Die wilden Welten von Matt Ruff (1): Ein persönlich gefärbter Werksüberblick
{07. November 2009: Der ürsprüngliche Eintrag über »Bad Monkeys« und die Romane von Matt Ruff wurde durch die erweiterte »Magira 2008«-Fassung ersetzt.
}
Für
»Magira 2008« habe ich anders als in den Jahren zuvor und danach keine Sammelrezension geliefert, sondern mich auf das Werk eines einzigen Autors – Matt Ruff – konzentriert.
Für die Molochronik-Leser habe ich diesen langen Beitrag in zwei Teilen aufbereitet. Hier könnt Ihr meinen persönlich gefärbten Werksüberblick zu den bisher vier Roman von Matt Ruff lesen. —
Teil zwei enthält mein Gespräch mit Matt, dass ich anläßlich seiner
»Bad Monkeys«-Deutschlandlesetour im Februar 2008 in Frankfurt führen konnte.
Wie immer habe ich den Herausgebern Michael Scheuch und Hermann Ritter, den Korrekturlesern und Layoutern von »Magira« für ihre Unterstützung zu danken. Besonderen Dank schulde zudem ich dem Hanser-Verlag für seine Aufgeschlossenheit, sich auf einen Amateur-Journalisten wie mich einzulassen, und natürlich danke ich Matt Ruff selbst für seine Großzügigkeit und seine Hilfe bei der Nachbearbeitung des Interviews.
Bei
Wieland Freund möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich seine Schriften stellvertretend im Folgenden als Sandsack für Argumentationsschläge missbrauche.
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Eintrag No. 398 — Vier Bücher in zwanzig Jahren. Das ist an sich schon ein Bekenntnis des US-Autors Matt Ruff (1965), denn die Aufmerksamkeit, die man in der schnelllebigen Medienwelt für ein neues Buch erübrigt, schrumpfte in den letzten Jahrzehnten auf etwa drei Monate, sagen die Marktforscher. Schafft es ein Titel nicht, in dieser Zeit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, geht es unter, wie es im Marketingunterholz heißt. Deshalb legt eine entsprechende Praxis des Literaturbetriebes Autoren nahe, möglichst stetig im Rhythmus von ein, zwei Jahren neue Werke auszustoßen, sonst, so heißt es entsprechend dieser Denke, drohe man unter zu gehen, vergessen zu werden. Doch es gibt Ausnahmen: Autoren und ihre Romane, die sich durch mündliche Empfehlungen eine treue Leserschaft erschließen können, Bücher, die nicht so recht in eine klare Vermarktungsschublade passen wollen (es sei denn, man bastelt eine eigene Schublade mit dem jeweiligen Autorennamen als Bezeichnung), so genannte Kultbücher.
Matt Ruff hatte es als 23-Jähriger das Glück, mit einem solchen Kultbuch zu debütieren: »Fool on the Hill« (1988). Wohl besser als gelehrige Beschreibungen, veranschaulicht wie ich finde Folgendes, was ein Kultbuch auszeichnet. Als ich vor gut 15 Jahren einem mit Herzeleid und Sinnkrise geschlagenen Freund eine deutsche Taschenbuchausgabe »Fool on the Hill« geschenkt habe, und wir uns nachdem er es gelesen hatte auf einer Fantasy-Con wieder begegneten, raunte mir dieser Freund dankbar zu, wie erstaunlich punktgenau dieser Roman tröstende Kraft und gemütserweiternden Perspektivwechsel gespendet hat. Ruff ist bei Weitem nicht der einzige moderne Phantast, der über die Macht und die Magie des Geschichtenerzählens schreibt, aber als mir mein Freund dann erzählte, dass er abwechselnd dachte, beim Lesen Wahnsinnig oder erleuchtet zu werden und zeitweise den Verdacht hegte, das ich Gott sei, merkte ich auf. Einmal, weil es selbst unter guten Freunden peinlich und beschämend ist, wenn man derart heftige Komplimente entgegenzunehmen hat, dann auch, weil dieses Gespräch auch für mich ein Aha-Erlebnis war. Mein Temperament als vorlauter Skeptiker und Fan des Abstrusen machen es mir schwer mit allzu tröstlichen oder idyllischen Stoffen warm zu werden. »Fool on the Hill« empfahl ich damals gerne, weil der Roman flotten Popkornspaß bietet und dennoch Tiefgang hat, weil er augenzwinkernd Popkulturanspielungen anbringt und auf überraschende Art aus dem System springt, Seitenschritte macht, die mich zu Grübelein und Gedankenwanderungen anregten. Mein Freund machte mir klar, wie wichtig diese Fähigkeit von Romanen sein kann, wenn uns Lesern durch sie reinigende Erregungen, tröstendes Kopfzurechtrücken zuteil wird.
»Fool on the Hill« ist ein ungestümer, leichtfüßig daherkommender Roman, dem es spielend gelingt, romantisches Herzeleid, philosophische Träumerei mit haarsträubenden Äktschn-Passagen und frechem Märchenflair zu vereinen. Die eindeutigste Gernebezeichnung, die man diesem Roman zusprechen kann, lautet ›postmoderne Fantasy‹, oder etwas einfacher ›kunterbuntes Schelmenstück‹. Entstanden ist der Roman als Abschlussarbeit des Studienfachs ›Kreatives Schreiben‹ in der Klasse von Alison Lurie an der Cornell Universität in Ithaca, New York, und diese Uni ist auch der Ort an dem die verschiedenen Handlungsstränge von »Fool on the Hill« angesiedelt sind oder zusammenfinden.
Worum geht es? Zentraler Held ist Stephen Titus George, ein Geschichtenerzähler, also ein Lügner, der eine Hilfsdozentenstelle an Cornell Uni inne hat; der sich optimistisch aber einsam nach der ganz großen Liebe sehnt; der beim Drachensteigenlassen mit Hunden über seine fehlgeschlagenen Liebelein plaudert; der gesegnet ist mit dem Talent durch seinem Tanz den Wind zu beschwören und nicht ahnt, dass er von niemand geringeren als einem über alle Geschehnisse des Romans wachenden griechischen Gott (ebenfalls ein Fabulator aus Leidenschaft) auserkoren wurde, ein Heiliger der Tagträumerei zu sein, ein Drachenbezwinger zur Bewahrung des chaotisch-friedlichen Miteinanders der Campus-Welt in der Nußschale. — »Fool on the Hill« erzählt aber auch die Geschichte von dem naiven Mischlingshund Luther und dem auf ihn aufpassenden Kater Blackjack, die sich von der Süd-Bronx aus aufmachen den Hundehimmel zu finden, und deren Queste, bei der sie den Groll von faschistoischen Hunderudeln auf sich ziehen, sie zur Ithaca-Uni führt. — Schließlich ist das Campusgelände auch die Heimstätte von kleinen Elfenwesen, unter ihnen tollkühne Modellflugzeugpiloten und -Schiffskapitäne, die nächtens Tiere aus dem medizinischen Versuchslabor zu befreien trachten und sich vor der Rückkehr des Koboldmagiers Rasferret und seiner Rattenarmee fürchten. Dieser in der Büchse der Pandora begrabene Wicht vermag Lebloses in golemartige Killermonster zu verwandeln, am schrecklichsten gelingt ihm das mit der horrorverbreitenden Gummibraut, dem Sexpuppenmaskottchen einer von Mittelerde begeisterten Studentengruppe des Tolkienhauses. Davor, daneben und dazwischen tummeln sich viele kleine Geschichten in der Geschichte wie die vom Mann mit der Phobie vor der Zahl 13, dem Einritt der subversiv-anachistischen Bohemier-Studentenkumpel von Stephen in ein Provinzkaff und ihr dortigers Gefecht mit einer Bikergang. Die vielleicht schönsten Eigenschaften von »Fool on the Hill« sind, dass der Roman trotz der ein oder anderen wackeligen Stelle überhaupt funktioniert, und der abenteuerliche, gerade mit der richtigen Priese Melancholie gesprenkelte Optimismus, mit dem der Roman seine Leser entlässt.
Ruffs zweiter Roman »G.A.S. – Die Trilogie der Stadtwerle« (»Sewer, Gas & Electric«, 1997), joungliert ebenfalls mit überraschend vielen verschiedenen Ideen und Themen und ist vielleicht sein unruhestiftenster, ›äktschn‹-reichster und womöglich am planlosesten wirkender Roman (obwohl seine Entfaltung überaus kühn kalkuliert ist).
Oberflächlich betrachtet wird den Lesern hier eine wendungsreiches ›Science Fiction Fantasy Verschwörungsthriller‹-Prosacomic geboten. Die atemberaubenden Tumultszenen von »G.A.S.« wirken auf mich, als ob sie einem der exzellenteren SF-Animes, wie »Akira« oder »Robot Angel«, entfleucht sind. »G.A.S.« ist, was die bitterböse Groteskerie seiner phantastischen Übertreibungen angeht, der satirischste und bittertste Roman von Ruff, was sich vor allem in den Ungeheuerlichkeiten des übertriebenen politisch-gesellschaftlichen Aspekten Weltenbaus niederschlägt. Aber Ruff gibt Acht, dass seine Sprache nicht ausser Rand und Band gerät, sondern er präsentiert seine schrägen Ideen und facettenreichen Diskurse des Buches mit lockerem Ton und lebendigen Reden.
Die Jahre 2023 angesiedelte, jedoch immer weider von Rückblenden unterbrochene Handlung, konzentriert zum einen auf New York, wo der reichste Mann der Welt, der Erfinder und Großindustrielle Harry Gant einen gigantischen neuen ›Babel Tower‹ errichtet hat, zum anderen auf Schauplätze in Florida, den Atlantik und Kalifornien. Gant hat sein unverschämt vieles Geld mit den sogenannten ›Elektronegern‹ verdient, Androiden die groß in Mode kamen, nachdem fast die gesamte schwarzhäutige Weltbevölkerung von einer mysteriösen Seuche ausradiert worden ist. Ein Wall Street-Konkurrent von Gant wurde, wie es scheint, von einem solchen Roboter dem die durch Isaac Asimov bekannten Sicherungen durchgebrannt sind gekillt, was natürlich ganz schlecht für Gants Geschäftsimperium wäre. Also engagiert er der Publicity wegen seine radikalliberale Ex-Frau, die sich zusammen mit einem fast 200 Jahre alten Veteran des Amerikanischen Bürgerkrieges aufmacht, den Mord aufzuklären. — Auch die bunte Ökoterroristentruppe um den begnadeten Saboteur-Künstler Philo Dufrense bereitet mit ihrem bunten Wunder-U-Boot ›Yabba-Dabba-Do‹ dem megareichen Industriekapitän Gant Probleme. Darüberhinaus sorgt ein mutierter Monsterhai namens Meisterbrau in den Kanalisationseingeweide von New York für Angst und Schrecken und irgendwo hinter den Kulissen heckt eine durchgeknalle Künstliche Intelligenz wegen eines Hörfehlers Pläne aus, die selbst Hartgesottenen eine Gänsehaut bescheren dürfte. — Der Roman knöpft sich kreuz und quer in diesem schnellgeschnittenen Gewusel sehr frech und engagiert verschiedene brachial-positivistische Gesellschaftsknetenwoller und ihre Großraumphantastik vor.
Egal wer »Hurrah, die Zukunft gehört uns!« ruft, ob Kapitalisten, christliche Pfadfinder, Geheimdienststrippenzieher oder die Verwalter des dunklen Vermächtnis von Disneyland, sie alle bekommen ihr Fett ab. Am aufregendsten ist dabei die in »G.A.S.« stattfindende Auseinandersetzung mit der bei uns weitestgehend unbekannten Ayn Rand, Erfinderin des ›Objektivismus‹, einer vulgär-materialistischen Kapitalismus- und Egoismusverherrlichung. Rand inspiriert bis heute als frappierend humor- und emphatiefreies Pinupgirl Chicago-Boys, Neocons & Neoliberale. Trotz all der munter-skurielen Abstrusitäten und der zahllosen schrägen Typen wird der Leser am Ende in eine etwas bedrückende Stimmung entlassen, was aber angesichts des seit Erscheinen des Romanes ehr heftiger als milder gallopierenden Infowar-Wahnsinns die angemessene Spötterei auf hegemoniestützende Märchen vom Ende der Geschichte ist. Also ist Vorsicht oder Lesewagemut gefordert, damit man beim Lesen nicht von auf mehrfache Schallgeschwindigkeit beschleunigten Salamis K.O. geschlagen wird.
Um die für meinen Geschmack beeindruckende Reifung von Matt Ruffs Schreiben zu beschreiben, die sein nächstes Buch markiert, will ich kurz innehalten, um über die Reize und Gefahren seiner, und allgemein über phantastische Fabulationen, zu sinnieren und zwar im mir eigentlich gar nicht behaglichen, ja sogar unsympathischen weil anmaßenden ›Wir‹-Modus.
{Wir-Modus an} Aufmerksame Beobachter der kulturellen Weltläufte sagen, dass um ums herum ein Paradigmenwechsel abläuft. Das geschriebene Wort wird verdrängt vom photographierten, vom gefilmten, vom digital zusammengezauberten Bild. Keinesfalls teile ich die Ansicht, dass die erzählende Literatur durch diese vermeintlich unheilvollen Entwicklung ins Abseits gerät. Aber wer allein und lediglich schreibend erzählt, sieht sich vor die Wahl gestellt, ob man sich auf Leser spezialisiert, welche die neuen Medien meiden um lieber in den pietätvollen Gefilden der Literatur zu bleiben, oder ob man es als Geschichtenerzähler wagt, sich den Herausforderungen durch Blockbuster-Kino, TV-Serien und Computerwelten zu stellen. Wir, die mit zweiterem als etwas Selbstverständlichem aufgewachsen sind, und denen die Freuden und den Wert des ersteren nahezubringen man sich bei unserer Erziehung mühte, tun uns zuweilen schwer damit, wie vom Kulturestablishment unsere Popkultur als nichtiger oder gar gefährlicher Tüdelkram in die Schämecke geschickt wird. Man verzeihe mir, wenn ich zur Veranschaulichung hier einen fragmentarischen Remix einer solchen Skeptik zu den Freuden popkulturellen Fabulierens präsentiere:
Ruff ist ein Bewohner des Weltinnenraums, dieser vollklimatisierten, bildschirmgepflasterten, in sich selbst verdrehten Zone. … ein Nerd … Ruff bedient sich, wo er will … wie gerne Kinder sich Höhlen bauen, um darin zu kuscheln … Ruff kuschelt auch … (Fantasy ist unter anderem ein Globalisierungsphänomen) … Politisch korrekt war das bei Lichte besehen nicht, doch hat Ruff die Gabe, es dem Leser so gemütlich zu machen, dass der lieber liest, als nachzufragen. … Bilderbuch-Liberaler. … Manchmal allerdings geht es eben durch mit dem politisch korrekten Matt, vor allem beim Rennen, Retten, Flüchten und Schlagen und Schießen und Bluten. Eigentlich kommt kein Ruff-Plot ohne Tom-und-Jerry-Finale aus. … Am Ende spielen alle Bücher des Matt Ruff im Weltinnenraum der Fiktion und alles Außerhalb ist ihnen ein fernes, kaum mehr verständliches Echo.
