Eintrag No. 657 — Schnell und dreckig hier meine heute im Laufe des Tages schnell zusammengetippen Eindrücke und Ratz-Fatz-Protokolle des ersten Tages des Gründungskongresses der ›Gesellschaft für Fantastikforschung‹.
Donnerstag, 30. Sept. 2010 — 07:58
Nun im Zug von Frankfurt nach Hamburg. Leichtes Unwohlsein bei der Anfahrt, was mir schon lange nicht mehr passiert ist. Merke, dass ich anders als ich es mir selbst eingeredet habe, ziemlich nervös vor Aufregung und Vorfreude bin. Die Sonne ist bereits aufgegangen, verbrigt sich aber hinter einem die Gesamtheit des Firmamentes verhüllenden zart-grauen Wolkenparavent, ja, einzelne Nebelbänke reichen herab bis auf den Grund, so dass mein Blick aus dem Zug keines Landschaftspanoramas, sondern nur einzelner Fragmente aus Bäumen, Feldern und vereinzelten Häusern ansichtig wird, ganz so, als auf Papierfetzen gezeichnete Skizzen an mir vorbeizögen. Keine zwanzig Minuten, und meine Übelkeit ist verflogen und meine alte Liebe für Eisenbahnfahrten erfüllt mich. — Verpflegung: das Cola von Red Bull und »Quicksilver« von Neal Stephenson als englisches Hörbuch.
›Cappuccino‹, Grindelallee — 14:46
Nach meiner Ankunft im A&O-Hostel (empfehlenswert, gleich beim Hauptbahnhof) erstmal das gemacht, was ich am liebsten in einer fremden Stadt mache: mich verlaufen. Also drei Stunden grob nach Gefühl nördlich durch Hamburg gelatscht; den Rathausplatz passiert; an den Verlagshäusern von ›Der Spiegel‹, ›Die Zeit‹ (Grusel! gleich gegenüber: Scientology) sowie ›Gruner + Jahr‹ vorbei. Letzteres hat mich sogar architektonisch beeindruckt. Die Wege, welche ich instinktiv einschlagen wollte, waren alle mit Baustellen verrammelt, und so wäre ich fast in Richtung Hafenstadt abgeirrt, konnte mich aber dann nach Konsultation des Sonnenstandes neu orientieren, fand so zum Hanseturm, den Messehallen und schließlich zur Grindelallee. War natürlich (Aberglaube Aberglaube – ganz Sternzeichen Widder) eine halbe Stunde zu früh vor Ort, habe den Kongressort besichtigt, dem netten Herrn Organisator Schmeink die Hand geschüttelt und tanke nun erstmal eine Runde heiße Schoko, Fritz Cola und Internet, und markiere mir im Kongressprogramm die Vorträge, die mich interessieren.
Hörsaal GfF — 16:22
Endlich Simon Spiegel in Persona getroffen und dann Anmeldung erledigt. Gigantisches Zuckerl im Kongress-Sackerl: Band 1 der Strugatzki-Werksausgabe von Heyne. Nun auch Frank Weinreich lebendfrisch die Hand geschüttelt (Frank gegenüber plagt mich ja ein schlechtes Gewissen, weil ich in seinem Blog meist nur besserwisserische Widerspruch-Kommentare platziere; aber ich schätze seine Texte sehr).
Vorrede Lars Schmeink: Sehr angenehm sein Gebrauch der Expeditions-Metapher. GfF soll Basis-Camp sein. Das überraschend große Interesse lässt die Hoffnung zu, dass aus der deutschsprachigen Gesellschaft in naher Zukunft eine europäische wird. Fein auch sein Ansatz, den ›Fantastik‹-Begriff weit abzustecken, damit all die verschiedenen Einzelunternehmungen berücksichtigt werden. Klare Unterscheidungen zu finden ist ein Ziel.
Diskussion: »Researching the Fantastic in the 21st Century«
Gunzenhäuser: Fantastik hat bemerkenswerte Präsenz ist auf dem Feld der Computerspiele (aber auch TV und Kino). Vor allem Spiele: Raum und Performanz wichtig.
Ruthner: Außenseiterthema in den 90ern (Wendelin Schmidt-Dengler empfahl, dem CV auch ernste Themen hinzuzufügen). Spezialgebiet Vampire, in letzter Zeit aber Entwicklungen (»Twillight«) die ihn zuwider sind. — Sieht 2 Strömungen der Fantatstik-Forschung: 1) Rhetorisch = linguistisch & strukturalistisch, nach Todorov; / 2)›Liminality‹ (ist wohl DAS neue Modewort in der akademischen Beschäftigung mit Fantastik … zumindest mir neu. Hab auch erst mal Wiki konsultieren müssen. Verlinkt habe ich den deutschen Eintrag, aber der englische ist, wie so oft, ergiebiger.).
Tomkowiak: Ebenfalls Außenseitererfahrungen im akademischen Betrieb (›Fantastik ist zu populär‹). Oft toter Punkt in Artikeln und Diskussion, wenn bestimmt werden sollte, was Fantastik ›genau‹ ist. Beschäftigung mit Paul Albrecht Müller (Nazi-Superhelden) erhellte, dass Fantastik viel mit Realität und Ideologie zu tun hat. Fantastik oftmals genutzt um Wissenschaftsprobleme z.B. der Unsterblichkeitsforschung zu veranschaulichen. Nun Forschung fantastischer Kinderliteratur & Filme.
Coelsch-Foisner: Wie die Fantastik-Phänomene und -Strategien mit Wirklichkeit interagieren und sie unterbricht. Körperlichkeit, Metamorphosen, Transformationen und Korrespondenz in Wissenschaft und Gesellschaft. — Besonderes Interesse an Fantastik-Entwicklungen nach Fall der Mauer; Fantastik und Erinnerungsorte! ›Fantastik-Effekt‹ der deformierten Füße von chinenischen Lotos-Damen. — Freut sich auf Kollaboration. Fantastik wirkt auf Alltagsleben ein.
Was ist neu auf dem Feld der Fantastik-Forschung im 21. Jahrhundert?
R: Großer Korpus gegenwärtiger Kunst, die fantastisch ist.
C-F: Erstaunt, dass sich niemand mit Fantastik in der Werbung beschäftigt! YES!!! — Identitäts-Konstrukte und Überschreitung von Grenzen.
G: Generationsfrage; junge Leute begeistern sich. Werkzeugkasten um über das Neue nachzudenken, sich ihm anzunähern.
Welche institutionellen Rahmenbedingungen für Fantastik-Forschung sind erwünscht?
R: Nationalliteratur-Foschung erscheint ihm Schrebergartenhaft GENAU!. Kollaps der Geisteswissenschaften im anglo-amerikan. sorgt dafür, dass Leute aus unterschiedlichen Disziplinen nun miteinander reden. — Fantastik wurde zum Mainstream (deshalb seine Nostalgie).
C-F: Literatur zu einer Rückkehr verhelfen, Fantastik reizvoll für junge Leute. Natürwissenschaftler-Kongress zeigt deren Interesse an Fantastik.
T (zu R): Wegen Nostalgie-Klage. Unterscheidung U- und E-Kultur sollte aufgegeben werden. In der Schule muss man mit Mainstream anfangen, um die jungen Leute abzuholen.
R: Fühlt sich missverstanden. Meinte Kulturindustrie, die ›Verkindergartung‹ der Fantastik geht von ihr aus. Börsenhandel der ganzer Länder verwüstet; was könnte ›fantastischer‹ sein?
Auditorium-Fragen
Frage nach nicht-fiktionaler Fantastik; 1) Wie ist das Verhältnis von Fiktion und Fantastik? / 2) Verhältnis europäischer und amerikanischer Fantastik-Forschung?
R: Zu 1): Kulturwende, alles ist konstruiert, alles fiktionalisiert. Fantastik ist Sonderfall der Fiktion. Wirtschaftstheorie ist ebenso Fantastik wie Asimov oder Tolkien.
