicht bestellt sein. Selten hab ich dicke Dinger derart flott weggefräst. Nicht nur, dass Larsson mit Lisbet Salander eine atemberaubende soziopathisch angehauchte, ›Opfer schlägt zurück‹-AntiHeldin geschaffen hat, mir taugen auch seine Themen und seine Politik (AntiFa, AntiSexismus, Anti-Frauenhandel, Kritik an Selbstermächtigung von Geheimdiensten usw.).
• ›Raylan Givens‹-Geschichten von Elmore Leonard (Romane: »Pronto«, »Riding The Rap«; Kurzgeschichte: »Fire In The Hole«): Die TV-Serie »Justified« hat mich überzeugt, und da habe ich mir die Vorlagen besorgt. Leonards sparsame aber hocheffektvolle Prosa ist respektgebietend (Genial simpler Rat für alle Autoren, und ich fände es spannend, wenn sich mehr Fantasy-Schöpfer davon anregen ließen: »Lass die Stellen weg, welche von Lesern übersprungen werden«). Und schön zu sehen, wie fein sich Western-Athmo in die heutige Welt übertragen lässt. Bleibt zu beklagen, wie kümmerlich die Auswahl deutscher Leonard-Ausghaben ist, aber immerhin scheint sich nun Suhrkamp kümmern zu wollen (dort erschient 2013 der dritte Raylan-Roman, der einfach nur »Raylan« heißt, den ich auch noch nicht kenne).
• »Dog Of the South« von Charles Portis: Hingerissen von »True Gritt« habe ich mir alle anderen vier Romane von Portis besorgt. Dieser hier ist ein schräges ›Road Movie‹. Selten fand ich es so spannend, wenn geschildert wird, wie nix passiert, denn selbst dann weiß dieser Roman mit einer eigenartigen Mischung aus trockenem Humor, cooler Exzentrik, Melancholie und schierem Aberwitz zu überzeugen.
• »The Coldest War« von Ian Tregilis: Vielleicht noch besser als »Bitter Seeds«, der erste Band der ›Milkweed‹-Trio. Der zweite Weltkrieg ist vorbei, nun geht’s in die frühen Jahre des Kalten Krieges mit englischen Blutdämonen-Beschwörern gegen sowietische Götterelektron-Übermenschen. Hut ab vor einer beeindruckenden Orakel-Antagonistin, bzw. zwielichtigen Helferin auf der Seite der Guten, die aber leider so irre & unberechenbar ist, dass weder Leser noch Romanfiguren sich sicher sein können mit ihr. Viel Tragik, die Äktschn ist packend inszeniert. Erfreulich reif und berührend für diese Art grimmer Genre-Garn. Ich freu mich sehr auf den Abschlussband »Necessery Evil« 2013.
• »The Half-Made World« von Felix Gilman: Der Wilden Westen ist m.E. eine vorzügliche Fundgrube für Fantasywelten und Gilman formt aus zwei der kräftigsten Symbole der Epoche/des Genres die tragenden Säulen seines Weltenbaus. Es stehen sich gegenüber: die Heerscharen an Beamten & Soldaten von ›the Line‹ (dämonischen Eisenbahnmaschinen; verbreiten Industrie, Ordnung, Ausbeutung, Pharmazie; süchtig nach Treibstoff) und die Draufgänger-Banditen von ›the Gun‹ (über den Raum hinweg in Feuer-Beschwörungen konferierende Dämonen, die in Pistolen hausen und deren Träger Superkräfte verleihen; allesamt ziemlich anachrische und bluthungrige Knilche und Knilchinnen). Zwischen den Fronten haben einst die Leute von der Red Valley Republic versucht, einen dritten Weg zu finden, wurden aber aufgerieben. — Freut mich zu sehen, dass es mittlerweile einen weiteren Roman von Gilman gibt (»The Rise of Ransom City«), der in dieser Welt angesiedelt ist, und dass dieser anscheinend ähnlich wie bei Miévilles ›Bas-Lag‹-Büchern sowohl als Fortsetzung als auch als Einzelroman funktioniert.
Gut Buch (Sach)
»Der Implex« von Dietmar Dath & Barbara Kirchner: Richtig dick, famose Herausforderung. Bin sicherlich ein gutes Stück zu dumm, bzw. zu ungebildet, was einige der Geistesgrößen betrifft, über die im Buch desöfteren referiert wird. Dennoch doll, vor allem dank reichlicher Beachtung der Phantastik als wichtige Sache für den sozialen Fortschrift.