{01}
Nicht alle von uns, die wie Matt Ruff selige Tage der Adolszenz mit Rollenspielen, Comics, Soap- und SF-Serien verbracht haben, bleiben ewig treudoof unkritisch gegenüber unseren mit Postern, Action-Figures und Franchise-Icons geschmückten Kuschelhöhlen. Trotzdem (oder durchaus auch weil) wir unsere Zeit und Aufmerksamkeit mit solchen Dingen wie Superheldenbiographien, Trading Cards und nicht zuletzt Weltenbau vertändeln, haben wir ein Gespühr sowohl dafür entwickeln können, dass sich die Athmo des Inneren so mancher altehrwürdigen Elfenbeintürme der Großraumphantastik-Verwalter kaum unterscheidet von der unserer infantilen Höhlen, und wie sensibel die Kulturtechniken zur Entwicklung, Installation, Instandhaltung von, und des Austausches zwischen Parzellen des klimatisierten (sprich: künstlichen) Weltinnenraums der Fiktion ist. Auch wir Fans von zuweilem arg schriller und eskapistischer Phantastik können, wie es ein Kenner der Materie beschreibt, mittels dieser
zu den Wurzeln unseres Denkens und Verhaltens vorzustoßen, was den Einzelnen befähigt, wieder Herr zu werden über seine Entscheidungen.
Freilich kann man nun trefflich streiten darüber, welche Phantastik seriöse »distentzierende Erkenntnisakte«, und welche nur liederliche, gar schädliche Ablenkung und Betäubung fördert.{02} {Wir-Modus aus}
Der 2003 erschienene dritte Roman von Ruff, »Ich und die Anderen« (»Set this House in Order«, 2003), ist sein bisher bester und beeindruckenster Roman, auch gemäß seines eigenen Urteils und dem so mancher Vertreter der literarischen Kreise. Ruff gelingt es brilliant sich mit diesem Buch als ernsthafter und seriöser Phantast zu etablieren, wenn das
{w}as die seriöse Phantastik vom bloßen Obskurantentum trennt, sei es von seinen literarischen oder auch von den heute ins Kraut schießenden pseudokultischen Ausprägungen, der Umstand {ist}, dass sie nicht einer Droge ähnlich wirkt, sondern den Leser durch die literarische Gestaltung der Angst in einen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft versetzt.
{03}
Der englische Nebentitel lautet ›A Romance of Souls‹, was man in etwa mit ›Eine Abenteuergeschichte von Seelen‹ eindeutschen kann, und das ist wortwörtlich gemeint. Hier geht es um zwei Menschen, die mit dem so genannten ›Multiplen Persönlichkeits Syndrom‹ geschlagen sind. In der Realität wird diese Diagnose noch ziemlich heftig debattiert, was nicht verwunderlich ist, handelt es sich doch bei Fragen dazu, wie denn genau unsere inneren Welten beschaffen sind und funktionieren noch um eine Problematik, die sich nicht mit der objektiven Phantasie ergründen lässt, auch wenn wir in Zeiten leben, in denen man täglich über neue Meldungen den Medien stolpern kann zur wissenschaftlich-instrumentellen Erforschung dieses dunkelsten aller Weltenterrains.
Während Andy über seinem Zustand Bescheid weiß und damit ganz passabel umzugehen gelernt hat, hat die von Black-Outs geplagte Penny keinen Schimmer davon, dass viele konkurrierende Teilpersönlichkeiten sich um ihren Körper kabbeln. Im Milieu der Seattle’schen New Economy begegnen sich Andy und Penny als Mitarbeiter einer IT-Spiele-Firma namens ›Virtuell Reality‹, und brechen später auf zu einem irrwitzigen Trip ins Herz der provinziellen USA, um die Vergangenheits-Geheimnisse von Andys Seelenzertrümmerung zu ergründen.
Obwohl dieses dritte Buch von Ruff meistens genauso verspielt und humorig wie seine beiden Vorgänger ist, mutet es seinen Lesern stellenweise extrem gruselige Passagen über innerfamiliäre Grausamkeit zu. Das taugt sicherlich nicht jedem, das schreckt sicherlich manche ab, doch Ruff bleibt anständigt, da er keine Spektakelausbeutung mit dem Thema Kindesmißbrauch und sadistische Eltern betreibt. Ich persönlich fand es da sehr angenehm und passend, dass »Ich und die Anderen« nicht so wirr und trügerisch wie »G.A.S.«, sondern wieder eher wie »Fool on the Hill« versöhnlich-aufrichtender ausklingt. Zudem ist es sprachlich weniger peppig und der dramaturgische Fluß merklich ruhiger als seine beiden Vorgänger.
2008 ist der neuste Roman, »Bad Monkeys« erschienen. Nicht nur, weil er sein bisher kürzester, vielleicht auch sein elegantester Roman ist, halte ich »Bad Monkeys« für das womöglich beste Einstiegsticket zur Reise in die wilden Welten von Matt Ruff, sondern auch, weil ihm für mein Empfinden wie bei keinem seiner vorherigen Büchern hier eine besondere schwebende Balance, die sich meines Erachtens eben vorzüglich mit den Mitteln der Phantastik erreichen lässt, hervorragend gelungen ist: Einerseits mit sorgenvollem, berührendem Engagement gerade von statten gehende, verunsichernde Fehlentwicklungen der globalen Welt zu kommentieren, aber andererseits (für alle, die lieber mit ausgeschaltetem Gesellschafts- und Kulturkritik-Radarschirm lesen) schlicht einen aufregenden, fetzigen Abenteuerzirkus zu bieten, kompletto mit phantastisch-futuristischen Requisiten, schrillen Kostümen und reichlich Verfolgungshatz, ›Bullett Time‹-Geballer und ausgeklügelten Verhörungsduellen. Zudem zeichnet den Roman eine gewisse Heftigkeit aus, die vielleicht darin gründet, dass Ruff hier in für ihn ungewohnter Kürze ein äußerst dichtgesponnener, subversiver Garn gelungen ist, der einen im Fortlauf der Handlung in immer kürzeren Intervallen den Kopf in alle möglichen Blickachsen dreht. Mind Fuck galore!
»Bad Monkeys« ist einerseits ein Kammerstück, eine Charkterstudie, denn die Handlung setzt im Juno 2002 ein, im weißen Raum einer Gefängsnispsychatrie in Nevada, wo ein Dr. Vale die frischverhaftete Mörderin Jane verhört. Diese ›White Room‹-Kapitel sind kurz, auktorial erzählt, rekapitulien beziehungsweise leiten zu den längeren Kapiteln über, in denen Jane als Ich-Erzählerin ihre Lebensgeschichte als ›Bad Monkey‹-Agentin erzählt. Die Art des Verhörhumors läßt sich fein illustrieren anhand weniger Zeilen von S. 3:
»Worin besteht die Arbeit bei Bad Monkeys«, fragte der Arzt, »also was tun Sie? Böse Menschen bestrafen?«
»Nein. Normalerweise töten wie sie einfach.«
Jane ist eine packende, charismatische Erzählerin (obwohl: manche Rezensenten fanden sie unsympathisch. Am Ende des Romanes zu urteilen, ob Jane denn nun sympathisch oder unsympathisch, feige oder mutig, böse oder gut ist, gehört zu den aufregenden Angeboten, die Matt Ruff hier seinen Lesern macht) wenn sie von ihrer wilden Kiffer-Jugend im San Francisco der Siebziger und vom zunehmenden Klinsch mit ihrer Mutter berichtet; davon, wie sie ein netter Polizist zu Verwandten in die hinterletzte Provinz bringt, nachdem ihre Mutter vollends die Nerven verloren hatte, als Jane beim Dope-Anbau erwischt wurde. Schön sachte driftet dann die bisher realistische Welt ins die Gefilde der Verschwörungsphantastik, wenn die jugendliche Jane eine seltsame ›Natürliche Ursachen‹-Knarre findet, mit der man Herzinfarkte und Schlaganfälle verursachen kann, ein Artefakt einer namenlos bleibenden Organisation, von der Jane Jahre später für die Abteilung ›Bad Monkeys‹ rekrutiert wird.
Ganz besonders freut und beeindruckt mich, dass Matt Ruff mit diesem Roman eine hinreissende Homage auf Philip K. Dick — den (für mich) großartigsten Kurzgeschichten-Phantasten der zweitem Hälfte des 20. Jahrhunderts — vollbracht hat. Trotz aller Späßchen und Thrills pulsen die Erz-Fragen von P. K. Dicks Werk (»Was ist Menschlich?«, »Wer bin ich?« und »Was ist Wirklichkeit?«) stets merklich durch den Strang der »Bad Monkeys«-Erzählung. Was habe ich Seite um Seite gestaunt, wie eingängig »Bad Monkeys« ist, und doch zugleich wie verwickelt, mit seinen zig-ineinandergeschachtelten Finten. Der für mich schönste, alles zusammenfassende Weisheitsspruch aus »Bad Monkeys«, der zugleich auch wie kein anderer Satz die Essenz seiner vier Bücher herausdestilliert lautet »Omnes mundum facimus« (»Wir alle machen die Welt«).
••• Zu Teil zwei mit dem Interview.
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BIBLIOGRAPHIE:
»Fool on the Hill« (»Fool on the Hill« 1988); Übersetzung: Ditte König & Giovani Bandini, 576 Seiten; — Gebunden: Hanser (Erstausgabe, vergriffen), 1991; Zweitauendeins, ISBN: 3861504057; — Taschenbuch: DTV, 1993, ISBN: 3423117370.
»G.A.S. – Die Trilogie der Stadtwerke« (»Sewer, Gas & Electric – The Public Works Trilogy«, 1997); Übersetzung: Giovani und Ditte Bandini, 624 Seiten; — Gebunden: Hanser, 1998, ISBN: 3446192905; — Taschenbuch: DTV, 2000, ISBN: 3423207493.
»Ich und die Anderen« (»Set this House in Order – A Romance of Souls« 2003); Übersetzung: Giovani und Ditte Bandini, 600 Seiten; — Gebunden: Hanser, 2004, ISBN: 3446205357; — Taschenbuch: DTV, 2006, ISBN: 3423208902.
»Bad Monkeys« (»Bad Monkeys« 2007); Übersetzung: Giovani und Ditte Bandini, 251 Seiten; — Gebunden: Hanser, 2008, ISBN: 3446230025 ; — Taschenbuch: DTV, 2009, ISBN: 3423211792.
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ANMERKUNGEN:
01 Wieland Freund:
»Kampfaffen in der Tiefgarage, eine Begenung mit dem Kinoerzähler Matt Ruff«, in »Die Welt« vom 09. Februar 2008. •••
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02 Paraphrase nach Winfried Freund: »Arbeitstexte für den Unterricht: Phantastische Geschichten«, Seite 90, Reclam 1979/2001. ••• Zurück
03 Ebenda, S. 92.••• Zurück
Simon Spiegel: »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des SF-Films«, oder: Über plausiblen Luftschloßbau.
Eintrag No. 387 — Zur Einstimmung: Was ist eigentlich so besonders (im Guten wie im Schlechten) an der Phantastik-Sparte Science Fiction? Handelt es sich dabei nicht schlicht um eines jener Genres, in denen man noch in aller naiven Ruhe Cowboy und Indianer spielen darf, nur halt mit fesch ausgerüsteten Space Rangern und schleimig-befremdlichen Außerirdischen? Auch, ja, schon, aber zieht Euch mal folgenden Abschnitt aus »Girlfriend in a Coma« (1998) Douglas Coupland rein. Da wird knapp und virulent zur Sprache gebracht, welche roten Fäden das Grundgewebe der SF bilden. (S. 269 der TB-Ausgabe von Flamingo; Übersetzung von Molo):
Ask whatever challenges dead and thoughtless beliefs. Ask: When did we become human being and stop being whatever is was we were before this? Ask: What was the specific change that made us human? Ask: Why do people not particularily care about their ancestors more than three generations back? Ask: Why are we unable to think of any real futury beyond, say, a hundered years from now? Ask: How can we begin to think of the future as something enormous before us that also includes us? Ask: Having become human, what is it that we are now doing or creating that will transform us into whatever it is that we are slated to next become? {…} What is destiny? Is there a difference between personal destiny and collective destiny? {…} Is Destiny artificial? Is it unique to Man? Where did Destiny come from?
Was immer toten und gedankenlosen Glauben herausfordert, das frage. Frage: Wann wurden wir zu menschlichen Wesen und hörten aus zu sein, was immer wir zuvor waren? Frage: Welcher Wandel war es genau, der uns zu Menschen machte? Frage: Warum haben Menschen keine besondere Verbundenheit mit ihren Vorfahren, die weiter als drei Generation zurückreichen? Frage: Warum sind wir unfähig uns irgendeine echte Zukunft jenseits von, sagen wir, einhundert Jahren vorzustellen? Frage: Wie können wir damit anfangen, uns die Zukunft als etwas riesiges das vor uns liegt und das uns beinhaltet vorzustellen? Frage: Was von dem das wir, nachdem wir zu Menschen geworden sind, nun tun oder erschaffen, wird uns umwandeln, was immer vorgesehen ist, in das, was wir als nächstes werden? {…} Was ist Schicksal? Gibt es einen Unterschied zwischen dem Schicksal eines Einzelnen und dem Schicksal einer Gruppe? {…} Ist Schicksal etwas künstliches? Ist es etwas nur dem Menschen eigenes? Woher kommt Schicksal?
Weil die erzählten Vorstellungen von der Zukunft immer auch ein Jounglierspiel mit Aufputsch- und Beruhigungsreizen zwischen Hoffnungs-Versprechen und ›Teufel an die Wand‹-Malerei sind, gehört SF (und Phantastik allgemein) zur fordersten Front im Infowar um die Imagination der Massen. Kolonisierungsgerangel um die Konsumenten-Hirne nennt sich das dann.
Da ist es für mich eine außergewöhnliche Freude die Sachbuchneuerscheinung eines SF-Forum-Kumpels vorzustellen, bei der ich mit Lob kaum übertreiben kann. »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des SF-Films« von Simon Spiegel ist nicht das x-te Durchhechel-Lexikon, sondern bietet einen im besten Sinne abwägenden und klärenden Rundgang durch Geschiche und Eigenheiten des SF-Films, und liefert dabei ganz nebenbei so manch erhellende Einsicht zu Genre- und Verfahrens-Problemen der phantastischen Disziplinen.
Spiegel spricht dabei offen von der Herausforderung sich als ›Film-Fan‹ film- und medienwissenschaftlich objektiv mit seinem geliebten Genre auseinanderzusetzten. Doch er hat diese Schwierigkeit gemeistert, denn es bleibt immer kenntlich, wo Spiegel mit geisteswissenschaftlicher Distanz über den Gegenstand referiert, und wo er sparsam (sozusagen zur Auflockerung) seinen persönlichen Geschmack offenbart. Erfrischend persönlich, und einnehmend sympathisch sind schon Widmung und Motto: In der Widmung kommt die Tragik vieler männlicher SF-Begeisterten zur Sprache, daß SF Frauen überwiegend kalt läßt. Und statt einem klugen oder coolen Spruch, gibts einen (Tusch!) Gary Larson-Witz als Motto. Perfekt.
Das Buch ist zweigeteilt: die ersten 120 Seiten bieten eine (Schnell-)Übersicht der SF-Forschungsgeschichte, auf die Umzirkelungen der Definitionsbemühungen, und der (auch literatur-)geschichtlichen Entwicklung sowie der philosophisch-gesellschaftlichen Aspekte des SF-Genres folgen.