C-F: Zu 1): Wie Museen Geschichte vermitteln. Zieht ›Narration‹ den Begriff ›Fiktion‹ vor. / Zu 2): Großes Interesse der USA an Osteuropa.
Geld war immer schon Fiktion, wir behandeln als aber als etwas Wirkichliches. Das Fantastische ist nicht mehr so fantastisch. Also: Ändert sich nicht etwas an der Funktionsweise, wenn etwas ehemals Marginalisiertes nun hochpopulär wird?
C-F: Fantastik ändert sich dauernd und überschreitet sich selbst.
Grenzüberschreitung. Wegen Sprache: Europa viele Sprachen, in Spanien lebendige Entwicklung; wird Englisch hegemoniale Sprache der Fantastik-Foschung und der GfF?
Schmeink: GfF beginnt als deutschsprachig, auf europäischer Ebene ist Englisch aber Austauschsprache. Schönes Ziel wäre, mehr verschiedene europäische Texte ins Englische und Deutsche zu übersetzen.
Kapitalistische Wirtschaftstheorie wie Märchen: ›keiner‹ denkt, dass sie wahr ist, aber man glaubt willentlich daran, weil man es für das Bestmögliche hält.
T: Beispiel Dan Brown, Leser beginnen dessen Verschwörungsgeschichte zu glauben. Kräfte die gegen die Menschheit vorgehen … da trifft sich die Börse mit der Fantastik.
R: Siehe großer Aufschwung der Fantastik in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. — Fantastik als Facette der Andersartigkeit; Identität, Spiegelbild und Projektion. Vorschlag des Studienfelds ›Kultur-Teratologie‹ (= etwa: ›Kulturelle Monsterkunde‹).
Was ist pragmatischer Zusammenhang zwischen Geldern für Fantastik-Forschung und deren Beliebheit?
G: Fantastik immer noch nicht allzu akzeptiert im akademischen Bereich, trotz deren Beliebheit.
R:›Gentrifizierung‹ der Fantastik an Unis. Fantastik-Forschung nur die nächste Modewelle, hat er so nicht erwartet.
C-F: Hat Erfahrung gemacht, dass sich viele Leute aus verschiedenen Fachbereiche für Fantastik interessieren. (Salzburgs Life-Science-Direktor ist SF-Fan — Hört Hört!). Fantastik kann zu vielen Forschungsfeldern Beitrag leisten: z.B. Trauma-, Kriegs-, Propaganda-Studien. Fantastik wurde da noch nicht hinreichend gewürdigt! YES
(Trommelwirbel) Deutsche Frage: Englisch = Einbahnstraße. Begriff des Fantastik so weit, spielt schon ins Spiritistische. Sieht wenig Zusammenhang mit Film & Literatur. Sind mehr Mythen des Alltags. Wo ist der Anschluss an Literatur?
C-F: Siehe Fandom und Fan-Fiction, also Literatur spielt durchaus eine große Rolle bei Fantastik-Forschung.
Findet problematisch, dass Fantastik-Begriff der GfF sehr weit ist. Was ist Unterschied zu Mythos?
G: Deshalb fasziniert sie Fantastik, sie kehrt stets wieder, ändert sich, hat eben auch mythische Qualität.
Fantastik-Aufschwung durch neue Technologien gefördert?
G: Neue Medien vermischen verschiedene Kulturen. ›Neue Fantastik‹ hat mit diesen neuen Technologien zu tun (Computer, Filme).
C-F: Technologie beeinflusst Fantastik und vice versa.
R: Fantastik ist Schatten der Moderne.
70er- und 80er-Jahre wurde Fantastik niedergemacht von der Ideologiekritik.
R: Verstehe. Gustavson: »F. = reaktionär«, schon klar. Gibt aber auch z.B. feministischen Einsatz für die Fantastik.
G: Viele Beispiele für Fantastik, die von politischen Bewegungen genutzt wird, natürlich verschiedene Anwendungen möglich.
Frage nach der Fantastik und Phantastik.-Unterscheidung. ETA Hoffman = PH und »Twillight« = F, und wie kann ein Werk (z.B. »Harry Potter«) vom einem zum anderen werden? Bestimmte Fantastik tut sich schwer, ernsthaft besprochen zu werden, andere hatte diese Probleme nie?
C-F: Das war nie so klar. Blickwinkel ändern sich. Mary Shelly-W. war in den 70 die Frau von Shelly… nun ist es umgekehrt. Hängt von Klassifizierung ab.
Verlegerfrage: Anteil von fantastischen Werken war nie so groß wie heute. Früher war Fantastik subversiver, gegen den Massengeschmack gerichtet.
R: Vielleicht ähnlich wie ›Pornofizierung‹ der Gesellschaft, nun eine ›Fantastikisierung‹ der Gesellschaft?
C-F: Dramatische Veränderungen in Gesellschaft. Einige fantastische Schreibweisen beschäftigen sich genau damit, wie man mit großen Veränderungen umgeht, fertig wird.
Ausklang: Foyerumtrunk und Häppchenmampfen zusammen mit Simon, Jörg Hartmann und Melanie Knaup. Anschließendes Geplausche in einem Eiscafe mit Simon und Melanie (die tapfer uns Labermännchen ertragen und Paroli geboten hat). — Auf dem Weg ins Hostel noch mal für eine Stunde in St. Georg verlaufen. Leicht gruselig die Prostituierten und ein Typ, der mir erklärt, dass er sich in meinem Windschatten, genauer, vor mir herlaufend mit mir als Sichtschutz, den Blicken irgendwelcher ihm Übel wollender Menschen entziehen muss. Ich tue so, als ob ich kein Deutsch verstehe: »I don’t understand a word you say … Suite yourself … Take care.« — 00:20 Richtung Bett.
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Eintrag No. 653 — Kinder, was soll ich sagen. Bin derart eingespannt die Tage, dass ich außer Brotjob, Hausarbeit, erschöpft umfallen zu kaum was komme.
Seltsam: Ein Buchhandel- & Leser-Rezi-Portal hat mich angemailt und gefragt, ob ich an einem Linktausch interessiert wäre. Hab deren Seite auf die Schnelle geprüft, festgestellt, dass die unübersichtlich ist und der Inhalt nur ›das Übliche‹ bietet (= Popularität, also was das Durchschnittsgemensche so zusammenklickt, macht die Musik). Habe dann zuerst etwas planlos knapp zurückgefragt, was ein Linktausch bringen soll. — Antwort: Verbessert das Google-Ranking, bringt neue Leser, mehr Klicks. — Darauf ich: Technischer Nutzen von Linktausch schon klar, aber wie kommen Sie zu dem Eindruck, ich wäre an einem Linktausch mit einem kommerziellen Portal interessiert? — Hab dann geklärt, dass ich einer solchen Partnerschaft zwar nicht prinzipiell abgeneigt bin, aber im Falle dieses Onlinebuchhändlers doch Abstand davon nehme.
Film: Eigentlich wäre ich gerne in den neuen (schon zwei Jahre alten und endlich auch bei uns laufenden) Ghibli-Film »Ponyo« gegangen, hatte aber keine Zeit. — Stattdessen am Samstag, als Pausenkontrast zur Hausarbeit, »Kick-Ass« gegönnt. Zur Abwechslung mal wieder ein erträglicher, ja sogar amüsanter Nicolas Cage, und natürlich konnte auch ich mich dem Charme von Hit Girl nicht entziehen. Aber genau das ist ein Wurm des Filmes: er hat die falsche Hauptfigur. Ich fand Big Daddy und Hit Girl interessanter und habe mich mit Dave, alias Titelfigur Kick-Ass, ziemlich gelangweilt. Auch die Bösewichter blieben reichlich formelhaft und fad, obwohl der mich begeisternde Mark Strong den Unterweltboss spielt. Fazit: einige schöne Set Pieces und leider die Androhung einer Fortsetzung. Ca. 6 oder 7 von 10 Punkten.
NETZFUNDE
Im ›Guardian‹ gabs ein Treffen von David Attenborough (mir bekannt aus Kindertagen durch die dolle Doku-Serie »Das Leben auf unserer Erde«) und Richard Dawkins (dem ›Atheisten-Papst‹): Of mind and matter: David Attenborough meets Richard Dawkins.