»Combined & Uneven Apocalypse: Luciferian Marxism« von Evan Calder Williams: Anhand von Filmen und anderen populären Medienwerken seit den 60ern/70ern bis heute untersucht der Autor, welche Erkenntnisse/Offenbarungen diese bieten bzgl. des Untergangs des Kapitalismus, sowie was danach kommt. Besonderes Augenmerk gilt dem sogenannten ›Salvagepunk‹ (mehr dazu hier unter Punkt 5), dem modernen Zombie-Mythos, sowie ruinöser Stadtlandschaften der dystopisch-apokalyptischen Science Fiction. Kurz: ein richtig knuffiges Gute Laune-Buch für stoisch-misantrophische Optimisten wie mich.
Gut Comic
»Dragonball« von Akira Toriyama: Bin ich froh, dass mein neuer junger Brotjobkollege M. W. mir mehrmals in höchsten Tönen dieses 8000-Seiten-Manga empfohlen hat, bis ich zustimmte, er solle mir ruhig mal die ersten 5 (von 42) Bänden mitbringen, damit ich reinlesen kann. In vielerlei Hinsicht vielleicht die irrste, aufregenste, spassigste, süchtigmachenste & äktschnreichste Lektüre seit ich weiß nicht wann für mich. Zwar gibt es eine längere Strecke, die ein klein wenig eintönig ist, aber die Eintönigkeit besteht aus langen immer krasseren Mega-Kampf-Szenen die sich über mehrere hundert Seiten erstrecken ... also eigentlich kein schwerwiegender Minuspunkt. Ganz großartig immer die Slapstick-Humor-Einlagen; grandios die ausführlichen Kampfkunst-Tuniere; vom Stuhl gefallen bin ich über die ungezügelt niedlichen sexistischen Witzelein vor allem in den frühen Bänden (»Ich wünsche mir: eine Mädchenunterhose!«). Wahrlich: »Dragonball« ist ein fetziger Klassiker, und ich freue mich schon darauf, ihn ein zweites Mal wegzuschlürfen.
»Die Besten Feinde« (Teil 1: 1783 bis 1953) von Jean-Pierre Filiu (Text) & David B. (Zeichnung): Diese Franzosen! Machen eine Sach-Graphic Novel in schwarz-weiß über die außenpolitischen Macheleukes der USA im Orient, reichern das ganze mit babylonischen Mythen an und veranschaulichen die diplomatisch-militären Knäul anhand surrealer Bildkompositionen. Da bleibt mir nur, mich auf Band 2 zu freuen.
»DMZ« von Brian Wood (Autor) & diversen Künstlern: Hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Matt Ruffs »The Mirage«, insofern, als dass auch hier ein Alternativweltenbau geschildert wird, in dem die zeitgenössischen USA in einen neuen Bürgerkrieg gestürtzt sind und in dem New York als von Krisennarben & Kriegsgreul gebeutelte entmilitarisierte Zone portraitiert wird. Meisterhaft fand ich, wie Wood und sein Team zuerst Fronten und Parteien gegeneinander aufzustellen, um dann immer mehr die Grenzen zwischen Gut und Böse mit viel moralischen und tragischen Grau-Grau zu verschmieren.
»Shenzhen« und »Pyongyang« von Guy Delisle: Eine Empfehlung von Andrea, für die ich sehr dankbar bin. Vordergründig eine Sammlung simpler autobiographischer Skizzen eines Franzosen, der zwecks seines Jobs für ein Animationsstudio in der Fremde die billigen Produktionskräfte beaufsichtigt. Mit großem Beobachtungs- & Erzähl-Können, kraftvollen einfach gehaltenen Zeichnung beschenkten die Bände mich mit einem Potpourrie kleiner Alltagsfreuen- & Absurditäten, menschlich anrührenden Momenten ... kurz: eine effektvolle Mischung aus Humor, Melancholie und Posie.
Gut Mukke
»Theatre Is Evil« von Amanda Palmer: Endlich wieder ein Album von Frau Palmer auf der Höhe ihres Meisterwerkes »Who Killed Amanda Palmer?«. Kantik, pompös, melodiös, theatralisch, rau, melancholisch. Lieblingssongs: »The Killing Type« und »Want It Back«.
»Lightning On The String, Thunder On The Mic« und »Rappalachia«von Gangstagrass: Noch eine Anregung durch die TV-Serie »Justified«, für die Gangstagrass die Titelmusik geliefert hat. Warum hat es so lange gedauert, bis jemand auf die Idee kam Rap und Country/Bluegrass miteinander zu verkuppeln. Lieblingssong: »Big Branch« feat. Tomasia.