Für mich als Vertreter einer maximalphantastischen Genre-Sicht ist die Dilemmaschwemme des ersten Teils so vergnüglich zu lesen wie ein Intrigantenstadel, sozusagen beste Diskurs-Seifenoper, vor allem, weil ich Simon Spiegel die meiste Zeit schmunzelnd zustimmen kann. So ist die SF ein dauerhaft populäres Genre, wird zugleich aber von den vermeindlichen Kulturfuzzis (wenn überhaupt) überwiegend scheel beäugt. Macher und Leser der SF stehen in innigeren Austausch, als das in ›relevanteren‹ und ›wertvolleren‹ Fiktionsgefilden üblich ist. Nicht selten waren SF-Macher erstmal selbst Fans, und da die etablierten Akademiker nur langsam in die Puschen kamen, haben vor allem zu Beginn der SF-Kernepoche (das sogenannte ›Golden Age‹, etwa Ende der Dreissigerjahre bis zu den Fünfzigern des letzten Jhd.) die Fans selbst die Forschung erledigt. Spiegel erteilt dabei den oftmals peinlichen Adelungsabsichten von SF-Liebhabern, aber auch den auf idologiekritischen Vernageltheiten fußenden Schlechtreden von SF eine klare Absage. Vielmehr geht es dem Autor darum, genauer darauf zu achten, wie SF-Filme als Prozesse funktionieren, und welche Konstruktionsleistungen das Publikum anstellen muß, um SF-Filme verstehen und genießen zu können.
BOCKSPRUNG ÜBER TODOROV HINWEG
In seiner Übersicht zu den Definitionsanstengungen begeistert mich Simon Spiegel mit seiner Art, wie er die im deutschprachigen unseelig einflußreiche Arbeit »Einführung in die fantastische Literatur« von Tzvetan Todorov als Leiter nutzt, die man getrost vergessen kann, sobald mit mit ihrer Hilfe fruchtbarere Aussichtsplattformen auf Phantastikgenre erklommen hat. Warum hack ich so polemisch auf Todorov rum? Na weil sein Genre-Ansatz ein systematischer ist (es gibt auch normative, narratologische, historische, wirtschaftliche und rezeptionsorientierte), mit dem Genres anhand (S. 24) …
»›objektiver‹«, textueller, formal-semnatischer Merkmale bestimmt und voneinander abgegrenzt {werden}.
Todorov ist überhaupt nicht daran gelegen zu untersuchen, wie Phantastik in freier Wildbahn daherkommt, sondern es geht ihm um einen Idealtypus, nämlich: wenn der Leser bei einem Werk nicht klar entscheiden kann, wie die Wirklichkeitsverfassung geartet ist. Je nachdem, wie ein unerklärliches, übernatürliches Ereignis in einer ›realistischen‹ Fiktion aufgelöst wird (realitätskonform oder nicht), unterscheidet Todorov dann zwischen:
- Reiner Phantastik: Übernatürliches wird weder als Lug und Trug rational aufgelößt, noch als wirklich Übernatürlich bestätigt. Der Leser bleibt am Ende zweifelnd zurück (z.B.: »Total Recall«);
- Phantastisch-Wunderbarem: Übernatürliche Dinge werden am Ende als genau das, Übernatürlich, erklärt. (z.B.: »The Sixth Sense«);
- Phantastisch-Unheimlichen: Was zuerst wie eine übernatürliche Unmöglichkeit scheint, wird rational erklärt (mein Beispiel: »Pakt der Wölfe«);
- Unvermischt Wunderbares: Der Weltenbau ist unverhohlen von übernatürlichen Dingen geprägt (mein Beispiel: »Harry Potter«);
- Unvermischt Unheimliches: Viele als realistisch verortete Krimis bieten Spannung, indem eine Tat präsentiert wird, die sich augenscheinlich nur mittels ›Magie‹ vollbringen ließ. Exemplarisch z.B. das Motiv des Ermoderten im von innen verschlossenen Zimmer, bekannt durch Kriminalerzählungen von z.B. Agatha Christie und Arthur Conan Doyle.
Diese systematische Einteilerei steht und fällt mit dem Gegensatz zwischen ›realistisch‹ (im Sinne von wirklichkeitskonform, was der Fall ist) und ›unrealistisch‹ (im Sinne von Hirngespinst und was nicht der Fall sein kann, z.B. eierlegende Wollmilchschweine). Und was Autoren und Leser, sprich: Menschen überhaupt für realistisch und unrealistisch nehmen, hängt nun mal sehr von der jeweiligen Sicht auf Welt und Leben ab. Zudem ist Todorov herzlich Wurscht, ob die in einer Geschichte gegebene (oder nicht gegebene) Aufklärung lediglich eine formale Konvention ist oder nicht (Ätsch, war alles nur geträumt). Als Begriffssteigeisen für die ersten Dutzend Höhenmeter taugen Todorovs fünf Begriffe durchaus, alle anderen Wörter seine »Einführung…« kann man jedoch getrost dem Vergessen anheim fallen lassen.
Spiegel kommt zur nützlichen Einsicht, daß Phantastik weniger ein fixes Genre ist, daß sich mittels inhaltlicher Merkmale bestimmen läßt, sondern vielmehr ein Modus, eine Art und Weise der Vermittlung von Fiktionen ist, und Spiegels Versuch einer Definition trägt dem mit gebotener Umsicht Rechnung, wenn er schreibt (S. 41):
Der phantastische Modus definiert sich duch die Dominanz eines phantastischen Elements. Ein phantastisches Element liegt dann vor, wenn ein unaufgelöstes, durch einen Realitätskompatibilitäts-Klassifikator als solches markiertes, nicht-realitätskompatibles Ereignis oder Phänomen in einem klassisch erzählten Film oder Text auftritt, der sonst keinen Hinweis auf eine ›nicht-wörtliche‹ oder ›poetische‹ Leseweise gibt.
Dabei sind die Übergänge und Heftigkeiten fließend und es ist durchaus keine endgültig objetive Sache, ob man als Leser ein Werk eher dem Gebiet der reinen Phantastik, des Unheimlichen oder des Wunderbaren zuordnet. Wer z.B. als überzeugter Gläubiger von der Existenz von Engeln, Dämonen und Magie überzeugt ist, wird andere Grenzen zwischen Phantastik, Unheimlichem und Wunderbarem ziehen, als ein skeptischer Naturalist.
GESCHICHTLICHES & PHILOSOPHISCHES
Im historischen Teil bietet Spiegel die sinnvolle Betrachtungsschwerpunkt-Unterscheidung zwischen der Entwicklung einzelner SF-typischer Motive, der Entstehung SF-typischer Vermittlungsmethoden und dem Auftreten der SF als eigenständiger Marktsparte an. Typische SF-Motive finden sich ja zuhauf schon in Werken, die lange vor dem Aufkommen des Begriffs SF entstanden sind. Als Mutter der modernen Phanatstik wird deshalb auch korrekterweise die Gothic Novel genannt (nur in etwa dem deutschen Begriff Schauerroman entsprechend). Ausgangspunkt sind Reaktionen von Autoren des späten 18./frühen 19. Jhd auf die Umwälzungen der im Aufstieg befindlichen Moderne, der erblühenden Wissenschaften und der Industriellen Revolution. Die Widersprüche zwischen alten und neuen Wegen der Weltbildgewinnung bilden das Spannungsfeld, auf dem bis heute die SF wie auf einem Trampolin seine Fabulationssprünge leistet. Spiegel führt das anhand von Horace Walpoles Ambition seinen Roman »Das Schloss Otranto« (1764) betreffend vor. Bis heute aber ragt Mary Shellys Roman »Frankenstein – Der moderne Promeutheus« (1818) aus dem Feld der Gothic Novels hervor, denn hier wird eindrücklich Heil und Unheil der menschlichen Ambition behandelt, sich als Schöpfer und Macher von naturgegebenen Grenzen zu befreien, und typisch SF ist bei diesem Roman eben, daß ausdrücklich Medizin und Wissenschaft (siehe frühe Forschung zur Elektrizität) als Glaubwürdigkeitsstützen für die Schilderung widernatürlicher Machenschaften und unnatürlicherVorfälle herangezogen werden.
Als zwei weitere bis heute prägende SF-Strömungen läßt Spiegel dann den französischen Kintop-Pionier Gerge Méliès, und den amerkanischen Verleger Hugo Gernsback auftreten. Bei Méliès ist klar zu sehen, wie wunderbare Effekte erstmal für sich stehen, nur lose zu Handlungen verknüpft werden und seine Filme mehr mit marktschreierischem Tingeltangel-Spektakel als z.B. mit erzählendem Theater gemein habe. Gernsback ist ein Paradebeispiel für die Ambition, vergnüglich-unterhaltene ›romances‹ mit wissenschaftlichen Fakten und prophetischen Visionen (sic!) zu vermengen (Das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal!!! Soviel steht auch fest: Bescheidenheit ist selten der SF größte Zier … To infinity and beyond!).
Im philosphischen Teil zeigt Spiegel dann, daß moderne Phantastik sozusagen eine Verweltlichung religiöser Sprech- und Weltdeutungspraktiken ist. Die Rede von der Zukunft war bis zum Aufbruch der Moderne religiösen Darstellungen vorbehalten und unterlag heilgeschichtlichen Imperativen. SF (und andere Genre-Phantastik) kommt dagegen als Kunst-Mythos von allen für alle daher, genauer: als Neu-Aufbereitung und Wiederverwurschtung von althergebrachten Mythen, oder wie Spiegel knapp ausdeutet (S. 103):
In der oft beschworenen nüchternen Wissenschaftlichkeit der SF steckt nämlich auch der ganz und gar irrationale Wunsch nach Erlösung durch den technischen Fortschritt: Die Geschichte dieses Fortschritts ist für die SF gernbackscher Prägung eine Heilsgeschichte.
Das Spektrum des Geschichtenerzählens über die Zukunft und den technischen Fortschritt kennt nun freilich mittlerweile nicht nur die diese Propaganda- und Verführungsfabulas der Gewinnerauch sie immer noch prägender sind (und sich besser verkaufen lassen) als pessimistische und kritische SF-Weltenbauten (was natürlich darauf ankommt, was ich hier genau mit ›pessimistisch‹ und was mit ›Verführungsfabulas der Gewinner‹ meine. Dazu nur soviel: die Bugs sind auch nur Menschen! Don’t join the Spacecore.)
Klärend arbeitet Spiegel heraus, daß SF ein Modus ist, in dem Zukunfts-Ängste und -Hoffnungen dargestellt und verhandelt werden (S. 111):
SF ist also weniger der Mythos der Moderne, sondern der Modus, in dem sich moderne Mythen vorzugsweise manifestieren und im Film zur Sichtbarkeit gelangen.
Die erste Hälfte endet damit, indem Simon Spiegel seinen Lesern Einblick gewährt in den von vielen Köchen umgerührten Hexenkessel der flottierenden neu-religiösen und neu-mythischen Haltungen des SF-Fandoms. Das ist eine nette Gelegenheit für einen Fußnoten-Gastauftritt des Wissenschaftsphilosophen (und Bright) Daniel C. Dennett, der in seinem Buch »Breaking the Spell – Religion as a Natural Phenonemon« schreibt (S. 392, Fn 5. Übersetzung von Molo):
May the Force Be With You! Is Luke Skywalker religious? Think how differently we would react to this incantation if the Force were presented by Geroge Lucas as satanic. The recent popularity of cienmatic sagas with fictional religions — The Lord of the Rings and The Matrix offer two other examples — is an interesting phenomenon in its own right. It is hard to imagine such delicate topics being tolerated in earlier times. Our growing self-consciousness about religion and religions is a good thing I think, for all its excess. Like science fiction generally, it can open our eyes to other possibilities, and put the actual world in better perspective.
Um eine Unterscheidung von Dennett aufzugreifen, bietet SF wie alle moderne Genre-Phantastik spirituelle Erlebnisse an, ohne daß man gleich in religiöse Haltungen verfallen muß. Es ist dieser der SF innewohnende transzendeniere Drive, der für Fans so attraktiv ist, und der viele SF-Fans mit einem gewissen Elitenbewußtsein speißt. Spiegel scheut sich dabei nicht, zu erwähnen, daß im SF-Fandom deshalb heikle, fließende Übergänge zwischen wissenschaftlicher Spekulation, esoterischer Grenzwisschenschaft (ich selbst nenne das grad heraus ›Aberglauben‹) und Verschwörungstheorien zu beoabachen sind. Aber Spiegel macht daraus keine Häme oder Denunziation des SF-Fandoms und rückt die SF auch nicht gleich in die Depperlecke. Diese mythisch-spirituelle Macht der SF bietet, meiner Ansicht nach, erfeuliche Handhabe zur Befreiung vom instrumentalisierenden Apparate- und Insitutionenen-Weltbild; aber ich stimme Simon Spiegel zu, wenn er auf die sich aus dem gleichen Quell nährenden, beunruhigenden Monsterentwicklungen wie Scientology und Aum-Sekte verweist. Man denke auch an die quasi-religiöse Erregtheit von unheilbringenden Utopie-Eroberungsunternehmung, die z.B. als fundamentalistische Kommunismus-, Nationalismus- und Kapitalismus-Heilslehren herumwüsten.
WILLKOMMEN IN DER MONTAGEHALLE
Im etwa 200 Seiten umfassenden Hauptteil seines Buches nimmt uns Spiegel dann in sieben Kapiteln mit in die Werkstatt der SF, und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen SF (aber zu einem Gutteil eben die ganze moderne Phantastik) ihre Werke zusammenbosselt. Es geht dem Autor dabei nicht darum zu postulieren, wie gute SF zu sein hat, sondern Spiegel will genauer herausstellen, was SF-Werke auszeichnet, die als gelungen angesehen werden. Dies beginnt er erstmal mit der Erörterung narratologischer Fragen, also Fragen dazu, wie Geschichten erzählt werden und wie sie warum funktionieren. Nun kann man lernen, was genau fiktionale Welten sind, wie sie auf unserem Verstädnis und Wissen die reale (faktischen) Welt aufbauen, und wann sie in besonders in Filmgestalt ihre Zuschauer simpel gesagt überwältigen und kidnappen (ich sag nur Klangwelten & Heftigkeits-Steigerungs-Spirale).
(Peergroup-Druck mal beiseit) entscheidet letztendlich und wertet jeder Konsument einer Fiktion für sich selbst, wann ihm eine ausgedachte Geschichte oder gar Welt zu abgedreht, beleidigend, übertrieben ist. Solche Entscheidungen hängen davon ab, über welches Fakten-Wissen die Wirklichkeit betreffend der Leser verfügt, welche Art von Genuß er aus einer Fiktion ziehen will, welche Methoden der Darstellung, welche Themen und welche Handlungswendungen im vertraut und genehm sind, und wie flexibel die Vorstellungskraft und das Hineinsetzvermögen des Lesers ist. Um es kurz zu machen: gerade am Beispiel der in den letzten Jahren aufgekommen ›Virtuel Reality‹-SF-Sparte führt Simon Spiegel vor, wie vermeidlich Reales sich als Täuschung, Traum oder Halluzination entpuppt. Der Eigentümlichkeit von Filmen wie »The Matrix«, »eXistenZ« und »Vanilla Sky« beruht nach Spiegel darauf (S. 162),
daß wir vorrübergehend keine Aussenansicht auf die fiktionale Welt erhalten und deshalb nicht sicher sein können, auf wie vielen Realitätsebenen sich die Handlung bewegt.
Und zu den Glanzstücken von Spiegels Buch gehört eine genaue Analyse der Gefängniszellen-Szene von David Lynchs Film »Lost Highway«. Hier zeigt der Autor sehr gewitzt, wie ein willentlich äußerst rätselhafter Film plausibel aufgedröselt werden kann, wenn man bestimmte Konventionen, z.B. der SF (Beam me up), als Erklärung heranzieht.