›Telepolis‹ bietet einen Auszug aus dem Buch »Die Drogenlüge« von Mathias Bröckers: Die Drogenlüge und der Sündenfall. Selber habe ich nix (mehr) mit Drogen am Hut, außer gutem Kaffee, guter Schoko und Single Malt Scotch. Aber die im Text skizzierte Pathologisierung von Rauschkultur und die erschreckende Heuchelei der Politik bezüglich Drogen treibt mich um.
Bei ›Der Freitag‹ gibt es einen Blog-Lesezirkel zu Thomas Pynchons »Die Enden der Parabel«: Parabel – Freitag. Lustig, wenn man die ziemlich beknackten Beiträge mit den eloquenteren vergleicht.
Ebenfalls Fantasyguide: Oliver Kotowskis stellt auf seinem nächstem Zwischenstopp seiner phantastischen Weltreise, Lateinamerika, Bücher von Lucía Puenco, Ignácio de Loyola Brandão, Gabriel García Márquez, Mayra Montero und Carlos Fuentes, vor.
ZUCKERL
Interessanter Filmbeitrag von Kirby Ferguson zum Thema Remix-Kultur, inklusive einem ausführlichen Blog zur Doku:Everything is a Remix. Hoffen wir mal, dass die geplanten Teile 2 bis 4 noch folgen.
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Eintrag No. 651 — Bin seit letzter Woche allein zuhause, denn Andrea brach zu ihrem Jahresurlab und Richtung Waldviertel auf. Am Wochenende, als ich von meinem Brotjob frei hatte, legte ich eine Übersetzungssession hin (heisst: von Freitag auf Montag nur zwei Mal ins Bett gegangen). Ich bin unfassbar dankbar für das Projekt. Kurzgeschichten, die mich wirklich erfreuen, von einer Vielfalt, die mich begeistert und beeindruckt zu übersetzten fühlt sich nun mal nicht wie ›Arbeit‹.
Nachteil (= Lektüre): Bin selber kaum zum Lesen gekommen, außer, dass ich mir die deutsche Ausgabe von »The City & The City« besorgt und darin herumgeblätert habe, um knifflige Stellen zu prüfen. Soweit ich gesehen habe, kann ich absolut nichts zum Bemäkeln an Eva Bauche-Eppers deutscher Fassung von »Die Stadt & Die Stadt« finden und empfehle den Roman allen, die gerne mal eine gelungene Mischung aus Krimi und Phantastik lesen wollen. Ich denke, ich kann es wagen, dieses Buch jetzt schon zur — leider! — unterschätztesten Neuerscheinung der Saison auszurufen, denn ›Dank‹ des schröcklichen Umschlagbildes und der kümmerlichen Platzierung in den Regalen (wenn meine Umschau in den Frankfurter Buchhandlungen halbwegs repräsentabel ist) wird sich kaum herumsprechen, wie gut dieser Roman ist.
Film: Immerhin war ich letzte Woche im Kino. Leider war ich so dumm, mir »The Sorcerer's Apprentice« anzutun. Ein langweiliger, vorhersehbarer und peinsam-harmloser Streifen. So etwa 3 oder 4 Punkte von 10.
Ganz interessant dagegen meine DVD -Sichtung von Christopher Nolans Erstling »Following«. Als kleiner, fieser Krimi durchaus gelungen (und als S/W-Film sowieso), wenn auch Nolan hier schon durch seine super-ernste und (unter)kühl(t)e Inszenierung leicht nervig auffällt, die auch seine späteren Filme meist kennzeichnet. So etwa 6 bis 7 von 10 Punkten
Schlimmer noch ist allerdings das Verhältnis von demokratischem Staat und wirtschaftlicher Macht, das hier zum Ausdruck kommt: {…} Der Geheimvertrag ist das Eingeständnis, dass der demokratische Staat gegenüber den wirtschaftlich Mächtigen nicht mehr das „Gewaltmonopol“ hat, das heißt sich nicht mehr mit hoheitlicher Macht durchzusetzen vermag, sondern dass er bestenfalls noch Verhandlungspartner gegenüber wirtschaftlicher Macht ist. {…} Da sitzen also auf der einen Seite die Regierung und auf der anderen Seite die Konzernbosse und klären per Telefon die Konditionen; und das Parlament darf dann bloß noch den geheimen Deal sozusagen der demokratischen Form halber absegnen.
Diesbezüglich habe ich mich bei ›lobbycontrol‹ der Unterzeichnungs-Aktion angeschlossen, man möge doch anstandshalber das Atom-Geheimabkommen widerrufen!
›ad sinistram‹ nimmt Sprachpansch in der Rubrik ›nomen est omen‹ unter die Lupe: »Gebär- und Zeugungsstreik«. — Ich verstehe ja folgendes nicht: wenn es einerseits zuviele Menschen auf der Welt gibt, und Menschen aus schlimmen Gegenden, wo das Überleben äußerst mühevoll ist, wegwollen, warum regen sich dann andererseits irgendwelche Anzugträger darüber auf, dass die ›richtigen Frauen‹ zu wenig gebähren? — Okey, ist sicherlich richtig, dass sich Akademikerinnen (zumindest wenn sie selbst einen gut bezahleten Job haben oder mit dem Gatten eine gute Partie gemacht haben) eher bessere Kinderpflege und Schulen leisten können. Das bedeutet aber nur, dass die Qualität der Kindererziehung stärker vom privaten Geld der Bürger und den Möglichkeiten, die es eröffnet abhängt, als vom Geld der staatlichen Gemeinschaft. Das fügt sich mit der Theorie, der ich anhänge, dass ein langfristiges Ziel ›des Kapitals‹ ist, den Bereich der Bildug zu ökonomisieren, und dass es bei diesem Ansinnen auf einem erfolgreichen Weg ist.
Nathalie Roller schrieb am 12. September für ›Telepolis‹ einen löblichen Artikel über grüne Krieger in den heutigen Metropolen: Die Gartenguerilla erobert die Städte.
(Deutschsprachige) PHANTASTIK-FUNDE
Neustart des Magazins für interantionale Science Fiction: Inter Nova. Ich wünsche viele interessierte Leser!
Wieder ein Umsonst-Lesetip für alle, die noch zuviel Zeit haben: Digital Comic Museum.
Ein youtube-Filmchen, in dem Daten augenfällig aufbereitet wurden, und das damit höhere Zusammenhänge anschaulich macht. Scott Manley Asteroid Discovery from 1980 - 2010. Scott Manleys Seite beim Armagh Obsertvatorium bietet weitere wissenschaftliche Animationen zum Thema Asteroiden.
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Eintrag No. 647 — Wie Molochronik-Leser wissen, beliebe ich mich von der emotionellen Vergiftung, welche ich durch die mediale Belästigung extremer Umsympathlerfiguren erleide, dadurch zu reinigen, in dem ich diese Fetzenschädel schnell auf einen handelsüblichen Notizzettel portraitiere.
Eintrag No. 645 — Diese Woche gibts viel Zuckerl. Keine nennenswerten Ereignisse bei mir diese Woche, außer, dass ich die Molochronik bei Flattr angemeldet habe.
Flattr ist ein Weg, mit kleinen Gutschreibungen einen Internetbeitrag zu entlohnen. Wer bei Flattr angemeldet ist und über ein Guthaben verfügt, kann derweil einmal im Monat der Molochronik etwas spenden (siehe Flattr-Button oben in der rechten Säule). — Sobald ich dazu komme, werde ich die aufwendigeren ›de luxe‹-Einträge der Molochronik mit eignen Flatter-Buttons ausstatten. — Und ich freue mich natürlich, dass ich nach drei Tagen schon einmal geflattert wurde (kein Vergleich freilich zu wirklich beliebten Websites).