»Who Is Feeling Young Now?« von Punch Brothers: Was für die Veredelung der heimischen Volks- & Tanzbodnmusik die Biermösl Blosn ist, das leisten die Punch Brothers bezüglich des reichen Deltas, in dem Country, Folk, Bluegrass, Polka, Rock und was nicht noch alles münden. Lieblingssong: die Ballade »Clara« und das überfetzige Instrumentalstück »Flippen«.
Ebenfalls großartig fand ich den »Assassins Creed III«-Spiele-Soundtrack von Lorne Balfe (stimmungsvoller Orchestral-Bombast aus der Hans Zimmer-Schule), sowie die Filmmusik zu »The Girl With the Dragon Tattoo« von Trent Reznor & Atticus Ross (experimenteller & sperriger als der im letzten Grenzübergang empfohlene Soundtrack zu »The Social Network«, aber ideal für kalte Tage).
Gut Film/Serie
Kinners, war das ein reichhaltiges Phantastik-Filmjahr! Vielleicht wird man einmal auf 2012 zurückblicken wie auf das ›Annus mirabilis‹ 1982. Ich führe die Filme hier ungefähr in der Folge auf, in der ich sie gesehen habe, bis auf den ersten, denn …
… »The Cabin in the Woods« ist mein Lieblingsstreifen des Jahres. Locker, spritzig, stimmungsvoll, mit so dollen doppelbödigen Grundgerüst, dass man noch nicht mal die ersten 5 Minuten erzählen kann, ohne jenen, die nicht Bescheid wissen, den Spaß gehörig zu versemmeln. Selbst wenn der Film luschig wäre, enthält er eine der überwältigsten Großgemetzel-Szenen der mir bekannten Filmgeschichte (ich sag nur: alle Türen gehen auf).
»The Girl With The Dragon Tattoo«, die David Fincher-Fassung. Ich finde schon die schwedische TV-Version sehr fein, aber Finchers exzellente Ausführung setzt nochmal einen drauf. Zudem muss ich zugeben, dass mir Maras komplexere Lisbet-Darstellung einen Tacken mehr taugt, als Rapaces herbere Interpretation der Figur.
»War Horse«: Wie schieb ich letztes Jahr anhand von »Tim & Struppi«? Spielberg hat’s noch immer druff! Natürlich ist »War Horse« derart gnadenlos rührselig (auf eine allerdings knuffig-altmodische Weise), dass alles zu spät ist, was mir aber den ungewöhnlichen Reiz dieses ›Erster Weltkrieg aus Sicht eines Pferdes‹-Films nicht versauen kann.
»Downton Abbey« Staffeln 1-3: Nachdem mehrere Mädels mich immer wieder darauf hinwiesen, wie großartig diese Adels- & Dienstboten-Saga ist, habe auch ich sie endlich entdeckt. Schon ungeheuerlich, wie weit sich Autor Julian Fellows traut zu gehen, um dramatische Höhepunkte rauszukitzeln. Wenn hier gestorben wird, räumt einen das richtig heftig weg. Da bleibt kein Auge trocken. Hier geht es zu einem exzellenten Lob auf die Serie von Andrea Diener für die F.A.Z.
»Mad Men« Staffeln 1-5: Ja gugge mal da! Die Amis können also auch subtil, ruhig & auf leise humorige Weise kritisch mit ihren eigenen goldenen Zeitaltern & Milieus sein. Für mich das beste an der Serie: die gnadenlose Autopsie der affigen Selbstverherrlichung von Männchen, sowie das Ringen der Frauen im Egotrip-Grabenkrieg der Werbeagentur und deren Umfeld.
»The Avengers«: Marvel-Comics sind mir ziemlich Wurscht, und die verschiedenen in diesem Film mündenden Vorläuferfilme über die einzelnen Helden fand ich zwar kurzweilig von ›ganz nett‹ (»Thor«, »Iron Man 2«) bis ›erstaunlich okey‹ (»Hulk« mit Edward Norton, »Iron Man 1« & »Captain America«), aber nicht sooo umwerfend wie manch anderer Superhelden-Sympathisant. Auch wenn »The Avengers« nicht vollkommen perfekt ist, macht er viel mehr richtig als falsch, und schafft es ergo locker, meinen fast schon verkümmerten Glauben an das große Popcorn-Sommerblockbusterspektakel wieder zu beleben.