Zum wesentlichen Werkzeug von SF (wie aller Phantastik) gehört die Metapher, also das Kostümieren von Gedanken und Inhalten. Metaphern zeitigen Erkenntnis, indem sie locker Gemeinsamkeiten und Verbindungen herstellen, und somit neue Blickwinkel befördern. Achtung: Metaphern funktionieren nicht so streng wie Allegorien, denen immer fixe Entsprechungsregeln zugrunde liegen. Eine Metapher bietet mehrere Deutungsmöglichkeiten an, eine Allegorie nur eine (eine Frau mit Augenbinde, Schwert und Wage ist immer Justitia; das böse Imperium aus »Star Wars« kann man deuten als Anspielung auf die Nazis, oder auf den militärisch-industriellen Komplex Amerikas, oder auf die kommerzielle Hollywoodmaschinerie). Interessant ist, wie Spiegel zeigt, daß sich bei Metaphern im Kleinformat die Spannung zwischen Konvention (Vertrautem) und Abweichung (Originellem) wiederholt, von der auch die Entwicklung eines Genres angestrieben wird. Grob gesagt: Was heute ungewöhnlich ist, schleift sich schön langsam zu etwas Üblichen ein und verkommt schließlich zur langweiligen Rezeptur (und mit etwas Glück und der Hilfe vieler dienstbarer & begeisterter Geister kann ein Revival den Kreisel neu andrehen).
Die folgenden Kapitel beschreiben nun im einzelne SF-spezifische Ästhetikfragen (wie Naturalisierung und Verfemdung, Erhabenes und Groteskes) und absolvieren dabei quasi nebenbei auch philosophisch-anthropolgisch Steifzüge, am deutlichsten im Kapitel über (konzeptionelle) Durchbrüche, wenn Simon Spiegel seinen Leser einen Diskurs zur Frage »Was ist der Mensch?« offeriert. Das ist für mich wahrhaftige Sachbuchwonne, denn alle Phantastik wird zutiefst von ›philosophischen Energien‹ durchströmt.
›ERLEUCHTUNG DURCH FABULATIONEN‹
Bisher habe diesen enorm wichigen Begriff der SF, Sense of Wonder, ausgespart, obwohl er sich wie ein Leitmotiv mit Variationen (das Novum, der Conceptual Breakthrough) durch Simon Spiegels Buch verteilt. In seinem knappen, dafür aber sehr persönlich gehaltenen Schlusswort legt Spiegel die Haltung des nach strenger Distanzierung trachtenden Wissenschaftlers ab, und schildert richtiggehend ergreifend seine Kino-Sense of Wonder-›Initiation‹, wenn er sich erinnert, wie er als Sechzehnjähriger zum ersten Mal »Blade Runner« sah (S. 331f):
…nichts hatte mich auf das vorbereitet, was ich in den folgenden zwei Stunden erleben sollte — denn ein Erlebnis war diese Vorführung in der Tat. Ich sah nicht einfach einen Film, ich wurde vielmehr von ihm in Bann geschlagen, verfolgte mit offenem Mund die Geschehnisse auf der Leinwand, tauchte ganz in das düstere Los Angeles des Jahres 2019 ein. {…} Am nächsten Tag war ich immer noch wie benommen. Mir war klar, daß ich etwas Besonderes gesehen hatte, daß »Blade Runner« mehr war als ›bloß ein Film‹. Auf der Kinoleinwand hatte sich eine neue Welt entfaltet, wurden große Themen und tiefe Gedanken verhandelt, die ich zwar kaum artikulieren, dafür umso intensiver fühlen konnte. Kino war mit einem Mal mehr als reine Unterhaltung, es war zu etwas Wichtigem un Kostbaren und Wunderschönem geworden.
Wenn ich nun ›Sense of Wonder‹ schlicht mit ›umfassenden Staunen‹ übersetzte, kann ich hoffentlich überzeugend meine Ansicht unterstreichen, daß Phantastik-Genres mit nichts weniger hantieren, als eben der grundmenschlichen Sehnsucht und Fähigkeit, sich vom eigenen Leben und der Welt an sich hingerissen verblüffen zu lassen. Die SF bedient sich zum Herstellen glaubwürdiger Einbettung für dieses umfassende Staunes vornehmlich des Fundus, den Wissenschaften und Technik zur Verfügung stellen. Diese Fähigkeit zum Staunen ist es, die Menschen einerseits davor bewahrt, von den niederziehenden und beengenden Tatsachen des wirklich stattfindenden Lebens vollends entmutigt zu werden; aber (leider) kann andererseits dieses Staunen mißbraucht werden, um daraus betäubende, entmündigende Verführungskarotten zu machen, denen Spektakeljunkies willig hintergerzockeln.
Simon Spiegel schafft es Dank klaren Stils, gewissenhafter Recherche sowie einem guten Händchen für griffige Zitate und augenöffnende Beispiele (dem Buch liegt eine DVD mit wundervollen Exempeln bei!), seinen Leser ein aufgewecktes Gespür für dieses Staunen zu vermitteln, vor allem natürlich, was SF-Filme angeht, aber auch Phantastik und Geschichenerzählen überhaupt betreffend. Die argumentative Schärfe und umsichtige Art Spiegels essentialistischen, idealistischen und (durch welche Motive auch immer) ›willkürlich‹ bestimmten Wertungs-Hierarchien auszudribbeln, macht darüberhinaus das Buch zu einer unverzichtbaren Lektüre für alle, die sich für SF, Film und Medien interessieren.
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Simon Spiegel: »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films«
Zürcher Filmstudien 16; Schüren Verlag; Marburg 2007; 33 z.T. farb. Abb., DVD mit Filmbeispielen, 385 Seiten.
Der wüste Planet
Eintrag No. 322 — Bei SF-Fan stellt mephisto einige Fragen zu Frank Herberts epischer SF-Reihe »Der Wüstenplanet«. Hier meine Antworten.
Freiwillige Angaben (Optional)
Alter: Derzeit 34.
Geschlecht: Immer noch männlich.
Fragen
Frage 1: Wie würden sie Science-Fiction Literatur (Kurzgeschichte, Roman usw.) mit eigenen Worten definieren ? — Antwort: Fiktionen sind ausgedachte Geschichten (im Gegensatz zu Schilderunen wirklich vorgefallener Geschehnisse) und ›Science Fiction‹ sind entsprechend ausgedachte Geschichten, in denen im weiteren oder engeren Sinne wissenschaftliche Themen als Kern zu finden sind. SF kann, muß aber nich, Spekulationen und Prognosen über die nähere oder ferne Zukunft liefern. — Der Großteil der SF (vor allem in den neueren Medien nach dem Buchdruck) liefert in meinen Augen ›Fantasy‹ im SF-Gewand (siehe Subgenres Science Fantasy, Space Opera). — SF-Szenarien müssen nicht hauptsächlich auf den harten Wissenschaften gründen (Astrophysik, Technik, Energie, Informationstechnologie ect), sondern können auch Spekulationen auf den Feldern der wiechen Wissenschaften als Thema haben (z.B. Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftswissenschaften).
Frage 2: Was macht für sie den Reiz an Science-Fiction (Literatur oder auch Film) aus? — Antwort: Wie bei jeglicher Kunst, interessiert mich die Darstellung dessen, was man als menschlich umschreibt oder begreift. Bei Filmen sind freilich auch zu einem Gutteil explodierende Außerirdische und andere Äktschn-Ereignisse, die mich begeistern können. — Speziell die Darstellung von Alltag finde ich immer sehr spannend in der SF; leider widmet man sich dem nicht so häufig, bzw. ausführlich.
Frage 3: Lesen sie SF-Romane ? Wenn ja welche Art von Romanen oder Subgenres (z.B. Cyberpunk oder Military SF ) bevorzugen sie? — Antwort: Ja, ich lese SF-Romane. Im Lauf der Zeit hatte ich wohl am meisten mit Cyberpunk und Steampunk meine Freude.
Frage 4: In welche Richtung wird sich der SF-Roman ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren entwickeln ? Stirbt das Genre vielleicht gar aus? — Antwort: ich denke, daß die SF ›gewonnen hat‹, was aber vielleicht in einiger Hinsicht einen Phyrrus-Sieg darstellt. Vielerlei SF-Elemente und Themen sind mittlerweile von Nicht-SF-Genres assimiliert worden. Das Ringen um die Gestaltung der Zukunft läßt sich mehr oder minder offen beobachten; entsprechend sind Inhalte der SF in der Gegenwartswelt angekommen. SF ist mitunter der Anteil des weltweiten Selbstgespräches der Menschheit, in dem über die Wurzeln und anstehenden Probleme der sogenannten Globalisierung/Gloabalität locker flockig verhandelt werden (z.B. Imperialismus oder »Regeln für den Menschenpark«). Man darf davon ausgehen, daß ein nicht unerheblicher Zeck so mancher SF darin besteht, diesbezügliche Erwartungshaltungen zu fördern, sprich: Vorstellungs-Claims in den Köpfen der Individuen abzustecken (siehe z.B. Transhumanismus)
Frage 5: Ist ihnen Frank Herberts „Der Wüstenplanet“ ein Begriff ? Wenn ja haben sie den Roman gelesen oder eine Verfilmung gesehen? — Antwort: Gelesen vor ca. 20 Jahren; damals als er ins Kino kam auch den Lynch-Film gesehen (den ich sehr gut finde), bzw. den ersten Brocken der TV-Verfilmnung mit Uwe Ochsenknecht mitbekomen (die ich sehr schwach fand).
Frage 6: Was gefällt oder missfällt ihnen besonders an dem Roman in Hinsicht auf Handlungsführung , Charakterisierung und Atmosphäre? — Antwort: Skeptisch (bzw. leicht genervt) war ich wegen des ganzen Adels- und Militär- und Messias-Schmu des Romans. Nett dagegen fand ich die Idee des Spice und der Bene Gesserit-Schwesternschaft (sozusagen ein weiblicher Vatikan). Im Großen und Ganzen fand ich den Roman okey, auch wenn ich mich für dessen episches Gepräge nicht unbedingt erwärmen konnte.
Frage 7: Sehen sie in „Der Wüstenplanet“ gesellschaftskritische Ansätze ? Wenn ja welche? — Antwort: Am bemerkenswertesten ist wohl die Abhängigkeit der galaktischen Zivilisation von dem Großraumreisen ermöglichenden Spice; was ich als Bespiegelung der irdischen Abhängigkeit der Avandgarde-Zivilisation von (fossilen) Energieträgern nehme.
Frage 8: Geben sie ein kurzes persönliches Statement zu besagtem Roman ab falls sie in den vorhergehenden Fragen ein Aspekt ausgelassen wurde den sie für wichtig erachten! — Antwort: Unterm Strich ein beeindruckendes Epos, mir persönlich allerdings zu pompös und breitgetreten. Zudem finde ich, daß die Wüstenplanet-Reihe zu viele Fantasy-Elemente birgt. Pragmatisch läßt sich die Dune-Reihe zwar durchaus ohne Verrenkung als SF nehmen (Raumschiffe, Wunderwaffen, Großkonflikte), aber von unserer tatsächlichen Wirklichkeit ist die Reihe doch ziemlich losgelößt und bietet eben überwiegend Aristorkaten-Intrigen und Soldaten/Revoluzzer-Abenteuer, gewürzt mit monotheistischer Mystik. — Ich ordne die Reihe eher der Space Fantasy und Space Opera zu.
Vladimir Sorokin: »Ljod. Das Eis«, oder: Herzen mit dem Eishammer aufklopfen
Eintrag No. 279 — Vladimir Sorokin (1955) war vor fast 20 Jahren für mich als Teen einer der ersten modernen, gesellschaftskritischen Gegenwartsautoren, die ich als Ergänzung und als Abwechslung zu meinen geliebten Phantastik-Lektüren entdeckt habe. Damals beeindruckten mich seine Romane »Die Schlange« und »Marinas dreissigste Liebe«, in denen Sorokin vom Moskauer Alltags-Wahnsinn der Perestoika-UdSSR erzählte. »Die Schlange« (1985, dt. 1990) schilderte ›in Echtzeit‹ (und konsequent mit weißen Seiten bei Bewußtlosigkeit der Hauptfigur) und sehr dramamäßig (nur mit direkter Rede) die abstrusen Ereignisse in einer der aberwitzig langen Warteschlangen vor einem Moskauer Lebensmittelgeschäft. Sorokin war von Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn an in seiner Heimat ein umstrittener Autor, dem z.B. von putintreuen Jugendorganisationen vorgworfen wird, ein obzöner, lästerlicher und moralzersetzender Autor zu sein. Der Schriftsteller als Nestbeschmutzer und peinigender Satiriker … was dabei herauskommt, wenn so einer Phantastik aufführt, konnte man schon in Sorokins burlesker Klon-Farce »Der himmelblaue Speck« (1999, dt. 2000) bestaunen.
Für »Ljod. Das Eis« hat sich Sorokin eine bitterböse Parabel über Auserwähltheitswahn, unheimliche Untergrundsekten und lichtmystische Heilsutopien ausgedacht. Kein Tüdelkram, sondern ein richtiggehend fieses Buch für Leser mit starken Nerven und strapazierfähigen Geschmacks-Knospen (sowohl was Schilderungen, als auch was Ideen betrifft). Die ideologie-krtische Heftigkeit ist für manche Leser sicherlich zu doll; die ein oder andere Gewalt- bzw. Sex-Szene zu unerträglich; die pathetisch-übertriebene Bloßstellung von mythischem Mumbojumbo zu ätzend. Zarte Gemüter sind hiermit ausdrücklich gewarnt! »Ljod. Das Eis« liefert keine Entspannungsphantastik, sondern trachtet danach, dem Leser den Teppich der Gewißheiten unter den Füßen wegzuziehen. Passenderweise ist dem Buch ein Motto aus dem Buch Hiob vorangestellt.
Der erste von vier Teilen (21. Kapitel auf ca. 170 Seiten) ist ziemlich ›filmisch‹ und wechselt munter zwischen mehreren Handlungssträngen. Angesiedelt in einem Datums-technisch nicht näher bestimmten Gegenwartsmoskau, werden hier die ersten Tage-des-Übergangs im Leben von drei jüngst Initiierten ausgebreitet. Die Sprache ist knapp, oft protokollarisch, das beobachtende Auge unsentimental. Der Anfang liefert ein markantes Sound-Beispiel:
23:42 Mytischtschi bei Moskau, Silikatnaja uliza 4, Gebäude II. Neues Lagerhaus der Moskauer Telefongesellschaft Mosobtelefontrest.
Ein dunkelblauer Geländewagen, Marke Lincoln Navigator, fuhr ein. Stoppte. Im Scheinwerferlicht zu sehen: Betonfußboden, Ziegelwände, Trafokästen, Rollen mit Erdkabel, ein Dieselkompressor, Zementsäcke, ein Bitumenfass, eine zerbrochene Tragbahre, drei leere Milchtüten, ein Brecheisen, Zigarettenkippen, eine tote Ratte, zwei eingetrocknete Kothaufen.