NETZFUNDE
Spannend ist der Briefwechsel von Marvin Oppong mit der Stadt Duisburg den »Carta« bietet. Oppong will Einsicht in die Genehmigungsunterlagen der Love-Parade, die so tragisch-tödlich verlaufen ist. Die verschiedenen Behörden mauern, unterschiedliche Auffassungen des Informationsfreiheitsgesetztes prallen aufeinander.
Leider hatte ich noch nicht die Zeit, ausführlich im neuen Gruppenblog der »F.A.Z.«, Deus ex Machina, zu stöbern. Dort soll berichtet werden …
… getreulich und mit Plaisir {…} von den göttlichen Internetmaschinen neuester Art, ihren Berechnungen unberechenbarer Weis- und Torheiten, und ihrem Wirken zum Gedeih und Verderb der menschlichen Art hienieden auf Erden {…}
Sehr gute Besprechung des Films »Agora« im Oliblog. Ich hab den Film im Kino gesehen, obwohl er ›nur‹ auf Deutsch lief. Auch wenn man sich bei der Nacherzählung des Martyriums der durch Fundi-Christen getöteten Bibliothekarin von Alexandria große Freiheiten die historischen Details betreffend genehmigt hat, bietet der Film ein bewegendes Drama und versteht es, weltanschauliche Streitfragen und ihre Verquickung mit einzelmenschlichen Zwängen ergreifend darzustellen. Allen Jungfrauen beiden Geschlechts zur inniglichen Beherzigung anempfohlen
Interviews mit zwei von mir sehr geschätzten Autoren habe ich diese Woche entdeckt: einmal spricht »io9« mit China Miéville über seinen neuesten Roman »Kraken«, warum er Joss Whedons Zeug mag und J. J. Abrams’ Zeug nicht; — und zweitens hat Matt Ruff der Seite »The Author Speaks« Fragen beantwortet, z. B. zum ›Lustiger Schwarzer Kerl‹-Klischee in Äktschnfilmen und seinen nächsten Roman »The Mirage«.
»Inception« ist einer dieser Filme, die das Publikum zum Deuten herausfordern. (Gehört zu den großartigsten Dingen, die ein Film fürs Massenpublikum leisten kann. Statt hinterher nur darüber zu babbeln, was cool, was nicht cool war, werden die Zuschauer animiert, weiter zu fabulieren und philosophieren.) — Peter V. Brinkemper hat für »Glanz & Elend« eine ausführliche Rezension über Christopher Nolans »Inception« geschrieben, die ich als (im besten Sinne) schwurbelige, schwindelerregende Cinemaskopie-Poesie bezeichnen kann. Der Text hat mich beim ersten Lesen etwas verstörend amüsiert (hatte z.B. den Verdacht, der Text sei zu fremdwortversalzen), doch die Zweitlektüre versetzt mich in einen schmunzelnden Sprachrausch, durch Sätze wie folgenden:
In »Inception« sind Träume und Traumzustände lebendige Membrane von anwesenden und unsichtbaren, aber spürbaren Ereignissen, Träume werden durch Kollektivschaltung zu sanften oder heftigen Dramen, immer noch intersubjektiv beeinflussbaren Situationen und relativ klaren Bewusstseinszuständen, zwischen rationaler Konstruktion, gezielt eingreifender, dominanter Manipulation und unwillkürlich subjektiver Projektion.
Nix Neues, aber eben letzte Woche von mir entdeckt, nämlich dass es eine Web-Site zum Werk des grandiosen deutschen Zeichners Hans Georg Rauch gibt. H. G. Rauch ist vielleicht am bekanntesten durch seine Illustrations-Reihe ›ZEITzeichen‹ für das große Hamburger Wochenblatt. Ist aber schon viele Jahre her. Rauch kann Wimmelbilder schraffieren wie nur wenige. Vor allem seine Auseinandersetzungen mit Strukturen, den Themen Landschaft und Architektur sind atemberaubend. Leider sind die Wiedergaben im Netz oft zu klein für diese detailreichen Meisterwerke.
ZUCKERL
Der ›Nostaligia Critic‹ hat einen dreiteiligen »Animaniacs« Tribut erstellt, in dem er Glanzmomente dieser Cartoon-Reihe zeigt und mit den Autoren & der Autorin (die teilweise auch Sprecher bzw. Sprecherin einiger Figuren sind) einen ausführlichen & erhellenden Plausch geführt. Ein Muss für Freunde des höheren Blödsinns.
Habe die Seite Springfield Punks entdeckt. Hier entwerfen Freunde der Familie Simpson selbst ihre gelbhäutigen Springfield-Versionen bekannter Figuren, von denen es eben noch keine Simnpson-Version gibt. Hier z.B. die »Watchmen«-Hauptfiguren im Matt Groening-Stil. Kann man bitte mal den ganzen Comic so machen?
Apropos ›Comic machen‹: Mahendra Singh zeichnet phantastische Illustrationen mit klassisch-altmodischem Strich (erinnern mich an Emlematik-Zeichnungen und Max Ernst). Ich freue mich schon auf den von ihm zum Graphic Novel hoch-illustrierten Lewis Carroll-Schaffenshöhepunkt »The Hunting of the Snark«, der im November erscheinen wird. In Mahendras Blog »Just the place of a Snark« kann man den Werdegang der Illustration vom Mai 2007 an verfolgen. — Hier als Beispiel die Doppelseite 10/11 des kommenden Buches, aus dem ›Second Fit‹ (›Zweiten Krampf‹).
Eintrag No. 631 — Immer noch am Rumrotzen und Schniefen mit meiner mysteriösen Sommergrippe, über die mittlerweile beschlossen wurde, dass sie ein simpler Fall von Heuschnupfen ist. Habe mir am Wochenende endlich helfende Arzneien besorgt. Ballern mir zwar das Hirn weg, aber ich kann wenigstens wieder ruhig durchschlafen und tagsüber bei Bedrängung durch schlimme Allergieattacken die Augen offen halten.
Lektüre: Habe eine kurze Pause bei »Der Blaue Kammerherr« eingelegt, bevor ich mit der Kadenz des Solisten (einer sehr argen Traumpassage) und dem Finale weiter mache. — Aber: hab mir endlich den (wie »Kammerherr«-Autor Niebelschütz es in seiner »Anotatio Auctoris« nennt) »Keim zu diesem Tulpenbaum« besorgt, den Anregungstext »Danae, oder Die Vernunfthochzeit«, enthalten in »Lustspiele Band III« der Werke Hugo von Hofmannthals.
Als Neuanschaffung traf Mervyn Peakes »Boy in Darkness and Other Stories« ein. Wunderbare Zusammenstellung: neben der fast 100 Seiten langen Titelnovelle, die zu den Titus-Geschichten (auch bekannt als »Gormenghast«) gehört, versammelt der Band fünf weitere Kurzgeschichten, sowie an die 40 zum Teil farbige Illustrationen von Peake, nebst Vorwörtern von Joanne Harris, Sebastian Peake und Peake-Witwe Meave Gilmore.
Als weltlichen Zwischendurchhappen habe ich mir Tom Schimmecks »Am besten nichts Neues« über ›Medien, Macht und Meinungsmache‹ gegönnt. Wunderbar. Genau das, was einem die schlechte Laune angesichts schlapper politisch-gesellschaftlicher Berichterstattung und widerwärtig boulveardisierter Medienlandschaft kurieren hilft. Schimmeck liefert ein gut zu lesendes Sittengemälde, das nötigen kritischen Kommentar mit Rekonstruktionen von markanten Medien-Ereignissen und -Entwicklungen (sprich: -Degenerationen) der letzten Jahre verbindet. — In den neun Kapiteln wird geschildert: die Routine in Berlin und der Herdentrieb der Journalisten; das Rendite-Modell Burdas in Hamburg; das Prominentengehege und Politikernähe als Währung; Aufstieg des naiven Neoliberalismus; das Unisono der Medien zur Hessenwahl (Koch vs. Ypsilanti); Reality-TV und aufgeblähte Gefühlsevents; Propaganda-Rampensäue am Beispiele Haiders, Putins, Sarkozys & Berlusconis; Das Versagen des Wirtschaftsjournalismus; Das Geschäft der Spin-Doctors. — Ganz große Leseempfehlung meinerseits.