»The Hobbit: An Unexpected Journey«: Ist es hochproblematisch aus dem schmalen Kinderbuch unter Anzapfung von Zeugs aus »Silmarillion«, »Unfinished Tales« & »History of Middle-earth« eine dreiteilige Filmflotte zu machen? Geschenkt. Ich finde, die Angleichung der ursprünglich unbedarfteren, kindlicheren »Hobbit«-Geschichte an den schicksalsgeschwängerten, düster-epischer Ton von »Der Herr der Ringe« ist überwiegend gut gelungen. Nach zweimaligen Begutachten im Kino bin ich sogar der Meinung, dass dieser erste »Hobbit«-Film besser ist, als die erste »LOTR«-Kinoversion vor 10 Jahren.
»Dredd 3D«: Endlich haben wir einen Film-Judge Dredd, der dem englischen Comic-Klassiker gerecht wird. So ehrlich und geradeaus, wie ein Tritt in die Fresse. Schön zu sehen, dass es noch möglich ist, gut gemachten Brutalo-Krawumms mit Niveau serviert zu bekommen.
»Coupled«, BBC-Serie: Empfehlenswert für alle, denen »Friends« zu zahm & süßlich ist. Vor allem die später durch »Leverage« international bekannter gewordene Gina Bellman brilliert als durchgeknallte Narzissa-Nudel.
»American Horror Story«, Staffel 1: Großer Dank an Markus Pogopuschel für diesen Tipp! Statt eines ersehnten freidvollen Neuanfangs nach Umzug von Ost- an Westküste, gibts für eine dreiköpfige Familie verschachtelten Gespensterhorror und reichlich spinnerte Nachbarn. Ganz groß, wie mit einem Minimum am Blut und Gewalt ganz viel Gänsehaut verursacht wird.
»Brows Held High: ›Melancholia‹«: Ja wirklich, diese zweiteilige Video-Besprechung über Lars van Triers Film finde ich so gut, dass ich sie zu den besten Filmen des Jahres zähle. Immerhin: Kyle Kallgren gelingt es angemessen ernst und gehaltvoll über das Tabu-Thema des Filmes (Depression) zu sprechen und dennoch gekonnt mit dem nötigen, weil schmackhaft machenden Humor, aufzuwarten. Also, Cinephile, überzeugt Euch: Hier geht’s zu Teil eins und hier zu Teil zwei.
Kurze Erwähnungen haben auch verdient (ohne besondere Reihenfolge):
• »Cloud Atlas«: Bei soviel Ambition knickt natürlich so manches als albern und naiv vorn & hint runter. Trotzdem eine beeindruckende Leistung und ein großer Guck-Spaß.
• »Prometheus«: Die beste herbe Enttäuschung. Doofes Drehbuch, aber sehr schöne Bilder und brauchbare Stimmung. Die Kommentartonspuren von Regie & Drehbuch-Leuz auf der Blue Ray geben erhellende Einblicke in die Werdegänge beknackter Entscheidungen. Herr Scott, beim nächsten großen Genre-Flick bitte genauso viel Sorgfalt, Sensibiliät und Hirnschmalz ins Drehbuch investieren wie ins Design, versprochen? Dann klapps auch mit der Fan-Base.
• »Looper«: Science Fiction ist ein wunderbares Vehikel um dem nichts ahnenden Spektakel-Publikum unbequeme moralische Botschaften reinzuwürgen. Bravo!
• »Chronicle«: Siehe »Looper«, plus ich wähne hier nicht wenig Verbeugung vor einem meiner Lieblings-Klassiker der Supermutanten-SF (»Akira«). Zudem ein überzeugendes Beispiel, dass sich aus Wackelkamera & Found Footage durchaus Brauchbares machen lässt.
• »Juno«: Lustig, knuffig, schräg. Hach ... Ellen Page ist einfach unvergleichlich.
• »The Hunger Games« (Teil 1): Große Überraschung für mich, denn ich dachte eingangs, dass »The Hunger Games« auch nur so’n Young Adult/Mädchen-Schmu ist, wie die »Twillight«-Filmchen oder lahme Enten wie »I Am Number Four«, aber ich bin gebafft, wie gut diese erstaunlich harte Geschichte umgesetzt wurde. Gebt mir jederzeit medien- und sozialkritische Dystopie-Science Fiction in der sich Kiddies zur Bespaßung bzw. Einschüchterung der Massen gegenseitig abmurksen. Hab mittlerweile innerhalb von zwei Tagen auch das erste Buch von Suzanne Collins verschlungen und für vorzüglich befunden.
• »A Wyrd Documentary: Lovecraft – Fear of the Unkown«: Lebende Genre-Größen & Kenner wie Guillermo del Toro, Neil Gaiman, John Carpenter, Peter Straub, Caitlin R. Kiernan, Ramsey Campbell, Stuart Gordon, S. T. Joshi, Robert M. Price und Andrew Migliore plaudern über den Papst der Weird Fiction, des Horrors & der Dark Fantasy, unterlegt mit viel Bildmaterial der edelsten Lovecraft-Illustratoren.