Fünf Männer steigen aus dem Wagen. Zwei von ihnen werden einem buchstäblich schlagkräftigen Test unterzogen: mit einem großen Hammer dessen Schlagkopf aus Eis ist, haut man den beiden Entführten auf die Brust. Der Ältere entpuppt sich als ›hohl‹ und erliegt der Tortur. Ser Jüngere — Lapin, ein slacker-artiger Student, Internet- und Filmfreak — überlebt, denn sein Herz antwortet, wurde vom magischen Eishammer aufgeklopft. Nach der brutalen Aufnahme kümmern sich die Eis-Auserwählten um ihren ›Bruder Ural‹ (wie in so mancher Sekte pflegt man untereinander Ordensnamen). Noch zwei weitere Frischlinge des Eises begleitet der erste Teil: eine junge Frau zwischen Disko, WG und Hurerei; und einen ›modernen Geschäftsmann‹ zwischen Paranoia und Pragmatismus.
Teil zwei (ca. 40 abschnitte, ca. 150 s.) bietet die ich-erzählerische Lebenserinnerungs-Rückblende einer heute alten Frau. Sie erzählt von ihrer Kindheit auf dem Land, von deutschen WW II-Besatzern, ihrer Eishammer-Initiation durch einen SS-Offizier, ihrer Lehre in der Sprache des Herzens, bis zu ihren andauernden Missionen im Namen des Eises. — Hier erfährt der Leser nun mehr über die geheimnisvolle Sekte der Eishammerklopfer. Ein sagenhafter Brocken des jungen 20. Jahrhunderts darf die Quelle des magischen Eises spielen: der sibirische Tunguska-Meteorit. Er ist das heilige Zentrum einer weltumspannenden Jagd und Suche nach den wenigen reinen Herzen, die, wenn sie erstmal alle beieinander sind, kosmische Wunden zu heilen beabsichtigen. Für die Ottonormalsterblichen freilich wäre diese Heilung kaum zu unterscheiden von einem Weltuntergang.
Teil drei beginnt mit einer Gebrausanleitung und läßt auf ca. 30 seiten sechzehn unterschiedlichste Personen zu Wort kommen. Ein verwirrendes Panoptikum vom Filmregisseur, Duma-Abgeordneten, Renter, über einen Arbeitslosen, einen Studenten, einen Anarchisten bis hin zu einem Priester, einer Verkäuferin und einem Webdesigner gehts einmal quer durch die Mileus. Diese Leute babbeln wie ihnen der Schnabel gewachsen ist drauf los, und wer Auslandsnachrichten und Reportagen über das heutige Rußland (bzw. die Ex-UdSSR) auch nur oberflächlich verfolgt, kann wie ich vielleicht ebenfalls schmunzeln über diese O-Ton-Kolportage. Wie ein guter Kabarettist (oder unbestechlich gewitzte Moral-Fackeln wie Karl Kraus) führt Sorokin hier vor, und zwar — trotz all des durchaus ernsten Engagements — köstlich, wie ich finde.
Der vierte Teil mit seinen nur 5 Seiten mag einem einleuchten oder auch nicht. — Ich finde es aufregend, wie Sorokin hier ganz zart mit einem unschuldig vor sich hinspielenden Kind einen schaurigen Blick in Abgründe inszeniert. Beim ersten Fertiglesen dachte ich mir nach diesem vierten Teil spontan: »Jau, das ist fetzige Kunst«, — auch wenn das so hingeschrieben nun ein bischen überzogen klingt. Die Art wie »Ljod. Das Eis« mich beunruhigt, empfinde ich als spannend, deftig und nährstoffreich.
Nur ein paar Mal waren mir Handlungsverlauf, Milieuschilderung und Tonfall zu rotzig-gallig. Spannend geschrieben sind vor allem Teil eins und zwei. Mit den kürzeren Teilen drei und vier haut Sorokin dem unbedarften Leser mächtig auf'n Dötz. Ich mag solche durchaus gröberen Dimensionssprünge zwischen verschiedenen Stilen, Betrachtungswinkeln und Erzählhaltungen. Sorokin ist halt ein talentierter Stimmenimitator, und warum sollte so einer gemäß altbewährter Achterbahnroutinen seine Plot-Linien oder Roman-Strukturen absolvieren, wo dies doch bei vorsichtigeren (oder lahmeren) Autoren mit weniger artistischen Mumm eh Gäng und Gebe ist? — So kann man als Leser sein Vergnügen daraus ziehen, die vier eigenständig-unterschiedlichen Teile selber zu einem großen Bild zusammen zu setzten.
Wer zudem Sympathie für künstlerisch-unterhaltsame Querulanten erübrigt, oder ebenfalls immer neugierig auf Darstellungen ›des Bösen‹ (bzw. entsprechend kontrastierend: ›des Heiligen‹) ist, hat eine gute Chance, mit »Ljod. Das Eis« gewinnbringend zurechtzukommen.
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Vladimir Sorokin: »Ljod. Das Eis«; (Ersterscheinungs-Jahr des Originals 2002); Berlin Verlag (gebundene Ausgabe, 2003), BTB (Taschenbuchausgabe 2003); Übersetzt von Andreas Tretner; ca. 352 Seiten.
Molosovsky ist wohl ein Geek…
… und ›Geek‹ ist umgangssprachliches Englisch für ›Streber, Stubenhocker‹ (erwachsene Geeks werden oft irre Wissenschaftler u.ä.. Die meisten Bond-Bösewichter von Dr. No über Goldfinger bis zu Bloomfeld sind Geeks auf Abwegen).
Eintrag No. 241 — Was lesen Geeks so? Das hat eine Umfrage des GuardianTechnologyBlog herauszubekommen versucht, wie ich über das SF-Netzwerk erfahren habe. Naja, ungefähr hundert Hanseln haben beim Guardian abgestimmt. So wahnsinnig Wirklichkeitsabbildend ist die Umfrage also nicht. Aber ich war (mal wieder) überrascht, daß ich offenbar mehr mit dem anglo-amerikanischen Geek-Kanon anfangen kann, als mit dem deutschsprachigen der hiesigen Gegenwart (wenn ich da an entsprechende Umfragen denke, deren Gewinner dieses LOTR-Werk vom ollen Tolkien war usw ect pp.).
Hier die vom Guardian ermittelten Top 20 der Geek-Literatur:
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»The HitchHiker's Guide to the Galaxy« von Douglas Adams — Klassiker; sollte weltweit Schullektüre ab der 4. Klasse sein.
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»Nineteen Eighty-Four« von George Orwell — Klassiker; eines meiner Lieblingsbücher. Vor allem die Ideen über Newspeech fand ich als Teen anregend.
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»Brave New World« von Aldous Huxley — Klassiker, wenn auch nicht unbedingt meiner. Ich habs als Frühtwenn auf Deutsch gelesen und fands etwas zäh.
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»Do Androids Dream of Electric Sheep?« von Philip Dick — War die Vorlage für den Film »Blade Runner«.
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»Neuromancer« von William Gibson — Gilt als Klassiker, zumindest wichtiger Titel des Cyberpunk-Genres. Die politischen, wirtschaftlichen Aspekte fand auch ich erfrischend, aber die Sprache (zumindest der Übersetzung) gefiel mir so gar nicht.
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»Dune« von Frank Herbert — Wüstenplanet-Reihe bis Band 3 oder 4 gelesen. Nicht meins; zuviel Militär- und Religionszeug, noch dazu mit lauter Aristokraten-Fuzzis. Band eins läßt sich als Space-Fantasy noch ganz nett an. Find den Film von David Lynch besser als das Buch.
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»I, Robot« von Isaac Asimov — Soweit ich mich erinnern kann eine Kurzgeschichtensammlung. Ist mir als fad in Erinnerung geblieben.
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»Foundation« von Isaac Asimov — Oberfad. Einmal Gibbons »Aufstieg & Untergang des Römischen Reiches« ins Weltall versetzt.
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»The Colour of Magic« von Terry Pratchett — Eines der (noch) schwachen Scheibenweltbücher; nette Parodie auf 08/15-Fantasy.
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»Microserfs« von Douglas Coupland — Klassiker; wunderbares Buch über Programmierer-WGs, den Microsoft-Campus und die Schnittstelle Mensch-Technik.
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»Snow Crash« von Neal Stephenson — Äktschnreiches Aufeinanderprallen von babylonischer Mythologie und Virtueller Wirklichkeit.
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»Watchmen« von Alan Moore & Dave Gibbons — Klassiker; eines der besten Werke über die grundlegenden Stimmungslagen des Übergangs vom Industrie- zum Informationszeitalter.
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»Cryptonomicon« von Neal Stephenson — Bin ich noch am Lesen und mach derzeit ca. in der Mitte des Buches eine Pause. Sehr fein, wie Stephenson den Leser an der Gedankenwelt einen Mathematik-Geeks teilhaben läßt.
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»Consider Phlebas« von Iain M Banks — (Noch nicht) gelesen.
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»Stranger in a Strange Land« von Robert Heinlein — Interessiert mich nicht.
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»The Man in the High Castle« von Philip K Dick — Als Teen mal bei einem Kumpel reingeblättert. Les ich irgendwann mal, wenn ich alle Kurzgeschichten von Dick durch hab.
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»American Gods« von Neil Gaiman — Schönes Buch über das Ringen von alten und neuen Götterbanden im heutigen Amerika.
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»The Diamond Age« von Neal Stephenson — Für mich ein Klassiker. Stephenson ist so gut, daß man seine Bücher kaum im deutschen Literaturblätterwald besprochen findet.
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»The Illuminatus! Trilogy« von Robert Shea & Robert Anton Wilson — Lustiges Durcheinander aus ›Sex, Drugs & Rock'n Roll‹, Weltverschwörung, Eso-Kram, Agentenschnmu und manch anderem Deviantem. Soweit ich weiß, haben Bücher wie dieses im anglo-amerikanischen die ›Pop-Literatur‹ geprägt. Wenn ich das mal mit dem langweiligen ›Bälger aus besserem Haus-Ödkram‹ vergleiche, den man bei uns als Pop-Literatur handelt, wird mir flau.
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»Trouble with Lichen« von John Wyndham — Kenn ich nicht.
Molosovsky und der Science Fiction-Lesezirkel
Eintrag No. 236 — Seit 2005 schreib ich beim SF-Lesezirkel von SF-Netzwerk mit. Abwechselnd nimmt man sich dort mal eine Neuerscheinung, mal einen Klassiker des (schon auch mal im weiteren Sinne so verstandenen) Science Fiction-Genres zur Brust. Allein das ist aufregend und ermuntert mich, monatlich das SF-Angebot zu durchforsten und über Kauflust-Fragen zu reflektieren, wenn die kommenden Lesezirkel-Titel gemeinsam vorgeschlagen und gewählt werden.
Soweit ich das beurteilen kann, nehme ich dort zumeist die Rolle des überspannten, launischen und devianten Lesers ein. Ich kann halt nicht verleugnen, daß mich sowohl sogenannte ›ernste und anspruchsvolle Kunst‹ als auch und sogenannter ›Plup-, Trash- und Kult-Kram‹ geprägt hat.
Als jemand, der sich für das Phantasieren der Menschen aller Zeiten und Kulturen interessiert, muß ich zugeben, daß ich mich in einem SF-Lesezirkel ein wenig fühle wie ein U-Boot fühle, denn meine ästhetischen Vorlieben gelten eben nicht vornehmlich der Science Fiction. Die angenehme Athmosphäre bei SF-Netzwerk mit den freundlich-gewitzten Lesezirkel-Mitlesern (einige von ihnen haben nun auch ein Blog-Zuhause bei SF-Netzwerk), haben mich dazu bewogen, mich nun schon seit zehn Monaten näher dem Strang der SF des endlos geflochtenen Phantastik-Geflechts aus Science Fiction, Horror & Fantasy zu widmen.
Zu den häufig gestellten Fragen (FAQ) des SF-Lesezirkels.
Die Zahl nach dem Titel entspricht meiner Wertung auf einer Skala von Null bis Neun. Eine Erklärung der Werteskala findet sich bei der Übersicht meiner Bewertungen von SF- und Phantastik-Filmen in der Film-Datenbank von SF-Netzwerk.
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Januar — Novität: Matt Ruff: »Ich und die anderen« (Set This House In Order — A romance of souls) 9
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Februar — Klassiker: H. G. Wells: »Menschen, Göttern gleich« (Men Like Gods) 6
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
März — Novität: Charles Stross: »Singularität« (Singularity) 4
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April — Klassiker: Gebrüder Strugatzi: »Picknick am Wegesrand« 7
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
Mai — Novität: Justina Robson: »Der Verschmelzung« (Natural History) 7
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Juni — Klassiker: Ian Banks: »Das Spiel Azad« (A Player of Games) 8
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
Juli — Novität: Michael Marrak: »Morphogenesis« 6
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
August — Klassiker: Theodore Sturgeon: »Die Ersten ihrer Art« (More Than Human) 7
Lesezirkel zum Buch ••• Zum DB-Eintrag
September — Novität: Dan Simmons: »Illium« (Illium)
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Diesen Titel habe ich ausgelassen. Grund eins: ich scheue Mehrteiler, noch dazu wenn er sich aus dicken Schinken zusammensetzten. Nur selten habe ich das Bedürfnis mich einer bereits vertrauten Fiktionswelt hinzugeben, und für diese raren Stimmungen stehen mir schon mehr als genug liebe Reihen parat (Terry Pratchetts Scheibenwelt, Stephen Kings Dunkler Turm, Harry Potter um die mainstreamigeren zu nennen). — Grund zwei: »Illium« bildet zusammen mit »Olympus« einen von Homers »Illias« inspirierten und darauf basierenden Zweiteiler. Grundsätzlich habe nichts dagegen, wenn man vorhandene Stoffe aufgreift, ich mag das bisweilen sogar sehr (bin zum Beispiel fast durchgehend begeistert von Disneys Verwurschtungen klassischer Fiktionen zu unterhaltsamer Animationskunst, von »The Sword in the Stone« bis heute), nur im Fall von ›Troja in Space‹ interessiert es mich so gar nicht.
Oktober — Klassiker: Ken Grimwood: »Replay — Das zweite Spiel« (Replay) 5
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»Ich Roboter, Du Zuschauer«
Eintrag No. 132 – »Das war nicht nur ein Mensch«, so lautet ein scherzhaft-beeindrucktes Gerücht über Isaac Asimov, »hinter dem Namen hat sich ein dutzendköpfiges Autorenkollektiv pseudonym zusammengetan.«
Er war ein Vielschreiber unter den Vielschreibern und betätigte sich als Roman- und Kurzgeschichtenautor ebenso erfolgreich und fruchtbar, wie als Sachbuchautor und Herausgeber von Anthologien. In meiner Bibliothek ist er nur noch in den beiden letztgenannten Funktionen vertreten, denn mit seiner erzählenden Prosa wurde ich nie recht warm. ••• Meine Skepsis gegenüber dem Erzähler Asimov festigte sich, als ich erfuhr, daß der junge SF-Autor bei der Gestaltung seines vielbändigen Foundation/Psychohistoriker-Zyklus sich weitestgehend an Edward Gibbons »Verfall und Untergang des römischen Imperiums« orientierte. •••
Die Verfilmung seiner Pinocchio-Cyborg-Variante »Der zweihundertjahre Mann« war für mich eine nervige Zumutung an Harmoniesüchtigkeit. Meine Hoffnungen ließen mich sehnen, daß »I Robot« nicht genauso ein Lapsus würde.
Mit dem Vorspann (wässrige und luftblasenverbubbelte Alptraumerinnerung des von Will Smith dargestellten Polizisten Spooner an einen »Auto versinkt im Fluß«-Unfall) wird dem mit Asimov nicht vertrauten Publikum das Fundament von dessen Robotergeschichten geliefert, die drei Gesetze der Robitik:
1. Ein Roboter darf mit seinen Handlungen oder Handlungsunterlassung keinen Menschen schädigen;
2. Ein Roboter hat den Anweisungen von Menschen immer Folge zu leisten, wenn nicht Gesetz 1 dabei gebrochen wird;
3. Ein Roboter hat sich um seine eigene Unversehrtheit zu kümmern, wenn dadurch nicht die Gesetzte 1 oder 2 verletzt werden.