»Moderne und Absolutismus«: Vielleicht (zumindest für mich) die bisher beste Serie von Don Alphonso in seinem F.A.Z.-Blog »Stützen der Gesellschaft«.
1. »Die Staatsmätresse«; 2. »Der Fürstbischof«; 3. »Der Ämterkauf«; 4. »Der Hofschranze nach Wulff« süffiger Höhepunkt der Serie, in der Don den von Herrm Wulff zusammengebrabbelten Quark als solchen ausweist. Wulff glaubte naiv und frohgemut ungebildet (wie es wohl nur jugendliche Kandidaten von Casting-Shows und Politiker sein können) mit ›Voltaire am Hofe Friedrich II.‹ etwas Vorbildliches für seine eigene Bundespräsidentenschaft skizziert zu haben.
Schöne Meditation über den Natur- / Kultur-Begriff von Georg Seeßlen am 1. Juli in »Der Freitag«: Abschied aus dem Paradies.
Nicht reisserisch, sondern mit kühler Sachlichkeit stellte Ulrich Schmidt am 3. Juli für die NZZ zusammen, wie kolossal die Sonderstellung und Privilegien der Kirchen in Deutschland sind: Eine vortrefflich gemästete heilige Kuh.
Stöbert mal herum in der Zusammenstellung der ›Favourite Projects‹ der Graphik-Künstlerin Marian Bantjes, ihr werdet Sachen sehen, die wirklich die Augen zum kreiseln bringen. Bin auf die Künstlerin aufmerksam geworden durch ihren Vortrag »Intricate Beauty by Desing« bei TED.
Hurrah!! Es gibt ein neues RSA-animate! Diesmal wurde die Rede »Crises of Capitalism« des Soziologen David Harvey bebildert.
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Eintrag No. 628 — Alleinstellungsmerkmal: Ist schon nötig, dass ich mich im Netz ›molosovsky‹ nenne. Hat sich nämlich ein neuer Namens-Zwilling eingefunden, diesmal in Person eines F.A.Z.-Rezensenten. — Also zur Klärung: der hier bin ich nicht.
Klamotte: Nachdem ich mir Anfang des Monats endlich mal ein PayPal-Konto zugelegt habe, kürte ich zur ersten Einsatzmöglichkeit den englischen T-Shirtversand »Last Exit Nowhere« (auf den ich durch Werbung im leider derzeit nicht erschienenden »DeathRay«-Magazin aufmerksam wurde). Aus deren Kollektion mit »T-Shirtmotiven, die von den erinnerungswürdigsten Orten, Firmen und Kooperationen der Kinogeschichte inspiriert wurden« habe ich (Molo) mir ein Paper Street-, und für meinen Hausandroiden (Alex) ein Nostromo-Shirt geordert. — Pling, und wieder ist das Zeigerchen meines Coolometers höher geklettert.
Lektüre: Nichts groß Erwähnenswertes, außer dem Wolf von Niebelschütz seinem »Der Blaue Kammerherr«. Mittlerweile fast bei der Hälfte, also am Ende von Band 2 von 4, mich kopfkratzend literaturlusterfüllt fragend, wie es sein kann, dass ich diesen Roman erst zum zweiten Mal lese, noch dazu jetzt nach ca. 20 langen Jahren. Muss fürs weitere Leben unbedingt ins Auge fassen, dass ich nicht noch mal so lange herumtrödle.
»Red Dead Redemption«: Zweifelohne das beste Spiel, was meine Playsie 3 mir bisher geboten hat (gefolgt von »GTA IV« und dessen Ergänzung »Episodes from Liberty City« (bestehend aus: »The Lost & The Damned« und »The Ballad of Gay Tony« — respektabel fand ich noch »Fallout 3« und »Batman: Arkham Asylum«; wohingegen mich »Metal Gear Solid 4« genervt und enttäuscht und »Mirror’s Edge« zwar begeistert aber auch merklich gefrustet hat. Im Prinzip ist mein im Grunde simpler ›Ballern, aber mit Anspruch‹-Geschmack nun derart verwöhnt, dass ich wohl warten muss, bis Rockstar und Team Bondi mit »L. A. Noir« nachsetzten). — Moment amal: ist das »Red Dead Redemption«-Erlebnis wirklich einfach nur als ›Spiel‹-Erlebnis glänzend? Mitnichten. Gerade die Story dieses Westerns hat mich überzeugt. Wie sie rätselhaft und sacht beginnt, man langsam zu alten Gunslinger-Kräften zurückkehrt, wie die Hauptfigur bei seiner Menschenjagd in die Wirren einer Revolution gerät. Und das Ende ist derart gelungen konsequent, da wird staubtrocken klar, dass die angeblich superzynischen Rockstarler (im guten Sinne) die Moralisten geben, wie es sich aber gefälligst für einen ordentlichen Western gehört, verdammt noch mal, bzw. Bravo! — Hat mich entsprechend gefreut, dass »RDR« das erste Spiel wurde, das vom sonst ziemlich strengen Angry Joe mit 10 von 10 Punkten, und dem offiziellen ›Bad Ass Anerkennungs-Gütesiegel‹ bedacht wurde.
Zu den Meldungen.
NETZFUNDE
Thierry Chervel hat für das Perlentaucher-Blog »Im Ententeich« am 16. Juni eine Übersicht zum Thema Christian Wulff und die Evangelikalen zusammengestellt, die in der (m.E. verständlichen) Forderung gipfelt, dass Herr Wulff doch bitte aus dem Kuratorium von Prochrist autreten solle, bevor die Bundespräsi-Wahl von statten geht.
Monströses aus der Sphäre der Verlegerintressen legt wieder einmal »Netzwelt« am 18. Juni dar: Leistungsschutzrecht soll Sprache monopolisieren. Wunderbar! Dreht die Uhren zurück in Feudalzeiten, am besten, nur noch bestellte, vereidigte und genehmigte Chronisten, natürlich anonymisiert, dürfen öffentlich die Weltläufte verlautbaren und der Herrschaft genehme Gedanken dazu verbeiten. Schweig, Volk!
Ich bin selbst erstaunt, dass ich einen »Spiegel«-Artikel für verlinkenswert befinde, aber Falsches Sparen: Wie Merkel die Verkehrswende topediert von Christian Schwägerl (am 19. Juni) spricht mir aus dem Knochenmark. Was die Automacke unserer Nation angeht grummle ich ja schon seit Ingolstädter Realschulzeiten: ich wollte Kunsterziehung, aber die Klasse kam nicht zustande, weil alle Technisches Zeichnen wählten, denn, wie Eltern andere Erwachsene den Jungs eintrichterten, »Des TeeZett muast nemma, des is’ wichtig wenn’st bei da Audii a’moi guat va’dinna mechast« — (Rechenanmerkung: von vier Klassen mit je ca. 25 bis 30 Schülern, also ca. 100 bis 120 Wahlberechtigten, haben sich keine 7 Jungs ›getraut‹ KE zu wählen. ich war damals einer von 5.).