Beste / Schlimmste Momente
Seit April 2008, angeschafft zum Erscheinen von »GTA IV«, habe ich eine PS3, und bis vor kurzem spielte ich auf einem furznormalen Monitor, also mit Popelauflösung. Schimpft mich einen matten kleinen daddel-geilen Materialisten, aber ich freue mich narrisch über einen HDMI-fährigen PC-Monitor, der mir für umme überlassen wurde.
Zweimal Golkonda-Freude: a) Der von mir übersetzte Band mit Kurzgeschichten von Ted Chiang, »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes«, hat zwar nicht sooo viele, dafür aber ausnahmslos wohlwollende, ja sogar begeisterte Rezensionen für sich verbuchen können, und wurde in Foren von SF-Fan- und SF-Netzwerk von einigen Lesern als ein Lieblingsbuch des Jahres erwähnt. — b) Die erste Hellboy-Anthologie aus dem Jahre 1999, »Odd Jobs«, ist endlich auf Deutsch unter dem Titel »Die Rache der Medusa« erschienen, und als Hellboy-Fan war es für mich freilich Übertop, dass ich die hälfte der Übersetzungsarbeit übernehmen durfte.
Bruder Hein grient: Aufsichts-Kollegin ist auf dem Weg zum Arzt auf der Straße tot umgefallen.
Frust: Zusagen werden nicht eingehalten. Da macht Loyalität nicht so viel Spaß.
Scham: Um Gefallen gebeten, der sich zu krasser Zumutung entwickelte.
So, folgende eMail erreichte mich vor einer Weile, und weil es vielleicht für Leuz mit ähnlichen Anfragen ganz informativ, bzw. für meine Stamm-Leser unterhaltsam ist, mache ich mal publik, wie ich auf Blogmarketing reagiere.
Die eMail ist unverändert, bis auf Tilgung von Namen und Firma:
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich heiße XXX und arbeite als Account Manager International bei XXX. Bei der Suche nach interessanten Webseiten bin ich auf Ihren Blog molochronik.antville.org aufmerksam geworden, die Emailadresse habe ich Ihren Kontaktdaten entnommen.
Die Beiträge sind sehr informativ und interessant. Ich möchte Sie daher fragen, ob es bei Ihnen die Möglichkeit gibt, redaktionelle Beiträge käuflich zu erwerben.
Damit meine ich, dass Sie quasi nach Absprache über ein bestimmtes Produkt, eine Dienstleistung oder eine Webseite schreiben und dafür dann vergütet werden. Selbstverständlich ohne feste Vorgabe von konkreten Inhalten/Empfehlungen.
Falls das für Sie von Interesse ist, freue ich mich über Ihre Rückmeldung.
Vielen Dank und freundliche Grüße
XXX
Darauf hin ich (habe ein, zwei Tippfehler ausgebessert):
Schönen Tag XXX.
Danke für Ihre Anfrage.
Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, welche Art von Produkten, Dienstleistungen oder Websiten, die Ihre Firma mir vermitteln möchte, sich für die MoloChronik eignen könnten.
Mir wäre es lieber, die entsprechenden Verantwortlichen der in Frage kommenden Produkte, Dienstleistungen oder Websiten nähmen dirket mit mir Kontakt auf.
Neugierig auf etwaige genauere Informationen, was Sie sich vorstellen,
verbleibe ich mit freundlichen Grüßen
Alexander Müller / molosovsky
Und diese Antwort ist noch milde. Urpsünglich wollte ich ja in etwa schreiben: »Aufgrund der Reputationswahrung meines Blogs muss ich Ihre Anfrage leider abschlägig beantworten.«
Der Vorschlag, dass Teresa Sickert von der Sendung ›Trackback‹ einen alten Phantastik-Sack wie mich für ein Jugendradio anrufen soll, kam von Rainer Sigl der das gigantisch lesenswerte Blog ›Video Game Tourism‹ betreibt (und als Lektor der 2. Ausgabe des brillanten Game-Buchmagazins »WASD« fungierte). — Nebenbei: ich freue mich, auf diesem Wege Radio Fritz für meine Radio-Liste entdeckt zu haben.
Hier der Direktlink zur Sendung (das Gespräch beginnt bei 52:12 (oder nach dem Counter des Players: -17:59).
Ein wenig schäme ich mich ja, dass ich so schnell und ungezügelt herumplappere, vor allem aber, dass ich Werbung für meine Golkonda-Übersetzungen mache, wie ein Gast bei »Wetten Dass?«.