»Three law safety« {in etwa: »Dreifache Sicherheit durch Gesetze«} lautet passend der Werbeslogan des Robot-Monopolisten United States Robotics (USR) im Film. Der Roboter-Schöpfer (Artifex und Vater) findet sich – wenige Tage vor der Massenauslieferung einer neuen Roboter-Generation – zu Tode gestürzt mitten in der Lobby des Hauptsitzes von USR. Der Robotern mißtrauende Spooner nimmt die Ermittlung auf, begleitet von einer kühlen Roboter-Psychologin (KI- und Interface-Desingerin). Selbstmord oder Mord durch einen vom Tatort flüchtenden Roboter, die Klärung dieser Frage bedroht den gründlichen Wunsch der Bürger des futuristischen Chicago, den mechanischen Dienern vollkommen vertrauen zu können. Dem Film gelingt es für meinen Geschmack zufriedenstellend, als Mainstreamvehikel unterhaltend die zivilisatorische Abhängigkeit von Technik und unsere Kontrollillusionen sie betreffend zu thematisieren.
Hard SF-Verköstiger und Asimov-Liebhaber muß aber die »Hänsel und Gretel«-simple Gestricktheit der Geschichte und die ziemlich lockere Treue zur Vorlage {ich sag nur: suggested by…} bitter aufstoßen, und man tut deshalb gut daran, »I Robot« als weiteres Lehrstück über Hollywoods Konventionen zu nehmen.
Schwächen:
• konventionelle narrative-ironische Distanz, am deutlichsten anhand Will Smith-Charaktergestaltung zu erkennen. Peinlichkeit wegen pathetisch-katharsischer Überhöhrtheit, wie bei Tom Cruise in »Minority Report«, ist mir persönlich angenehmer, als nerven-beruhigendes Kalauern und Gewitzel;
• dummer Spruch über Schießen mit geschlossen Augen einer mit Waffen unvertrauten Person;
• Spooners nerviger babbelnder junger Kumpel;
• blasse Musik;
Aber Panoramen, große und blick-verführende Wimmel-Bilder und Äktsch'n-Sequenzen funzen durch leicht überdurchschnittliche Könnerschaft, zu der aber die dramatischen und charaktergetragenden Passagen nicht aufschließen, trotz der fast durchwegs guten Nebendarsteller. ••• Roboter-Erfinder, Großmutter, Polizeivorgesetzter, USR-Tycoon, Sicherheitsleute und CGI-Figur Sunny … alle fein. •••
Pluspunkte:
• die verschieden designten und ausgereiften Roboter-Typen, vor allem die neuesten Modelle und ihr einzigartiger Vertreter Sunny;
• die (vor allem beim Showdown überhöht beknackte, somit satirisch archetekturkritische) Gestaltung des USR-Firmensitzes, des Vorplatzes und der ganzen Stadt Chicago, nebst pitoresker Hängebrücken-Ruine;
• Bösewichter mit rot leuchtenden Herzen von der Stange;
• Audi-Vehikel, die sich benehmen wie die guten alten Magnetquirler im Physikunterricht;
• kritische Gags gegen die bedenkliche Praxis des Verbrennungsmotors;
• Flucht aus einem Haus, während es abgerissen wird;
• Kaffee und Katzen als entspannende Szenenbeigaben;
• Medizin aus der Spraydose;
• Ungeholfenheit mit Geräten, die man noch per Knopfdruck und nicht mit der Stimme bedient;
Robotische Fähigkeiten überbieten die menschlichen an Schnelligkeit, Wendigkeit und Robustheit, und so dient die neue cinematographische Grammatik der Bullet-Time {bekannt und Usus geworden durch die Matrix-Filme, aber z.B. für Kenner von Kolibri-Dokumentationen, Brain de Palma- und Eisenstein-Filmen ein alter Hut} als Zuschauer-Service, um angenhem Übersicht wahren zu können, bei den geschwinden Handlungen und Reaktionen bei Verfolgung, Kampf und Geballer. »I Robot« gehört somit zu den Filmen, in denen Gewalt und unmittelbare Gefahr in bewegtbildliche Achterbahngravitation aufgelößt wird und genossen werden können, wie die Replays von gelungen absolvierten PC-Spiel-Situation. Die zur ohnmächtigen Zeugenschaft herausfordernde Authentiziät von Gewalt, wie ich sie zuletzt beeindruckend bei »Master and Commander« empfunden habe, strebt der Film nicht an.
Wertvoll ist der Film sicherlich als für das Durchschnitts-Publikum verständliche Reflektion über die Segnungen und Gefahren von natur-mimetischer Technik. Das für die menschliche Selbstversicherung bedrohliche Motiv der ontologischen Emanzipation von Technik und Dingen klingt an, auch wenn in diesem Fall die luziferische Revolte der Roboter noch einmal abgewendet werden kann. Erstaunt hat mich deshalb das Ausklingen des im Großen und Ganzen netten aber harmlosen Films, denn ich bin nicht sicher, ob die letzte computergenerierte Panorama-Aufnahme eines trockenen Michigan-Sees mit vielen vielen ausgemusterten aber (eigen)motivierten Robotern der Hoffnung oder Furcht Ausdruck verleihen soll.
Richtig gute SF — Neal Stephenson: »The Diamond Age«
Eintrag No. 96 — Zu der Frage, was gute SF sei, habe ich im SF-Netzwerk einige Beiträge geschrieben (hier ein Link zu meiner ersten Meldung dort).
Neal Stephenson bietet für meinen Geschmack mit »The Diamond Age« ein feines Beispiel für gute Science-Fiction an. Auf Englisch habe ich den Roman vor einigen Jahren mal angefangen, bin aber durch einen Umzug unterbrochen worden. Vor Kurzem habe ich die hiesige Taschenbuchausgabe aus dem Ramsch gezogen und nutzte die Gelegenheit, das Buch bilingual fertig zu lesen.
Zur Handlung:
Die Welt nach der nanotechnologischen Wende irgendwann gegen Ende des 21. Jahrhunderts. Die Handlung spielt größtenteils in Shanghai, Nebenschauplätze sind Vancouver, Californien, London. Erste Stärke für mich dabei: keine genaue Festlegung des Datums der Handlung, oder der vorausgegangenen fiktiven zukünftigen historischen Weltereignisse.
Da ist die Handlung um Hackworth, genialer Artifex der Nanotechnik, Angehöriger der Viktorianer (einer der mächtigsten Stämme, Clans, Gruppen, oder wie immer man die nicht-territorialen Patchwort-Staaten nennen mag; andere sind die Küstenrepubliken, das Himmlische Königreich und viele mehr). Für den Dividenden-Lord Finkle-McGraw entwirft und fertigt er das Original der »Fibel für junge Damen«, ein Wunderwerk der Kombination von Buch, Nanotechnik, Pädagoge, Künstlicher Intelligenz. Hackworth fertigt mit Hilfe des mysteriösen Dr. X. eine illegle Kopie der Fibel an, wird auf dem Heimweg überfallen und die Kopie landet bei der kleinen Nell.
Nell ist die Heldin des Buches im Doppelsinn: einmal als Primärprotagonistin, deren Leben »The Diamond Age« über circa 20 Jahre begleitet, und innerhalb der Geschichte als Schülerin der sie erziehenden und beschützenden Fibel. Stephenson schwingt sich zu iconographischen Höhenflügen auf, die man nur noch mit der christlichen oder superheldencomicartigen Bildsphäre vergleichen kann (Nell als Heilige, als erste weibliche große erfolgreiche Revolutionsgestalt der Geschichte als Ende von Kapitel 72). Die vierjährige Nell stammt aus den den unteren Sozialstrata der Zukunftsgesellschaft, lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter, und wird von der Fibel regelrecht errettet.
Das Buch geizt nicht mit Nebenfiguren, die für meinen Geschmack sehr gut und anschaulich (lebendig) geschildert sind. So die Cyber-Schauspielerin Miranda die der Fibel die echte menschliche Stimme verleiht und zu einer niegesehenen Mutter für Nell wird, und ihr Boss Carl Hollywood; oder Richter Fang von den Küstenrepubliken, seine Beziehung zu dem Bösewicht Dr. X., aus dem Himmlischen Königreich und seine Ermittlungen … um nur einige der wichtigen interessanten Figuren zu nennen, deren Handlungen alle irgendwie mit dem Schicksal von Nell und ihrer Fibel zusammenhängen.
Der Schluß, also die letzten 50 Seiten sind ein Wahnsinn. Der große Schlußakkord an Aktion und Ineinander der Motive erfolgt wirklich auf den letzten Zeilen … mir fällt als vergleichbar lediglich das Ende von Helmut Kraussers »Melodien« oder John Irvings »Owen Meany« ein.
Struktur und Summa:
Das Buch teil sich in zwei Hälften. Die Kapitel sind in der Regel kurz gehalten, so daß es auf den 575 Seiten 74 davon gibt, jedes mit einer notizhaften Inhaltsangabe überschrieben (schöne Referenz an Tradition, siehe alte Bücher). Stephenson schreibt weitestgehend elegant, nur manchmal war mir das clevere Erklärungsgeklimper zu den zugestanden originellen Technikvisionen zu lang … aber ich habs halt nicht so mit Haarkleinbeschreibungen von Technik in Romanen. Aufgefallen ist mir, daß mich in der zweiten Hälfte des Buches kaum noch etwas was den Figuren widerfährt so gefesselt hat, wie in der ersten Hälfte. Spätestens im letzten Drittel übernimmt mehr und mehr die Spannung, wie die vielen einzelnen Fäden des Buches zusammenfinden. Das ähnelt im Guten (Suspense) wie im Schlechten (Sterilität) dem Eindruck, wenn man ein Uhrwerk oder eine Automate beobachtet … anders gesagt: die Programm-Natur, die aller Kunst innewohnt, tritt markant hervor. Das hat mich nur einmal (in der zweiten Hälfte) bei Passagen über die finsternsten Aspekte von Nells Leben gestört. Nell wird von Aufständischen als Spaßsklavin gehalten, sexuell mißbraucht (wie schon in ihrer Kindheit) und mehrfach vergewaltigt - für meinen Geschmack bedient sich Stephenson hier ca. 2 Seiten lang einen zu aseptischen Ton (Kapitel 72, Seite 542). Ist aber heikle Kiste, ich will darüber nicht richten müssen.
Der große Aufhäger von »Diamond Age«, der radikale weltweite Strukturwandel durch die fruchtbare Anwendung von Nanotechnologie in allen erdenklichen Lebens- und Gesellschaftsbelangen, von Energiegewinnung, über Güter-Produktion und Konsumtion, Kommunikation und Informationsverarbeitung ist gut druchdacht. Mir symphatisch dabei, daß Stephenson trotz der vielen extrapolierten Details uns nix vorjubeln will, wie toll das alles doch ist. In seiner facettenreichen Technik-Utopie versteht er es zum Beispiel, das glitzende Zukunftsglück und die faszinierenden Gadgets seiner Welt mit menschlichen Alltagsmiseren und sozialem Elend zu konstrastieren, und sozusagen nebenbei einige der ewigen Menschenprobleme zu behandeln.
Nach »The Diamond Age« vertraue ich Stephenson soweit, daß ich mir »Quicksilver« besorgt habe und mich dort inzwischen hochvergnügt auf Seite 200 tummle. Stephenson hat für ein weinig Irritation sowohl bei SF-Fans als auch im Feuilliton (damit meine ich die nicht nur auf Deutschland beschränkte etablierte allgemeine Literaturkritik) gesorgt, als er ankündigte einen dreiteiligen dickbuchigen Zyklus über die Epoche des Barock zu schreiben, mit Newton, Peyps, Leibnitz und anderen historischen Persönlchkeiten als Romanfiguren, sowie einem Vorfahren des Helden Waterhouse aus »Cryptonomicon« (auch schon keine richtige SF mehr). Das alles begrüße ich als Weg eines Schriftstellers, der sich von Genre-Grenzen oder anderen Betrachtungsschubladen in seinem erzählerischen Fortgang nicht irritieren läßt und seinem Thema in der jeweils besten Umgebung nachgeht … ein Vermittler zwischen verschiedenen Traditionen der Literatur, hochgebildeter Kenner vieler Wissensgebiete und besorgter Beobachter der Zeitläufte. All diese allgemeinen Qualitäten von Stephenson bietet auch »The Diamond Age«. Kann man mehr von einem Buch verlangen?
SPOILER WARNUNG: Wer den Roman noch nicht gelesen hat, möchte diesen Beitrag bitte vorsichtig lesen, ich verrate viel vom Inhalt, was einem die Freud am Buch verderben könnte.
Auszüge und Anmerkungen:
Meine persönlichen Anmerkungen stehen in {geschwungenen} Klammern.
Wohl eine der deutlichsten Reflektion über Form und Stil im Buch findet sich auf
Seite 87: Hackworth hatte sich die Mühe gemacht, einige chinesische Schriftzeichen zu lernen und sich mit den Grundprinzipien der fremden Denkweise vertraut zu machen, aber im großen und ganzen hatte er seine Transzendenz lieber unverhohlen und bloßliegend, so daß er sie im Auge behalten konnte — beispielsweise in einem hübschen Schaukasten aus Glas —, und nicht in den Stoff des Lebens eingewoben wie Goldfäden in Brokat.
Über Öffentlichkeit, Politik und Moral:
Seite 223: »Wissen Sie, als ich ein junger Mann war, galt Scheinheiligkeit als schlimmstes aller Laster«, sagte Finkle-McGraw. »Das lag einzig und allein am moralischen Relativismus. Sehen Sie, in jenem Klima stand es einem nicht zu, andere zu kritisieren - immerhin, wenn es kein absolutes Richtig oder Falsch gibt, welche Basis gäbe es dann für Kritik?« {…}
Seite 224: »Nun, das führte zu einer Menge allgemeiner Frusttration, denn die Menschen sond von Natur aus tadelsüchtig und lieben nichts mehr, als die Unzulänglichkeiten anderer zu kritisieren. Aus diesem Grund stürzten sie sich auf die Scheinheiligkeit und erhoben sie von einer läßlichen Sunde in den Rang der Königin aller Laster. Denn, sehen Sie, selbst es kein Richtig oder Falsch gibt, kann man Gründe finden, einen anderen Menschen zu kritisieren, indem man vergleicht, was er sagt und wie er tatsächlich handelt. In diesem Falle maßt man sich kein Urteil darüber an, ob seine Ansichten oder die Moral seines Verhaltens richtig oder falsch sind — man weißt lediglich darauf hin, daß er etwas predigt, aber etwas anderes tut. In meiner Jugendzeit lief pralktisch der gesamte politische Diskurs darauf hinaus, die Scheinheiligkeit auszurotten.« {…}
Seite 225: »Weil sie scheinheilig waren … wurden die Viktorianer Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts verachtet. Selbstverständlich hatten sich viele Leute, die diesen Standpunkt teilten, selbst des schändlichsten Verhaltens schuldig gemacht, und doch sahen sie kein Paradoxon in ihren Ansichten, da sie selbst nicht scheinheilig waren — sie erhoben keine moralischen Maßstäbe und lebten nach keinen.« / »Demnach waren sie den Viktorianern moralisch überlegen … obwohl — besser gesagt, weil — sie gar keine Moral hatten.«
Tja, welche Lehre läßt sich ziehen aus der Erkenntnis (oder Ansicht), daß Kritik nicht möglich ist, wenn allgemeine Abmachung darüber fehlen, was richtig oder falsch ist, gut oder schlecht? Für meinen Teil will ich mich nicht auf meinen Geschmack als Refugium meiner persönlichen Freiheit zurückziehen, um ansonsten anzunehmen, daß sowas wie die natürliche Fress- und Hackordnung die feine oder bescheidene Position einer ästhetischen Haltung bestimmt.