Das Schnippsel Die heilige Banane des Ketzerpodcast von Ketzer 2.0 finde ich so gelungen, dass ich es in eigenen Worten wiedergeben möchte: — Der Gotteslästerungsparagraph diskriminiert Christen- bzw. Religionsgläubige, denn das Gesetz geht davon aus, dass die Gotteslästerer mehr Selbstkontrolle und Verantwortungsfähigkeit inne haben als Gläubige, weshalb sich das Gesetz an die Gotteslästerer wendet, sprich: eben diese in Verantwortung nimmt, stillschweigend davon ausgehend, dass, wenn bei einem religiösen Menschen der entsprechende Blasphemie-Knopf erst mal gedrückt wurde, dieser sich nicht in gut bürgerlicher und zivilisatorischer Art, also angemessener Untertanenweise zusammenzureissen vermag. Kurz: das Gesetzt hält religiöse Menschen als Adressat und Befolger von ordnungsstiftenden Regeln in etwa für so ungeeignet wie Vieh und Sachen. »Kann nicht selbstständig denken. Reagiert auf kritische Schlüsselreize automatisch pavlovsch wie eine Maschine und droht somit Krisen loszubrechen«, dieses Fazit über Gläubige zieht der Gotteslästerungsparagraph. — Wie verträgt sich nun diese Diskriminierung der Religiösen durch den Gotteslästerungsparagraphen mit den Forderungen von gewissen PolitikerInnen, man möge doch, bitte, ach, der religiösen Erziehung (wieder) einen höheren Stellenwert einräumen? Diese Forderung entpuppt sich dann als Wunsch der Regierenden danach, das Volk habe mechanisch sich zu erregen und bar jeglicher Reflektion, Haltung und Kontrolle sich dem Zorn und dem Eifer hinzugeben, wenn Gotteslästerer entsprechend verbal oder durch Kunst und Darstellung reizen. Man vernimmt von Ferne die Klage derjenigen, die mit neuen ordnungspolitisch-technischen Möglichkeiten verdienen wollen: »Es sind leider noch zu viele der Kultivierten, derer, die sich zurückzunehmen verstehen.«
ZUCKERL
Naggische und fastnaggische Mädels in Röntgenansicht gefällig? Bitteschön: EIZO »Pin-Up Calendar 2010«. Entworfen von der Agentur Butter Berlin/Düsseldorf. — Angestrebt ist zwar, mit diesem Kalender-Schmankerl Kundentreue zu belohnen und Neukundenwohlgesonnenheit zu gewinnen und zwar für Eizo, Hersteller für Medizintechnik, insbesondere Diagnosemonitore. Ich bin aber sicher, dass es nicht lange dauern wird, und die mehr als nur nacken Damen, ja diese tiefseeisch-gespenstischen GlamMortModels werden, eins, zwei, drei, bald Nacht- und DunkelRomantik-Clubeinrichtungen zieren, zum Wohlgefallen der bleichen und absinthig gestimmten Klientel.
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Eintrag No. 626 — Nur damit ihr vergewissert seid. Die Molochronik wird natürlich allen ein Fluchthafen der Ruhe sein, die, wie ich auch, nix mit dem Kommerzsportgroßtrubel anfangen können. Nur soviel: in der Juni-»Le Monde Diplomatique«, die ich letzten Freitag wie immer als »Taz«-Beilage geholt habe, findet sich der Artikel »Dreck am Ball. Die Geschäfte der Fifa« von David Garcia. — Sorry liebe WM-Freunde, aber zu mehr Fussballbegeisterung reicht es bei mir nicht.
Seltsam: Vergangene Woche (zum, ich glaube, etwa 3. oder 4. Mal seit ich dieses Blog führe) einem Autor mitgeteilt, dass ich aus zeitlichen Gründen und weil mich die Leseprobe nicht überzeugen konnte, ein angebotenes Phantastikbuch nicht für die Molochronik besprechen werde. Solche Absagen zu schreiben fällt mir immer noch irrsinnig schwer. Am liebsten würde ich solche Anfragen wegschweigen, aber wenn ich mich auch nur einen izzi-bizzi knappen Augenblick in die Lage dieser anderen Person versetzte, dann packt mich das heilige Pflichtgefühl und lässt mich die Rückmeldung schnellstmöglichst erledigen. — Und immer noch bin ich völlig baff, wenn mir aus dem Nichts von Irgendwoher so ein Angebot unterbreitet wird (oder ich mit einem Dankeschöngeschenk beglückt werde), nur weil ich mehr lahm als flott ein Blog führe und ein-, zweimal im Jahr einen Text publiziere.
Coole Horroshow: Nach dem schweren Sturmgewitter Ende letzter Woche am Griesheimer Ufer herumspaziert (und ich Riesendolm blöderweise wieder keine Kamera dabei!). Wunderschön, wie die Enten, Teichhühner, Gänse, Rabenkrähen, Schwäne, Kinder, RenterInnen, VormittagsAlkies und Uferfischer sich ihre Wege durch’s vom Unwetter angerichtete Chaos bahnen.
Lektüre:Geo-Epoche #43: »Der Zweite Weltkrieg. Teil 1, 1939-1942« und Geo-Kompakt #22: »Evolution« besorgt. Die Sondermagazine von GEO les’ ich sehr gern zwischendurch. Zudem finden sich darin oft wirklich schöne Bilder und Illustration. Vor allem begeistert mich das Sichtbarmachen von Dingen, die man (sonst, normalerweise) nicht sehen kann. Diesmal z.B. im »Evolution«-Heft je eine Doppelseite für Illustrationen einer Pflanzen- beziehungsweise Tierzelle von Jochen Stuhrmann.
Endlich mal das schon vor vier Monaten gekaufte »Tamara Drewe« von Posey Simmonds gelesen. Kein Zweifel, ein großartiges Comic eine großartige Graphic Novel. Kann ich z.B. besonders allen Phantastikfreunden sehr empfehlen, die gerade etwas phantastikmüde sind und / oder die sich mal umgucken möchten, was der (vermeintlich langweilige) Realismus so an Glanzleistungen hervorzubringen vermag.
Und seit gestern lese ich nach ca. 20 Jahren zum zweiten Mal Wolf von Niebelschütz’»Der Blaue Kammerherr «. Mehr dazu ein andermal.
NETZFUNDE
Habe Andreas dringlicher Empfehlung gehorchend im F.A.Z.-Feuilleton das große von Richard Kämmerlings mit Martin Kluger (yeah!!), Ulrich Peltzer (jööö) und David Wagner (buuuh) geführte Schriftstellergespräch Das Fernsehen schaut uns an gelesen und genossen. — Sehr lobenswert, wie Kämmerlings und seine Gesprächspartner uns zeigen, dass deutsche Literatur nicht immer Omphaloscopie, gestelzte Langeweile oder verkrumpelkrampfte Bemühlichkeitlichkeit bedeuten muss, sondern sich auch mal neugierig und begeistert in der großen weiten Welt populären Erzählens umzugucken vermag. — (Die Erkenntnis, dass im US-Fernsehen etwa seit »The Sopranos«, »Deadwood«, »The Wire« und Co. das romanhafte Erzählen erfolgreich, innovativ und relevant aufblüht, habe ich bereits 2008 für »Magira« in meinem Interview mit Matt Ruff mal so nebenbei fallen lassen.)
Oliver Kotowski legt als Fantasyguide-Spezial bei seiner phantastischen Weltreise (30 Bücher als aller Welt) den zweiten Zwischenstopp in Osteuropa ein. — Vom ersten Teil, Westeuropa war ich etwas enttäuscht: bei Albert Sánchez Piñol, Marc Agapit, Italo Calvino, Ricarda Junge und Mikael Niemi bimmelt bei mir eben keine Jubelglocke. — Im Osteuropa-Teil empfiehlt Oliver nun aber Milorad Pavić und dessen Lexikonroman »Das Chasarische Wörterbuch« (das ich 1992 als dtv-Taschenbuch gekauft habe). Milorad Pavić war für mich ein Augenöffner, dass es eben auch in der sogenannten (hoch-)literarischen Szene ›Spiele‹-Bücher gibt (zuletzt begeistert hat mich diesbezüglich ja Mark Z. Danielewski).
So sieht amœnokratisch gestaltete Aufklärung heute aus! Die ›Königliche Gesellschaft zur Förderung der Künste, der Herstellung und des Handels‹, also die englische ›Royal Society for the Encouragement of Arts, Manufactures and Commerce‹, kurz RSA, zeigt wie man das macht. Man nehme einen etwa 10-minutigen Vortrag mit gesellschaftlich relevanten Inhalt, lasse diesen von einem hochfähigen Zeichner des Cognitive Media Studios illustrieren und heraus kommen spektakuläre Filmchen, die zumindest mich vollends umhaun und begeistern. Hier alle RSA Animate-Filme, die ich finden konnte.