Ich freue mich schon auf nächste Woche, wenn der von mir vorgeschlagene Gast Captain Serenus Zeitbloom aka. Alex Jahnke vom ›Clockworker‹-Blog dran ist.
Dauert nicht mehr lange, und es erscheint Ausgabe 24 von »SF-Personality« im Shayol Verlag Berlin. Es war schon seit längerem geplant, dass dieser Band sich Ray Bradbury widmen wird. Der traurige Zufall wollte es, dass Bradbury im Sommer dieses Jahres verstarb, und Band 24 von SFP somit eine höhere Relevanz aufgebürdet wurde. Was ich so aus der Werkstatt höre, wird es die bisher umfangreichste Ausgabe.
Habe »Alif the Unseen« als eBook gelesen, nachdem unter anderem Matt Ruff den Roman in seinem Blog empfohlen hat. Nach zwei stilistisch und strukturell ziemlich bis sehr anspruchsvollen Romanen (»John Saturnall’s Feast« und »The Pope’s Rhinoceros« von Lawrence Norfolk) war »Alif the Unseen« eine willkommene Abwechslung. Sprachlich klar und locker erzählt bleibt die Erzählerperspektive immer in der Nähe der Hauptfigur, Alif, einem Hacker in einem fiktiven Stadtstaat am Persischen Golf.
Alif bietet seine Hacker- und IT-Dienste allen an (egal ob Islamisten, Kommunisten, demokratischen Bürgerrechtlern ect.), die sich vor der staatlichen Überwachung des Emirates verstecken wollen. Nachdem seine große Liebe aus besseren Kreisen, Intisar, mit ihm Schluss machen muss/will, weil sie sich dem Druck ihrer Familie beugt, einen wohlhabenden und einflussreichen Mann zu heiraten, schreibt Alif ein mächtiges Programm, mit dem er sich für Intisar im Internet unsichtbar machen kann. Dieses Programm ist in der Lage, jede Person anhand ihrer Sprache und Art, wie sie auf der Tatstur schreibt zu erkennen, egal, mit welchem Zugang oder welcher Anmeldung sie sich im Netz bewegt. Fatalerweise kann sich der fieseste Überwachungsagent des Emirates, die ›Hand Gottes‹, dieses Programm aneignen und für seine Zwecke nutzen. Zudem lässt die verzweifelte Intisar Alif ein altes handgeschriebenes Buch zukommen, das der Legende nach als Gegenstück zu »1001 Nacht« von Djinns geschrieben wurde und mächtiges Geheimwissen enthält.
Bald schon befindet sich Alif zusammen mit seiner Nachbarschafts-Freundin Dina auf der Flucht vor der Sicherheitspolizei und der ›Hand Gottes‹ und stolpert dabei in eine magische Welt voller Djinns, Marids, Ifrits und anderen Wesen der arabischen Mytholgie. Dabei steht mehr als nur Alifs eigene Sicherheit auf dem Spiel, denn die ›Hand Gottes‹ ist dabei, sich zum allmächtigen und allwissenden Unterdrücker aufzuschwingen, vor dem sich niemand mehr weder ›In Real Life‹ noch im Internet verstecken kann, womit die letzten Reste an Handlungs- und Meinungs-Freiheit im Emirat zu verschwinden drohen .
In dreierlei Hinsicht finde ich diesen Romans ausserordentlich gelungen:
Das große Geschick, mit dem die Autorin G. Willow Wilson moderne, städtische Fantasy (auch ›Urban Fantasy‹ genannt) mit orientalischem Hintergrund vermengt mit Aspekten des Computer- / Hacker-Thrillers. Atemberaubend z.B. eine Sequenz, in der Alif völlig in Trance vor lauter Programmieren auf Dämonen trifft.
Gerade als Atheist bin ich immer erstmal skeptisch, wie Religion und Glaube in Fantasy-Werken behandelt werden. Aber ich kann nichts einwenden gegen die Art, wie in »Alif the Unseen« verschiedene spirituelle und religiöse Positionen aufeinandertreffen. Clever fand ich z.B. wie ein tiefgläubiger alter Imam, der sich mit der modernen IT- und Internetwelt null auskennt, die theoretischen Grundlagen von Quantencomputern dennoch nachzuvollziehen vermag, dank seiner Koran-Kenntnisse (jedes Wort hat 7000 Bedeutungen, die alle zugleich widerspruchsfrei gültig sind). — Die zum Islam konvertierte amerikanische Autorin G. Willow Wilson vermeidet es vorbildlich, ihre Leser bekehren zu wollen. Vielmehr versteht sie es zu zeigen, auf welch unterschiedliche Weise Gläubige und Ungläubige verschiedenster Ausprägung sich Fragen zum richtigen und falschen Handeln nähern, woran man die Stimme seines Gewissen erkennt, welche Haltung man gegenüber dem Unbekannten einnimmt, wie man Hoffnung schöpft.