Schöne Spekulation über den Grund der Sehnsucht nach einer Rückkehr der guten Sitten:
Seite 226: In einer Ära, wo man alles überwachen kann, bleibt uns nichts anderes als die Höflichkeit.
Richter Fang zitiert in Gedanken Konfuzius und läßt damit das große Thema von »The Diamond Age« erklingen. Gar nicht so weit weg von dem, was ich unter Aufklärung verstehe:
Seite 287: Die Alten, welche überall im Königreich erhabene Tugend demonstrieren wollten, brachten zuerst ihr eigenes Dasein in Ordnung. Im Wunsch, ihr eigenes Dasein in Ordnung zu bringen, reglementierten sie zuerst ihre Familien. In dem Wunsch, ihre Familien zu reglementieren, kultivierten sie als erstes ihre Persönlichkeit. In dem Wunsch, ihre Persönlichkeit zu kultivieren, korrgierten sie zuerst ihr Herz. In dem Wunsch, ihr Herz zu korrigieren, trachteten sie als erstes danach, aufrichtigen Denkens zu sein. In dem Wunsch, aufrichtigen Denkens zu sein, erwarben sie als erstes höchstes Wissen. Dieser Erwerb höchsten Wissens lag in der Untersuchung von Dingen … Vom Sohn des Himmels bis hinab zur Masse des Wolkes müssen alle die Kultivierung ihrer Persönlichkeit als Wurzel für alles andere betrachten.
Über die Auflösung der Nationalstaaten. Wir leben meiner Ansicht nach ja derzeit in der Phase, wo sie sich noch heftig in Todeskrämpfen winden.
Seite 317: Carl Hoillywood: »Das Mediennetz wurde von Grund auf konstruiert, um Privatsphäre und Sicherheit zu gewährleisten, damit die Leute es auch für Geldtransfers benutzen konnten. Das ist ein Grund, weswegen die Nationalstaaten zerfallen sind — sobald das Mediennetz errichtet war, konnten die Regierungen finanzielle Transaktionen nicht mehr überwachen, und das Steuersystem wurde hinfällig.«
Das Mediennetz in dem Buch ist eine Weiterentwicklung des Internets von heute. So unterscheidet man zwischen klassischen (oder altmodischen) Passiven, womit Filme wie wir sie kennen gemeint sind, und Raktiven, vergleichbar den Star Trek-Holodecks, also Live-Rollenspiel in einem komponierten Narrationsgitter. Siehe auch: die Macher von »Deus Ex« sprechen bei den Levels ihres PC-Spiels von Möglichkeitsräumen.
Beste »Dracula«-Empfindsamkeit und Zurückhaltung. »Dracula« von Bram Stoker kann man getrost als einen Schlüsselroman der Viktorianischen Epoche bezeichnen, und es überrascht mich also nicht, hier Spuren seines emotionellen Taktes wiederzufinden.
Seite 336: Gwendoline Hackworth: »Mein Mann schreibt mir jede Woche Briefe, aber sie sind überaus allgemein gehalten, unverbindlich und oberflächlich. In den letzten Monaten tauchen immer mehr befremdliche Bilder und Emotionen in diesen Briefen auf. Sind sind - bizarr. Ich fürchte um die geistige Stabilität meines Mannes und um die Aussichten eines jeden Unterfangens, das von seinem Urteilsvermögen abhängen könnte.«
Über Sinnvermittlung.
Seite 351: Mr. Beck: »Lästige Unterscheidungen interessieren mich nicht. Ich interessiere mich nur für eines … und das ist der Einsatz von Technologie, um Sinn zu vermitteln.« Zumindest vom anglo-amerikanischen Narrationstzerrain weiß ich (oder habe den Eindruck), daß dort das Motiv vom aus dem Unter- oder Hintergrund agierenden Aufkläreren verbreiteter ist, als in Deutschland … hierzulande ehr anrüchiig und bisweilen ein Tabu, kann aber auch sein, daß ich diesbezüglich leicht paranoid bin.
Weitere Passage zu der Spannung zwischen Ethik und Technik.
Seite 384: Der Vatikan hatte eine große Zahl ernster ethischer Vorbehalte gegen die Nanotechnologie, aber schoießlich hatte man sich darauf geeinigt, daß sie okey war, wenn nicht mit der DNS herumgespielt oder direkte Schnittstellen mit dem menschlichen Gehirn geschaffen wurden.
Die beschriebene Ansicht empfinde ich als sehr richtig. Ich kann die vorauseilende Bereitschaft von Zeitgenossen zum Einbau von Hirnbuchsen (oder sonstiger Schnittstellen zwischen Hirn und Technik) nicht nachvollziehen.
Weiteres zu Moral, inzwischen von Hauptfigur Nell selbst.
Seite 410: »Ich glaube, ich bin endlich dahintergekommen, was Sie mir vor Jahren sagen wollten, über die Notwendigkeit, intelligent zu sein. {…} Die Vickys {= Neo-Viktorianer} haben einen komplizierten Moral- und Verhaltenskodex. Er entstand aufgrund der moralischen Verkommenheit einer früheren Generation, genau wie den ursprünglichen Viktorianiern die Gregorianer und die Regentschaft vorausgegangen sind. Die alte Garde glaubt an diesen Kodex, weil sie durch Schaden klug geworden sind. Sie erziehen ihre Kinder dazu, den Kodex zu respektieren - aber ihre Kinder glauben aus gänzlich anderen Grunden daran. {…} Einige stellen ihn niemals in Frage - sie wachsen zu kleingeistigen Menschen heran, die sagen können, was sie glauben, aber nicht, warum. Andere, desillusioniert die Scheinheiligkeit der Gesellschaft, und sie rebellieren.« / »Für welchen Weg entscheidest du dich, Nell?«, fragte der Constable … »Konformismus oder Rebellion?« / »Weder noch. Beide sind ein wenig schlicht - sie sind nur für Menschen, die nicht mit Widersprüchen und Zweideutigkeit fertig werden.«
Ein Buch des von mir wertgeschätzten Umberto Eco aus den Jahren 1964/1978 heißt »Apokalyptiker und Intergierte - Zur kritischen Kritik der Massenkultur«, in dem es bisweilen um die gleichen Dinge geht, wie bei Stephenson … nur nicht mit soviel Spezial FX natürlich.
Die Neo-Viktorianer wollen mehr Künstler in ihrer Gesellschaft.
Seite 421: Dividenden-Lord Finkle-McGraw fragt Carl Hollywood: »Glauben Sie, wir ermutigen unsere eigenen Kinder nicht genug, sich den Künsten zuzuwenden, oder sind wir für Männer ihres Schlages nicht anziehend genug, oder beides?« / »Bei allem gebührenden respekt, Euer Gnaden, bin ich mit Ihrer Prämisse nicht unbedingt einverstanden. New Atlantis kann auf zahlreiche bedeutende Künstler zurückgreifen.« / »Ach kommen Sie. Warum kommen sie denn alle von außerhalb des Stamms wie Sie selbst? Im Ernst, Mr. Hollywood, hätten Sie den Eid überhaupt abgelegt, wenn es aufgrund Ihrer Tätigkeit als Theaterpriduzent nicht von Vorteil für Sie gewesen wäre? {…} Es kommt Ihnen gut zupaß, weil Sie inzwischen ein gewissen Alter erreicht haben. Sie sind ein erfolgreicher und etablierter Künstler. Das unstete Leben eines Bohemiens kann Ihnen nichts mehr bieten. Aber hätten Sie Ihre derzeitige Position erreicht, wenn Sie dieses Leben nicht früher geführt hätten?« / »Jetzt, wo Sie es so ausdrücken … stimme ich zu, daß wir versuchen könnten, in Zukunft gewisse Vorkehrungen zu treffen, für junge Bohemiens — « / »Das würde nicht funktionieren … darüber denke ich schon seit Jahren nach. Ich hatte denselben Einfall: eine Art Freizeitpark für junge künstlerische Bohemiens einzurichten, in allen Städten verstreut, damit junge Atlanter mit entsprechenden Neigungen sich versammeln und subversiv sein können, falls ihnen danach zu mute ist. Aber die Vorstellung allein ist ein Widerspruch in sich, Mr. Hollywod, ich habe im vergangenen Jahrzehnt oder so viel Mühe darauf verwandt, das Subversive systematisch zu ermutigen.«
Denn:
Seite 421: »… darin liegt die Daseinsberechtigung eines Dividenden-Lords - die Interessen der gesamten Gesellschaft im Blick zu haben, anstatt die eigene Firma zu melken oder was immer.«
Angesichts der Politiker-, Manager- und Beraterskandale hierzulande (aber auch anderswo) spricht mich zumindest diese Passage sehr an. Leben wir wirklich noch in einer primitiven Zeit, in der jeder (und vor allem die Mächtigen, alle mit ›Gelegenheit‹) nur den eigenen Beutel füllt, oder verstehe ich kleiner Fuzzi die Handlungen der Mächtigen und Reichen nicht, die sich durchaus im Sinne der Weltgemeinschaft Sorgen und entsprechend agieren?
Teil einer »So ist der Lauf der Welt«-Rede von Madame Ping zu Nell.
Seite 429: »Im Grunde genommen gibt es nur zwei Industriezweige. Das ist immer so gewesen. {…} Die Industrie der Sachen und die Industrie der Unterhaltung. Die Industrie der Sachen kommt zuerst. Sie hält uns am Leben. Aber heutzutage, wo wir den Feeder haben, ist es nicht mehr schwer, Sachen zu machen. Es ist keine besonders interessante Branche mehr. / Wenn die Menschen alles haben, was sie zum Leben brauchen, ist der Rest nur noch Unterhaltung. Alles.«
Interessant wie sich diese Passage mit der Aussage von Mr. Beck im Auszug von Seite 351 reibt, denn Mr. Beck geht es primär um die Vermittlung von Sinn. Sinn taucht bei Madame Ping aber nicht auf, außer weitläufig im Bereich der Sachen, so wie Lebensmittel sinnvoll sind, wenn man hungerig ist.
Nell denkt über ihre Arbeit (Design von Raktiven) nach.
Seite 464: Seit frühester Kindheit erfand sie Geschichten und erzählte sie der Fibel, und nicht selten wurden sie verarbeitet und in die Geschichten der Fibel eingegliedert. Für Nell war es ganz natürlich, dieselbe Arbeit für madame Ping zu tun. Aber nun hatte ihre Chefin von einer Darbietung gesprochen, und Nell mußte gestehen, daß es in gewissem Sinne eine war. Ihre Geschichten wurden verarbeitet, zwar nicht von der Fibel, sondern von einem anderen Menschen, und so wurden so Bestandteil des Denkens dieser anderen Person. / Das schien durchaus einfach zu sein, aber die Vorstellung beunruhigte sie aus einem Grund, der ihr erst bewußt wurde, als sie mehrere Stunden im Halbschlag darüber nachgedacht hatte.
Wohl jeder angehende oder etablierte Autor (oder allgemein Künstler/Unterhalter) hat sich darüber schon mal den Kopf zerbrochen … oder sollte es zumindest. Will ich nur unterhalten, will ich Sinn vermitteln, Trost spenden (siehe Tolkien), Sozialkritik üben? usw.
ZUGABE: Schmankerl:
Ha, ein deutsches Wort im Original (ROK-Taschebuchausgabe).
Seite 337: »It didn't matter which brain a {Nano}´site was in. The all talked to one another indiscriminately, forming a network. Get some Drummers together in a dark room, and they become a gestalt society.«
Übersetzt (wieder ausm Goldmann-Tachenbuch).
Seite 389: »Es spielte keine Rolle, in welchem Gehirn sich die ´siten befanden. Sie redeten alle gleichwertig miteinander und bildeten eine Art Netz. Pferchen Sie ein paar Tromler in einem dunklem Raum zusammen, und sie werden zu einer Gestaltgesellschaft.«
Habe laut gelacht bei folgendem Satz.
Seite 375: Er sollte besser von hier verschwinden, bevor er wieder Sex mit jemanden hatte, den er nicht kannte.
Wirklich lustiger Schnitzer — naja — mangelndes Fingerspitzengefühl von Joachim Körber. Mannbarkeit wird von ihm ernsthaft auf eine Vertreterin des weiblichen Geschlechtes angewendet.
Seite 380: Die Mannbarkeit hatte ihr jede Menge Merkmale verliehen, die die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts und von Frauen mit entsprechenden Neigungen auf sich zogen.
Zum Vergleich die gleiche Stelle im Original:
Seite 329: Maturity had given her any number of features that would draw the attention of the opposite sex, and of women so inclined.
Geiler historischer Fachbegriff des 21. Jahrhunderts bezüglich der Massenvernichtungswaffen des 20. Jahrhunderts:
Seite 443: Elizabethanische Atombomben.
Bumm und Ende.
Material zum Kapieren: »The Matrix«-Trilogie
(Film) – Dieser Beitrag ist für alle, die Probleme mit dem Kapieren des ganzen MATRIX-Schwurbels haben, und sich nicht durch englische Texte wühlen wollen. {Hey Ihr jungen Erwachsenen, als Teenager hab ich mit Büchern von Clive Barker und Fritz Leiber Englisch gelernt, und mit guten Comics. Und Filme? … Guckt mal hier, wie man zum Beispiel in X-Men (2000) veräppelt wird mit der deutschen Synchro.}
Ich will hier nicht näher auf die philosophischen Spekulationen der Filme eingehen und lasse also alle Aussagen zu Begriffen wie Schicksal, Kontrolle, Wirlkichkeit, Bestimmung und Freiheit außer Acht. Ebenso trage ich hier keine eigenen Theorien zu Farbsymbolik oder sonstigen Hermeneutiken der Filme bei. Doch hoffe ich, all dies hier erleichtert manchen die Freude an eigenen Interpretation der Filme.
Ebene Null / The Matrix (grün):
Die Welt unserer Gegenwart 1998.
(»Call trans opt: received. 2-19-98 13:24:18 REC:Log> Trace programm: running« = Beginn von Teil 1, Hervorhebung von mir. Die Matrix des Jon Anderson ist also im Jahre 1998, dem Kinojahr des ersten Films angesiedelt.) - Hier ist der Verstand (mind, auch Geist-Gemüt und Sinn, im Film auch Restselbstbild genannt) der Menschen in einer neuro-interaktiven Simulation gefangen … in dieser Simulation bewacht von den Agenten-Programmen (Mr. Smith und Co.) der Maschinen. John Anderson/Neo wird aus dieser Illusion durch Morpheus befreit. Es tummeln sich hier außerdem Programme aus dem Quellcode, die nicht gelöscht werden wollten oder konnten. Manche von diesen sogenannten Exilanten unterstützen die Menschen und Hacker (Orakel, Seraph, Schlüsselmacher), andere nutzen mit ihren Insider-Fähigkeiten die Menschen aus (Merowinger, Trainman).
Ebene Eins / ZERO-ONE & ZION (blau):
Die Welt der Zukunft um das Jahr 2199.