Left brain, right brain: Matthew Taylors Vortrag untersucht den wachsenden Einfluß der Gehirn- und Verhaltensforschung auf politische und gesellschaftliche Belange.
The Secret Powers of Time: Prof. Philip Zimbardo (ja, einer der Kerle, die das berüchtigte Milgram-Experiment durchgeführt haben) legt dar, wie unterschiedliche Zeit-Perspektiven unsere Arbeit, Gesundheit und unser Wohlergehen bestimmen; wie die Art unserer Zeit-Wahrnehmung uns als Person und unserer Verhältnis zu anderen und zur Welt formt.
Zimbardo Vortrag war der erste RSA Animate-Film den ich gesehen habe. (Gefunden via BoingBoing.)
ZUCKERL
Diese vergnüglich-wunderschöne Reihe mit alten Reklame-Sammelbildern der Schokohersteller Stollwerk aus dem Jahre 1897/98 bei Industrial Technology & Witchcraft entdeckt. »Im Jahre 2000«: No. 1: Eine Hauptstraße / No 2: Ein Reisehotel / No. 3: Unsere Polizei.
Eintrag No. 625 — Ich weiß gar nicht wohin mit mir. Die Ministerpräsis haben beschlossen, nun auch von mir Fernsehverweigerer (aber Radioliebhaber) ab 2013 den satten Satz an Rundfunkgebühren zu kassieren (also ca. 18 statt bisher ca. 8 € im Monat!). Die Begründungen sind sehr dünn, und ich rechne damit, dass da noch eine Petition, eine Klage oder ein Aufstand losbricht.
Wenn ich schon für den ganzen Schiet von ARD und ZDF mitzahlen soll (also nicht nur für die von mir so geliebten Wort- & Klassik-Radiosender), dann will ich auch ein Mitspracherecht! Dann will ich bestimmen können, dass man z.B. »Father Ted« endlich mal auf Deutsch bringt, dass Herr Gottschalk in Rente geschickt wird, weniger Neoliberale und Neocons herumpropaganderln dürfen usw.
Oder anders: ich will bestimmen können, welchem Programm-Segment meine Kohle zugute kommt. Ich gäbe gerne meine ca. 18 € an die Öffentlich-Rechtlichen, wenn meine Kohle ausschließlich für gescheite Literatursendungen, Kulturzeugs das nicht nur zur Unzeit läuft, für feine Hörbuch- und Hörspielproduktionen, Radiofeatures usw ausgegeben wird. Aber es grämt mich und macht mich zürnen, wenn ich daran denke, welche Fetzenschädel den Löwenanteil der Gebührengelder bekommen werden, und für welchen Dünnpfiff die rausgeballert werden (»Wetten Dass?« aus Dubai und Fussball-EM/WM-Rechte bis 2075 sichern … würg).
Überhaupt, da ich keinen Fernseher habe: Darf ich annehmen, man will dafür sorgen, dass ab 2013 alle öffentlich-rechtlichen Sendungen (Radio und TV bitteschön!) dann jederzeit per Internetzugang abgerufen werden können? — Das würde mich freuen, denn dann komme ich endlich an das »G.A.S.«-Hörspiel des WDR nach dem Roman von Matt Ruff rann! Bisher darbt das in den Tiefen der Rundfunkarchive.
Zuletzt ein lustiges Paraphrasen-Gedankenspiel (basierend auf dem Kirchhof-Gutachten wie es in Robin Meyer-Luchts »Spiegel«-Artikel vom 10. Juni »Gebühren für jede Pommesbude« zitiert wird): meine Molochronik-Inhalte kommen auch »allen zugute, und deshalb sollten sie zukünftig auch durch alle finanziert werden. Man kann jederzeit auf molochronisch-öffentliche Inhalte zugreifen und das ist ja ein ›individualnutziger Vorteil‹ für jeden.«
Da die vollen Rundfunkgebühren auch für internetfähige Geräte erhoben werden, habe ich als Beiträger der ›Gesamtveranstaltung Rundfunk‹ fairerweise auch Anspruch auf einen Teil der neuen Pauschalgebühren, oder darauf, selbst welche zu erheben, oder? Kann man das nicht einfach rückverrechnen? Ich verzichte darauf, für die Molochronik Gebühren zu erheben und zahle also weiterhin nur für die öffentlich-rechtlichen Inhalte, die tatsächlich nutze (nämlich Radio und ganz superselten mal ein Website-Feature).
Eintrag No. 622 — Soweit ich das Feld der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur überblicke, ist mir kein ›Fall‹ bekannt, der die Urteilsfähigkeit der heimischen Literaturkritik derart in Frage stellt, wie die Besprechungen der Romane von Thor Kunkel. Sein umfangreiches Debut »Das Schwarzlicht-Terrarium« erntete Lob und Preise. Auch der schmale Folgeband »Ein Brief an Hanny Porter« wurde noch mit viel Wohlwollen aufgenommen. Dann erschien »Endstufe« und aufgrund der Skandalisierung durch einen »Spiegel«-Beitrag von Henrik M. Broder und des in diese Melodie einstimmenden Chors nachfolgender Rezensenten wurde Thor Kunkel für einige Zeit zum unerträglich geschmacklosen Nazi- und Holocaust-Verharmloser gestempelt. — (Eine ganze Reihe Einträge der Molochronik sind unter dem Stichwort ›Thor Kukel‹ dieser Angelegenheit gewidmet. Das sollte auch reichen als Hinweis, dass ich aufgrund meiner persönlichen thematisch-literarischen Interessen nicht mit distanzierter objektiver Haltung Partei für Thor Kunkel ergreife. Aber Literatur ist für mich zu einem Gutteil eine Sache der Leidenschaft.)
Aber zu »Schaumschwester«.
Kulturkritik an den aus dem Ruder laufenden Entwicklungen der (im verwerflichen Sinne) hedonistisch-konsumistischen Industrie- und Mediengesellschaft, so wie Kunkel sie betreibt, verpackt in pulp-ige Stories, ist nun mal etwas, was den meisten deutschen Feuilliteonisten nicht schmeckt. Da schwellen den Kritkkern schnell Empörungsadern. »Der relativiert ja die Nazis!«, heißt es dann, wenn die Deutungshoheit zu der ›absoluten‹ Einzigartigkeit der Übels des Dritten Reiches verteidigt wird.
Ein mustergültiges Anschauungsbeispiel für eine zu heftig und zu flott mit dem ›Daumen runter‹-Urteil hantierenden Kritik ist die Rezension von Sandra Kerschbaumer in der F.A.Z. vom 14. Mai: »Mit Puppen kann man nur spielen« (Komplette Rezi nicht umsonst im Internet zu haben). — Die Ausführungen zum Inhalt stimmen zwar grob: In unbestimmter naher Zukunft sollen der ›Cyperpunk‹ Robert Kolther und seine Assistentin Lora Heisse in Nizza im Geheimauftrag der EU die Kundendaten von Paddy Scheinbergs Synthetischer Wohlfahrt AG klauen. Deren Schaumschwestern (= raffinierte technologische Weiterentwicklungen von Sexpuppen) verkaufen sich, und befriedigen ihre Besitzer derart erfolgreich, dass man sich um den Fortbestand der Menschheit sorgt. Mit der Hingabe an die Gymnoiden droht der Menschheit ihr eigener Untergang. — Was Kerschbaumer aber schon nicht mehr im Blick hat, ist, dass Kunkel es mittels der biopolitischen Ansichten der im Buch gegeneinander antretenden Gruppen schafft, das unbequeme Thema ›biopolitische Globalstrategien‹ anzusprechen. Beispielsweise ist den Hegemons der schrumpfenden ersten Welt bang wegen der Gebärfreudigkeit zurückgebliebender, fanatisierter Zweit- und Drittwelt-Populationen. Einige Strategen der Handlung kalkulieren deshalb, dass man den triebstarken Afrikanern, Islamisten und anderen Ressourcen-Konkurrenten halt Schaumschwestern schmackhaft machen und ausreichend andrehen müsste.