Enthält der Roman eine wunderbare Liebesgeschichte, die sich um Alif, Intisar und Dina dreht.
Allen Fantasy-Lesern zu empfehlen, die zum Beispiel Matt Ruff, Neil Gaiman oder Martin Millar mögen. Ich hoffe, ein deutscher Verlag wird dieses Buch bald für den deutschen Markt aufgreifen.
Hier noch ein Interview mit der Autorin bei ›Well Read‹:
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G. Willow Wilson: »Alif the Unseen«, Englische gebundene Ausgabe bei Grove/Atlantic 2012; 320 Seiten mit Karte; ISBN: 0802120202.
Taschenbuchausgabe bei Corbus Books, 432 Seiten; ISBN: 0857895672.
Auch als eBook erhältlich.
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Es hat ›nur‹ 16 Jahre gedauert diesen verschlungenen zweiten Roman von Norfolk fertig zu lesen. Ich habe ihn damals, 1996 als er auf Deutsch erschienen ist, gekauft und im Laufe der Jahre mehrmals angefangen, bin aber stets irgendwo am Ende des ersten Viertels versackt.
Weil: Kein leicht zu lesendes Buch, vor allem nicht zu Beginn. Man muss sich daran gewöhnen, dass Norfolk in Kreuzstich-Manier zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her springt. Auch die überbordende Figuren-Anzahl macht die Sache nicht leichter, vor allem, da oftmals nicht gleich klar ist, wer gerade die im Zentrum stehende Person ist, oder über wen berichtet, oder wer von wem beobachtet, belauscht wird. Genauer: Norfolk ist nah an seinen Figuren dran, so dass man manchmal einige Zeilen & Absätze nicht so recht wei0, wo und wann etwas stattfindet, ob geträumt, halluziniert oder erinnert wird.
Nun aber habe ich die englische Originalausgabe rasch verschlungen, direkt im Anschluss auf Norfolks neuestem, vierten Roman »John Saturnall’s Feast« (»Das Festmahl des John Saturnall«, Deutsch von Melanie Walz, im November bei Albrecht Knaus Verlag) der mir ebenfalls sehr gut gefallen hat.
Die Handlung von »The Pope’s Rhinoceros« (»Ein Nashorn für den Papst«) verzweigt sich in vielerlei Gefilde, aber im Zentrum steht der Streit zwischen Spaniern und Portugiesen um die Aufteilung der neuen Welt, und zu wessen Vorteil sich der spaßhungrige Papst Leo X. (= Giovanni di Medici) entscheiden wird. Die Gunst des Papstes soll für sich verbuchen können, wer ihm zuerst ein Nashorn beschaffen kann (ganz Plinius’ Naturgeschichte folgend, wonach das Nashorn der natürliche Feind des Elefanten ist, und einen Elefanten hat der Past schon in seinem Vatikanischem Zoo.) — Erstaunlich, wie viel von diesem Aberwitz tatsächlich geschichtlich verbürgt ist.
Eigentliche Hauptfigur ist jedoch der Heide und Söldner Salvestro, Sohn einer der letzten Überlebenden der von der Nordsee verschlungenen Stadt Vinetta. Im ersten von sieben Teilen geht es um ihn und seinen Söldner-Gefährten Bernardo, die auf Usedom nach den Schätzen der versunkenen Stadt tauchen wollen, von abergläubischen Einheimischen bedrängt und schließlich von Mönchen eines Klosters, das teilweise von den bröckelnden Klippen ins Meer gestürzt ist aufgenommen werden. — Im zweiten und längsten Teil stehen die Ränke im Vatikan im Zentrum. Zudem sind die Mönche von Usedom angekommen. Geleitet von Salvestro und Bernanrdo hatten sie sich aufgemacht haben, den Papst zu bitten, beim Wiederaufbau ihres Klosters zu helfen. Und Spanier und Portugiesen bereiten ihren Schiffsexpeditionen vor. — Der dritte Teil behandelt die Fahrt eines Schiffes der Portugiesen von Goa nach Europa mit Nashorn als Fracht. Ein Zwischenspiel mit neuen Figuren. — Der vierte Teil widmet sich der Fahrt des spanischen Schiffes, mit Salvestro und Bernardo an Bord, angeheuert, ein Nashorn aus Afrika zu beschaffen. Mit an Bord ist der Soldat Don Diego und eine afrikanische Prinzessin, die es einst nach Rom verschlagen hat, wo sie die Dienerin der Liebhaberin des spanischen Botschafters war. — Der fünfte Teil spielt im Königreich der Nri (heutiges Nigeria). Während die einheimischen Stämme ein großes Palaver dazu abhalten, wie man auf die immer zahlreicheren weißen Eindringlinge reagieren soll, irren Salvestro und Co durch den Dschungel. — Im sechsten Teil kehrt Salvestro mit einem Nashorn nach Rom zurück. Großes Finale mit für den Papst und sein Gefolge arrangiertem Kampf zwischen Elefant und Nashorn. — Der sehr kurze siebte Teil dient als Epilog: einer der Usedom-Mönche schildert die Rückkehr in den Norden, und was aus Salvestro geworden ist.