Die Erdoberfläche ist eine postapokalypische Wüstenei und Herrschaftsbereich der Maschinen. {Ein Höhepunkt der Matrix-Produkte: Die beiden Zeichentrickepisoden »The Second Renaissance« aus der Animatrix-Kollektion erzählen die historischen Entwicklungen der Götterdämmerung, die zu den Waste-Lands geführt haben.} Vom Zweistromland aus hat sich um ????† herum Zero-One, die Stadt der Maschinen, ausgebreitet. Hier gibt es die Kraftwerke mit den Menschenbatterien und die Babyplantagen … die hier exploitierten Individuuen leben in der vorgegauckelten Matrixwelt der Ebene Null. — Ungefähr dreitausend Meter unter der Erdoberfläche liegt Zion , die letzte Stadt der freien Menschen (Zion-Eingeborene ohne, aus den Kraftwerken Befreite mit Körper-Buchsen). Mit den Hovercrafts (die alle lustige mythologische Namen tragen) düsen die Hacker durch die Trümmerwelt nahe der Oberfläche, um sich per Piratenfunk in die Ebene Null-Matrix einzumischen. An Bord der Hovercrafts und in Zion trainieren die Menschen in kleinen, unabhängigen Versionen der Matrix, sogenannten Konstrukten (weiße Ladeprogramme). Die Hovercrafts werden von den tintenfischartigen Sentinels (Wächtern) der Maschinen gejagd. Als die Maschinen die Position Zions entdecken, bohren große Drillmaschinen einen Angriffstunnel dorthin.
Zion und Zion-Archive (Rot) : In den Archiven ist das gesammelte (lückenhafte) Wissen der freien Menschen gespeichert. Delikat dabei, daß die freien Menschen nicht so wirklich wissen, wie die großen Lebensversorgungsmaschinen von Zion (z.B. Wasseraufbereitung) funktionieren. Zion ist stark befestigt und das Hovercraft-Dock wird aus einem weißen Controll-Konstrukt gesteuert.
Zero-One und Quellcode (Weiß) : In einem geheimen Stockwerk eines Ebene Null-Gebäudes befindet sich ein unendlicher weißer Gang (mit grünen Türen), durch den man in einen besonderen Raum gelangt, in dem eine ganz besondere Tür zum Quellcode der Matrix (so genannt im Film, Teil 2 im Monolog des Keymaker … welche gemeint ist, bleibt unklar) führt. Nur besondere Programme und waghalsige Hacker dringen in den weißen Gang vor … nur Neo, Morpheus und der Keymaker schaffen es in den Vorraum … allein Neo durchschreitet die Tür aus weißem Licht. Indem er sich im Kreisraum des Architekten für die Rettung von Trinity entscheidet, speißt Neo das neue Programm (¿»Liebe«?) in den Quellcode der Matrix (Bezug auf welche wieder offen). Schon zuvor begann als Umkehrung der reifenden Liebe ( …Deinen nächsten wie Dich selbst… ) Agent Smith einen Ebene Null-Menschen nach dem anderen zu absorbieren, seine (Egomanie-)Liebe macht alle gleich.
† Genaues Datum – so es gegeben wird – will ich noch ergänzen.
Ebene Zwei / MATRIX-IN-MATRIX, QUELLCODE & ZION-ARCHIVE:
Die echte Wirklichkeit, oder eine weitere Verschachtelung?
Neos telekinetische Abwehr — oder die Shut-Down-Reaktion — der Sentinels am Ende von »Matrix Reloaded« läßt vermuten, daß auch die Wirklichkeit von Zero-One/Zion eine weitere Matrix ist (»Ich kann sie spüren… «). Die Szene erschließt sich vielleicht, wenn man ausformuliert, welche Prämisse sie wahrscheinlich vertritt: Neo darf nichts geschehen (vielleicht rettet ihn auch die unsichtbare Hand des pragmatischen Architekten … vielleicht beruhen Neos wunderliche Kräfte in der Ebene Eins von einem speziellen Hackercode, der ihm von Persephone beim Kuss im Edel-Klo übermittelt wurde), denn noch ist es möglich, daß er und Smith den Zusammenbruch der Matrix aufhalten. Ob das Ineinanderschachteln von Welten auf dieser Ebene endet oder immer munter weitergeht, wird nicht geklärt. Einen interessanten Ausblick und Grund zu munteren Spekulationen über solche weitere Verschachtelungen bietet die letzte Folge der Animatix-Kollektion »Imatriculated«.
Mobile Avenue: Eine vom Trainman beherrschte weiße U-Bahn-Station (mit grüner Beschriftung und Boden). Wir wissen nicht, wie beweglich dieses entführte Koppel-Konstrukt ist, wir wissen nur, daß sich über diese Schleuse Programme aus der Maschinenwelt (Quellcode, Zero-One) in die Gefängnis-Matrix (Ebene Null) ins Exil/Asyl aufmachen. Die Geschäfte einer Trainman-Fähre vermittelt der Merowinger. – Als Neo nach der Begegnung mit den Sentinels am Ende von »Reloaded« (Ebene Eins Welt) ins Koma fällt, taucht sein Restselbstbild hier auf.
Der Architekt und sein Kreisraum: Wir wissen nicht genau, wie der runde Raum mit den zwei Türen aussieht, am wahrscheinlichsten ist aber, daß er eine am Äquator geteilte Hohlspähre ist (oder halt: eine umgedrehte Salatschüssel). Da der Architekt alle Gleichungen der Matrix ausgleicht, liegt es nahe anzunehmen, daß er von hier aus auf alle Matrix-Ebenen Einsicht und Zugang hat (blanke Vermutung von mir). Man bemerke am Beginn der Szene von Neos Verhör durch Smith in Matrix Teil 1 das erste Auftauchen der Architekten-Bildschrime eben dieses Kriesraums.
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• Was der Architekt sagt
Marcus Hammerschmitt: »White Light / White Heat« - Zusammenfassung
(Literatur) - Vor einem Jahr las ich den Aufsatz »White Light / White Heat - Science-Fiction und das Veralten der Zukunft« von Marcus Hammerschmitt (zu finden in »Der Glasmensch«, Suhrkamp, S. 173ff) aus dem Jahr 1995.
Hat mich ziemlich schwindlig gemacht vor lauter zustimmenden Nicken, aber bisher ich habe es bisher nicht geschafft, diese 16 Seiten (9 Abschnitte) wirklich zu überblicken. Hammerschmitt bietet einen kenntnisreichen Rundumblick auf die SF an, dabei die Avantgarde genauso im Visier, wie die massentauglichen Serialien. Dabei formuliert er zuweilen etwas komplex, da er sich bemüht eine kritische Reflektion der SF mit einer Verteidugung derselben zu verschmelzen.
Die Anmerkungen in {eckigen Klammern} sind wieder meine, der Rest stammt aus dem Essay.
HAMMERSCHMITT ANFANG
Eröffnungssatz: Die SF hat heute Möglichkeiten, von denen die sogenannte ernste Literatur nur träumen kann. {Schon mal sehr in meinem Sinne} Über Bruce Sterlings Wort vom SF-Autoren als Hofnarren und dessen Beziehung zum Herrscher; in drei Fälen wird Hofnarr ausgebuht: a) Wenn er den selben Witz zweimal erzählt; b) wenn der Witz zu weit ging; c) wenn der Witz nicht weit genug ging. {Das sind ja ganz hervorragende Kriterien zur Qualitätsbestimmung. Vor allem wegen c) nöle ich oft.} Woran soll der Hofnarr seine Zunge wetzen, wenn dem Herrscher die Gemeinheiten ausgehen?
Herausforderung für den Traum der SF: die technische Entwicklung ist dem Menschen weiter voraus, als dem guttut. Zwang der SF immer wieder dasselbe zu sagen, ist Reaktion auf beständiges bequemes Lügen der Massenmedien und Politiker, man hätte die technische Entwicklung schon im Griff. SF bietet da konsumierbare Katastrophen, aber nur selten wird der Rand hin zu unsagbarem Terror des schlechthin Unbekannten erreicht.
Die SF ist kindisch und das verleiht ihr große Kraft. Der kleine Professor {Bill Watersons Calivin und seine Zeitmaschine} verglichen mit dem großen Professor (Otto Hahn, Edward Teller). Der überzeugende Bluff der SF entspricht der Auftritt vom Hofnarren in den Gewändern des Herrschers … Aussage der SF dabei: Alle Geschichten bereits mit dem ersten durch Faustkeil erschlagenen Neandertaler erzählt.
Die Stadt als eigentlicher Schauplatz der SF {erscheint mir doch etwas einseitig}. Die Schilderung der Stadt als ein durch die Mittel der Technik ermöglichter Lebensraum entweder als a) trivialer Illusionismus, oder als b) schnodderige Punk-Kolportage. Über die Wüste als ein Biotop des einsamen elektronischen Cowboys (Lohngangster), dieser als Zeichen einer ermüdenden Technik, die ihre Niederlage (Hiroshima, Tschernobyl) nicht eingestehen will, weil die Puppen noch tanzen.
Schwäche der deutschen SF: Hang zur Tiefgründigkeit {wer ist schon frei davon? Hammerschmitt selbst offenbar auch nicht ganz}, Ablehnung der Unterhaltungskultur {Adronos Eisenkugel}. Bis Ende der Sechzigerjahre wird Grass mißtrauisch beäugt! Die SF wird verschmäht aber heimlich unter der Bettdecke verschlungen. Amerikanisierung {Einzug der Kulturindustrie} in Deutschland nur bezüglich Fernseh- und Essensgewohnheiten.
Weißes Glühen sich entfaltenden technologischen Fortschritts zeichnet gute SF-Texte aus (Hammerschmitt offenbart sich als Hard-SFler}. Schaudern über posthumane Eigenschaften dieses Glühens = nicht intergrierte Technik. Die Versuche, mit den wandernden Taugenichtsen der Romantik die Technik in den Traum zurückzuholen, oder die automatisierte Welt zu verstehen, sind mißlungen. Geräte spielen in SF Hauptrollen, dazu Vergleiche mit Western- und Krimiheld (Knarre, Brief, Geheimdokument, Zigarette). Über Entenhausen als kleinster gemeinsamer Nenner bezüglich Umgang mit Dingen. Scheitert Technikrezeption rückt Körper zum Thema auf. Körper hat Technik nur seine eigene Gesundheit entgegenzusetzten, ansonsten ist er unterlegen … Mißverhältnis der behäbigen Natur zur hektischen Technik offenbart Körper als einstmalig bewohnte Behausung der Seele.
Über Sekten (Hubbard & Co.) als Allianzen von SF mit den Zuständen, die der SF ihre Stoffe liefert. Adornozitat: wir leben in einer Welt, die krasseste Paranoia rechtfertigt, weil sie sie wahr macht. Im High-Tech-Disneyland schießen die Westworld-Roboter mit scharfer Munition.
Enge Nachbarschaft der SF zu Sympathie mit dem Menschen und dem Terror, den der Mensch gegen sich selbst entfesseln kann; dies lößt Unbehagen aus (Blick in Teufelsküche) und läßt staunen, daß SF vorhersagen kann. Dazu Glühbrinen-Eddison: ihr ahnt nicht die Nähe von Konstruieren und Schreiben {siehe Eco-Zusammenfassung: Konjekturverfahren}. Über den Nimbus der SF als Mahner und Seher … aber aus neuen Technologien neue {mögliche} Katastrophen zu spinnen ist der Job eines phantastischen Autors, keine Hellseherei.
Technik wird abgelehnt, wenn Rückholung des natürlichen Bewußtseins angestrebt {natürliches Bewußtsein ist ein ganz heikler Begriff}. Frauen mögen keine SF; Konkurrenz zwischen (männlichen) Fortpflanzungstechnikern und selber gebähren könnenden Frauen (Hüterinnen der Natur), bis hin zu zukünftigen feministischen Terrorismus. - Der Fortschritt von Gestern wird heute der Lächerlichkeit preisgegeben, doch Kafka sagt: Forschrittsglauben kann doch nicht annehmen, daß Fortschritt schon stattgefunden hat, sonst hieße es ja nicht glauben.- Eines Sinnes sind: a) Das arrogantes Staunen über (technische) Errungenschaften der Vergangenheit, und b) die Enttäuschung darüber, daß bisher die Technik das vom Menschen geliehene Leben nicht zurückerstattet hat (und das kurz vorm Milleniumswechsel, ooch Menno). Den Verfechtern einer Aszendenz-Theorie der Geschichte {Mythos vom Zivilisationsprozess, siehe Gegensatz Norbert Elias/H.P. Duerr} entgegnet die SF trotzig: Geschichte hat noch gar nicht stattgefunden … was die SF aber unbekömmlich ernst erscheinen läßt (den Hofnarren nicht gut steht). - Die SF ist und bleibt also vornehmlich paradox, weil sie einerseits verkündet, daß nichts Neues unter der Sonne geschieht, andererseits aber schildert, was in der Zukunft noch geschehen muß.
HAMMERSCHMITT ENDE
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Mein Eindrücke dazu: Die Beobachtung der Stadt als eigentlicher Schauplatz und der Gegenstände als Hauptakteure empfinde ich als überbewertet: da bekomme ich gleich Lust mir eine Provinz-SF auszumalen in Holzhütten, wo Leute sich nur menschliche Belange erzählen {die Prä-Cogs in Spielbergs »Minority Report« am Schluß}. Hammerschmitt übersieht dabei die Kolonie, die Forschungsstation und schließlich das Raumschiff (oder ähnliches), sprich: die Technik als Überlebens-Zelle in unwirtlicher Umwelt … in Verlängerung der Symbiose Mensch/Pferd zu Centaur (Mensch/Auto zu organischem Gefährt … siehe Babylon 5 Schattenschiffe, Borg bei TNG ff}. Hammerschmitt stellt zwar auch mal fest, daß die positiven Utopien der SF selten und meist schwachbrüstig sind, ist aber selber fixiert auf die Dialektik Technik-Mensch-Natur … den Kultur- und Zivilisdationspessimismus teile ich aber weitestgehend.
Interessant die Aussage über Frauen die keine SF mögen, denn das scheint mir (zumindest tendenziell) wirklich so zu sein. Solage also SF vornehmlich von einem Geschlecht bevorzugt wird, ist sie verbesserungsfähig (so verstehe ich Emanzipation), was ein vorrübergehendes Kriterium für gute SF abgibt, oder allgemeiner: Gute SF befriedigt den SF-Kenner einerseits, verschreckt andererseits den SF-Unbedarften nicht und unterhält beide.
Aus der Überschrift und dem Hauptthema von Hammerschmitts Essay entnehme ich ein weiteres neues Kriterium für gute SF: Die aus der Gegenwart extrapolierte Welt der Zukunft sollte möglichst langsam zur Lachnummer vergammeln (wenn sie ernst gemeint ist). - Wenn also z.B. »Auf zwei Planeten« heute mehr unfreiwillige Komik als Abenteurluft verbreitet, ist das ein Minus für die SF-Qualität des Romans. Selbst wenn darin solche noch nicht erreichten technischen Wunderwerke auftauchen, wie sich selbst an der Decke in Schlitze und Fächer wegsortierende Klamotten.
Der ganzen äußerst kritischen und leicht fatalistischen Haltung von Hammerschmitt extrahiere ich desweiteren die erstrebenswerte Qualität: Versuche die Versöhnung von Technik und Mensch zu unterstützen; denn daß deren Verhältnis arg unharmonisch ist, liegt auf der Hand {siehe: »Le monde diplomatique Atlas der Globalisierung«}.
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• Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist Der Herr der Ringe ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«
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