Worauf sich Kerschbaumer aber sehr heftig kapriziert, sind Anspielung auf die Nazis.
Sie wertet die …
{…} in der Figurenrede des Romans immer wieder auftauchenden Erwähnungen {Molos Hervorhebung} des Nationalsozialismus als Provokationszwang des Autors.
Kunkel, so Kerschbaumer (in meiner Paraphrase) »dient ein bekanntes Muster dazu, den Nationalsozialismus zu relativieren«:
Der Hass auf die Moderne lässt das ›Dritte Reich‹ lediglich als eine ihrer Ausgeburten erscheinen. Dem singulären Grauen wird seine Singularität genommen, indem es vergleichbar wird {…}
Dabei gibt es genau drei Stellen mit Nazi-Anspielungen im Roman:
Kapitel 3, Seite 40: Einsatzbesprechung des Spionageauftrages. Figur Ralf Schuhnicht (Interpol-Chef in Brüssel) referiert über die Schaumschwestern, dass sie der post-humanen Wirtschaft zupass kommen.
»Die Nazis hätten wohl von Keimkraftzersetzung gesprochen und das Wort trifft – so krude es ist – den Kern der Sache.«
Und Kriminalpsychologin Ulla Bartmann vom BKA ergänzt:
»Die Geschlechter sind voneinander enttäuscht. Mit diesen Folgen hätte allerdings niemand gerechnet.«
Kunkel präzisiert anhand seiner Figuren aber deutlich, dass es vor allem an ›klassichen‹ Geschlchtesrollenformaten klebende Männer sind, die von den Frauen enttäuscht sind. ›Held‹ Kolther wird ausführlich als Opfer seiner Ex-Frau inszeniert, dem u.a. durch die gemeine Art, wie seine Frau sich von ihm trennte, Lust und Liebe buchstäblich vergangen ist.
Kapitel 5, Seite 72: Kolther und Lora bei einem ihrer vielen Gespräche über die Schaumschwestern, der Gründe für deren Erfolg, und der Ziele und Zwecke denen sie zuarbeiten. Kolthers und Loras Chef hat als Grund für den Auftrag »die Rettung der Menschheit« genannt. Kolther erklärt Lora während einer Beschattungstour im Naturkundemuseum, dass dies eine Verniedlichung von Sachverhalten sei, denn …
{Kolther} »Je mehr Menschen, desto mehr Arbeitskräfte, desto mehr Konsumenten. Sex, nicht die Börse, ist der wahre Antriebsmotor der Ökonomie. Wenn wir Paddys Firma {= Synthetische Wohlfahrts AG} ausschalten, dann retten wir nicht der Menschheit den Arsch, sondern der Industrie und der Zinswirtschaft und der …«
{Lora} »Aber der Chef …«
{Kolther} »… ist ein Nazi.«
Toll. Wenn eine Romanfigur eine andere als Nazi bezeichnet, ist das schon Teil einer Methode zur Verharmlosung des Dritten Reiches.
Kapitel 6, Seite 89: Kolther und Lora im Hotelbungalow. Das Frauenbild der Musikclips im Fernsehen wird anhand von Lady Gaga und Shakira kommentiert.
{Lora} »Waren die Frauen früher wirklich so anders? {…} In der fetischistischen Verwertungsgesellschaft des Westens haben Frauen schon immer ihre Kommodifizierung entschiedener als Männer betrieben {…} Wer es schafft als Traumfrau zu gelten, hat ausgesorgt, oder nicht?«
{Kolther} »{H}ast Du diese haptische Wichsvorlage eben Traumfrau genannt? {…} Wenn es das ist, was alle wollen, sowohl Männer als auch Frauen {…} und wenn es niemanden juckt, dass die freie Welt gerade die Körpernormierungsphantasien verwirklicht, die auf dem Reißbrett der Nazis entstanden … warum ziehen wir dann einen wie Scheinberg aus dem Verkehr?«
Puh. Ich habe meine liebe Not, nachzuvollziehen, wie man anhand dieser drei Stellen so einseitig urteilen kann. Und ich muss aufpassen, dass ich bei dem Zitieren hier nicht falsche Spuren lege.
Man kann und darf natürlich der Meinung sein, dass die Kritik des Romans am westlichen Kulturwesen und seinen Geschlechtsidealen übers Ziel hinausschießt, weil vielleicht die Mißstände so arg nicht sind. Man könnte sich aber auch eine Nachhilfe antun, z.B. mit dem Filmessay »Dreamworlds 3« (»Desire, Sex & Power Music Video«) von Sut Jhally und möglicherweise zu dem Schluss kommen, dass einer wie Kunkel den respektwürdigen Versuch unternimmt, die brutal-entmutigende Monstrosität des Themas mit den Mitteln des erzählerischen Zorns und des spekulativen Spottes zu bannen.
Kunkels ›poetologisches Programm‹, also seine Konzepte was Tonfall, Themen, Figuren, Erzählaufbau usw angeht ist in der derzeitigen deutschen Literatur ziemlich einzigartig. Einerseits nutzt er einen satten Kolportagestil (Äktschn, Schock- und Irritation mittels ätzender sprachlicher Drastik, spott- und hassglasierte Kommentierung prominenter Persönlichkeiten und Ereignisse, gemixt mit wild zusammengetragenen kulturgeschichtlichen Fundstücken, schließlich gewürzt mit Kalauerlust), der nicht verhehlt, dass Kunkel oberflächlich gelesen auf Unterhaltung abziehlende Räuberpistolen fabriziert. Aber er wagt es dabei, große Themenkomplexe wie Menschenbild-Konflikte, Zeitgeist-Kritik, Biopolitik, Hegemonie der Pornokratie im kulturellen Mainstream (um nur einige zu nennen) aufzufalten. Dass dabei nichts herauskommen kann, was bequem und konsensfähig ist, läßt sich an drei Fingern abzählen. Man kann Kunkels Romane diesbezüglich schlicht als Geschmacklosigkeit abtun. Andererseits ist es bei den genannten Problemfeldern so, dass Kunkel (aus meiner Sicht) sehr effektiv mittels seiner Schreibe die den angesprochenen Problemkreisen innewohnende Geschmacklosigkeit verdeutlicht.
Um zu klären, dass ich nicht mit dem Blick eines vollends unkritischen und einseitig wertenden Jubelpersers auf »Schaumschwester« blicke, sei eingestanden, dass ich mich der Kritik anschließe, die, was einige Stellen des Romans angeht, zu dem Schluss kommt, dass mindestens eine weitere Lektorats-Session dem Buch gut getan hätte. Vor allem im letzten Drittel des Buches ist der Wechsel von Tempo- und Erzählhaltung, zwischen brillanten Szenen und ›Draufsicht‹-Hetzte zu holterdipolter um den Roman als gänzlich rund bezeichnen zu können.
Dennoch bin ich weit davon entfernt »Schaumschwester« als misslungen oder auch nur mittelmäßig einstufen zu wollen, denn ich habe auch diesmal wieder den ›Kunkel-Sound‹ genossen und finde, dass er den Lesern einen erstaunlich unterhaltsamen Ritt durch eigentlich bitterstes Themengelände bietet. Auch wenn diese Themen und Motive (Bevölkerungsentwicklungen als Manipulationsfeld der internationalen Konkurrenz, Pornokratie, emotionell kaputte Typen, heilsgeschichtliche Aneignung der Evolutionstheorie, Ekel vor der Kultur der Ersten Welt, Misanthropie usw.) als Stoff für einen kurzweiligen, sprachlich frechen Phantastik-Garn für manche Leser völlig indiskutabel sind, ist das in »Schaumschwester« gebotene Gedankenspiel in meinen Augen gelungen und die somit vom Autor gegebenen Anregungen diesen Themen kritisch Aufmerksamkeit zu widmen sehr lobenswert.
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Thor Kunkel: »Schaumschwester«, Prolog, Epilog, 19 Kapitel und Vorschau/Ausszüge zu weiteren Titeln der Reihe »Neue Welt« auf 288 Seiten; Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2010; ISBN: 978-3-88221-690-5.