Über das Buch verteilt gibt es einen in der Vergangenheit spielenden Handlungsstrang zu der Belagerung und Plünderung der Stadt Prato durch Truppen unter der Führung von Giovanni di Medici (als der noch nicht Papst war) sowie der Ermordung der dort ansässigen Adelsfamilie Tebaldo. Hier sind sich Salvestro, Bernardo, Diego und andere Figuren bereits begegnet und haben Schreckliches erlebt oder vollbracht.
Einige Merkmale machen den Roman zu einer die anfänglichen Hürden enlohnenden Lektüre:
Schöne, fast malerische Beschreibungen von Natur, Stadt-Gewimmel, Gebäude-Eigenheiten, großen geschichtlichen Zeiträumen. So beginnt der erste Teil des Romans, »Vinetta«, mit einer langen Sequenz über das Baltische Meer … buchstäbliche eine geologische Erzählung. Und der zweite Teil, »Roma«, hebt an mit einem viele Seiten beanspruchenden Sonnenaufgang über der Stadt, wobei das Grundthema lautet: das Licht ist das Antlitz Gottes.
Grillige Abschweifungen, ungewöhnliche Perspektiven. Da wird ein Tauch-Fass schon mal aus Sicht eines Hering-Schwarms oder seitenlang der Kampf verschiedener Rattenkolonien der Stadt Rom beschrieben.
Knackige Sex-Szenen, unerschrockene Schilderungen von Kriegsgreul. Sehr vielfältiges Dialog-Register, von derb über förmlich, losem Daherreden bis hin takierenden Sticherln, ect.
Kuriose Typen ohne Ende. Und auch: Namen über Namen. Norfolk ist sehr gut darin, Tiefe zu beschwören, indem er irre viele Namen anführt. Man kann sich dann die urigen Typen dazu selbst ausmalen.
Immer wieder mal, aber nicht gerade selten, Situationskomik oder Seltsamkeiten die sich bis zum Aberwitz steigern kann. Zwergenwerfen! Ein Blinder, die nicht merkt, dass er seine Historie mit eingetrockneter Tinte auf dem Papier ›schreibt‹.
Kurzweilige Schilderungen komplexer Sachverhalte. Wie Geldwechsler in Rom arbeiten, wie Schiffs-Segel verarbeitet werden, wie Papst-Audienzen ablaufen, wie man im Dschungel Bronze-Figuren gießt.
Nun, endlich fertig, bin ich sehr zufrieden mit dem Buch, das mich — wie es sich für einen historischen Roman, der weit ausholt gehört — mit einer staunenden Melancholie und amüsiertem Respekt zurücklässt. Den fünften Stern (siehe mein Eintrag bei Goodreads) halte ich zurück, weil das Buch zu lange braucht, bis man sich zurecht- und wohl findet mit seinem Fluss … eben einen Tacken zu umständlich strukturiert ist. Dennoch absolut empfehlenswert für alle, die gerne etwas schwitzen, um reichlich beschenkt zu werden.
Lawrence Norfolk: »The Pope’s Rhinoceros«, englische Erstveröffentlichung 1996;
Taschenbuchausgabe bei Vintage/Minerva; 753 Seiten; ISBN: 0749398744.
Aktuell auch als eBook erhältlich.
Deutsch derzeit nur antiquarisch:»Ein Nashorn für den Papst«, gebundene Ausgabe bei Albrecht Knaus; Übersetzung von Gisbert Haefs, Hanswilhelm Haefs, Gerald Jung und Gisela Stege; 815 Seiten; ISBN: 3813519201.
Deutsche Taschenbuchausgabe bei btb, 1998; ISBN: 3442724066.
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